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Zurück nach Seefeld in den Kastanienweg. Ein schrecklicher Mord ist in der Mitte der Gemeinschaft geschehen und er gibt allen ein Rätsel auf. Ist einer oder eine unter ihnen ein Mörder, eine Mörderin? Wer hatte ein Motiv? Und wer ist der geheimnisvolle Fremde, der Anfang des Sommers im Städtchen aufgetaucht ist? Es gibt zwei Zeugen, die jedoch nichts zur Aufklärung des Falles beitragen können. Der männliche Zeuge kann sich nicht erinnern, da er betrunken war. Die Zeugin wurde ohne Bewusstsein am Tatort aufgefunden und liegt seither im Koma. Wird sie eines Tages erwachen und den Täter entlarven können? Das Leben im Kastanienweg geht jedoch weiter und eines Tages gibt es einen weiteren Toten. Ein Roman aus dem Kastanienweg
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Seitenzahl: 398
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Hannelore Dechau-Dill
Angelas kalter Schatten
Die Leute vom Kastanienweg
Thriller
Impressum
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://www.d-nb.deabrufbar.
Print-ISBN: 978-3-96752-063-7
E-Book-ISBN: 978-3-96752-563-2
Copyright (2021) XOXO Verlag
Umschlaggestaltung und Buchsatz: Grit Richter, XOXO Verlag
unter Verwendung folgender Bilder von Shutterstock: 381337633
Hergestellt in Bremen, Germany (EU)
XOXO Verlag
ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH
Gröpelinger Heerstr. 149, 28237 Bremen
Alle Personen und Namen in diesem Buch sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Dieser Roman wurde bewusst so belassen, wie ihn die Autorin geschaffen hat, und spiegelt deren originale Ausdruckskraft und Fantasie wider. Alle Personen und Namen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Wir können
einander verstehen,
aber deuten kann jeder nur sich selbst
(H. Hesse)
Kapitel 1
Versunken in einen Zustand träumerischer Entrücktheit kauerte Nadine auf dem von Efeu und wildem Wein umrankten niedrigen Mäuerchen und lauschte der Musik. Wie ein Hauch schwebte sie zu ihr herüber durch die rötliche Abenddämmerung.
Nadine spürte weder die kühle Nachtluft, noch war ihr die hereinbrechende Dunkelheit bewusst. Sie saß nur da und lauschte.
Diese wunderbare Musik war es, von der sie sich nicht losreißen konnte. Sie schien aus den Tiefen des Parks durch die hereinbrechende Nacht auf unsichtbaren Wellen direkt zu ihr her zu strömen wie ein seltsamer Zauber, dem sie sich nicht entziehen konnte und der sie nun seit über einer Stunde auf diesen Platz bannte.
Ihr Blick wanderte zum prächtigen Portal des Kurhauses hinüber und blieb an den hell erleuchteten Fenstern haften. Von dorther kamen die aufwühlenden Klänge. Ein Konzert fand im großen Saal des Kurhauses statt, zu dem auch die Eltern und fast alle Nachbarn im Kastanienweg gegangen waren.
Kinder natürlich nicht. Es war kein Konzert, zu dem kleine Mädchen mitgenommen wurden, die erst zwölf Jahre alt waren, mochten diese sich auch noch so sehr zu klassischer Musik hingezogen fühlen.
Nadine wurde von den hellen Schlägen der nahen Kirchturmuhr von St. Marien jäh aus ihren Träumen gerissen. Zehnmal tönte es mahnend an ihr Ohr und brachte sie mit einem Ruck in die Wirklichkeit zurück.
Zehn Uhr schon! Mein Gott, sie musste nach Hause. Zwar war niemand daheim, höchstens ihr Bruder Jeremy, zwei Jahre älter als Nadine. Die Eltern würden erst spät in der Nacht heimkommen. Niemand würde sie also vermissen geschweige denn es merken, wenn sie nicht zur vereinbarten Zeit nach Hause käme.
Aber sie hatte der Mutter versprochen, spätestens um halb neun daheim zu sein. Nadine war ein ehrliches Kind, und es war ihr schrecklich, die Mutter auf diese Weise zu hintergehen.
Angela Sanders war immer ein wenig besorgt um ihre verträumte kleine Tochter, die meistens mit dem Kopf in den Wolken herumging. Sie wusste, dass Nadine nicht bewusst ungehorsam war, aber sie wusste auch, dass sie manchmal die Zeit vergaß, vor allem, wenn es um die Musik ging - so wie heute Abend.
Nadine spürte plötzlich die Kühle der Nachtluft auf ihrer Haut. Beim Fortgehen von zu Hause am späten Nachmittag hatte die Sonne geschienen, und es war noch ganz warm gewesen. Nun war es nahezu dunkel und sehr kühl.
Nadine erschrak. Sie wusste es ja: Nur zu leicht vergaß sie die Zeit, wenn sie allein unterwegs war. Warum nur hatte sie ihre Uhr nicht mitgenommen, wie die Mutter ihr aufgetragen hatte!
Aber Nadine wusste auch, dass eine Uhr ihr kaum genützt hätte, denn ihr wäre gar nicht der Gedanke gekommen, nach der Uhrzeit zu schauen. Sie hätte es schlichtweg vergessen, so wie sie alles andere außer der Musik vergessen hatte.
Nadine war klar, dass die Mutter sich oft wünschte, sie würde mehr mit anderen Kindern zusammen sein.
Aber sie war gern allein, anders als der muntere, übermütige Bruder, der stets mit irgendwelchen Freunden und Kumpanen herumzog. Außerdem gab es im Kastanienweg keine Mädchen ihres Alters. Die ihr im Alter am nächsten Stehenden waren Ronny Meinhard und Jona Scheffler, beide 12 Jahre alt. Aber das waren Jungs, und die hatten anderes vor, als sich mit einem Mädchen wie sie es war abzugeben. Dann gab es da noch zwei Schulfreundinnen, aber die wohnten am anderen Ende der Stadt, und die Freundschaft zu ihnen beschränkte sich in der Regel auf die Zeit in der Schule und auf gelegentliche Einladungen, wie zum Geburtstag oder zu einer ähnlichen Kindergesellschaft.
Und außerdem – es war nun einmal so: Nadine war sehr gern allein. Sie fühlte sich niemals einsam. Wenn sie am Vormittag in der Schule mit so vielen anderen Kindern zusammen sein musste, so war es ihr für einen Tag längst genug des Trubels. Dann war sie am glücklichsten ganz allein in ihrem Zimmer mit ihrer Geige und ihren Büchern. Oder beim Herumstreifen im nahen Wald und am See.
Nadine liebte die Natur. Da gab es so viel für sie zu schauen und zu entdecken, dass sie dessen niemals müde wurde.
Und wie oft vergaß sie auch dabei die Zeit.
Nun aber hieß es, schnellstens den Heimweg anzutreten. Sie verließ ihren Platz auf dem berankten Mäuerchen und lief durch die Parkanlagen des Kurgebiets auf die von Straßenlaternen erhellte Parkstraße. Nur wenige Autos fuhren um diese Zeit in dieser verkehrsberuhigten Gegend. Inzwischen war es ganz dunkel geworden. Nadine blickte zum nachtblauen Himmel hinauf. Der Mond schien und eine blinkende Sternenschar umringte sein weißes Gesicht.
Zögernd blieb sie einen Augenblick unter einer Laterne stehen. Sollte sie weiter die hell beleuchtete Parkstraße hinunter gehen, dann in den Kirchweg einbiegen, der sie schließlich zum Kastanienweg bringen würde? Der Kirchweg führte – wie schon der Name sagte – direkt an der Kirche, der kleinen Kapelle und dem dahinter liegenden Friedhof vorbei und wurde an seiner anderen Seite vom Stadtpark begrenzt.
Es war ein hübscher Weg zum Spazierengehen – bei Tage oder für Liebespärchen auch bei Nacht. Aber bei Dunkelheit niemals für ein ängstliches kleines Mädchen wie Nadine eines war! Und dazu noch ganz allein! Zwar gab es da auch Laternen, aber die machten es nicht besser. Sie schufen eher noch unheimliche Schatten, die sich bewegten und aus dem Dunkel hervorzuspringen drohten.
Wenn sie nicht bis zur Stadtmitte, dann durch die belebte Fußgängerzone und weiter durch die hell erleuchtete Lindenallee zum Kastanienweg gehen wollte – was ein enormer Umweg für sie wäre - , so bliebe nur der schmale Fußpfad quer durch den Stadtpark. Dieser Weg führte direkt von der Parkstraße zum Kastanienweg hinunter, mitten durch den nahezu dunklen Park, und er war noch weitaus gruseliger als der Kirchweg! Er hatte jedoch einen unbestreitbaren Vorteil: er war sehr viel kürzer. Nadine atmete zitternd aus. Warum hatte sie das alles vorher nicht bedacht! Das kam dabei heraus, wenn man so schusselig war und die Zeit vergaß!
Schließlich entschied sie sich für den kürzesten Weg, holte tief Luft und rannte los. Der Fußpfad durch den Stadtpark war nur spärlich erleuchtet und wirkte durchaus romantisch, obwohl es erst Anfang April war. Tannen, junge Birken und niedriges Gesträuch standen dicht und düster am Wegesrand. Kriechpflanzen und Farnkraut wucherten halb über den Weg wie tückische Fußangeln, als hätten sie es darauf angelegt, besonders Eilige zu Fall zu bringen.
Nadine lief, bis sie kaum noch Luft bekam, dann machte sie Halt. Keuchend und mit wild klopfendem Herzen stand sie einen Augenblick still, und plötzlich waren da außer ihrem schnellen Atmen und dem lauten Klopfen ihres Herzens auch noch andere Geräusche. Ein unheimliches Rascheln in den Büschen, ein Tappen und verstohlenes Knacken, als würden Äste unter tastenden Schritten zerbrechen!
Nadine stand sekundenlang wie fest gebannt und konnte sich nicht rühren. Woher kamen diese Schritte? Wer war da hinter ihr und verfolgte sie? Nadine hatte Angst! Der Schweiß brach ihr aus. Voller Panik wandte sie sich um, und da sah sie ihn! Den Mann!
Sie hatte ihn vorher schon kurz wahrgenommen, drüben in den Anlagen vor dem Kurhaus. Und dann auch in der Parkstraße, als sie unter der Laterne stand! Da war er nur wenige Meter hinter ihr gewesen, ein Mann mit dunkler Jacke und breitkrempigem Hut. Er hatte ihr abgewandt an einer Hecke gestanden und sich eine Zigarette angezündet.
Sie hatte noch gedacht: Was macht der so ganz allein hier, und warum ist er nicht drinnen bei den anderen, bei der herrlichen Musik? Und sie hatte sich gewundert bei dem Gedanken: er macht sich wohl nichts aus der wunderbaren Musik – wie ist das möglich! Er könnte dort hinein und will nicht. Und ich möchte so gern und darf nicht! Aber dann war er plötzlich fort gewesen, und sie hatte ihn vergessen.
Nun aber war er wieder da! Hinter ihr auf dem Weg – dort in der Dunkelheit – da stand er! Was wollte er von ihr? Oder ging er nur zufällig hier spazieren?
Nadine zitterte voller Schreck. Dann rannte sie wieder los. Nur schnell weg. Er sollte sie nicht einholen! Nadine floh, sie rannte und keuchte, und dann hörte sie hinter sich einen sehr eiligen Schritt, den zielbewussten, harten Schritt jenes Mannes mit dem Hut, der ihr auf den Fersen war. Drohend und unheilverkündend klang dieser Schritt! Als führte dieser Mann nichts Gutes im Schilde! Weiß Gott, was er von ihr wollte!
Flüchtig kam es ihr in den Sinn, seitwärts in die Büsche zu flüchten, da stolperte sie über eine Baumwurzel und verlor das Gleichgewicht. Längelang schlug sie auf den moosigen Waldboden hin und blieb regungslos liegen, wie gelähmt und unfähig sich zu rühren.
Zu spät! Nun würde er sie erwischen, der unheimliche Fremde mit dem Hut. Sollte sie sich seitwärts ins Unterholz werfen - dorthin, wo Mäuse und anderes Waldgetier sich tummeln mochte? Wo möglicherweise irgendwelche grässlichen Ungeheuer mit langen Zähnen und glühenden Augen bereits ihrer harrten?
Aber sie konnte ja gar nicht, konnte sich kein noch so winziges Stückchen von der Stelle bewegen! Lag nur da, hörte auf das laute Klopfen ihres Herzens und das Keuchen ihres Atems. Und hörte auch die Schritte, die näher kamen, schnell und ohne zu zögern! Nadine schrie laut auf, kniff die Augen fest zu und presste ihr Gesicht ins staubige, kühle Moos, als würde sie mit dem Schließen ihrer Augen unsichtbar und könnte so alles drohende Unheil der bösen Welt von sich fernhalten.
Lieber Gott, hilf mir, betete sie stumm.
Und dann war er auch schon da, neben ihr. Und seine Stimme sagte ganz ruhig: »Hallo Nadine! Warum wartest du nicht auf mich? Hast du mich denn nicht rufen hören?«
Zitternd hob Nadine den zerzausten Kopf zu der Stimme empor und blickte in das im Halbschatten liegende Gesicht von Yannis Scheffler. Sie schluchzte laut auf vor Erleichterung. Dann begann sie zu weinen.
Yannis blickte mitleidig in das verstörte Kindergesicht.
»Arme Kleine! Du hast wohl große Angst gehabt. Ich dachte es mir schon, als ich dich so rennen sah. Darum wollte ich dich begleiten, aber du hast mich wohl nicht gehört. Komm, ich helfe dir.«
Damit half er ihr liebevoll auf die Beine und legte tröstend den Arm um ihre Schulter. Er war ein gutes Stück größer als Nadine, und als er nun so neben ihr stand, stark und strahlend wie ein Retter in höchster Not, erwachte ein neues, seltsames Gefühl in ihr. Und wieder begann ihr Herz laut zu klopfen, so dass sie glaubte, er müsste es hören - nun aber war es nicht mehr aus Angst.
Langsam gingen sie nebeneinander weiter auf dem Weg, der Nadine nicht länger unheimlich und düster erschien, sondern romantisch und verzaubert. Der ganze Park mit seinen dunklen Tannen, den gewaltigen Baumriesen, durch die hin und wieder der Mond sein bleiches Licht warf, kam ihr vor wie ein wunderbares Märchenland. Sie ging neben Yannis her, und alles war ganz und gar unwirklich. Sie fühlte sich gar nicht mehr wie Nadine, die schüchterne kleine Zwölfjährige, eher wie eine Gestalt geradeswegs entstiegen aus einem Märchen. Ewig hätte sie so neben ihm weitergehen mögen.
Sie fuhr zusammen, als er sprach.
»Wo warst du denn noch so spät?« wollte er wissen. »Solltest du nicht längst zu Haus sein?«
»Ich war drüben beim Kurhaus«, stotterte sie verlegen. »Ich wollte die Musik hören.«
Yannis staunte.
»Du meinst, du hast vor dem Kurhaus gestanden und der Musik zugehört? Ja, magst du denn solche Musik? Schubert und Brahms und dergleichen?«
Nadine nickte eifrig.
»Oh ja, sehr gern.«
Yannis musterte die Kleine an seiner Seite mit neu erwachtem Interesse. Wer hätte das gedacht! Er spielte selber Klavier und Gitarre, hatte seit vielen Jahren Unterricht.
»Ich spiele Geige, schon lange«, fügte nun Nadine schüchtern hinzu.
»Tatsächlich? Ich spiele Klavier und Gitarre«, sagte Yannis.
»Ich weiß«, nickte Nadine eifrig.
»Das weißt du? Woher denn?«
»Ich hab dich spielen gehört – bei Aufführungen im Gymnasium«, erwiderte sie lebhaft. »Ich bin immer hingegangen, wenn ich wusste, dass du dort zu irgend einem Anlass gespielt hast.«
Es kam Nadine gar nicht in den Sinn, ihr Interesse an Yannis zu verbergen. Er war gerührt über die offenkundige Bewunderung in ihren Worten.
Inzwischen hatten sie den Kastanienweg erreicht. Hier war es hell und vertraut. Nadine warf einen scheuen Blick auf den Jungen an ihrer Seite. Sie war ihm noch nie so nah gewesen, dem dunkelhaarigen, hübschen Fünfzehnjährigen mit den schwarzen Augen und der weichen Stimme. Schon früher hatte sie ihn großartig gefunden und ihn bewundert. Nun aber, nach dieser nächtlichen Rettungsaktion, wuchs Nadines Verehrung für ihn ins Grenzenlose.
Sie wusste genau: sie war nur ein kleines Mädchen, 12 Jahre alt. Und sie war gar nicht hübsch und besonders; sie war schusselig und schüchtern und verträumte ihre Zeit. Aber sie hatte sich unsterblich verliebt! In ihren Helden und Retter aus Not und Gefahr: Yannis Scheffler!
Yannis ahnte nichts von den Gedanken und Gefühlen seiner kleinen Weggefährtin. Für ihn war Nadine ein niedliches kleines Mädchen, ein wenig ängstlich und scheu, und er hatte bisher kaum einen Gedanken an sie verschwendet. Es war das erste Mal, dass er sie überhaupt bewusst wahrnahm.
Nadine war stehengeblieben und streckte eine kleine schmutzige Hand zum Abschied aus.
»Vielen Dank, dass du mich begleitet hast«, sagte sie artig. »Ich hatte große Angst allein dort im Dunkeln.«
»Ich komme noch mit dir bis zu eurem Haus«, sagte Yannis freundlich, nahm ihre Hand und behielt sie in seiner, als sie weiter gingen.
Vor dem Sanders-Grundstück machten sie Halt. Das Licht einer Ecklaterne beleuchtete ihre Gesichter.
»Also dann gute Nacht«, sagte er und sah auf Nadine hinunter, deren Gesicht offen und zitternd unter seinem Blick lag.
Ihr kurzes, braunes Haar war zerzaust, es lockte sich feucht an den Schläfen und lief im Nacken zu einem dichten bauschigen Kringel zusammen. Die großen blauen Augen blickten vertrauensvoll zu ihm auf. Eine schmutzige Spur zog sich über eine Wange. Yannis streckte die Hand aus und wischte sie fort. Er lächelte sie an.
»Du bist ganz sandig«, sagte er.
Nadine schrak zusammen, ihre Hand fuhr verlegen an ihr Gesicht.
»Nun ist es fort«, lachte Yannis und sah sie immer noch an.
Was für ein drolliges kleines Ding sie doch war!
»Gute Nacht«, flüsterte Nadine. »Und nochmals vielen Dank.«
Schnell schlüpfte sie durch das Gartentor und lief über den Plattenweg auf das dunkle Haus zu, eine schmale, zierliche Gestalt in Jeans und Anorak.
In keinem der Fenster brannte Licht. Also war Jeremy noch nicht daheim. Das allerdings kam Nadine merkwürdig vor. Schlief er etwa schon? Kaum, das sähe ihm gar nicht ähnlich.
Sie nestelte ihren Haustürschlüssel hervor und schloss auf. Dann zögerte sie. Schon holte ihre dumme Angst sie wieder ein. Dieses dunkle, stille Haus, kein Mensch darin – es jagte ihr Furcht ein.
Himmel noch mal, was bin ich nur für ein Angsthase! dachte sie ärgerlich und gab sich einen Ruck. Während sie mit feuchten Händen in der dunklen Diele nach dem Lichtschalter tastete, tauchten vor ihrem geistigen Auge bereits wieder die unheimlichsten Bilder auf.
Mit einem Schrei fuhr sie zusammen, als es dicht neben ihr »pscht, pscht!« machte. Eine Gestalt löste sich aus den Schatten, die sich als ihr Bruder Jeremy entpuppte.
»Mach kein Licht und sei ganz leise«, wisperte er eindringlich an ihrem Ohr.
»Wieso, was ist denn?« stotterte Nadine verdutzt. »Was ist los?«
Der Bruder zog sie mit sich in die Diele hinein, nicht ohne zuvor den Schlüssel mehrmals im Türschloss herum gedreht zu haben.
»Hast du ihn nicht gesehen?«
»Wen gesehen?« Nadine begriff nicht, was der Bruder von ihr wollte.
»Den Mann dort draußen. Du musst ihn doch gesehen haben.«
Jeremy zog die Schwester an das schmale hohe Dielenfenster.
»Dort drüben steht er, unter der Laterne. Schon eine ganze Weile.«
Nadine spähte durch einen schmalen Spalt zwischen den Vorhängen auf den teilweise erleuchteten Kastanienweg hinaus. Tatsächlich, da stand er! Er war es - der Mann in dunkler Jacke und mit dem breitkrempigen Hut!
Er hatte den Kragen hochgestellt und beide Hände in die Taschen vergraben. Ganz still stand er dort und blickte zum Haus herüber.
»Ich hab’ ihn gar nicht gesehen, als ich kam«, flüsterte Nadine verblüfft. Dann ging ihr auf, dass sie gar nichts gesehen hatte außer Yannis Scheffler, solange er bei ihr war.
»Yannis hat mich heimgebracht«, sagte sie lauter. Ihr war bewusst geworden, dass der Fremde dort draußen sie gar nicht hören konnte.
»Warum flüsterst du so?« fragte sie den Bruder, nun etwas mutiger geworden. »Er hört uns nicht und kann auch nicht zu uns herein.«
Jeremy ließ sich nicht beirren. »Weißt du denn, ob er alleine ist? Vielleicht steht er Schmiere, und ein paar andere schleichen längst ums Haus. Einbrecher oder so was.«
Nadine fuhr erneut der Schreck in die Glieder.
»Meinst du wirklich? Oh Gott, wir müssen irgendwen anrufen.«
Sie begann zu zittern und klammerte sich an den Arm des Bruders. Der schüttelte mannhaft den Kopf. »Wir wollen erst mal abwarten. Sehen, was der vorhat.«
Nadine war schon ans Telefon gehastet, zögerte nun jedoch. Es kam ihr reichlich komisch vor, die Polizei anzurufen, nur weil ein Fremder dort drüben unter der Laterne stand.
Sie trat wieder zu dem Bruder ans Fenster und blickte hinaus.
»Ich glaube nicht, dass da noch mehr sind. Und wie ein Einbrecher sieht der nicht aus«, wandte sie ein.
»Weißt du denn, wie Einbrecher aussehen? Denkst du, allen Verbrechern ist es anzusehen, was sie im Schilde führen?«
Schweigend starrten sie zu dem Mann hinaus, der immer noch unter der Laterne stand.
»Er wartet«, meinte Nadine nach einer Weile. »Sieht es nicht so aus, als würde er auf jemanden warten?«
Jeremy antwortete nicht. Plötzlich kam Nadine etwas in den Sinn.
»Ich habe den Mann schon vorher gesehen«, sagte sie. »Als ich in der Parkstraße war. Und als ich durch den Park rannte, glaubte ich anfangs auch, dass er hinter mir wäre.«
Jeremy starrte sie an.
»Wirklich? Und dann?«
»Ich hatte große Angst und rannte fort. Ich fiel hin und …«
»Und?« Gespannt musterte der große Bruder die kleine Schwester. »Und dann kam Yannis, und der Mann war fort«, schloss diese kurzerhand ihren Bericht. Der Gedanke an den Spaziergang mit ihrem Retter Yannis durch den verzauberten Park hatte vorübergehend die unheimliche Begegnung aus ihren Gedanken verdrängt.
»Er war hinter dir her«, schlussfolgerte Jeremy. »Das ist so einer, der hinter kleinen Mädchen her ist.«
Dann verstummte er. Nun war ihm etwas in den Sinn gekommen, darüber musste er erst einmal nachdenken. Als er sich heute am frühen Abend mit seinem Kumpel Jona in der Nähe der Sporthallen und dem Fitnessstudio herum gedrückt hatte – war es ihm da nicht auch so vorgekommen, als würde er beobachtet? Da war ein Mann mit dunklem Haar und in Sportkleidung, der ihn interessiert musterte. Allerdings hatte jener Fremde keinen Hut und keine dunkle Jacke gehabt, aber da war es ja auch noch warm gewesen. Jona meinte, das sei der neue Tennislehrer und Fitnesstrainer, der seit kurzem in den Sporthallen beschäftigt sei, die sich neben dem Kurhaus befanden. Seinen Namen kannte auch Jona nicht. Der Fremde wirkte harmlos und nicht unsympathisch. Jeremy war vor allem sein Interesse an den beiden Jungen aufgefallen.
»Warum schaut er immer zu uns herüber?« hatte er gefragt, und Jona hatte geantwortet: »Vielleicht will er uns in seinen Fitnessclub werben.« Sie hatten gelacht und nicht weiter darüber nachgedacht. Nun aber bekam das Ganze doch einen neuen Sinn. Zumal auch Nadine den Mann bereits früher in ihrer Nähe bemerkt hatte.
Was wollte er von ihnen? Oder war das alles nur Zufall?
In dem Augenblick schrillte das Telefon.
Mit zwei Sätzen war Jeremy dran und nahm ab.
Es war die Mutter. Sie erkundigte sich besorgt, ob alles in Ordnung sei. Das Konzert war zu Ende, und sie wollten noch auf einen Drink zu Nachbarn mitgehen.
»Ja, es ist alles in Ordnung«, beruhigte Jeremy die Mutter. Da schrie Nadine aus dem Hintergrund: »Mama, da ist ein Mann draußen vor dem Haus!«
Unwillig blickte er auf die kleine Schwester, als er das Telefon aus der Hand legte.
»Nun kommen sie«, sagte er ärgerlich. »Nun werden wir vielleicht nie erfahren, was der Unheimliche da draußen vorhatte.«
Aber Nadine hatte keinen rechten Sinn für Jeremys Abenteuerdrang und seine Detektivgelüste. Sie war froh, dass nun die Eltern gleich heimkommen würden.
Zehn Minuten später waren sie da. Angela Sanders stürmte aufgeregt in die Diele, Marcus gemessenen Schrittes hinterdrein.
»Wo ist der Mann?« wollte die Mutter atemlos wissen und musterte ihre Kinder mit forschenden Blicken, als könnte sie so auf die Schnelle herausfinden, ob sie heil und unversehrt waren.
»Er ist fort«, antwortete Nadine. »Jedenfalls steht er dort nicht mehr unter der Laterne.«
Marcus Sanders half seiner Frau aus dem Mantel.
»Und was hat dieser Mann da draußen getan?« forschte er weiter.
»Er stand nur da und schaute zu unserem Haus herüber«, berichtete Nadine. Dann erzählten die Kinder abwechselnd von ihren Erlebnissen der letzten Stunden.
Nadine stand wie eine kleine Sünderin da und erwartete mit zerknirschter Miene die Strafe für ihre nächtliche Exkursion, die in der Regel in mildem Schelten und eindringlichen Ermahnungen der Mutter bestand. Der Vater pflegte sich bei solchen Gelegenheiten zurückzuhalten. Er fand, seine Frau sei übermäßig besorgt und ängstlich. Er hielt mehr davon, die Kinder an der langen Leine zu lassen. Zwar musste er zugeben, dass Nadine eine kleine Tagträumerin war, aber das störte ihn nicht. Er liebte sein Nesthäkchen wie es war und wollte es nicht anders haben. In diesem Falle allerdings runzelte er auch unwillig die Stirn. Wie leicht konnte der Kleinen bei Dunkelheit im Park etwas geschehen! Trotzdem hätte er es nicht über sich gebracht, ihr eine Standpauke zu halten oder gar den strengen Vater herauszukehren. Das lag ihm ohnehin nicht. Nicht einmal bei seinem unternehmungslustigen, draufgängerischen Irrwisch von Sohn.
Nadine musste heute Abend mit Staunen feststellen, dass auch die Mutter gar nicht daran dachte, ihre mahnende kleine Standpauke abzuhalten. Sie schien ihren eigenen Gedanken nachzuhängen, welche Wege auch immer diese genommen hatten.
Ihre Geistesabwesenheit hielt noch an, als die Kinder längst in ihren Betten lagen und dem neuen Tag entgegen schlummerten.
Sie saß scheinbar gedankenversunken am Fenster und starrte in die Nacht hinaus.
Marcus Sanders hatte sich seiner Abendgarderobe entledigt und erleichtert mit einem Glas am Kamin niedergelassen. Von dorther warf er seiner Frau hin und wieder einen fragenden Blick zu.
Was war das heute Abend mit ihr? Zwar war Angela Sanders stets ruhig und zurückhaltend und schäumte nie vor übersprudelndem Temperament, aber während der letzten Stunden schien sie ihm noch stiller als sonst. Was ging ihr durch den Kopf? Er musterte sie leicht besorgt, wie sie da zusammen gesunken am Fenster saß. Angela war mit ihren 40 Jahren noch eine hübsche Frau. Das braune Haar war wie das von Nadine leicht gelockt, und sie trug es in einem kurzen flotten Schnitt. Auch die Augen waren wie die ihrer Tochter, von einem dunklen, samtigen Blau mit dichten dunklen Wimpern und Brauen. Überhaupt hatten Mutter und Tochter große Ähnlichkeit, wie der Sohn dem Vater sehr ähnlich war.
Marcus musterte seine Frau zärtlich. Er liebte sie sehr und las ihr jeden Wunsch von den Augen ab. Angie neigte mitunter zur Schwermut. Dann konnte es geschehen, dass sie tagelang in düstere Grübeleien versunken herumwanderte, und nichts und niemand konnte sie da herausholen. Das kam zum Glück selten vor, aber Marcus fürchtete solche Tage. Er fühlte sich dann stets wie ein Versager, wie ein Mann, der seiner Frau nicht zu geben vermochte, was sie zum Glücklichsein brauchte.
Dabei war Angie durchaus glücklich in ihrer Ehe und mit ihren Kindern – soweit eine Frau ihrer Natur und Veranlagung überhaupt glücklich sein konnte.
Marcus Sanders hatte mitunter den leisen Verdacht, dass er nicht Angelas »große Liebe« war, was sie jedoch niemals gesagt hatte. Es kam ihm vor, als habe es in ihrer Jugend einen Mann gegeben, den sie lieber geheiratet hätte, was dann aber scheinbar aus irgendwelchen Gründen nicht möglich gewesen war. Angelas Vater war seinerzeit der Landrat von Bernburg, ein vornehmer, strenger, harter Mann mit großen Idealen und noch größeren Zielen. Seine Frau war früh gestorben und Angela weitgehend ohne Mutter aufgewachsen, einzig der strengen Führung und Erziehung des ehrgeizigen Vaters ausgeliefert. Angelas Kindheit war demzufolge nicht gerade leicht und unbeschwert. Sie war ein schüchternes, ängstliches Kind – Nadine auch darin so ähnlich. Mitunter musste sie sich in der kühlen, sachlichen Atmosphäre des Elternhauses gefühlt haben wie eine Nachtigall in der Wüste.
All das wusste oder ahnte Marcus, und er war über die Maßen bemüht, ihr das Leben schön zu machen. Angela sprach nicht von ihrer Kindheit, und Marcus vermutete, dass es da vorwiegend schmerzliche Erinnerungen gab.
Angela wiederum wusste, wie sehr ihr Mann sie liebte und verwöhnte. Es war schön, und dennoch konnte sie niemals das Gefühl loswerden, diese übermäßige Verehrung und Liebe gar nicht zu verdienen. Sie hatte manchmal direkt ein schlechtes Gewissen deswegen, denn ihr war klar, dass er sie so sehr viel mehr liebte als sie ihn.
Marcus Sanders war ein gutaussehender, schlanker Mitvierziger mit breiten Schultern, vollem, dunkelblondem Haar und grauen Augen, nach dem sich durchaus noch manche Frau umdrehte. Er war ruhig und ausgeglichen, von unerschöpflicher Geduld sowohl mit seinen Kindern als auch mit den Patienten, die zahlreich seine Zahnarztpraxis in der Waldstraße aufsuchten. In der Nachbarschaft war die Familie beliebt und geachtet, und sie pflegten guten Kontakt zu allen.
Angela war befreundet mit Maria Scheffler, deren ruhige, besonnene Art ihr lag. Jeremy und Jona waren seit langem gute Freunde. Angela hatte in den ersten Jahren ihrer Ehe als Sprechstundenhilfe bei ihrem Mann gearbeitet, aber das war nun lange her. Sie arbeitete nicht mehr, hatte nur ehrenamtlich einige Tätigkeiten übernommen, meistens kirchliche Sachen unter der Schirmherrschaft von Pastor Winterstein.
Nun also saß sie da am Fenster und schaute traumverloren in die Dunkelheit hinaus.
Wie Nadine sieht sie aus, dachte Marcus gerührt. Und genauso verträumt blickt sie drein. Was mochte ihr durch den Kopf gehen? Etwa noch jener Fremde, der draußen gestanden und angeblich ihr Haus beobachtet hatte?
Marcus glaubte nicht daran, dass dieser mysteriöse Fremde etwas von ihnen wollte. Er vermutete eher, dass es sich um einen harmlosen Spaziergänger handelte, der sich vielleicht mit einer Freundin verabredet hatte. Marlies Wolters möglicherweise. Sie wohnte im Hause nebenan, war ein flatterhaftes Persönchen und hatte so manche Männerbekanntschaft neben ihrem eigenen Mann.
»Das wird es sein«, sagte er laut in die Stille hinein.
Angela blickte ihren Mann fragend an.
»Dieser Mann, den die Kinder gesehen haben – sicher war es einer der zahlreichen Bekanntschaften von Marlies«, sagte er überzeugt. »Er wird zum Nachbarhaus hinübergeschaut haben. Meinst du nicht?«
»Ja, vielleicht«, erwiderte Angela vage, aber sie wusste es besser.
Sie hatte ihn nämlich auch gesehen, diesen Fremden. Jedenfalls vermutete sie, dass es sich um denselben handelte.
Am Vortag war es gewesen, in der Innenstadt, ganz flüchtig und von der Seite nur, aber sie hatte ihn sofort erkannt. Sein siegessicherer, lässiger Gang, das kühne Profil mit der Adlernase, der dichte dunkle Haarschopf – all das war so unverwechselbar und einmalig für Angela - unter Tausenden hätte sie ihn herausgefunden, denn sie hatte ihn einmal geliebt!
Das war jedoch lange her, sehr lange sogar. Viele Jahre hatte sie ihn nicht gesehen, und sie hatte auch keinerlei Sehnsucht danach, ihm wieder zu begegnen. Zwar hatte sie ihn nicht vergessen, aber er gehörte zu einem anderen Kapitel ihres Lebens, und dieses Kapitel war abgeschlossen für sie.
Nun hatte sie Marcus und die Kinder, und etwas anderes wollte sie nicht. Sie wollte nur in Ruhe und Frieden leben und nicht auf gestört werden durch beunruhigende Schatten aus der Vergangenheit.
Aber er war wieder da - David Wendland! Und zweifellos hatte er sie gesucht, davon war Angela überzeugt. Was wollte er von ihr? Etwa jene alte Liebe wieder neu aufleben lassen? Es schauderte sie, wenn sie an die Zeit mit ihm zurückdachte. Es war eine turbulente, leidenschaftliche Beziehung gewesen, und sie hatte die besonnene und ruhige Angela völlig aus der Bahn geworfen.
David war so ganz anders als Marcus gewesen, eigentlich das absolute Gegenteil. Bei Marcus fühlte sie sich geborgen und beschützt. Er war zuverlässig, rücksichtsvoll und ausgeglichen, ein treuer Kamerad in allen Lebenslagen. David war temperamentvoll, unberechenbar und voller Überraschungen. Es war eine aufregende Zeit gewesen – damals, die Zeit ihrer ersten Liebe, und sie hatte die unerfahrene, stille Angela durch unglaubliche Wechselbäder der Gefühle geschleift.
David! Er war anders gewesen als alle Männer, die sie bis dahin gekannt hatte. Kennen durfte – denn der Vater hatte da so seine eigenen Vorstellungen und Pläne in Bezug auf seine einzige Tochter und deren zukünftigen Ehemann. In diesen Plänen hatte ein »Windhund« ohne akzeptable Herkunft und Zukunft keinen Platz.
David hatte nichts vorzuweisen, was dem ehrgeizigen Herrn Landrat als Schwiegersohn gepasst hätte, nur eine abgebrochene Kapitänslaufbahn, eine reichlich zweifelhafte Ausbildung zum Sport- und Tennislehrer und keinen Pfennig auf der Naht. So war also das Ende dieser Beziehung vorauszusehen, denn Angela fügte sich - wie immer - den Wünschen des Vaters. Sie trennten sich.
Jahre später hatten sie sich zufällig wiedergetroffen. Da war der Vater bereits ein Jahr lang tot, und Angela musste von dieser Seite keinen Widerstand mehr befürchten. David wollte sie noch immer, aber Angela wollte nicht. Sie hatte Marcus kennengelernt, und wenn es auch dieses Mal nicht die himmelhochjauchzende Verliebtheit war wie seinerzeit bei David, so wusste sie doch, was sie brauchte und wollte. Nämlich einen zuverlässigen Lebenskameraden wie Marcus, der sie liebte und bei dem sie sich geborgen fühlte.
Ein paar Jahre später waren sie einander dann noch einmal begegnet. Angela schauderte wiederum, wenn sie daran dachte. Ihr wurde ganz elend bei der Erinnerung an jene Zeit, und ihr Herz begann dumpf und schmerzhaft zu schlagen.
Sie wollte diese Erinnerungen nicht, die sich da in ihrem Geist zu Bildern formten, zu beängstigenden und beunruhigenden Bildern.
Weg damit! Sie konnte nichts davon in ihrem Alltagsfrieden gebrauchen! Es war mühevoll genug gewesen, zu diesem Frieden zu gelangen! Ihr Leben war gut so wie es war, und so sollte es bleiben!
Kapitel 2
Die Tür stand weit auf, als Maria und Yannis das Haus der Familie Wolters erreichten. Von drinnen waren laute Stimmen zu hören, vielmehr eine laute Frauenstimme und eine leisere männliche. Sie schienen miteinander zu streiten.
Maria drückte auf den Klingelknopf, um das uneinige Paar im Hausinnern auf sie aufmerksam zu machen.
Yannis stieß die Tür kurzerhand mit dem Fuß auf, denn die Hände hatte er nicht frei. Er hielt eine mit einem Tuch verhüllte, einigermaßen schwere Last in den Händen, die er vorsichtig vor sich her balancierte.
»Hallo!« rief er in das Halbdunkel des Hauses hinein.
»Warte doch«, mahnte Maria leise und hielt ihren Sohn zurück.
Marlies Wolters erschien in der Diele.
»Ach, Ihr seid es. Kommt herein.«
Sie lief voraus ins Wohnzimmer, wo Lukas Wolters vor der breiten Fensterfront stand, ein Glas in der Hand. »Du kannst sie hier auf den Kaminsims stellen«, wies Marlies Yannis an, der umgehend ihrer Aufforderung nachkam. Maria trat an den verhüllten Gegenstand heran und zog das Tuch herab.
Eine makellose Plastik aus Bronze bot sich ihren Blicken, ein zartes schönes Mädchengesicht von halblangem Haar umrahmt.
»Wunderschön«, flüsterte Marlies ergriffen. »Eileen wie sie leibt und lebt.« Sie wandte sich zu Lukas um.
»Komm her und schau dir das an, du Brummbär. Und sei nicht mehr böse auf mich.«
Sie lachte, schüttelte ihre rotblonde Mähne und meinte augenzwinkernd zu Maria: »Lukas ist neuerdings eifersüchtig. Dabei müsste er sich doch langsam an meinen Lebensstil gewöhnt haben. Er weiß doch, dass ich nun mal kein Heimchen am Herd bin und ein großes Herz habe.«
Sie drehte sich zu ihrem Mann um. »Meckere ich etwa, wenn du so oft in deiner Stammkneipe herumhängst? Na also! Leben und leben lassen – das ist meine Devise! Ich habe ein großzügiges Naturell.«
Mit diesen abschließenden Worten war das Kapitel scheinbar für heute erledigt. Sie wandte sich wieder der Bronzeplastik zu.
»Das soll ein Geburtstagsgeschenk für Eileen sein«, sagte sie.
»Ich muss sie noch ein paar Tage verstecken.«
»Was für eine verrückte Idee!« ließ sich Lukas Wolters vernehmen und trat zum Büfett, um sich sein Glas erneut zu füllen.
»Eine Bronzeplastik einem jungen Mädchen zum 18. Geburtstag zu schenken! Darauf kann auch nur meine Frau verfallen.«
»Na, das ist doch mal etwas Besonderes«, meinte Marlies und spazierte bewundernd um Marias Werk herum.
»Sie ist dir großartig gelungen, Maria. Und ganz ohne Sitzungen, nur nach den Fotos.«
Maria lachte. »Nun ja, ich kenne ja das Modell, nicht wahr? Und immer, wenn ich Eileen sah, habe ich ihre Mimik und ihre Züge studiert. Es ging besser als ich dachte.«
»Meine Mutter ist eben eine talentierte Künstlerin«, neckte Yannis und legte einen Arm um sie.
»Das ist sie wirklich«, stimmte Marlies neidlos zu. »Ich habe nie begriffen, dass du nicht längst deinen Ruhm in der großen weiten Welt genießt, Maria. An deiner Stelle wäre ich über alle Berge und würde nicht hier in diesem Nest versauern. Denn Möglichkeiten hättest du doch genug!«
»In diesem Nest – wie du es nennst – lebt meine Familie. Ich fühle mich ausgesprochen wohl hier und möchte nichts anderes«, erwiderte Maria. »Ich bin nun mal ein Familienmensch.«
»Scheint so«, war die Antwort. »Und nun, meine Lieben«, Marlies warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Ich muss fort, eine Verabredung.«
Sie tänzelte auf ihren Mann zu und küsste ihn auf die Nasenspitze.
»Bis bald, mein alter Brummbär. Hoffentlich ist deine Laune besser, wenn ich wiederkomme.«
An der Tür stockte ihr Schritt.
»Ach übrigens – hast du noch ein bisschen Kleingeld für deine Frau?«
Lukas Wolters zückte ergeben seine Brieftasche.
Maria und Yannis verabschiedeten sich ebenfalls und verließen mit ihr das Haus.
Gleich darauf hörte Lukas Marlies in ihrem eigenen kleinen Wagen davonfahren. Er seufzte, griff erneut zur Flasche und ließ sich schwer in einen Sessel fallen. Verdrießlich starrte er in sein volles Glas. Mein Gott, was war das für ein Leben! Diese Frau – nun war sie wieder unterwegs zu einem ihrer Liebhaber, und er konnte sie nicht daran hindern. Und seine Kinder? Sie waren ihm so fremd, er hatte das Gefühl, sie kaum noch zu kennen. Ihm schien es, als ob sie in ihm nur den Goldesel sehen würden, der dafür zu sorgen hatte, dass die Finanzen stimmten. Lukas Wolters war Zeitungsverleger. Der Betrieb lief gut, nahezu von ganz allein, seitdem sein Schwager mit dabei war. Auch da hatte er seitdem nicht mehr das Gefühl gebraucht zu werden.
Er hatte es satt! Über alle Maßen satt!
Lukas griff nach seinem vollen Glas und trank es aus.
Maria und Yannis waren den Kastanienweg entlang zu ihrem eigenen Haus geschlendert. Der Nachmittag ging zur Neige, und die Sonne war hinter ein paar dunklen Wolken jenseits des Sees verschwunden. Ein frischer Wind war aufgekommen und trug den herben, kräftigen Geruch feuchter Erde zu ihnen her. Am Nachmittag hatte es einen tüchtigen Schauer gegeben, und der Rasen vor der Terrasse war noch nass. Die Schäferhündin Senta empfing sie schwanzwedelnd an der offenen Terrassentür.
Yannis Gedanken waren noch bei der Familie Wolters.
Er begriff Lukas Wolters und seine Haltung gegenüber seiner Frau nicht. Genauso wenig verstand er allerdings seine Frau mit ihrem kapriziösen Lebenswandel.
Wie konnte man so leben? Die Mutter mit ständig wechselnden Liebhabern mehr unterwegs als daheim, der Vater während der meisten Zeit angesäuselt – ein Familienleben gab es praktisch überhaupt nicht. Die Kinder der beiden taten ihm leid. Die 18-jährige Eileen war ein nettes, hübsches Mädchen, das unter der Ehe der Eltern zu leiden schien – was sie allerdings meistens erfolgreich zu verbergen suchte.
Der 17-jährige Tim schien seiner Mutter nachzueifern. Er ging seine eigenen Wege und hatte sich schon einen weit verbreiteten Ruf als Verführer und Herzensbrecher erworben. Mit seinen dunklen Locken, den vollen, sinnlichen Lippen und seinem selbstbewussten Gehabe kam er bei den meisten jungen Mädchen gut an. Was nicht heißen sollte, dass er sich nur an junge Dinger hielt. Tim war groß und breitschultrig und wirkte älter als seine 17 Jahre, so dass sogar manche junge Frau seinem draufgängerischen Charme nicht widerstehen konnte.
»In der Familie geht jeder seine eigenen Wege, niemand kümmert sich um den anderen«, sagte er jetzt aus seinen Gedanken heraus.
Martin Scheffler, der inzwischen von seinen Hausbesuchen heimgekommen und neben Senta auf der Terrasse erschienen war, vernahm die letzten Worte seines ältesten Sohnes.
»Na, ganz so drastisch würde ich das doch nicht sehen«, meinte er leicht erstaunt und runzelte die Stirn. »Ich denke schon, dass jeder auch eigene Wege gehen sollte, aber bisher hatte ich absolut nicht den Eindruck, dass niemand sich um den anderen kümmert.«
Er zauste Yannis zur Begrüßung den dunklen Haarschopf und nahm seine Frau in den Arm.
»Ich meine doch nicht unsere Familie, Vater«, klärte Yannis ihn auf. »Wir sprechen von der Familie Wolters.«
Er musterte seinen Vater, der einen Arm zärtlich um die Schulter seiner Frau gelegt hatte und wunderte sich einmal mehr über seine Eltern, wie liebevoll sie miteinander umgingen, wie sie sich ohne Worte zu verstehen schienen. Als ob es ein unsichtbares Band zwischen ihnen gäbe, das weder Zeit noch irgend etwas anderes zerstören konnte. Es schien ihm undenkbar, dass sich das jemals ändern könnte.
»Ich begreife nicht, dass Lukas Wolters sich diese endlosen Eskapaden und Seitensprünge seiner Frau gefallen lässt«, wunderte er sich kopfschüttelnd.
Martin sah seinen Sohn grübelnd an.
»Was würdest du an seiner Stelle tun?« forschte er neugierig.
»Sie zum Teufel schicken«, fuhr Yannis auf. »Er könnte doch zehn andere finden, die ihm das Leben nicht so zur Hölle machen.«
»Vielleicht liebt er sie«, gab Martin zu bedenken.
»Er wartet möglicherweise darauf, dass Marlies eines Tages ihren lockeren Lebenswandel satt bekommt und häuslich wird«, meinte Maria, und damit kam sie der Wahrheit recht nahe.
»Na, darüber könnten beide alt und grau werden! Außerdem - auch wenn er sie immer noch liebt – trotz allem, so muss er sich doch nicht alles gefallen lassen, was sie ihm antut. Vielleicht sollte er mal mit der Faust auf den Tisch schlagen. Marlies nimmt ihn gar nicht ernst. Sie behandelt ihn wie einen Hanswurst«, räsonierte Yannis weiter.
»Ja, mit der Faust auf den Tisch schlagen -«, seufzte Martin. »Das hat ihm schon manch einer geraten. Aber er ist nicht der Mann dafür. Statt dessen betäubt er sich mit Alkohol.«
»Vielleicht rutscht ihm eines Tages ja mal die Hand aus, wenn er genügend davon intus hat«, meinte Yannis hoffnungsvoll.
Er konnte nun mal Marlies Wolters nicht leiden. Sie war einige Jahre älter als seine Mutter und benahm sich in seinen Augen wie ein alberner, affektierter Teenager von siebzehn.
Unwillkürlich wanderte sein kritischer Blick zu Maria in ihrem schlichten Kleid und der einfachen Frisur. Wie anders war sie doch als Marlies mit ihrer auffallenden Schminkerei und den weit ausgeschnittenen, zu engen Pullis!
Maria Scheffler war völlig ungeschminkt und auch ohne das noch eine schöne Frau, schlank und zierlich von Statur, dabei jedoch kräftig und wohlproportioniert. Das schwarze lange Haar trug sie heute hochgesteckt, meistens aber in einem dicken glatten Zopf, der ihr weit den Nacken hinunter hing. Am auffallendsten an ihr waren die Augen, grün und je nach Stimmung und Situation in unterschiedlichen Grüntönen schattierend.
»Da könntest du vielleicht sogar recht haben«, sagte sie nun, den Gedanken an einen alkoholisierten Lukas, dem endlich einmal der Kragen platzte, weiter verfolgend. »Mir schien er heute weniger duldsam als sonst. Vielleicht ist das Maß irgendwann voll, und er fährt desto gründlicher aus der Haut.«
»Ach, das hab ich schon oft gedacht«, meinte Martin. »Aber inzwischen glaube ich nicht mehr daran.«
Da ertönte aus dem Hintergrund eine unheilschwangere Stimme:
»Der Krug geht solange zum Brunnen, bis er bricht – das sage ich.« Beate, die langjährige Haushälterin, hatte gesprochen.
»Der Kaffee wartet seit einer halben Stunde drinnen im Wintergarten«, grollte sie vorwurfsvoll. Als jahrelang geliebte und geschätzte »Perle des Hauses« konnte sie sich schon mal ein tadelndes Wort erlauben, das gehörte zu ihren erworbenen Rechten.
»Ob allerdings der Kuchen noch ganz ist, habe ich jetzt nicht kontrolliert. Ich sah nämlich vorhin die Katze hineinspazieren«, fügte sie vielsagend hinzu.
Im gleichen Augenblick ertönte ein lauter Schrei. Das war Schefflers Jüngste, die 7-jährige Jenny.
»Mona Lisa! Das darfst du doch nicht! Ach Gott, Beate, sieh doch nur! Was machen wir denn jetzt?«
»Jaja, Beate muss es nun wieder ausbaden und geradebiegen, was die Viecher verbocken«, ertönte ein lautes Lamentieren von drinnen.
Als Maria und Martin einen Augenblick später am Kaffeetisch erschienen, prunkte in dessen Mitte ein unversehrter Napfkuchen mit dicker Puderzuckerschicht.
Yannis musterte ihn gründlich, konnte jedoch keinen Schaden an ihm entdecken.
»Er ist ja noch ganz heil und in Ordnung«, staunte er. »Ich denke, Mona Lisa hat sich daran gemacht.«
Beate und Jenny schmunzelten nur.
»Ich sehe nichts«, stimmte nun auch Martin zu. Argwöhnisch blickte er auf Beate, die ihn mit großen unschuldigen Augen ansah.
»Alles in bester Ordnung. Falscher Alarm.«
Später in der Küche nahm Yannis sie beiseite.
»Nun sag doch mal, Beate. Was hatte denn Mona Lisa angestellt?«
»Den ganzen Puderzucker abgeleckt, ratzekahl. Ganz blank war der Kuchen oben! Da kannste mal sehen, wie gründlich so’ne raue Katzenzunge ist«, war die Antwort.
Yannis grinste. »Und was hast du gemacht?« wollte er wissen.
»Na, was wohl? Neuen Puderzucker draufgestreut«, sagte Beate ungerührt.
Kapitel 3
Als Angela erwachte, war es noch dämmrig. Im Haus war es still. Der Gesang der Vögel drang zu ihr herein, die in den hohen alten Bäumen vor ihrem Fenster lärmten.
Es würde ein schöner Tag werden. Sie trat ans Fenster. Eben setzte die Morgendämmerung ein. Leuchtend stieg die Sonne hinter den im Morgendunst liegenden Hügeln jenseits des Sees empor. Zarte Nebelschwaden zogen über seine silbrig-graue Wasserfläche.
Frühling! Endlich war der Frühling da. Noch nie war Angela der Winter so kalt und lang erschienen. Sie fröstelte. Sie sehnte sich nach Sommer, Sonne und Wärme. Bald würden Mandelbäume und Weißdorn blühen, Schwertlilien, Klematis und Flieder.
Flieder, den sie früher so geliebt hatte!
Nun nicht mehr. Das war vorbei. Seit Jahren schon. Genau genommen seit dem Tode des Vaters. Seit damals brachte der Duft des Flieders ihr Jahr für Jahr seinen Todestag zurück. Das war ein schlimmer Tag für sie gewesen.
Dabei hatte es viele schlimme Tage gegeben. Die Nächte nicht zu vergessen!
Sie erinnerte sich nach all den Jahren noch so gut an jene Nacht, als er starb. Es war eine dumpfe, regnerische Nacht gewesen. Sie war spät heimgekommen und hatte Angst!
Der Vater würde böse sein, er konnte so hart und unerbittlich, so ganz ohne jegliches Verständnis für seine Tochter sein. Und sie – immer so bemüht, es ihm recht zu machen, es war ihr dennoch nie gelungen. Ständig lief sie herum mit schlechtem Gewissen und Schuldgefühlen, da sie doch nie so war, wie er sie haben wollte und alles falsch machte.
Und trotzdem war es an jenem Abend wieder so spät geworden!
Angela fragte sich im Nachhinein, warum sie in solchen kleinen Dingen versagt hatte, wie zum Beispiel beim Heimkommen zur vorgeschriebenen Zeit.
War das ein unbewusstes Auflehnen gewesen gegen seine zwanghaft starren Regeln? Ein beharrliches Aufbegehren gegen seine gnadenlosen Forderungen, Erwartungen, Befehle?
Eine untergründig schwelende Aggression, die nicht anders zutage treten durfte als in solchen kleinen, unbedeutenden Widerständen?
Obwohl es doch immer wieder diese Zornesausbrüche herausgefordert und nach sich gezogen hatte, diese endlosen Litaneien über Anstand, Würde und Moral, die darauf angelegt waren, sie klein zu machen, sie zu Unterwürfigkeit zu zwingen, ihr das Rückgrat zu brechen.
Es waren nur Worte, Mimik und Gesten gewesen. Aber alles zusammen war eine einzige demütigende und überaus verletzende Anklage, geboren aus Enttäuschung, Verbitterung und einer diffusen Leere im Leben eines alternden Mannes.
Als deutete er ihre Fehler, Schwächen – ja ihr ganzes Wesen, ihren »missratenen« Charakter – als persönlichen Affront, als üble Beleidigung für sich selbst.
Und dann war noch etwas Anderes dagewesen, etwas Unnennbares, das Angela nie ganz begriffen und verstanden, das sie nur gespürt und gefürchtet hatte!
Heute war es ihr klarer: da hatte in ihren Ohren stets so etwas wie eine Drohung mitgeschwungen. Eine unheilverkündende, unterschwellige Drohung.
Eine Drohung womit? Ging es da um das Jüngste Gericht oder die Ewige Verdammnis?
Was hatte das Kind Angie und später die Jugendliche Angela befürchtet?
Sie wusste es nicht, aber sie entsann sich deutlich jenes Gefühls, das sie bei so einer »Maßregelung« empfunden hatte: Wie ein getretener Hund auf dem Bauch liegend vor seinem Herrn, der drohend eine Peitsche schwang, die irgendwann plötzlich und tückisch niedersausen konnte.
Aber sie hatte es doch wieder und wieder in Kauf genommen, diese Erniedrigung – warum? Nur um des winzigen Triumphes willen, sich doch einmal widersetzt zu haben?
Oder in der vagen Hoffnung, dass endlich, endlich der Vater aufmerksam würde? Könnte denn nicht irgendwann ein Wunder geschehen und der Vater ins Grübeln kommen? Ins Grübeln darüber, was da wohl in seiner Tochter vorgehen mochte? Könnte das nicht der Anfang sein für ein neues Verständnis zwischen ihnen?
Und dann war er plötzlich tot.
Von einem Tag auf den anderen!
Angie hatte es gar nicht begreifen können. Sollte sie auf einmal frei sein? Frei von dem Tyrannen ohne Herz mit der Psycho-Peitsche?
Jene Nacht, die Todesnacht, erschien ihr wie ein ferner Traum und doch so nah und lebendig, als ob es erst gestern war.
Sie war vom Sport und einer anschließenden Verabredung heimgekommen, hatte sich ins Haus geschlichen, mit klopfendem Herzen und weichen Knien. Das Nachtlicht in der riesigen Vorhalle brannte heute nicht. War etwas daran defekt oder wurde vergessen, es einzuschalten?
Die schwere Haustür knarrte leise beim Hineinschlüpfen. Angie musste diese Tür benutzen, für Seiteneingänge besaß sie keine Schlüssel – der besseren Kontrolle wegen!
Sie war auf zitternden Beinen durch die Halle getappt, die Treppe nach oben gewankt. Sollte sie dieses Mal Glück haben und unbemerkt und ungeschoren davonkommen? Es schien fast so.
Die riesige Uhr in der Halle hatte zwölfmal geschlagen, sie war voller Schreck zusammen gezuckt und die restlichen Stufen nach oben gehastet. Dann hatte sie auf dem oberen Treppenabsatz gestanden und gehorcht …
Während der halben Nacht hatte sie gewartet und nach unten gelauscht. Würde er kommen, um sie zur Rede zu stellen?
Waren da nicht Geräusche, ein schlurfendes Tapsen – so wie er sich heimlich heranzuschleichen pflegte, wenn er sie überraschen, sie »ertappen« wollte?
Es war so unheimlich in dem nachtdunklen Haus gewesen, eine bleierne, unheilschwangere Stille. Als ob etwas Schreckliches in der Dunkelheit lauerte und durch die Räume zog.
Das war wohl der Tod gewesen, der Einzug zu halten gedachte!