Sabrinye - Hannelore Dechau-Dill - E-Book

Sabrinye E-Book

Hannelore Dechau-Dill

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Beschreibung

Die Wohngemeinschaft im Ambrosia-Haus ist etwas Besonderes. Vier Jugendliche leben hier mit einer Betreuerin zusammen. Alle haben eines gemeinsam: Sie wurden als Baby ausgesetzt oder fortgegeben. Dieser »Makel« - wie sie es sehen - begleitet sie bereits ihr ganzes Leben. Sie fühlen sich als Ausgestoßene, als unerwünschte Außenseiter der Gesellschaft. Ständig werden sie vom Rätsel ihrer Herkunft verfolgt. Warum wollte man mich nicht? Wer ist meine Mutter? Unbedingt wollen sie diesem Geheimnis auf den Grund kommen, doch ihre Nachforschungen erweisen sich als gefährlich und setzen eine Kette von unheimlichen Vorkommnissen in Gang. Und plötzlich geht es um Leben oder Tod. Ein Roman aus dem Kastanienweg

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Seitenzahl: 322

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Sabrinye
Impressum
Ambrosia
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Danksagung

Hannelore Dechau-Dill

Sabrinye

Weißt du, wer du bist?

Die Leute vom Kastanienweg

Thriller

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://www.d-nb.deabrufbar.

Print-ISBN: 978-3-96752-069-9

E-Book-ISBN: 978-3-96752-569-4

Copyright (2021) XOXO Verlag

Umschlaggestaltung und Buchsatz: Grit Richter, XOXO Verlag

unter Verwendung folgender Bilder von Shutterstock: 1266597097

Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

XOXO Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Gröpelinger Heerstr. 149, 28237 Bremen

Alle Personen und Namen in diesem Buch sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Dieser Roman wurde bewusst so belassen, wie ihn die Autorin geschaffen hat, und spiegelt deren originale Ausdruckskraft und Fantasie wider. Alle Personen und Namen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Tragödien sind nie zu verhindern,

denn sie sind nicht Unglücksfälle,

sondern Zusammenstöße

gegensätzlicher Welten.

Hermann Hesse

Ambrosia

Bei Homer kommt es in der Ilias und in der Odyssee als unsterblich machende Speise der Götter regelmäßig vor.

Den gewöhnlichen Menschen wird es vorenthalten, wie man aus der Kirke-Episode der Odyssee sehen kann.

Wenn Athenaios zu berichten weiß, die Ambrosia sei aus reinem Wasser, Olivenöl und einer Früchtezusammenstellung gemixt, so findet man einen Nachgeschmack von Süßigkeit noch bei Catull, der von einem Küsschen süßer als süße Ambrosia spricht.

Im Roman Der goldene Esel des Apuleius reicht Jupiter Psyche einen Becher mit Ambrosia mit den Worten: »Nimm, Psyche, und du sollst unsterblich sein!«

Prolog

Während sie zur Bodentreppe schlichen, schien das Haus ganz langsam zum Leben zu erwachen.

Es schien zu ächzen und zu knarren, und fast hörte es sich so an, als seien ein paar Schatten aus der Vergangenheit aufgestanden, um ihnen zu folgen.

Dann waren sie oben, öffneten vorsichtig die knarrende Holztür zum Bodenraum. Sabrinye zog an der staubigen Kordel neben der Tür, und gelbliches Dämmerlicht fiel auf eine unglaubliche Ansammlung alter Möbel und Dinge.

Staub waberte in dunstigen Wirbeln um sie her, es roch nach Alter und Vergangenheit. In den Winkeln schien ein nahezu bedrohliches Dunkelgrau zu lauern.

Es war ein düsterer Ort voller ungelöster Geheimnisse und bizarrer Schatten. Vielleicht noch umgeben von einem Schuss Vergangenheitsromantik und Magie.

Da standen wuchtige Kommoden, Schränke und Stühle – Dinge, die irgendjemand vor langer Zeit hier heraufgeschafft hatte, und die dann vergessen worden waren.

Unter staubigen Tüchern verbargen sich vollgestopfte Kisten und Kartons, Koffer voll uralter Kleider und Berge von vergilbten Zeitungsstößen.

»Es ist unheimlich hier oben,« sagte Clarissa, während ihr Blick über die Ansammlung alter Dinge wanderte.

»Ach was,« sagte Sabrinye und zog ein großes Tuch von ein paar Kisten. Eine gewaltige Staubwolke wirbelte empor und hüllte sie ein.

Sabrinye stand einen Augenblick wie erstarrt.

Ein Bild wallte in ihr auf wie etwas aus einem vergessenen Albtraum.

Sabrinye sah das Gesicht einer hässlichen Stoffpuppe vor sich. Sie hatte gestickte blaue Augen und einen gestickten roten Mund. Ihr Haar bestand aus dunkler, verfilzter Wolle; Bauch, Arme und Beine waren mit irgendetwas ausgestopft, das Beulen und Löcher hervorbrachte, so dass das ganze arme Puppenkind krumm und deformiert aussah.

Die Puppe war sehr alt, staubig und unglaublich hässlich. Sie wirkte über alle Maßen traurig und verloren. Genau so verloren wie sie, Sabrinye, sich manchmal fühlte.

Sabrinye war wie gelähmt, eine Gänsehaut überzog Nacken und Arme. Sie schüttelte sich, um den Kopf wieder klar zu bekommen.

Irgendwann und irgendwo musste sie diese komische Puppe schon gesehen haben, und nun hatte sie sich daran erinnert.

Kapitel 1

Sommer im Haus Ambrosia.

Wenn Silva in späteren Jahren an ihre Zeit im Ambrosia-Haus zurückdachte, stand ihr als Erstes immer diese eine Nacht vor Augen.

Eine Sommernacht, so verzaubert und märchenhaft, wie sie nie wieder eine erleben sollte.

Und dann hörte sie wie von weit entfernt Donnas Stimme: »Eines Tages, wenn ich alt und grau bin, werde ich mich an diese Nacht erinnern, und ich werde darüber weinen müssen.«

Als ob es gestern gewesen wäre, so deutlich sah Silva alles wieder vor sich. So deutlich und doch so verschwommen und unwirklich wie in einem Traum.

Ein Traum aus Sommer und Nacht und Harmonie.

Sie sah sich wieder im Garten stehen, allein. Kletterrosen fluteten wie ein zartrosa Wolke vom Spalier der Veranda, ihr Duft wehte flüchtig vorüber. Oben im Ulmengeäst Spinnweben, gitterförmige Gebilde, wie mit Gold überstäubt.

Silva blickte durchs Fenster in den großen Wohnraum auf das schummrige Licht und diese vier Menschen, unbeschwert, schön, unberührbar.

Diese Vier waren ihr anvertraut. Sie kannte sie lange, sie hatten es nicht leicht gehabt in ihrem bisherigen Leben, und sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, ihnen so etwas wie ein Zuhause zu geben.

Und tatsächlich waren sie zusammengewachsen zu einer Gemeinschaft. Fast hätte sie gesagt: zu einer eingeschworenen Gemeinschaft, aber so ganz gehörte sie eben doch nicht dazu. Sie war ihre Betreuerin und soviel älter als sie.

Aber sie waren ihr in all den Jahren so lieb geworden. Und sind es bis heute geblieben.

Sie sah sie dort vor sich in dieser Sommernacht:

Die 18-jährige Clarissa mit dem blonden Pferdeschwanz - auf dem alten Lehnstuhl, die Beine über der Lehne, ein Glas in der Hand.

Die 17-jährige Donna auf einem Kissen am Boden, ihr roter Lockenkopf schimmerte im Kerzenlicht.

Tim, 18 Jahre alt, neben ihr mit einem vollen Glas Wein in der Hand, sein Haar golden wie eine Fata Morgana.

Und die 19-jährige Sabrinye, dunkelhaarig, knabenhaft schlank und verträumt mit untergeschlagenen Beinen auf dem alten roten Sofa, vor sich ein Buch, in dem sie aber nie las.

Silva blickte sie alle der Reihe nach an, und ihr tat das Herz weh.

Und Roy Orbisons einschmeichelnde Stimme drang aus den offenen Fenstern, wehmütig und betörend: »Only the Lonely«

Sie erinnerte sich, sie wollte so gern ganz zu ihnen gehören in dieser Nach, nur dieses eine Mal, sie wollte dort drinnen bei ihnen sein, unbeschwert lachen und die Welt draußen vergessen. Ihren nagenden Kummer und diese schwelenden Schuldgefühle, die immer irgendwo im Hintergrund lauerten.

Sie wollte mit ihnen lachen und tanzen und vergessen.

Und dann war sie bei ihnen.

Sie erinnert sich nicht mehr an jede Stunde dieser Nacht. Nach dem zweiten Glas Wein verwandelte sich die Umgebung in etwas Unwirkliches, Verzaubertes. Sie weiß noch, sie diskutierten eine Weile ernsthaft über die Liebe und das Leben. Noch mehr Wein oder Whisky - dabei durfte dieser viele Alkohol wirklich nicht sein, er war für niemanden von ihnen gut. Aber heute wollte sie nichts davon wissen.

Irgendwann waren sie draußen. Der Garten war dunkel und duftend und lebendig. Sie standen auf dem Rasen unter einem riesigen Vollmond. Tim und sie hielten sich an den Händen und drehten sich auf dem feuchten Gras im Kreis, bis sie lachend und atemlos umfielen.

Clarissa warf mit beiden Händen Jasminblüten in die Luft, so dass sie wie weiße Sterne auf sie herabfielen. Sabrinye und Donna tanzten barfuß einen Tango unter den Bäumen, wie ein geisterhaftes Liebespaar auf einem Ball vor langer Zeit.

Silva glaubte, nie zuvor so betrunken und ausgelassen gewesen zu sein - und es war wundervoll. Sie war berauscht von alldem hier, dem alten Haus, diesem verwunschenen Garten - in diesem zauberhaften Traum aus Sommer und Nacht und Harmonie - ja Harmonie: sie waren eins in diesen Stunden.

Sie lag im feuchten Gras und blickte zu einem Heer flackernder Sterne hinauf, es duftete nach Rosmarin und Lavendel und auch nach Jasmin.

Irgendwann fand sie sich auf den Stufen vor der Veranda wieder, der Rasen lag weiß im Mondlicht, Musik strömte aus den offenen Fenstern, und Sabrinye tanzte für sich allein barfuß auf dem Gras, eine lange Efeuranke im Haar, drehte sich langsam im Kreis, die Arme ausgebreitet und das Gesicht zum gewaltigen Nachthimmel erhoben.

Silva schaute ihr zu, wie sie sich anmutig und selbstvergessen bewegte, als wäre sie gar nicht von dieser Welt. Leicht und beschwingt, als berührten ihre Füße kaum den Boden, die Arme leicht erhoben, das offene dunkle Haar auf den Schultern - und dieses Gesicht – Gott, war sie schön.

Ein rascher, stechender Schmerz durchfuhr Silva, und sie wusste auch, warum. Aber noch war das wirkliche Leben weit weg, noch war Nacht und Vollmond.

Dann saß Tim neben ihr, ein Glas in der Hand, und sein bleiches Gesicht mit dem Goldhaar darum wirkte im Mondschatten wie aus Marmor. Er nahm ihre Hand und hielt sie. Dann gab er ihr aus seinem Glas zu trinken und sie trank kalten Wein.

Irgendwann war Sabrinye an Silvas Seite.

»Wird es noch andere Nächte wie diese geben?«

Ihre Stimme klang zögernd, fast ängstlich, als glaubte sie eigentlich nicht daran. Oder so, als wollte sie von ihr eine gute Antwort darauf hören.

»Aber ja,« antwortete ihr Clarissa »es wird noch viele Nächte wie diese geben, ganz sicher, es liegt doch nur an uns, was wir aus unserem Leben machen. Haben wir nicht alle Zeit der Welt?«

Silva musste schlucken, es schmerzte in ihrer Brust, Tränen stiegen auf.

Wer konnte das wissen?

In diesem Augenblick ergriff Sabrinye ihre Hand und schaute sie an, und sie wusste: jetzt, in diesem Augenblick, war sie eine von ihnen. Oh ja, auch sie, Silva, war ein verwirrtes, einsames Wesen.

Die Musik im Haus war verstummt. Da war nur noch das Flüstern der Bäume und ein zarter Klang in der Luft, magisch und geheimnisvoll. Die langen Efeuranken an der Mauer zitterten leicht, und dort zuckten die Leuchtkäfer.

Glühwürmchen – was waren sie?

Funkelnde Körnchen, ins Dunkel gesät, blitzende Stecknadelköpfe, winzig kleine glühende Feuerfunken im Nachtwind. Silva sah die kleine Pumpe am Weg zum Gartenschuppen, nicht weit vom Brunnen. Sie stand da wie ein schattenhafter Wächter über ihrem kleinen Paradies.

Und Silva wünschte sich, dass das alles nie ein Ende haben möge.

Kapitel 2

Haus Ambrosia hatte alle Merkmale viktorianischer Zeit: hohe Räume, Zierdecken, Hubfenster, Erker, wunderschöne Holzfußböden.

Innerhalb der letzten Jahre wurden umfangreiche Verbesserungen vorgenommen: Fünf Räume wurden renoviert, neue Veranden angebaut, und erst im Vorjahr erhielt das ganze Haus einen neuen Anstrich. Das Mischen von unterschiedlichen architektonischen Stilen kennzeichneten die Häuser aus dieser Zeit.

Geheizt wurde mit Holz; es gab zwei Türmchen, Zierpaneele, geschwungene Fensterrahmen, leistungsfähige Holzöfen und zwei offene Kamine. Gas wurde nicht benutzt, doch es gab eine Gasleitung zum Haus.

Der Küchenherd war neu; Geschirrspülmaschine, Kühlschrank, Mikrowelle, Waschmaschine waren vorhanden. Die alten Vorhänge und Jalousien wurden nicht ersetzt, sondern gereinigt.

Haus Ambrosia war ein Haus mit viel Stärke, Stolz und Anmut. Es hatte seine ganz eigene und gewichtige Persönlichkeit. Aus der Entfernung wirkte es zart und entrückt, wie ein altes Aquarell. Wer ihm seinen Namen gegeben hat, wusste Silva nicht. Vermutlich der Vorgänger. Von ihm stammte auch ein großer Teil der Möbel sowie alter Kram und Gerümpel. Davon war reichlich auf dem Dachboden vorhanden. Man hatte ihn nie vollständig geräumt.

Für Silvas Mitbewohner war er ein magischer Ort voll zarter Melancholie, zeitweise auch ein Hort dunkler Geheimnisse und des Horrors.

Wie ein Trödelladen mit sonnendurchflirrter Vergangenheitsromantik und bizarren Schatten von Gegenständen in bedrohlich kaltem Dunkelgrau.

Es gab ein altes Kutscherhaus, einen halbverfallenen Stall und ein Gartenhäuschen. Gewaltige Rhododendren säumten weite Grasflächen, dichter Baumbestand dahinter und Steinmauern, von Efeu bedeckt.

Es gab ein breites Beet mit Sträuchern, einen Kräutergarten mit Rosmarin und Lorbeer, halb verwilderte Blumenbeete und Rosenrabatten, die in ungezähmter Pracht vor sich hin wucherten. Malerische Steinmauern höher als Silvas Kopf, gesäumt von Bäumen, Weißdorn, Obstbäume und überall der wunderbare, duftende Jasmin.

Ein Garten wie aus einem Märchenbuch, sagte Tim. Er liebte die Gartenarbeit, hatte aber selten Ausdauer dabei. Es war ihnen ohnehin nicht möglich, irgendeine Art von Ordnung hineinzubringen.

Auch die Gegend war der reinste Irrgarten. Dutzende von schmalen Wegen, die sich zwischen Hecken und Wiesen und Wald hindurchwanden, scheinbar nirgends anfingen und nirgends endeten.

In jenem Sommer waren sie dem verträumten Rhythmus von Haus Ambrosia verfallen. Manchmal schien es Silva, als habe die Zeit sich aufgelöst.

Doch dann war sie wieder da, die Zeit, tickte unbarmherzig laut, wurde lauter, raste auf irgendeine riesige, schattenhafte Stunde Null zu.

Kapitel 3

Silva war fast 36 Jahr alt.

Sie hatte ein schmales Gesicht, nicht schön, aber irgendwie unverwechselbar, eine hohe, breite Stirn und dichtes braunes Haar. Graue Augen unter dunklen Brauen, eine helle Narbe auf der Stirn, von der sie nicht wusste, woher sie gekommen war.

Ihre Eltern starben, als sie fünf war.

Sie waren mit dem Auto unterwegs in einer nassen Novembernacht, kamen von der Straße ab, das Auto überschlug sich mehrmals. Ihr Vater starb am Tage darauf, ihre Mutter noch auf der Fahrt zum Krankenhaus.

Sie sprach nicht gern davon, weil sie die Erfahrung gemacht hatte, dass sie die Leute damit in Verlegenheit brachte. Entweder sie verstummten oder fingen an, sie zu bedauern. Das war ihr zuwider. Sie war ja erst fünf Jahre alt und konnte sich kaum an ihre Eltern erinnern.

Sie hatte sie nie wirklich vermisst, hatte sich nur immer vorgestellt, wie es wäre, Eltern zu haben.

Hatte sie nicht eigentlich Glück gehabt? Wie viele Kinder in so einer Situation fielen durch das soziale Netz, landeten in horrormäßigen Heimen.

Silva kam zu entfernten Verwandten, die keine Kinder hatten. Sie waren älter als ihre Eltern bei ihrem Tod gewesen waren, also eher so etwas wie Großeltern.

In den ersten Monaten verkroch sie sich in einem Winkel oder im Garten, wo sie heulte bis zur Erschöpfung, aber mit der Zeit wurde es besser. Irgendwann fügte sie sich in ihr neues Leben, begann die Dinge um sich herum wieder wahrzunehmen.

Da waren die kleinen Kätzchen der Nachbarin, ihr neues Fahrrad, das rot in der Sonne funkelte, und der junge Hund, ein lebhaftes, laut kläffendes Knäuel, das sie betreuen durfte.

Sie kam früh dahinter, dass man sein Leben wegwerfen kann, wenn man immer nur Vergangenem nachtrauert. Und doch blieb eine Sehnsucht nach etwas, das sie nie gehabt hatte. Sie wollte eine Mutter, einen Vater, so wie ihre Freundinnen und Schulkameraden.

Silvas Ersatzeltern taten alles, um ihr eine glückliche Kindheit zu geben, und soweit sie sich erinnern konnte, hatte sie die auch. Wie aber musste es Kindern ergehen, die nicht so ein Glück hatten? Vielleicht hatte sie darum ihren Beruf gewählt, Sozialarbeiterin. Sie wollte sich um Kinder und Jugendliche kümmern, denen das Schicksal übel mitgespielt hatte.

Ihre vier »Schutzbefohlenen« kannte sie sehr lange, zum Teil aus dem Kindergarten, zum Teil aus einer Kinderbetreuungsgruppe im Haus Friedenshafen. Silva hatte sie in etlichen Jahren und Stadien ihres Lebens begleitet. Sie hatte auf sie geachtet und sie beschützt, sie erzogen mit Strenge und mit Liebe. Immer hatte sie versucht, das Beste für sie zu tun. Ob es ihr stets gelungen war, konnte sie nur hoffen.

Nicht immer waren sie in ihrer Obhut gewesen. Zwischendurch waren sie bei Pflegeeltern untergebracht oder zeitweise in einem Internat. Mitunter hatte Silva auch andere Kinder oder Jugendliche zur Betreuung gehabt, mit denen sie in kleinen Wohngemeinschaften lebte. Aber diese Vier, mit denen sie jetzt zusammenwohnte, hatte sie nie aus den Augen verloren.

Bei ihrer Arbeit fand sie Rat und Hilfe bei Pastor Johannes Meinrad und Dr. Markus Daniel. Dr. Daniel betreute ihre Gruppe seit langer Zeit, leitete eine spezielle Abteilung in dem kleinen Krankenhaus im Städtchen, befasste sich auch mit Krebsforschung. Er war sehr tüchtig, außerdem verlässlich und verständnisvoll. Johannes war Pastor in der kleinen Kirche St. Petrus. Sie besuchten regelmäßig seinen Gottesdienst und sahen sich auch oft außerhalb der Kirche.

Seit ein paar Jahren lebten sie nun zusammen in diesem Haus. Sicher hatte es auch Reibereien gegeben, Streit, aber das war wohl kaum zu vermeiden und kam auch in allen richtigen Familien vor.

Im Grunde jedoch fühlten sich sehr wohl miteinander, teilten sich die Hausarbeit, das Kochen. Ein jeder hatte sein eigenes Zimmer, das Haus war groß. Es hätte noch mehr Leute beherbergen können, aber sie mochten niemanden weiter bei sich haben. Vielleicht als Übergang für kurze Zeit, aber nicht für lange.

Silva hatte nebenbei eine kleine Buchhandlung samt Antiquariat. Mit ihr zusammen arbeitete Donna. Sie war die Jüngste in ihrem Kreis und hatte eine Lehre als Buchhändlerin begonnen.

Donna hatte angefangen zu rauchen, was Silva gar nicht gefiel. Sie achtete streng darauf, dass sich ihre Schutzbefohlenen gesund ernährten und Alkohol, Nikotin und härtere Drogen mieden.

Donna war ein hübsches Mädel mit heller Haut und dunkelrotem Lockenkopf. Sie strickte, und das bei allen möglichen Gelegenheiten. Sie gewann ihre innere Ruhe dadurch, ihre Hände bekamen eine fast wütende Energie, ließen sie mit atemberaubender Geschwindigkeit Pullover stricken, für alle, die bereit waren, sie anzuziehen. Inmitten dieser kleinen Schar wirkte sie wie ein zarter Falter, flatternd und unsicher, ein Geschöpf, das man berühren und zermalmen konnte. Dr. Daniel hatte ihr Yoga empfohlen, und bald darauf nahm sie an einem Kurs im nahegelegenen Kurbetrieb teil. Dem Kurbetrieb war das kleines Krankenhaus angeschlossen, das Dr. Daniel leitete.

Clarissa war 18, mit blauen Augen und aschblondem, langem Haar, das sie meistens als Pferdeschwanz trug. Sie war eigensinnig und musste mühsam überzeugt werden, wenn man etwas von ihr wollte. Anordnungen nahm sie nicht widerspruchslos hin. Sie hatte eine Lehre als Krankenschwester im Krankenhaus begonnen. Die Patienten schienen sie zu schätzen.

Timwar ebenfalls 18 Jahre alt. Er war auch stets ein Problemkind. Allerdings nicht, weil er zu Eigensinn oder Trotz neigte, sondern weil seine Gesundheit oft zu wünschen übrig ließ. Er hatte Asthma, und sein Immunsystem war nicht so, wie es sein sollte. Außerdem war er überaus sensibel und anhänglich, vor allem an Silva. Und so leicht verletzbar.

Er war ungemein liebenswert und hatte so seinen eigenen Charme. Seine ansteckende Fröhlichkeit war flüchtig und konnte schnell umschwenken in übermäßige Traurigkeit. Außerdem war er sehr hübsch. Schön auf seine eigene Art, mit diesen goldblonden Locken und den blauen Augen, dem zarten Gesicht und der schmalen, biegsamen Gestalt.

Er war nun mit der Schule fertig geworden und überlegte noch, was er mit seinem weiteren Leben anfangen wollte.

»Ich möchte Musiker werden,« sagte er.

Ausgerechnet Musiker.

Leider war das aus verschiedenen Gründen nicht möglich. Dazu gehörte ein umfassendes Studium und Talent. Und beides nicht zu knapp. Tim konnte Klavier spielen und etwas Gitarre. Er hatte eine ganz gute Singstimme. Hätte er überhaupt so ein anstrengendes Studium durchgehalten?

Es war leider nicht nur eine Frage des Geldes und des Talents. Viel mehr Dinge spielten da mit. Wie sollte Silva ihm nur ausreden, dass dieser Wunsch unerfüllbar war?

Vielleicht hatte das noch Zeit, denn im Augenblick war er psychisch und physisch derart labil, dass erst einmal abgewartet werden musste.

Und dann war da noch Sabrinye.

Sie war 19 Jahre alt und somit die Älteste außer Silva in ihrer kleinen Wohngemeinschaft.

Dem Aussehen nach hätte sie Silvas Alter haben können, aber sie hätte auch 16 sein können oder 25. Sie hatte keinen einzigen Makel im Gesicht, keine Falte oder Narbe, keinen Pickel.

Sie schien von ihrem bisherigen Leben unangetastet und makellos geblieben, versiegelt ohne einen Riss – jedenfalls äußerlich. Sie war eine Mischung aus Schönheit und wilder kleiner Bestie, hochaufgeschossen und nervös. Eine hohe Stirn, dichtes schwarzes Haar in eine Spange gezwängt, die es kaum zu halten vermochte.

Sabrinye war ein außergewöhnliches Mädchen. Sie ist Silva bis heute am deutlichsten von allen in Erinnerung geblieben.

Das Bild jener Sommernacht hat sich tief in ihr Gedächtnis eingebrannt: Sabrinye mit nackten Füßen tanzend auf dem Gras, eine lange Efeuranke im Haar, die Arme ausgebreitet und das Gesicht zum weiten Nachthimmel erhoben, anmutig und selbstvergessen, als wäre sie gar nicht von dieser Welt. Diese langen dunklen Locken, die sich in verschwenderischer Fülle über ihre Schulter ergossen. Schmal wie ein Reh - und der Rock schwang um ihre Beine. Wie eine Nymphe aus einer anderen Welt.

Am Tage allerdings konnte sie eine fremde kratzbürstige Halbwüchsige sein. Zu anderer Zeit auch wieder liebevoll oder fürsorglich, und immer ehrlich und fair.

Oft war sie wie von einer inneren Unruhe getrieben. Dann konnte sie nicht stillsitzen, musste sich bewegen. Sie machte sauber, schrubbte und putzte, saugte Staub und wischte jeden Quadratzentimeter der Küche, Fußleisten und Backofen. Oder sie malte. Mit Farbe und Pinsel tobte sie sich aus, brachte ihre innere Unruhe zu Papier. Die erstaunlichsten Sachen entstanden, oft finster und beängstigend. Ihr Zimmer sah dementsprechend aus. Eine ganze Wand war beklebt mit selbst gearbeiteten Postern, vorwiegend in Schwarz, Grau und Rot. Dazwischen erstaunlicherweise ganz zarte Aquarelle, die vage an Caspar David Friedrich und Jean-Pierre Lemoine erinnerten.

Das war also Silvas kleine Gruppe zu jener Zeit. Im Großen und Ganzen vertrugen sie sich gut. Silva bemühte sich sehr, ihnen allen gerecht zu werden. Im Nachhinein wusste sie natürlich, was sie hätte anders machen müssen. Aber so geht es ja immer.

Jeder kann schließlich nur das tun, was er im Augenblick der Entscheidung für das Richtige hält.

Ist nicht jeder ein Mensch mit ungeahnten verborgenen Tiefen?Und hat nicht jeder seine Verletzungen, die ihm das Leben irgendwann beigebracht hat? Auch sie, Silva.

Und so sehr sie sich auch mühte, so stand sie doch außerhalb. Sie hatte meistens das Gefühl, ein Beobachter zu sein, keiner von ihnen, obwohl sie doch so eine »eingeschworene Gemeinschaft«, wie Tim es einmal sagte, waren.

Stand sie aber nicht hinter einer unsichtbaren Glaswand und schaute ihnen bei ihrem Leben und Treiben zu?

Denn sie waren doch anders als Silva.

Kapitel 4

Tagsüber war die Luft die meiste Zeit über heiß und still wie Glas gewesen, ab und zu verschwand die Sonne hinter einer Wolke, und dann strich ein heißer Windstoß durch das Efeugewirr an der Mauer und ließ es rauschen und raunen.

Es war einer der Tage, an denen Silva wie von einer schlaffen Stumpfheit umgeben schien und sich nur mühsam in den Alltag hineinfand.

Zum Glück war in ihrer kleinen Buchhandlung nicht viel zu tun. Die meiste Zeit hockte sie in der kleinen Nische hinter dem Verkaufsraum über einem großen Becher Tee und versuchte vergeblich, sich mit Neuerscheinungen und Bestellungen zu befassen.

Sie hörte Donna freundlich mit Kunden plaudern. Sie machte ihre Sache gut, und die Leute mochten sie.

Silva hatte beobachtet, dass ein blonder junger Mann in letzter Zeit häufiger kam. Das war mit Sicherheit ihretwegen und nicht aus Interesse an bestimmten Büchern. Er hatte einen Kriminalroman gekauft, vielleicht, um ein Alibi für seine häufigen Besuche zu haben. Als Silva sein Interesse für Donna bemerkte, sah sie sich ihn unauffällig aus der Nähe an. Ein sympathischer, braunhaariger Junge, etwas älter als die 17-jährige Donna.

Einmal waren sie in der Mittagspause ins Café gegenüber gegangen. Ein anderes Mal kam Donna etwas verspätet aus der Pause zurück, die roten Locken verwirrt, ein glücklicher Schimmer auf dem jungen Gesicht. Es war nicht zu übersehen: das Mädel war verliebt bis über beide Ohren.

Von nun an sahen sie sich öfter. Der junge Mann hatte sich als Gernot Hollatz vorgestellt und machte einen guten Eindruck.

Trotzdem war Silva besorgt.

Donna war so jung, und sie trug die Verantwortung.

Sicher konnte Silva sie nicht vor allem bewahren, was da kommen mochte. Und schließlich, mit 17 verliebt zu sein – es war doch ganz normal. Enttäuschungen, Liebeskummer – all das gehörte doch zum Jungsein.

Pastor Johannes lachte nur über ihre Ängste und Bedenken.

»Lass sie nur,« sagte er. »Was ist schon dabei.«

Silva ahnte aber, das Dr. Daniel das anders sehen würde. Immer wieder ermahnte er sie, gut auf ihre kleine Schar zu achten. Sie sollten nicht rauchen, keinen Alkohol trinken – oder jedenfalls in Maßen -, von Drogen natürlich ganz zu schweigen! Regelmäßig zu ihm zur Untersuchung ins Krankenhaus kommen, sich gesund ernähren!

Für all diese Sachen trug also Silva die Verantwortung.

Oft dachte sie, was er da von ihr verlangte, war schier unmöglich. Einfach nicht durchführbar! Immerhin waren sie doch schon junge Erwachsene. Es überforderte sie allmählich. So manches Mal hatte sie das Gefühl, dass ihre Kräfte nachließen.

Leicht war das Leben bisher mit ihr auch nicht umgesprungen, und sie glaubte daran, dass schließlich alles seinen Tribut forderte. Oh ja, auch Silva hatte ihre Verletzungen.

Sie wünschte nur, sie könnte sich an alles erinnern. Vielleicht war sie damals zu klein gewesen. Aber ist man mit fünf Jahren noch so klein? Sie wusste nur, dass da etwas war, an das sie keine Erinnerung hatte. Es musste während der Zeit gewesen sein, nachdem ihre Eltern gestorben waren. Bevor sie zu den Pflegeeltern kam. Manchmal tauchten Erinnerungsfetzen in ihren Träumen auf. Oder unerklärliche Bilder flackerten vor ihren Augen, bevor sie einschlief.

Oh ja, auch Silva hatte ihren Nachtmahr.

Und dann ihre Klaustrophobie und diese seltsame und unerklärliche Angst vor Dunkelheit. Einmal hatte sie mit Johannes einen Ausflug gemacht. Sie hatten Höhlen besichtigt, und er hatte sie schlotternd und halb tot vor unergründlicher Angst ins Freie gerettet.

Häufig hatte sie sich mit Gewalt einen Weg aus einem überfüllten Bus bahnen müssen, ohne darauf zu achten, wen sie dabei aus dem Wege stieß, weil sie mit absoluter Gewissheit wusste, dass sie sterben würde, wenn sie nicht sofort die Flucht ergriff. Dasselbe Gefühl überkam sie manchmal, wenn sie in den Keller musste, zum Glück nicht immer.

Aber gestern war es wieder da, als sie nach unten ging. Das Licht ging plötzlich aus, und sie stand im Dunkeln. Eine heiße Attacke von Klaustrophobie schnürte ihr die Kehle zu. Sie wollte schreien, aber es ging nicht. Da war etwas, ein kleines Wesen, das an ihren Beinen entlangstrich. Was war das? Sie schnappte keuchend nach Luft und hetzte die Stufen hinauf.

Einbildung? Oder nur die Katze Tilli? Aber nein, die lag doch auf dem Gartenstuhl und schlief.

Meistens ließen diese Sachen sie jedoch in Ruhe. Nur manchmal, dann schien es ihr, als käme da etwas aus ihrer Erinnerung zurück, was irgendwo in ihr geschlummert hatte und nun mit Gewalt hervorbrechen wollte.

Wenn es ihr mal nicht gut ging, war Johannes für sie da. Er hatte auch ein paar Semester Psychologie studiert, aber keinen Abschluss gemacht. Mit ihm konnte Silva reden. Er war nicht viel älter als sie, und sie wusste, dass er sie sehr mochte.

Mitunter schoss ihr durch den Kopf: Ich wünschte, ich wäre 19, sorglos, voller Energie, bereit, mich zu verlieben, ein anderes neues Leben zu beginnen. Ja, ein neues Leben. Ein ganz anderes, mit einem Ehemann und Kindern.

Sie wusste, mit Johannes wäre das vielleicht möglich, aber der Gedanke an eine Verbindung mit ihm brachte ihr keine Freude, nur den Druck ängstlicher Anspannung und das dumpfe Gefühl von Schuld.

Vielleicht, wenn jener Andere nicht gewesen wäre.

Für einen kurzen Augenblick stand ihr sein Gesicht vor Augen, schmal und gebräunt, dunkle Brauen und eine hohe Stirn, das volle Haar bereits von grauen Strähnen durchzogen, Dr. Markus Daniel.

Er war älter als sie, aber das war kein Problem für Silva. Sie war für ihn eine – ja, was? Vielleicht so etwas wie eine Mitarbeiterin, denn sie hatten in all den Jahren oft miteinander zu tun. Allenfalls eine Vertraute und gute Kameradin. Aber das war vielleicht nur Wunschdenken, denn er öffnete sich niemals. Er lebte für seinen Beruf als Arzt und für seine Forschung. Silva ahnte, dass es für ihn einmal eine Frau gegeben hatte, aber von ihr sprach er nie, und sie hatte sie nicht gekannt. Sie glaubte, niemand in ihrem Umfeld wusste, wer sie war.

Pastor Johannes Walberg und Dr. Markus Daniel waren also Silvas Ansprechpartner und Helfer in allen Not-und Lebenslagen. Sie waren stets zur Stelle, wenn es Probleme mit einem aus ihrer Gruppe gab.

Was für ein Tag. Es war, als wollte er kein Ende nehmen.

Silva ging nach oben und stellte sich vor den Spiegel. Sie musterte sich: magere Schultern, braune Haare, ein paar Fältchen im Gesicht, Lachfältchen, Sorgenfältchen und die Linien um den Mund. Wo war das Mädchen, das sie mit 16 gewesen war, hübsch und faltenlos und voller Hoffnung?

Das gab es nicht mehr, eine Andere war an seine Stelle getreten. All die Jahre hatten ihre Spuren hinterlassen. Immer Verantwortung, Kummer und Mühen. Soviel Zeit für andere und so wenig für sie selbst.

Silva dachte an Kinder, die sie einmal betreut hatte - viele so zart und zerbrechlich -, an die vielen durchwachten Nächte am Bett fremder Kinder. Und an die Millionen Tränen, die sie getrocknet hatte. Auch andere hatten Angst vor der Dunkelheit und davor, eingesperrt zu sein.

So viele junge Menschen hatte sie ein Stück auf ihrem Weg begleitet. Wie oft war ihr Kopf am Morgen dumpf und schwer gewesen. Alkohol war keine Hilfe. Freiheit gab es durch ihn nicht. Der Kopf wurde nur schwammig, die Zunge pelzig, und nie war er gnädig genug, einen vergessen zu lassen.

Sie wusste irgendwann, sie musste ruhig bleiben und dafür sorgen, dass sich Zorn und Ängste in Energie verwandelten, anstatt sich von ihnen lähmen zu lassen.

Sie dachte an Johannes, an sein liebes Gesicht. Und dann war jener Nachmittag wieder da. Sie beide waren spazieren gegangen. Das Wetter war so schön. Sie gingen zum Fluss hinunter. Der Fluss sah aus wie immer. Er führte viel Wasser, und sein Wasser war braun. Allerhand Treibgut schwamm an seiner trüben Oberfläche. Und dann weinte sie.

Die Tränen, die sie seit Tagen zurückgehalten hatte, flossen nun in Strömen. Es war ihr alles zu viel geworden. Sie machte sich nicht die Mühe, ihr Gesicht abzuwischen, und die warme Tränenflut wirkte seltsam tröstlich.

Johannes war da, er legte seinen Arm um sie, und sie wanderten durch den Sonnenschein. Es war so beruhigend, und sie fühlte sich geborgen. Als er auf einer Wiese stehen blieb, blieb sie auch stehen, sie wartete. Und als er die Hand auf ihr Haar legte, das warm von der Sonne war, ließ sie ihn gewähren.

Sie ließ es zu, obwohl sie eigentlich nicht wollte, dass er sie anfasste. Sie kam sich vor wie eine Lügnerin. Ein anderes Gesicht erschien vor ihren Augen. Sie verscheuchte es und ließ sich von ihm hinter eine Hecke führen. Er küsste sie leidenschaftlich auf den Mund, und sie ließ zu, dass er sie ins Gras hinunterdrückte und ihren Rock hochzog.

Sein Mund auf ihrem Mund, sein Körper so nah an ihrem. Disteln stachen in ihre nackten Schenkel, die Sonne brannte unerbittlich, so dass ihre Augen schmerzten.

Später zupfte sie sich verlegen das Gras aus den Haaren, während er sie schweigend beobachtete. Er tat ihr so leid. Um sie beide tat es ihr so sehr leid. Und doch, könnte es nicht irgendwann auch anders für sie sein?

Ein Fünkchen Hoffnung für sie beide blieb zurück.

Kapitel 5

Sabrinye lauschte auf die Stimmen unten, Lachen drang herauf. Die Haustür klappte, sie hörte Clarissa energische Stimme rufen:

»Hallo, ich bin da!«

Gedämpfte Antworten aus der Küche. Sie erkannte Tims sanfte Stimme, Donnas helles Zwitschern. Worte waren nicht zu verstehen.

Sie wusch sich das Gesicht im Bad, im Spiegel sah es sehr fremd aus, blass und die Augen dunkel umschattet. Sie konnte sich nicht entschließen, nach unten zu den anderen zu gehen. Ein dumpfer Kopfschmerz plagte sie. Sie setzte sich wieder auf das Bett, schob ihr Kissen hoch gegen das Kopfende und lehnte sich dagegen. Sie trug noch das schwarze T-Shirt, das sie am Tag angehabt hatte. Ihre gebräunten Beine in den hellen Shorts lagen ausgestreckt auf der Bettdecke.

Sie hätte gerne geraucht, aber der Geruch von Rauch, der durch die Luft waberte, könnte sie verraten. Schließlich sollten sie nicht rauchen. Sabrinyes Mund verzog sich verächtlich. Gesund ernähren, nicht rauchen, Alkohol am liebsten gar nicht. Da war Silva allerdings nicht so streng, gegen ein Bier oder ein Glas Wein hin und wieder hatte sie nichts einzuwenden. Viel Bewegung, Gymnastik oder Sport. Regelmäßiger Schlaf. An Drogen war natürlich überhaupt nicht zu denken.

Der vergangene Abend schob sich in ihr Gedächtnis.

Es hatte wieder Tränen in der Küche gegeben und Tims sich immer wiederholende Fragen: warum, warum. Sie hatte zugehört und nicht viel gesagt, während sie an die Decke starrte und sich fragte, ob sie selbst auf dieses Warum jemals eine Antwort fände.

In den letzten Jahren war die Frage nach dem Warum wieder häufiger unter ihnen aufgetaucht. Warum hat man mich weggegeben? Warum wollte meine Mutter mich nicht?

Sie hörte noch Clarissas Worte, hart und unversöhnlich und voller Hass: »Man hat man mich einfach irgendwo abgeladen, ich war ihnen im Weg, und dann weg damit. Wohin? Na ja, vor der Kirche, das passt doch…«

Und Donna: »Vielleicht war meine Mutter arm, und sie hoffte, ich würde es bei anderen Leuten besser haben.«

Ihre Worte klangen so trostlos und zweifelnd, dass Tim sogleich zu weinen anfing. Dann Clarissas höhnisches Lachen.

»Glaubst du das? Ich denke, es war meiner Mutter völlig egal, was aus mir wurde. Und deiner auch. Sie wollten uns los sein, das ist alles.«

Sabrinye sagte bitter: »Es ist fast so, als sei ich von Außerirdischen abgeworfen worden.«

Und leise setzte sie hinzu: »Manchmal geht mir durch den Kopf: wem gleiche ich? Sehe ich meiner Mutter ähnlich? Oder meinem Vater? Wie waren sie, ihr Wesen und ihr Aussehen. Was haben sie gemacht in ihrem Leben, bevor ich kam. Und wo sind sie jetzt?«

Und Donna strickte, strickte immerzu, damit ihre Hände beschäftigt waren. Ihre Stricknadeln flogen so schnell auf und ab, dass man ihnen kaum folgen konnte.

Silva hatte versucht, die aufgebrachten Mädchen zu beruhigen, so wie jedes Mal, wenn dieses Thema aufkam. Es gelang ihr in letzter Zeit immer seltener. Meistens steigerten sie sich gründlich in eine düstere Stimmung hinein, aus der sie nur mühsam und nach Stunden wieder herausfanden.

Solche Szenen hatten in der letzten Zeit zugenommen.

Tim begann irgendwann zu weinen und zu schluchzen, sich an Silva zu klammern, die ihn mit Kakao und liebevollen Worten zu trösten versuchte. So saßen sie dann da auf dem alten roten Sofa im Wohnzimmer: Silva in der Mitte, an einer Seite der schluchzende Tim, an der anderen die niedergeschlagene Donna, deren angefangener Strickpullover am Boden gelandet war.

Clarissa hockte wutschnaubend auf einem großen Kissen am Boden, ein kleines Kissen wütend mit den Fäusten bearbeitend.

»Ich wünschte, ich hätte sie einmal vor mir,« pflegte sie zu grollen. »Diese Mutter, die mich weggeworfen hat wie ein Stück Müll! Ich würde mich rächen, das könnt ihr mir glauben. Wenn ich nur wüsste, wer und wo sie ist!«

Silvas Einwände - sie wüsste doch gar nicht, wie es gewesen sei - niemand habe sie doch »einfach so weggeworfen wie ein Stück Müll«, sicher hatten traurige Umstände dazu geführt, - verpufften im Nichts.

»Ihr kennt zwar nicht die genaueren Umstände, aber es war sicher nicht so grausam, wie ihr gern glauben möchtet,« sagte sie.

»Glauben möchtet?« fuhr Clarissa auf.

Silva nickte.

»Ja, das denke ich. Ich denke, ihr macht ein großes böses Drama daraus, was bei eurer Geburt geschehen sein könnte. Das ist natürlich durchaus verständlich. Ich kann gut nachvollziehen, dass ihr euren Kummer und euren Zorn irgendwie loswerden müsst.«

Clarissa schnaubte spöttisch.

»Ein böses Drama!« fauchte sie und funkelte Silva an. »Was weißt denn du, wie uns zumute ist.«

Silva ließ sich nicht provozieren.

»Es ist doch normal, dass Kinder, die ihre Eltern verlieren, Schmerz, Zorn und Verzweiflung fühlen.«

Donna wandte mit kläglicher Stimme ein: »Bei dir war es doch ganz anders, Silva. Deine Eltern sind verunglückt, sie haben dich nicht freiwillig verlassen.«

»Aber haben sie nicht leichtsinnig gehandelt? Sie sind bei glatter Straße und mit Alkohol im Blut mit dem Auto unterwegs gewesen. Da haben sie vermutlich auch nicht daran gedacht, dass sie ein kleines Kind allein zurücklassen, wenn was passiert.«

Sabrinyes unbewegte Miene verriet nicht, was in ihr vorging. Silva ahnte aber, dass auch sie voller Groll war.

Donna und Tim schienen sich letztlich immer damit zufrieden zu geben, ihr Schicksal so hinzunehmen, wie es nun mal war – für eine Weile. Clarissa dagegen schien irgendwelche Rachepläne zu hegen, nur wusste sie leider nicht, wie sie die ausführen könnte.

Tim und Donna drängten sich schließlich an Silva.

»Wir haben ja jetzt dich,« sagte Tim mit zaghafter Stimme.

»Oh ja,« stimmte Donna zu. »Wir haben doch immer dich gehabt. Jedenfalls die ganzen letzten Jahre.«

Und Sabrinye? Was mochte in ihr vorgehen? Silva konnte es nur ahnen.

Immer noch saß Sabrinye regungslos auf ihrem Bett und dachte an den gestrigen Abend. Langsam jedoch verblassten die Bilder und andere traten an ihre Stelle.

Da war eine Erinnerung an Kirschblüten, die sanft auf grünen Rasen fallen, der stille Geruch alter Bücher, Feuerschein flackernd im Kamin und Sabrinye auf dem Fell davor mit einem Buch in der Hand, in dem sie nicht las, sondern ins Feuer starrte, als könnte sie darin in die Zukunft schauen…

Es gab auch Erinnerungen an Winterabende. Sie beschworen Bilder von einer sanften Schneedecke oder leichten Nebelschleiern herauf, da war ein Kaminfeuer im Innern des Hauses und tröstlicher heißer Tee, knuspriger Toast mit Honig.

Wann und wo war das gewesen?

Kapitel 6

»Sabrinye?«

Ein leises Klopfen an der Tür. Sie antwortete nicht. Silvas brauner Kopf schob sich durch den Türspalt.

»Störe ich dich?«

Das Mädchen schüttelte wortlos den Kopf. Sie schlang beide Arme um ihren Nacken und lehnte sich zurück.

»Magst du nicht nach unten kommen? Tim hat Tee gekocht. Wir könnten noch etwas auf der Terrasse sitzen. Der Abend ist so schön.«

Silva musterte Sabrinye verstohlen. Sie war blass unter der Sonnenbräune. Das schwarze Haar hatte sie streng aus der Stirn gekämmt und im Nacken mit einem Band zusammengenommen.

Ihre Miene war ausdruckslos.

»Ist etwas nicht in Ordnung?«

Silva ließ sich auf der Bettkante nieder.

»Darf ich?«

»Du sitzt ja schon,« war die knappe Antwort.

Silva kannte das schon. Wenn Sabrinye in dieser Stimmung war, konnte man nicht viel mit ihr anfangen. Sabrinye nahm die Arme herunter, faltete die Hände vor sich auf dem Schoß. Es waren schlanke, braune Hände mit kurzgeschnittenen Nägeln.

»Kann ich dir irgendwie helfen?«

Silva legte ihre Hand auf die verkrampften Finger des Mädchens. Sabrinye schüttelte den Kopf.

Dann sagte sie: »Weißt du, Silva, mitunter tauchen komische Bilder in meinem Kopf auf, ähnlich wie Erinnerungen. Da ist ein Garten mit Obstbäumen, eine kleine Pforte führt auf eine Wiese, dann dieser Teich am Ende der Wiese. Es ist schön dort, aber ich habe Angst vor diesem Teich.

Und dann wieder sehe ich kahle Zweige in einem Krug. Ich weiß nicht, wo dieser Krug steht und was das für Zweige sind.

Ein anderes Bild erscheint in meinem Kopf, da sind diese Zweige voller Blüten, zartrosa und weiß, als wären die kahlen Zweige nun aufgeblüht. Ich finde aber keine Zusammenhänge, ich weiß nicht, ob es wirkliche Erinnerungen sind. Vielleicht habe ich das alles aus einem Film oder einem Buch, und meine Fantasie hat dann so etwas wie Erinnerungen daraus gemacht.«