Im freien Fall - Hannelore Dechau-Dill - E-Book

Im freien Fall E-Book

Hannelore Dechau-Dill

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Beschreibung

Das Leben macht es den beiden jungen Frauen Judith (26) und Sarah (17) nicht leicht. Als ihre Wege sich kreuzen und es Judith in den Kastanienweg zu der Familie Auerbach verschlägt, hat sie schon Trauriges erlebt. Sarah hingegen ist wohlbehütet in einem harmonischen Elternhaus aufgewachsen. Nun ist es Sommer, und die Welt ist ringsumher in Ordnung – zumindest scheint es so. Eines Tages beschleicht Sibylle Auerbach der Verdacht, dass da irgendetwas in schrecklicher Weise nicht richtig ist. Was ist es, das sich da unter ihnen eingeschlichen hat? Diese unsichtbare, heimliche Bedrohung ihres friedlichen Alltags! Man muss jedoch den Feind erst einmal kennen, bevor man ihn bekämpfen kann! Ein Roman aus dem Kastanienweg

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Seitenzahl: 561

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Im freien Fall
Impressum
Judith
Sibylle und Eric
Sarah und Judith
Die neue Heimat
Die Nachbarn
Sarah und Alexander
Das Gewitter
Das »Äußere Auge«
Im Schefflerhaus
Der Waldlauf
Das Blumenkännchen
Judith und Philipp
Um Mitternacht
Sibylle
Eric
Zeit und Struktur
Im Morgengrauen
Das Geheimnis
Herbst
Die Kopie
Ich wünsche dir einen schönen Tag
Alles ist gut
Winter
Frühling
Nebel
Sprachlosigkeit
Tanz am Abgrund
Vor Sonnenuntergang
Die Sonnenfinsternis
Erinnerung an eine Mondfinsternis
Der Käfig
Denise
Der Vater
Der Besucher
Die Mutter
Aufbruch
Graue Tage
Gut ist kein Gefühl
Küchengespräche
Daheim
Claudio
Iboga
Begegnung mit der Vergangenheit
»Durch den Wald wandeln«
Judith
Schatten der Vergangenheit
Sarah
Danksagung
Über die Autorin
Literaturhinweise

Hannelore Dechau-Dill

Im freien Fall

Die Leute vom Kastanienweg

Sarah und Judith

Thriller

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://www.d-nb.deabrufbar.

Print-ISBN: 978-3-96752-066-8

E-Book-ISBN: 978-3-96752-566-3

Copyright (2021) XOXO Verlag

Umschlaggestaltung und Buchsatz: Grit Richter, XOXO Verlag

unter Verwendung folgender Bilder von Shutterstock: 1550897078

Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

XOXO Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Gröpelinger Heerstr. 149, 28237 Bremen

Alle Personen und Namen in diesem Buch sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Dieser Roman wurde bewusst so belassen, wie ihn die Autorin geschaffen hat, und spiegelt deren originale Ausdruckskraft und Fantasie wider. Alle Personen und Namen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Schmerz ist Vergessen.

Erlösung ist: sich an das Warum erinnern.

(H. Hesse)

Judith

Ganz langsam kam das Erwachen.

Judith lag regungslos mit geschlossenen Augen und ließ es vorsichtig an sich herankommen. Sie brauchte Zeit, um nur einfach ruhig dazuliegen und ihre Gedanken zu ordnen.

Ihr Inneres schien ihr wie ein Kaleidoskop, das man so heftig geschüttelt hatte, dass es nicht mehr in sein altes Muster zurückfallen konnte. Die Erinnerungen an die letzten Monate ihres Lebens waren so verworren und beängstigend für sie, dass sie diese am liebsten weit von sich geschoben hätte. Vielleicht war das ja auch möglich. Vielleicht gelang es ihr hier in diesem Haus, ihre Vergangenheit abzustreifen wie eine alte Haut, die inzwischen überflüssig geworden war.

Auf jeden Fall war sie nicht mehr allein! Das war beruhigend und tröstlich. Hier würde sie alles vergessen und wieder zu sich selber finden können.

Vielleicht war es mit der Zeit möglich, die frühere Judith wiederzufinden. Die unbeschwerte, fröhliche Judith, die dem Leben offen und mit freudiger Neugier entgegengetreten war. Davon war im Moment nicht viel übrig. Sie kam sich vor wie ein gestrandetes Schiff, das nach gewaltigem Unwetter hier auf Grund gelaufen war.

Eigentlich wohl eher wie ein von Anfang an nicht sehr seetüchtiges Segelboot, dessen ohnehin wacklige Masten samt Takelage der Sturm geknickt und das schließlich eine letzte mächtige Woge reichlich zerfleddert hier angespült hat, dachte Judith mit einer Spur Galgenhumor.

Wie beruhigend und angenehm war es, so still dazuliegen und den Tag auf sich zukommen zu lassen. Es war Samstag, und sie brauchte nichts zu tun, als sich in ihrem neuen Zuhause einzuleben. Wenn sie die Augen aufschlug, würde ihr Blick nicht auf das verstaubte, winzige Viereck des Dachfensters fallen, durch das in dieser frühen Morgenstunde kein einziger Sonnenstrahl hereindrang. Da würde keine Dachschräge über ihr sein, an der man sich unweigerlich den Kopf stieß, wenn man zu schnell aus dem Bett kam, so dass man halb betäubt zurücksank.

Sie würde nicht in Ermangelung einer Küche ihren Morgenkaffee auf der rostigen alten Herdplatte in dem schmalen Raum zubereiten müssen, der sich Wohnzimmer nannte. Und sie würde ihre wenigen Kleidungsstücke, die sie besaß, nicht mehr im Koffer unter dem Bett aufbewahren müssen, weil es in ihrer muffigen Behausung keinen Kleiderschrank gab.

Zwei Monate lang hatte Judith in zwei ungemütlichen, engen Dachkammern eines mehrstöckigen alten Gemäuers gehaust. Die Dusche befand sich auf dem Flur und musste mit zwei anderen Mietparteien geteilt werden. Wenn sie aus dem Fenster ihres »Wohnzimmerchens« blickte, das immerhin nicht in einer Dachschräge angebracht war, schaute sie auf einen düsteren grauen Innenhof, wo sich neben stets überquellenden, zerbeulten Mülltonnen und ausrangiertem Mobiliar vollgestopfte, zum Teil vom Regen aufgeweichte Kartons und Gerümpel häufte. Hoch oben über den Dächern der Nachbarhäuser konnte man einen Streifen Himmel erspähen, fern und unwirklich, als würde er zu einem fremden, unerreichbaren Ort gehören.

Wenn sie das Haus, einen vierstöckigen Backsteinkasten, durch die ständig knarrende Tür mit der verstaubten Gardine vor dem milchigen Glasfenster verließ, kam sie auf eine bucklige, schmutzige Seitenstraße, die sie nach einem Kilometer in die belebte laute Innenstadt mit ihrer Fußgängerzone und den vielen Geschäften führte.

Diesen Weg war Judith in letzter Zeit nicht gegangen. Wohin hätte sie auch gehen sollen? Sie hatte weder Geld, das sie in den Geschäften ausgeben konnte, noch eine Arbeitsstelle, die sie hätte aufsuchen können, um das Geld für eventuelle Einkäufe in diesen Geschäften zu verdienen.

Sie hatte so gut wie gar nichts mehr, als sie dieses entsetzliche »Appartement« bezog, nur einen zerschlissenen Koffer mit ein paar Kleidungsstücken darin, die auch schon bessere Tage gesehen hatten, und gerade so viel Geld, um die Miete für diese dürftige Behausung aufzubringen und sich hin und wieder das Nötigste zu essen zu kaufen.

Judith war zu dieser Zeit nicht in der Verfassung, sich eine Arbeit zu suchen. Sie war zu nichts anderem fähig, als stundenlang auf ihrem Bett zu hocken und vor sich hinzustarren. Manchmal ging sie nach draußen und »kaufte ein«. Etwas Brot, Milch und wenn es hoch kam, einen Hamburger in der Imbissbude an der Ecke. Das war dann schon ein unerhörter Luxus, den sie sich eigentlich nicht leisten konnte.

Meistens allerdings verspürte sie gar keinen Hunger. Sie war viel zu bedrückt und verstört, um Hunger zu empfinden. Oft hockte sie auf dem wackligen hölzernen Stuhl vor ihrem schmalen Fensterchen und starrte auf den Hof hinunter, wo zwei struppige Katzen im Müll herumstöberten und ein paar ungewaschene, kreischende Kinder sich stritten oder mit Bravour einen Ball an die staubige Hauswand schmetterten.

Das Geld war dann sehr schnell bis auf wenige Euros aufgebraucht, die als »Notgroschen« zuunterst in ihrem Koffer ihrer deprimierenden Bestimmung entgegenharrten.

Wenn nicht ein Wunder geschehen würde!

Das Wunder geschah aber nicht, und so musste Judith eines Tages einen Entschluss fassen. Das fiel ihr sehr schwer. Tagelang hatte sie stumpfsinnig vor sich hin gebrütet, das Haus schließlich gar nicht mehr verlassen. Sicherlich hätte sie noch eine ganze Weile länger so zugebracht, wenn nicht die Hauswirtin eines Tages an ihre Tür geballert und geschrien hätte, wenn sie nicht demnächst mit der fälligen Miete herausrücke, müsse sie Judith auf die Straße setzen.

Das rüttelte sie in ihrer dumpfen Lethargie auf, und mit einem Schlage wurde ihr klar, dass sie etwas tun musste.

Und dass sie so auf keinen Fall weitermachen wollte!

Sie wollte wieder leben. Richtig und gut wollte sie leben. Dazu brauchte sie Arbeit und ein wirkliches Zuhause. Da sie nun mal beides zur Zeit nicht hatte, musste sie sehen, wie sie dazu kam. Viele Möglichkeiten hatte sie im Augenblick nicht, in der Verfassung und Situation, in der sie sich nun einmal befand.

Denn Philipp war nicht mehr da! Nun musste Judith für sich selber sorgen, kein anderer würde es tun. Nach Hause zurück konnte sie nicht, denn ein Elternhaus gab es nicht mehr. Es war nach der Scheidung der Eltern verkauft worden. Der Vater war als Journalist ins Ausland gegangen, die Mutter war zu ihrem neuen Freund gezogen.

Der Kontakt zu den Eltern war allerdings schon vorher abgerissen, und zwar als Judith sich ihrem neuen Freund zuwandte. Das war vor etwa 2 Jahren gewesen, als sie mit 24 ihr Elternhaus verließ. Beide Eltern hielten nichts von Philipp Bertram, ihrer »großen Liebe«. Judith kümmerte sich nicht darum, sie konnte gar nicht anders. Sie sah nur »ihn«, und nichts sonst zählte von da an mehr. Sie zog zu Philipp, und sie war sehr glücklich.

Jedenfalls in der ersten Zeit. Leider war ihr Glück nicht von Dauer, und eines Tages war es vorbei. Schließlich fand Judith sich in dieser Dachkammer wieder, mittellos und unglücklich, ihr Leben ein einziger Scherbenhaufen.

Nun hieß es also, aus dieser Sackgasse herauszukommen.

Ein Onkel kam ihr in den Sinn. Ein Bruder des Vaters, Eric Auerbach. Nur verschwommen hatte Judith eine Erinnerung an einen ernsthaften, kühlen, strengen Mann, den sie als kleines Mädchen zwei- oder dreimal gesehen hatte.

Sie kannte ihn kaum, wusste nur, dass er eine Familie hatte und in Seefeld lebte. Seine Frau Sibylle und die Tochter Sarah hatte Judith nie gesehen. Nun jedoch stand ihr das Wasser bis zum Halse, und in ihrer Not sah sie keinen anderen Ausweg, als ihn um Hilfe zu bitten. Mehr als abweisen konnte er sie schließlich nicht.

So wandte sie sich an ihn und schilderte ihm am Telefon in wenigen Worten ihre Situation. Es fiel ihr sehr schwer, und fast rechnete sie schon mit einer Zurückweisung. Schließlich war der Kontakt zwischen den Familien schon vor vielen Jahren abgebrochen. Judith kannte gar nicht den Grund dafür.

Nun aber erlebte sie eine Überraschung! Eric machte nicht viele Worte, er kam sofort und holte sie in sein Haus. Seine Frau Sibylle und die Kusine Sarah hießen sie herzlich willkommen. Sie begnügten sich mit Judiths kurzer Schilderung ihrer Notlage und stellten keine Fragen. Judith fühlte sich sofort wohl bei ihnen.

Das war vor wenigen Tagen gewesen. Eric hatte ihr sogar eine Stellung in ihrem alten Beruf als Medizinisch Technische Assistentin in der Kurklinik verschafft, die sie in ein paar Wochen antreten sollte. Judith war ihm sehr dankbar, und sie hatte den festen Willen, in ihrem neuen Leben alles besser zu machen. Onkel und Tante sollten es nicht bereuen, ihr in ihrer schlimmsten Zeit geholfen und ihr ein neues Zuhause gegeben zu haben.

Nun also war Judith hier und wollte ihre Vergangenheit hinter sich lassen. Sie wollte vor allem Philipp vergessen.

Sie war doch noch jung und hatte ihr Leben vor sich!

Und dieses neue Leben sollte jetzt beginnen.

Langsam öffnete Judith die Augen. Die Sonne schimmerte durch den Spalt zwischen den Vorhängen und ließ tausend Sonnenstäubchen flimmern.

Es war Sommer! Zum ersten Mal in diesem Jahr wurde ihr das bewusst, und ein warmes, frohes Gefühl durchströmte sie.

Sie würde den Sommer hier in dieser wunderbaren Umgebung erleben. In diesem schönen, gepflegten Haus mit dem prachtvollen, blühenden Garten ringsherum. Da draußen wartete ein strahlender, sonniger Morgen auf sie! Mit Tau auf dem Gras und Blumenduft, voller Sonne und Vogelgezwitscher! Wie lange hatte sie so etwas nicht mehr gehabt?

Und nun begannen gar die Glocken vom nahen Kirchturm zu läuten!

Mit einem Satz sprang Judith aus dem Bett und lief ans Fenster. Sie stieß die Fensterflügel weit auf und beugte sich hinaus.

Der wilde Wein, der sie gleich am ersten Tag beeindruckt hatte, wucherte über die ganze Rückseite des Hauses und streckte sogar ein paar kräftige Ranken quer über das Fenster, so dass sich Judith wie in einer grünen, vom frühen Sonnenlicht durchglühten Laube fühlte. Tief atmete sie den Geruch feuchter Erde und Gras ein, der aus dem Garten aufstieg.

Wie wunderbar war alles ringsumher! Dort drüben war die dunstige, blaue Weite des Sees und das Stückchen Strand davor hatte doch tatsächlich weichen, goldgelben Sand.

All das erschien ihr wie das Paradies selbst.

Fröhliches Lachen klang an ihr Ohr, und Judiths Aufmerksamkeit wurde auf ein braunhaariges Mädchen mit wippendem Pferdeschwanz gelenkt, das auf dem Nachbargrundstück über den ungemähten Rasen lief. Ihr auf den Fersen folgte ein Junge mit blondem Schopf und Sommersprossen. Sie jagten in übermütiger Unbekümmertheit durch den Garten und waren wenige Augenblicke später im Gebüsch verschwunden.

»Jenny, Nikolai! Frühstück!« ertönte eine Stimme aus dem Innern des Nachbarhauses.

»Wir kommen!« schallte es fröhlich zurück.

Judith wandte sich ins Zimmer um, das ihr nun schon ein wenig vertraut war. Es war ein hübscher, behaglich eingerichteter Raum. Außer ihrem bequemen Bett mit der Daunendecke darauf standen da ein Schrank aus hellem Buchenholz, ein Schreibtisch mit einem Stuhl davor und eine gemütliche kleine Sitzgruppe bestehend aus drei Sesseln und einem Glastischchen. An einer Wand gab es ein hohes Bücherbord, bestückt mit einer stattlichen Reihe Büchern, die allesamt gute alte Bekannte für Judith waren. Die Wände schmückten ein paar hübsche Aquarelle mit Landschaftsmotiven, vielleicht sogar aus der näheren Umgebung.

In der Mitte des Zimmers lag ein handgeknüpfter Teppich auf dem blankpolierten Holzboden, und auf dem Tischchen stand ein Strauß mit bunten Sommerblumen aus dem Garten.

»Sarah hat sie für dich gepflückt,« hatte die Tante gesagt, als sie Judith in ihr Zimmer führte. Judith war ganz gerührt gewesen. Noch hatte sie die fremde Kusine nicht begrüßt. Sie war gerade zu einer ihrer sportlichen Tätigkeiten unterwegs. Vielleicht könnten sie Freundinnen werden. Judith brauchte so nötig Freunde und eine Familie!

Nun stand sie unschlüssig vor ihrem Kleiderschrank, in dem sich die wenigen dürftigen Sachen befanden, die sie mitgebracht hatte. Viel Auswahl gab es da wirklich nicht, und so war sie schnell fertig mit dem Ankleiden. Kritisch musterte sie sich im Spiegel. Immer noch sah sie mitgenommen und blass aus, aber doch nicht mehr so verstört und erschöpft wie vor wenigen Tagen, als sie hier angekommen war. Ihr blondes Haar war nicht länger stumpf und spröde, sondern wieder weich und seidig. Ständig entschlüpfte es den Kämmen und Haarnadeln, mit denen sie es am Hinterkopf aufsteckte. Ihre Augen, die zeitweise leicht erschrocken oder melancholisch dreinblickten, waren grau mit winzigen, grünlichen Sprenkeln darin, die Nase schmal und gerade, der Mund zart und empfindsam. Alles in allem war es ein hübsches Gesicht, Judith war mit ihrem Aussehen und ihrer Figur immer leidlich zufrieden gewesen; im Grund hatte sie sich nie viele Gedanken darum gemacht. Bis Philipp kam. Er hatte ihr gesagt, wie sie sich vorteilhafter kleiden könnte, wie sie ihr Haar tragen sollte.

»Warum zwängst du das Haar in diese entsetzlichen Nadeln und Kämme,« hatte er gesagt. »So musst du es tragen.« Und damit zog er alle Spangen und Nadeln heraus, so dass die blonde Haarflut weich und wellig über ihre Schultern rieselte.

»Und dann diese Hose und der schlapprige Pulli! Warum trägst du keine kurzen Röcke oder enge Jeans?«

Er war mit Judith einkaufen gegangen, Röcke, Hosen, Pullis.

Unsicher und verlegen unter seinen Blicken drehte und wendete sich in ihrem neuen Outfit, und Philipp nickte zufrieden.

»So gefällst du mir!«

Und Judith hatte zaghaft und freudig gelächelt.

Ach, sie hätte ja alles getan, um ihm zu gefallen!

Nach und nach lernte sie, sich selber so zu sehen wie er sie sah. Bald kannte sie seinen Geschmack, seine Wünsche, seine Meinung zu vielen Dingen und richtete sich danach.

»Tu nur, was ich dir sage, ich weiß schon, was gut und richtig für dich ist,« hatte er gesagt und Judith tat es! Sie gab sich große Mühe damit, stellte sich ganz und gar auf ihn ein und vergaß dabei mit der Zeit die eigentliche Judith.

Das war lange her. Auf einmal kam es ihr vor, als ob sie die letzten Wochen lediglich damit zugebracht hatte, die wirkliche Judith wiederzufinden, die irgendwann verlorengegangen war.

Judith seufzte und wandte sich ab. Sie wollte nicht länger an Philipp denken! Das war vorbei. Hier und jetzt war das neue Leben, und hier würde sie wieder sie selbst werden. Ganz sicher würde sie das!

Energisch steckte sie eine lockere Haarsträhne fest und verließ den Raum.

Sibylle und Eric

Eric Auerbach war 46 Jahre alt, mittelgroß, mit blondem glattem Haar, das an den Schläfen schon leicht ergraut war. Die grauen Augen blickten ernst und forschend, in letzter Zeit war er – wohl als Folge großer beruflicher Anspannung – schlanker geworden, was ihm recht gut stand. Bauch und Ansatz zum Doppelkinn waren verschwunden, sein Gesicht wirkte straffer und energischer. Im Ganzen war Eric eher eine unauffällige, aber doch recht angenehme Erscheinung. Nur wirkte er stets unglaublich korrekt und übermäßig darauf bedacht, die Form – oder das, was er darunter verstand - zu wahren. Es war ihm sehr wichtig, alles unter Kontrolle zu haben, einschließlich sich selbst.

Er war ein nüchterner, tüchtiger Mann, und sein enormer Ehrgeiz hatte ihn weit gebracht. Inzwischen war er zum leitenden Direktor der Kurverwaltung Seefeld aufgestiegen und galt als strenger, aber korrekter und gerechter Chef.

Eric hatte einen hohen Anspruch auf alles, was richtig und gut war, auf geistiges Niveau, Bildung, Ordnung und Moral, auf gute Manieren und Standesgemäßheit. Das galt sowohl für ihn als auch für seine ganze Familie. Er hatte vor 16 Jahren die einzige Tochter eines sehr wohlhabenden Geschäftsmannes geheiratet, und es mag dahingestellt bleiben, wie viel davon ein Teil seines wohldurchdachten Zukunftsplanes war und wie viel Zuneigung dabei eine Rolle gespielt hatte.

Seine Frau Sibylle war Frisörmeisterin und besaß einen eigenen Frisiersalon Am Marktbrunnen, den der Vater ihr nach erfolgreich abgeschlossener Ausbildung und Meisterprüfung gekauft hatte. Bald nach der Heirat aber hatte Sibylle diesen verpachtet. Eric war daran gelegen, dass seine Frau nicht außer Haus arbeiten ging. Sie sollte Kind, Haus und Garten samt Dienstboten – es gab dann jedoch nur eine Wirtschafterin – beaufsichtigen und in mustergültiger Ordnung halten, so dass diese jederzeit vorzeigbar waren.

Seine Frau hatte es außerdem »nicht nötig« zu arbeiten. Eric war konservativ und hatte zu diesen Dingen seine eigene althergebrachte Meinung. Billy war eine attraktive, schlanke Frau mit blondgetöntem Haar und blaugrauen Augen. Sie war selbstbewusst, unkompliziert und lebensfroh.

Anfangs war sie ganz gern zu Hause geblieben und hatte durchaus nicht unter Langeweile gelitten. Ihren Alltag hatte sie sich eingerichtet, wie es gerade kam. Sie wusste sich ihre Zeit zu vertreiben. Und dann war ja auch Sarah gekommen.

Im allgemeinen nahm Sibylle das Leben wie es kam, ohne groß darüber nachzugrübeln. Im Laufe der Zeit jedoch schlichen sich bei ihr seltsame Gedanken ein. Warum hatte sie Eric eigentlich geheiratet?

Als sie sich dann vor etwa einem Jahr bis über beide Ohren in einen anderen Mann verliebte – die Affäre war jedoch nur von kurzer Dauer und Eric erfuhr nie davon -, dachte sie zum ersten Mal ernsthaft darüber nach. War sie eigentlich jemals richtig in Eric verliebt gewesen? Sie wusste es gar nicht mehr so genau. Der ernsthafte, tüchtige Eric Auerbach hatte ihr imponiert. Er war so ganz anders als sie, und anfangs fühlte sie sich sehr geschmeichelt, von ihm umworben zu werden. Die Eltern waren mehr als einverstanden gewesen, diesen strebsamen, tüchtigen Mann zum Schwiegersohn zu bekommen.

Außerdem sah er »distinguiert« aus und hatte sich sehr um sie bemüht. Wahrscheinlich weil er sich dachte, ein »angemessenes Umwerben« seiner Zukünftigen sei eine Sache von Anstand und gutem Ton. Eric hatte in seinem Kopf eine Art Image von sich und seinem zukünftigen Umfeld entworfen, dem unbedingt nachzueifern und zu entsprechen war.

Sibylle hatte früher nie daran gezweifelt, dass auch Liebe im Spiel gewesen war. Wie es ihre unbekümmerte Art war, hatte sie es wohl einfach vorausgesetzt, weil es ihr anders undenkbar erschien. Es war ganz einfach neu und aufregend gewesen, mit einem Mann wie Eric zusammen zu sein – und damit hatte es sich!

Jenes kurze, aber heftige Verhältnis zu diesem Anderen hatte Sibylle in ihrem Alltag aufgestört und sie mehr durcheinandergebracht und aufgewühlt als irgend ein anderes Erlebnis zuvor. Plötzlich war in ihr das Gefühl erwacht, etwas versäumt zu haben, und bedenkenlos hatte sie sich in diese neue Beziehung gestürzt. Leider war sie für diesen Mann nur ein kleines Abenteuer gewesen, und bald war er wieder fort.

Sibylle war vorübergehend in eine Depression gerutscht, aus der sie sich jedoch dank ihres unbekümmerten und unkomplizierten Naturells bald herausgerappelt hatte. Mit ihrer Ruhe und Zufriedenheit war es allerdings ein für allemal vorbei. Sie konnte und wollte nicht mehr in den Alltagstrott hinein, der ihr jahrelang genügt hatte. Sibylle hatte stets verstanden, aus ihrem Zusammenleben mit Eric das Beste zu machen, ohne viel darüber nachzugrübeln. Er war ja auch ganz umgänglich, höflich und friedlich. Und ließ ihr alle Freiheiten, soweit sie sich in dem von ihm gesteckten Rahmen hielten!

Aber nun genügte ihr das nicht mehr.

War sie nicht noch jung genug, um mehr vom Leben erwarten zu können? 41 Jahre - das war doch noch kein Alter!

Und jetzt kannte sie den Unterschied! Eric war nie ein feuriger Liebhaber gewesen, nicht so wie David! Dafür war er zuverlässig und treu. Alles konnte man schließlich nicht haben. Für Überschwang und spontane Gefühlsausbrüche hatte Eric nichts übrig, auch nicht für langes Palaver und Gerede. Er ging davon aus, in einer intakten Beziehung musste nicht alles ausdiskutiert werden. Zur Verständigung zwischen ihnen bedurfte es seiner Meinung nach keiner Worte. Da wüsste ein jeder, was der andere fühlt und was gut für ihn ist. Konflikte und Auseinandersetzungen waren tunlichst zu vermeiden!

Man ist eine Familie, hält zusammen in guten und in schlechten Zeiten, erfüllt seine Pflicht – das vor allem! – und vermeidet unerquickliche, Gemüter aufstörende Diskussionen und Debatten, die mehr schaden als nützen - das ist Harmonie und Eintracht!

Eric hatte lange Zeit in dem festen Glauben gelebt, Sibylle sei absolut zufrieden und ausgefüllt in ihrem Leben als Ehefrau, Mutter, Hausherrin und Gastgeberin. Außerdem hatte sie schließlich ihre Hobbys wie Tennis und die verschiedenen, sich abwechselnden Kurse an der Volkshochschule als da waren Töpfern, Malen, Teppich knüpfen oder Englisch und Spanisch. War das nicht ein schönes Leben, das er ihr bot? Er hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, dass all dieses ihr nicht genügen könnte, aber eines Tages war es soweit.

Nachdem Sibylle aus ihre Depression nach jener unglückseligen Affäre mit diesem anderen Mann wieder aufgetaucht war, fasste sie einen Entschluss. Sie wollte ihr Leben ändern und das sofort! Eric starrte verblüfft und erschrocken auf diese wild entschlossene Frau, die da vor ihm stand und ihm gänzlich unverständliche Wünsche und Bedürfnisse unterbreitete.

Arbeiten wolle sie, in ihren früheren Beruf zurückkehren, den Salon in der Fußgängerzone wieder übernehmen. Ihn sogar ausbauen, erweitern, einen Kosmetiksalon anschließen und Ähnliches mehr!

Eric war fassungslos. War er nicht immer davon ausgegangen, alles sei perfekt so wie es war? Und nun musste er feststellen, dass Sibylle mit ihrem Leben unzufrieden war. Darüber musste er erst einmal gründlich nachdenken, bevor er sich dazu äußerte. Sibylle ließ ihm aber keine Zeit dazu. Sie wollte die Sache jetzt und auf der Stelle mit ihm durchsprechen und regeln!

Und sie wollte gar nicht sein Einverständnis zu ihren Plänen! Oh nein, sie stellte ihn direkt vor vollendete Tatsachen. Sie wollte wieder arbeiten und damit basta!

Erics Weltbild schien erschüttert. Jahrelang war doch alles gut so gewesen wie es war. Warum denn nun auf einmal nicht mehr?

Vielleicht wäre alles anders gewesen, wenn Sibylle diplomatischer und geschickter mit ihren Wünschen und Vorstellungen von ihrem neuen Leben an ihn herangetreten wäre. So aber war der arme Eric völlig überrumpelt und überfordert und somit außerstande, das alles nachzuvollziehen.

Billy jedoch hatte sich auf Diplomatie noch nie verstanden. Sie wusste nur, Eric liebte keine langatmigen Diskussionen, und so beschränkte sie sich auf die kurze Erklärung, sie fühle sich unausgefüllt, ihr fehle das Berufsleben und also wolle sie in ihren früheren Beruf zurück.

Über Gefühle und Bedürfnisse, über ihre Beziehung zueinander, sprachen sie nicht. Sie hatten es nie getan und weder Übung noch Erfahrung darin. Beide empfanden eher eine eigentümliche Scheu und Zurückhaltung, dem anderen etwas von ihrem Inneren zu offenbaren. So blieben sie stumm, ihre zaghafte Annäherung an den anderen blieb in den flüchtigen Anfängen stecken.

Vielleicht war da für einen Augenblick so etwas wie ein unklarer Wunsch nach Nähe in beiden aufgeflackert, sehr fremd und daher nahezu furchteinflößend. Sie waren einander ja nie sehr nahe gewesen. Wenn einem von beiden diese Scheu vor dem Schritt auf den anderen zu bewusst geworden wäre und er den Willen und die Möglichkeit gehabt, diese unsichtbare Schwelle zu überschreiten, so hätte das der Anfang für eine neue Gemeinsamkeit sein können. Um wie vieles anders hätte sich die Zukunft für sie alle entwickelt!

Es war jedoch niemand da, der ihnen eine Möglichkeit gezeigt hätte, wie man diese unsichtbaren Hindernisse überwindet, von denen beide nur ahnten, dass es sie überhaupt gab.

Wie die Dinge nun einmal standen, tat keiner diesen Schritt. Schweigend blickten sie einander an.

Erics anfänglicher Ärger und seine Verblüffung bei Sibylles Eröffnungen hatten sich in Zweifel und Unsicherheit verwandelt. Ihm schien plötzlich, als habe er seine Frau bisher gar nicht gekannt, als hätte er ein geheimnisvolles, unbegreifliches Wesen vor sich.

Was war nur mit Sibylle geschehen?

Schon setzte er zu einer Frage an. Warum? Bist du nicht mehr mit unserem Leben zufrieden? Was stimmt denn nicht?

Aber schnell fing er sich wieder, presste die Lippen fest aufeinander, als wollte er verhindern, dass ihm eine solche Frage entschlüpfte.

Wer weiß, wie die Antwort lauten mochte und was da sonst noch alles zu Tage käme. Vielleicht hätte sie gesagt: »Nichts stimmt mehr in unserem Leben« oder noch Schlimmeres.

Besser keine Fragen stellen! Lieber vermeiden, was da alles an negativen Dingen ans Licht kommen könnte.

Nur jetzt keine Auseinandersetzen!

Auseinandersetzungen machten Angst, denn sie könnten auf eine Trennung zusteuern, und das hieße Zerstörung der Einheit. Zerstörung des gemeinsamen Lebens, des ganzen, säuberlich zurecht gedachten Lebensplanes, ja – sogar des gesamten selbst erschaffenen Weltbilds!

Das alles dachte Eric nicht wirklich. Es war mehr seine innere Überzeugung durch eigene düstere Erfahrungen und der daraus resultierenden Schutzmaßnahmen in Form von gründlicher Lebensplanung und unbedingter, strikter Orientierung nach dieser.

Da schien plötzliche so eine dunkle Ahnung am Rande seines Bewusstseins zu lauern, der er mit aller Macht zu entkommen suchte. Ihm war es zumute, als müsste er ersticken, und eine Woge von Angst überlief ihn. Was waren das für unbekannte, verstörende Dinge, die auf ihn und sein Leben zuzurollen schienen?

Unsinn! Das waren nur Hirngespinste!

Mit Gewalt verscheuchte er seine düsteren Gedanken und Gefühle. Was war denn groß geschehen? Sibylle wollte ihren Salon wieder eröffnen. Sie hatte Langeweile und suchte Beschäftigung. Das war es und nichts anderes.

Hätte Eric die Möglichkeit, die Bereitschaft und den Mut gehabt, Fragen zu stellen, - vielleicht wäre ihnen allen das Schlimmste von dem erspart geblieben, was die Zukunft für sie bereit hielt.

Sarah und Judith

Judith und Sarah saßen einander am Frühstückstisch gegenüber. Es war Samstag. Sibylle war schon zu ihrem Salon Am Marktbrunnen aufgebrochen, Eric bereits in aller Frühe zum Dienst gefahren.

Judith musterte die Kusine verstohlen. Sarah saß selbstvergessen vor ihrem Frühstückskaffee, ein kaum berührtes Brötchen auf dem Teller. Das dunkelblonde Haar glänzte wie Metall und reichte bis über ihre Schultern. Es war dicht und glatt und fiel ihr wie ein Schleier vors Gesicht, wenn sie sich nach vorn beugte. Ihre Augen waren von sehr hellem Blau wie Judith noch keine gesehen hatte. Faszinierende, seltsame Augen waren es.

Wie Bergseen oder Gletscher, so kühl und hell, dachte sie.

Als ob ich schon mal einen Bergsee gesehen hätte, schoss es ihr durch den Kopf. Aber einerlei, das war ihr erster Gedanke gewesen, als sie in diese merkwürdigen Augen geblickt hatte.

Was ging dahinter vor? Sie schienen ihr undurchdringlich.

Überhaupt war die ganze Sarah ihr von Anfang an sehr undurchschaubar und zurückhaltend vorgekommen. Sie war wohl kein Mensch, mit dem man schnell warm werden könnte.

Und Freundschaft? Wenn sie je Freundinnen werden sollten, so würde sicher einige Zeit vergehen, bis es soweit war. Bisher waren sie einander noch kaum näher gekommen. Sarah war 9 Jahre jünger als sie, aber Judith schien es, als gehörte sie einer völlig anderen Generation an.

Nun ja, was hatte sie schon alles hinter sich! Sarah hingegen hatte bisher ihr Elternhaus nie verlassen.

Bis zu ihrem 24. Lebensjahr hatte Judith allerdings auch bei den Eltern gelebt. Dann allerdings war sie fortgegangen und hatte alle Brücken abgebrochen.

»Wirst du studieren, wenn du das Gymnasium abgeschlossen hast?« wandte sie sich an die Kusine. Sarah hob den Blick von ihrer Müslischüssel und schaute Judith erstaunt an. War sie mit ihren Gedanken so weit fort gewesen? Dann nickte sie und schob die erst halb geleerte Schale zurück.

»Ja, das habe ich vor,« sagte sie. »Warum?«

Judith zuckte die Schultern.

»Nun ja, es ist ja nicht ganz selbstverständlich. Ich zum Beispiel habe nach dem Abschluss nicht studiert. Ich habe sofort eine Ausbildung als MTA. angefangen.«

»Das würde mein Vater niemals dulden,« erklärte Sarah bestimmt. »Er hat meine Zukunft längst geplant.«

»Und für welches Studium hast du dich entschieden? Oder hat das auch dein Vater für dich geplant?«

Sarah blickte sie kühl an.

»Pädagogik,« sagte sie kurz. »Und Pädagogische Psychologie.«

»Und wo wirst du hingehen?«

Sarah wurde lebendig.

»Am liebsten würde ich an eine Pädagogische Akademie nach Österreich gehen, aber das wird wohl leider nichts.«

Judith musterte das Mädchen prüfend.

»Dein Vater will es sicher nicht, dass du so weit fort gehst,« vermutete sie vorsichtig.

Sarah nickte.

»Er möchte, dass ich nach Werningen gehe. Ich glaube, alle Eltern möchten ihre Kinder nicht so weit fort lassen, oder?«

Sie zog ein Glas zu sich heran und goss Milch aus einem Krug hinein.

»Es macht auch nichts,« fügte sie hinzu. »Mein Freund wird auch an der Alten Uni in Werningen studieren, Jura. Also ist es ganz o.k., wenn ich auch da lande.«

Sie trank ihre Milch aus.

»Außerdem – es ist ja noch Zeit bis dahin. Ich habe noch über zwei Jahre auf dem Gymnasium vor mir.«

»Du hast einen Freund? Kennt ihr euch schon lang?«

Sarah Gesicht leuchtete auf. Sie nickte.

»Seit fast einem Jahr. Er wohnt auch hier in Seefeld.«

Dann blickte sie Judith forschend an.

»Und du bist jetzt ganz allein?«

Sie wusste nicht viel von dieser neuen Kusine, die da so plötzlich ins Haus geschneit war. Nur dass sie sich von ihrem Freund vor etwa zwei Monaten getrennt hatte.

Scheinbar hatte es da ungute Vorfälle gegeben. Judith hatte in den letzten Wochen ohne Arbeit und Geld in irgendeinem elenden Loch in der Großstadt gelebt.

Oder war dieser Freund gestorben? Was hatte der Vater noch gesagt? Sarah runzelte die Stirn und versuchte sich zu erinnern, was der Vater erzählt hatte. Viel war es nicht gewesen. Judith wollte wohl nicht davon sprechen.

»Ja,« sagte diese jetzt. »Ich bin wieder allein. Und das ist gut so. Ich möchte nur arbeiten und ein neues Leben anfangen. Ich bin deinem Vater sehr dankbar, dass ich hier bei euch wohnen darf, und dass er mir diese Arbeit in der Kurklinik besorgt hat.«

Ein neues Leben anfangen!

Wie sich das anhörte! Als ob diese Judith mit ihren 26 Jahren bereits ein langes altes Leben hinter sich hätte.

»Es ist so schön bei euch,« fuhr Judith fort.

»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie ich vorher gewohnt habe …«

Sie verstummte abrupt und holte tief Luft.

»Aber hier, euer Haus, dieser herrliche Garten! Sogar einen Strand habt ihr! Noch nie hab’ ich so schön gewohnt.«

Judith war aufgestanden und an das breite Erkerfenster getreten, das auf die Terrasse hinaus ging.

»Ja, es ist schön. Alexander sagt es auch jedes Mal, wenn er hier ist. Er wohnt mit seiner Mutter in einem Reiheneigenheim mit winzigem Vorgarten, der gerade mal so groß wie eine Briefmarke ist. Er kommt oft zum Schwimmen her.«

»Alexander ist dein Freund?«

»Ja, Alexander Segal.«

Judith blickte schweigend in den Garten hinaus.

»Ich werde nachher einen kleinen Erkundungsgang machen, damit ich die Umgebung kennenlerne,« sagte sie.

»Ja, Seefeld ist ein schönes Städtchen. Und nicht zu groß. Es wird dir gefallen. Unsere Nachbarn sind auch in Ordnung. Du wirst sie ja nach und nach alle kennenlernen. Spätestens auf dem großen Floh- und Trödelmarkt oben an der Kirche, der in jedem Sommer stattfindet.«

Judith hatte gehofft, dass Sarah ihre Begleitung anbieten würde, aber das tat sie nicht. Sie hatte wohl Anderes vor.

»Ich habe heute ein Handballspiel,« sagte sie jetzt, als hätte sie Judiths Gedanken erraten. »Wenn du willst, kannst du zum Zuschauen kommen.« Judith schüttelte den Kopf.

»Ach, lieber nicht. Ich verstehe nichts vom Handball. Als Kind habe ich Völkerball und Schlagball gespielt – aber das ist lang her.«

»Ich treibe viel Sport,« berichtete Sarah. »Handball, Tennis, Segeln, Rudern, Schwimmen. Und natürlich Joggen. Ich laufe jeden Tag ein paar Kilometer durch den Wald.«

»Deine Mutter sagte mir schon, dass du immer viel um die Ohren hast. Dazu noch die Arbeit fürs Gymnasium. Schaffst du das denn alles?«

»Ach doch,« nickte Sarah. »Das schaffe ich schon. Es ist allerdings durch die Leistungskurse und Projekte manchmal ganz schön heftig.«

»Dir macht das Lernen wohl Freude und keinerlei Probleme?«

»Ja, Gott sei Dank! Es fällt mir nicht schwer.«

Sie erhob sich und begann den Frühstückstisch abzuräumen.

»Warte, ich helfe dir.« Hilfreich packte Judith mit an.

»Du hast ja kaum etwas gegessen,« stellte sie mit einem Blick auf Sarahs nahezu unberührtes Brötchen fest.«

»Milch und Müsli,« war die Antwort. »Das reicht mir heute. Ich hatte gar keinen Hunger.«

Unschlüssig blickte Judith auf die Brötchenreste.

»Und was soll ich hiermit machen?« wollte sie wissen.

Sarah zuckte die Schultern.

»Ich packe es mir für später ein,« entschied sie und begann im Schrank nach einer Tüte zu suchen. »Ich komme heute Mittag nämlich nicht zum Essen heim.«

Judith sah die Kusine fragend an, aber die antwortete nicht.

»Zeit für den Waldlauf,« sagte sie nur und reckte sich. »Komm doch mit mir. Ein wenig Joggen wird dir gut tun.«

»Um Gottes willen, nur das nicht!« fuhr Judith erschrocken auf. »Ich gehe lieber spazieren.«

»Also gut. Dann bis später!«

Sarah lief aus dem Esszimmer, die Treppe hinauf. Sie trat ans Fenster und blickte sinnend in den Garten hinunter.

Eigentlich hätte ich noch eine Runde schwimmen können, dachte sie. Dann ging sie in Gedanken ihren Tagesplan durch.

Jogging, danach zum Proben für die Theatergruppe ins Gymnasium. Da hätte ihre Gruppe heute den Raum für sich allein, das war abgesprochen. Danach Treffen mit Alex am See, aber weit hinten, wo niemand hinkam. Eine Runde Schwimmen.

Später dann das Handballspiel. Am Spätnachmittag hatte sie noch für Mathe zu arbeiten, und zwischendrin fand sich möglicherweise noch Zeit für eine Runde Laufen.

Der Tag war voll bis zum Rand, aber das liebte Sarah. Sie hatte gern viel zu tun. Nur Alexander beklagte sich mitunter, dass sie zu wenig Zeit für ihn hätte. Nun ja, heute hatte sie die, auch am Abend noch. Da konnten sie irgend etwas unternehmen.

Sarahs kühle Miene wurde weich, als sie an den Freund dachte. Sie liebte ihn mit aller Kraft ihrer 17 Jahre. Er war großartig! Blond, groß und mit männlichen, reifen Zügen, die ihn älter wirken ließen als 20. Er hatte mit 14 den Vater verloren und sich von dem Zeitpunkt an für die stets kränkelnde Mutter verantwortlich gefühlt. Alexander war ein ernsthafter, aber doch fröhlicher junger Mann. Er war gerade das, was Sarah sich immer schon als Freund vorgestellt und gewünscht hatte. In seiner Gegenwart fiel alles Kühle, Unnahbare von ihr ab. Möglicherweise war er der Einzige, der sie richtig und gut kannte.

Sarah war ganz sicher, dass sie für immer zusammenbleiben würden. Die Vorstellung einer möglichen Trennung machte ihr große Angst. Sie dachte auch selten daran, dass so etwas eintreten könnte.

Nur die Mutter sagte manchmal: »Nun binde dich doch nicht so früh, Sarah. Du bist so jung. In deinem Alter kann man doch noch gar nicht wissen, ob man wirklich zueinander passt. Genieße vor allem deine Jugend frei und ungebunden!«

Die Jugend genießen! Aber das tat sie doch.

Und wenn die Mutter damit meinte, sie solle möglichst viele Männer kennenlernen, so verspürte sie nicht die geringst Lust dazu. Sarah geriet jedes Mal ins Grübeln, wenn die Mutter sich in dieser Richtung äußerte. Hieß das etwa, dass es ihr, Sibylle, so ergangen war? Dass sie ihre Jugend nicht so genossen hatte, wie sie es gern getan hätte? Hatte sie das Gefühl, etwas versäumt zu haben, dem sie nun ihr Leben lang nachtrauerte?

Sarah rief energisch ihre Gedanken zurück, die ihr in ungemütliche Bahnen zu entgleisen drohten. Der Gedanke, dass die Ehe der Eltern nicht so war, wie sie sein sollte, machte ihr Angst. Es war ja auch alles Unsinn! Ihre Fantasie ging mit ihr durch!

Hastig griff sie nach ihrer Sporttasche und rannte aus dem Zimmer.

Die neue Heimat

»Fühl dich wie zu Hause bei uns,« hatte Sibylle sehr herzlich zu Judith gesagt.

Nun wanderte sie durch das leere Haus. Alle waren fort. Die Wirtschafterin, die stundenweise zum Putzen und Kochen kam, hatte ihre Arbeit beendet und sich wieder verabschiedet. Judith war eine Weile durch den blühenden Garten spaziert und hatte zwischen hohem Wacholder- und Fliederbüschen eine kleine Laube mit einer hölzernen Bank entdeckt. Hier saß sie im grünen Schatten, den Kopf an die harte Rückenlehne gestützt, mit geschlossenen Augen, und lauschte den sommerlichen Geräuschen ringsumher.

Dies war nun der Anfang ihres neuen Lebens! Das sagte sie sich immer wieder im Stillen vor, zum Teil weil es so ein beruhigender, tröstlicher Gedanke war, zum Teil aber auch, um die quälenden Erinnerungen zu verscheuchen, die hartnäckig in ihrem Geist auftauchen wollten.

Wenn Judith durch die geschlossenen Lider blinzelte, konnte sie weiter vorn am Ende des Rasens ein Tannengrüppchen erkennen. Ein mit Steinplatten belegter, schmaler Weg führte zu einem Holzhäuschen mit schrägem Dach, über das ein Gewirr von Holunder und Haselnusssträuchern hinauswuchs. Kein Windhauch bewegte die Zweige.

Durch das schimmernde Grün der schützenden Blätterwand neben der Laube warfen die Sonnenstrahlen zitternde Kringel auf das Gras. Das sanfte Gurren von Tauben klang an ihr Ohr. Aus dem Nachbargarten drangen Geräusche zu ihr herüber, die steigende und fallende Stimme einer Frau, die tiefe, gemütliche Stimme eines Mannes, Gelächter, fröhlich und vergnügt.

Plötzlich fühlte Judith sich sehr allein. Ein quälendes Gefühl von Verlust und Einsamkeit überfiel sie beim Klang dieser frohen Stimmen. Ihr Herz begann heftig zu klopfen. Sie schloss die Augen und versuchte tief und gleichmäßig zu atmen. Erinnerungen wollten sie einholen. Da war wieder Philipps Gesicht, aber nicht so, wie sie es später gekannt hatte. Es war das liebevolle gute Gesicht aus der Anfangszeit. Sie hörte wieder sein Lachen, seine zärtliche Stimme, erinnerte sich an die erste Zeit ihrer Verliebtheit, an einen Spaziergang im Dämmerlicht eines Sommerabends.

Hastig erhob sie sich. Das musste ein Ende haben!

Ein Spaziergang! Wollte sie nicht die Umgebung erkunden?

Das würde sie auf andere Gedanken bringen.

Judith trat aus dem kühlen Schatten in die heiße Mittagssonne und schüttelte ihre Benommenheit ab.

Unschlüssig blickte sie zum Strand hinunter. Dort musste es sich auch herrlich entlangwandern lassen. Jetzt aber wollte sie die andere Richtung nehmen.

Mit raschen Schritten ging sie über den Plattenweg zum Gartentor. Mit einem leisen Klicken fiel es hinter ihr ins Schloss, und sie stand auf dem Kastanienweg. Die hohen alten Kastanien, die dem Weg seinen Namen gegeben hatten, warfen kühlen grünen Schatten.

Judith blickte sich unschlüssig um, dann wandte sie sich nach rechts. Hinter dem Hause der Auerbachs verwandelte sich der Kastanienweg in einen schmalen Waldweg ohne Namen, der um den ganzen See herumführte, um an seinem anderen Ende wieder in den Kastanienweg einzumünden.

Judith bog nach links in den Kirchweg ein, der auf einer Seite den Stadtpark mit seinen schönen, alten Bäumen begrenzte.

Rechts am Weg sah sie eine hübsche kleine Kapelle auf einem Hügel, ein Sandweg führte hinauf. Dorthin wollte sie heute nicht gehen, sie würde es ein anderes Mal tun. Hinter der Kapelle lag der Friedhof. Von hier aus konnte sie unter hohen Bäumen hinter einem weißen Zaun eine Reihe von Grabsteinen erkennen. Sie spazierte weiter geradeaus in Richtung der Kirche St. Marien, die auf einer grünen Anhöhe lag.

Ein alter Mann fuhrwerkte gewichtig mit einem Besen auf dem breiten Vorplatz herum. Als Judith sich ihm näherte, hielt er in seiner Arbeit inne, stützte sich mit beiden Fäusten ungeniert auf den Stiel und beäugte sie neugierig, aber nicht unfreundlich. Judith grüßte hinüber, und der Mann nickte ihr zu.

»Wollen Sie die Kirche anschauen?« rief er einladend zu ihr herüber. Judith schüttelte den Kopf. »Heute nicht,« erwiderte sie, und als sie sein enttäuschtes Gesicht sah, fügte sie freundlich hinzu: »Aber ich kommen in den nächsten Tagen einmal, um sie mir anzusehen.«

Der Alte nickte und blickte sinnend hinter ihr her, als sie weiterwanderte.

Neben der Kirche befand sich das Gemeindehaus, scheinbar erst vor kurzem renoviert. Eine breite Rasenfläche zog sich davor hin, durchsetzt mit tausend Butterblumen und Gänseblümchen. Weiß gestrichene Bänke standen unter Bäumen im hohen Gras am Wegrand. Der Kirchweg mündete in die Parkstraße, eine breite gepflegte, mit hohen alten Bäumen gesäumte Straße, an der sich das gesamte umfangreiche Kurgelände mit seinen Anlagen, Kliniken, einem Hotel und dem prächtigen alten Kurhaus befand.

Judith musterte den eindrucksvollen Komplex interessiert. Hier würde sie also in Zukunft arbeiten. Der Onkel hatte ihr beschrieben, in welchem Gebäude das sein würde. Nach kurzem Zögern betrat sie das Gelände durch eine breite Einfahrt. Ihre Blicke wanderten über gepflegte Blumenrabatten, umrankte Mäuerchen, Büsche, Sträucher, steinerne Sitzgruppen inmitten von blühenden Gehölzen, Tannengrüppchen und Rosenbeeten.

Es gab einen Teich mit Seerosen darauf und Weiden an seinem Ufer, die ihr Laub träge ins seichte Wasser gleiten ließen. Eine hölzerne Brücke führte ans andere Ufer. Gepflegte Wege wanden sich unter Bäumen und zwischen Büschen und Rabatten hindurch und verloren sich irgendwo im Grün.

Judith war beeindruckt. So schön hatte sie sich ihren zukünftigen Arbeitsplatz nicht vorgestellt.

Die Parkstraße brachte sie geradeswegs zur Stadtmitte mit seiner belebten Fußgängerzone, in deren Mitte ein alter Brunnen prangte, der sanft vor sich hin plätscherte und den eine steinerne Maid mit einem Krug auf der Schulter zierte. Cafés mit einladend gedeckten Tischchen davor, Boutiquen mit vollgepackten Kleiderständern und ein Kino, vor dem sich ein Grüppchen Jugendlicher versammelt hatte, säumten den Platz.

Üppig bestückte Blumenkübel standen in jedem freien Winkel herum, Bänke im kühlen Schatten der Ulmen luden zum Ausruhen ein. Judith entdeckte den »Salon Sibylle« inmitten der Boutiquen. Er war sehr modern und aufwendig renoviert. Hier also hatte die Tante ihren Wirkungskreis. Judith lugte durch ein Fenster ins Innere des Salons, es war leer und still darin. Die Angestellten waren inzwischen ins Wochenende gegangen.

Judith spazierte eine Weile um den Marktbrunnen herum, betrachtete die Auslagen in den Boutiquen und überlegte einen Augenblick, ob sie sich an einem der Tischchen vor der Eisdiele zu einem Cappuccino niederlassen sollte. Sie entschied sich jedoch dagegen. Lieber wollte sie noch ein wenig die Altstadt erkunden und dann den Heimweg antreten.

Straßen und Gässchen mit eindrucksvoll verzierten Fachwerkhäusern mündeten auf diesen Platz, an den sich auch der Stadtpark mit seinen uralten Kastanien und Linden anschloss. Judith wanderte ein Stück in die Brunnenallee hinein und bewunderte alte und neue Brunnen, spazierte am Rathaus vorbei, dessen schöne alte Fassade eine Weile ihre Aufmerksamkeit fesselte, bestaunte das Museum und ein paar beeindruckende alte Häuserfassaden mit Sprüchen und Jahreszahlen am Giebel.

Schließlich landete sie wieder Am Marktbrunnen und überlegte, welchen Heimweg sie einschlagen sollte. Sie könnte die Lindenallee hinuntergehen oder die Waldstraße, die sie auf den Waldweg und dann in den Kastanienweg bringen würde.

Oder sie könnte einen der schmalen Pfade quer durch den Stadtpark wählen. Zwar kannte sie sich im Park noch nicht aus, aber so groß war er schließlich nicht, dass sie sich darin verirren konnte. Und wenn schon! Was machte es aus. Es war erst Nachmittag, sie hatte Zeit genug.

So machte Judith sich auf den Weg. Der Straßenlärm blieb hinter ihr zurück, und sie wanderte gemächlich in die kühle grüne Stille hinein. Da war nur der Gesang der Vögel um sie und hin und wieder ein Knacken und Rascheln im Gebüsch. Sie hielt sich an den schmalen bemoosten Pfad zwischen den Bäumen; irgendwo würde er sie schließlich hinbringen.

Wie still und friedlich war es hier! Judiths aufgestörtes Gemüt kam langsam zur Ruhe. Das Gefühl der Einsamkeit war fort und einer friedlichen Gelassenheit gewichen. Fast war da so etwas wie Freude und Erwartung in ihr erwacht. Inmitten von so viel Schönheit musste es doch möglich sein, Vergangenes zu vergessen.

Judiths Pfad mündete in einen breiteren Fußweg, glatt und weich von Tannennadeln. Was nun? In welche Richtung sollte sie gehen? Sie entschied sich instinktiv für die linke und schritt munter voran. Und tatsächlich, nach einer Weile spazierte sie geradeswegs in den Kastanienweg hinein.

Als Judith ins kühle Innere des Hauses trat, stieß sie auf Eric, der scheinbar in Gedanken versunken durch die Diele hastete. Bei ihrem Anblick blieb er verdutzt stehen, als habe er ihre Anwesenheit in seinem Hause völlig vergessen.

»Ach, Judith,« sagte er wie erwachend und blieb vor ihr stehen. Dann fuhr er sich unschlüssig mit der Hand über sein glattes, makellos frisiertes Haar.

»Meine Frau und Sarah sind nebenan bei Wintersteins. Ich soll dir sagen, du möchtest doch auch hinüberkommen. Ich selbst muss noch mal weg in die Kurverwaltung, komme aber später nach.«

Mit gerunzelter Stirn musterte er seine Nichte.

»Geht es dir gut hier bei uns? Hast du einen Spaziergang in der Umgebung gemacht?«

Judith lachte ihn an. Sie mochte diesen wunderlichen Onkel, der immer ein wenig abwesend und zerstreut wirkte, als sei er nur zur Hälfte anwesend, während seine andere Hälfte irgendwo anders weilte, vielleicht noch – oder schon wieder – in der Klinik bei seiner Arbeit. Er schien seinen Beruf sehr ernst zu nehmen. Obwohl er so sachlich und nüchtern wirkte, schüchterte das Judith nicht ein. Ihr gefiel seine ruhige, besonnene Art, und sie empfand seine kühle Zurückhaltung nicht als abweisend und distanziert. Vielmehr glaubte sie dahinter trotz aller Korrektheit so etwas wie Schüchternheit und Scheu zu erkennen.

Niemandem sonst wäre in den Sinn gekommen, Eric auch nur ansatzweise für schüchtern zu halten!

Nun stand Judith vor ihm und lachte ihn freundlich an.

»Ja, Onkel Eric, es geht mit sehr gut bei euch. Es ist herrlich hier, das Haus, der Garten, das Städtchen! Ich komme gerade von einem schönen Spaziergang durch die Fußgängerzone und den Stadtpark.«

Erics Miene entspannte sich. Er musterte seine Nichte aufmerksam.

»Das ist schön. Du siehst viel besser aus als noch vor ein paar Tagen. Ich hoffe, die Arbeit in der Klinik wird dir zusagen.«

Judith nickte, aber ihr Blick wurde unsicher und voller Zweifel.

»Ich werde ein bisschen Zeit zum Einarbeiten brauchen. Wie du weißt, bin ich seit über einem Jahr aus meinem Beruf raus.«

Eric tätschelte ihr beruhigend den Arm.

»Ja, ich weiß. Man wird dir diese Zeit geben. Ich bin sicher, du wirst es schaffen.«

Dann schien ihm wieder in den Sinn zu kommen, was er eigentlich vorgehabt hatte. Er wandte sich zu einem blankpolierten Mahagonitischchen um, griff nach einem Stapel Papiere und deponierte sie mit schnellen Griffen in seiner Aktentasche.

»So, meine Liebe, ich muss fort. Und vergiss nicht, man erwartet dich drüben. Ich komme später nach.«

Schon in der Tür, wandte er sich nochmals zu ihr um.

»Es werden nicht viele Leute drüben sein, nur ein paar Nachbarn,« meinte er beruhigend und fügte mit leisem Lächeln hinzu: »Und Judith – sag nicht Onkel zu mir. Das kommt mir so komisch vor. Sag einfach Eric.«

Damit war er zur Tür hinaus. Judith starrte verblüfft hinter ihm her.

Vor ihrem Spiegel musterte sie sich prüfend. Ein paar Strähnen des feinen blonden Haares hatten sich schon wieder aus den Nadeln gelöst und hingen ihr wirr auf die Schultern. Während sie ihre Frisur neu ordnete, überdachte sie mit leiser Sorge die Kleiderfrage. Was sollte sie nur anziehen für diesen Besuch bei den Nachbarn? Konnte sie so bleiben wie sie war? In diesem alten Rock und dem Pulli?

Sie hatte Sibylle bisher nichts von ihren Kleidersorgen gesagt, auch Sarah nicht. Es war ihr so peinlich gewesen. Tante und Onkel hatten schon so viel für sie getan, da mochte sie ihnen nicht auch noch damit kommen. Bisher war es auch nicht so wichtig gewesen, sie ging ja nirgends hin. Nur mal in den Garten und dann heute dieser erste Spaziergang. Aber nun dieser Nachbarschaftsbesuch! Und schlimmer noch: in weniger als drei Wochen sollte sie mit ihrer Arbeit beginnen.

Eigentlich hatte Judith vorgehabt, sich von ihrem ersten Gehalt etwas zum Anziehen zu kaufen, aber das würde wohl nicht gehen. Sie konnte ihre Arbeit unmöglich in diesen Sachen antreten, die da in ihrem Schrank lagen und hingen. Ob Sarah ihr etwas leihen könnte? Wo war sie wohl jetzt? Das Handballspiel musste ja inzwischen beendet sein.

Judith zog eine weiße Bluse aus dem Schrank, die mochte noch gehen, den Rock musste sie wohl oder übel anbehalten, einen anderen hatte sie nicht, und für die Jeans war es zu warm. Seufzend musterte sie sich im Spiegel.

So ging es wohl. Alles in allem sah sie gar nicht schlecht aus. Sogar ein wenig Farbe hatte sie bekommen.

Langsam stieg sie die Treppe hinunter. Dieser Besuch bei den Nachbarn verursachte ihr Unbehagen. Sie hatte seit Monaten die Menschen gemieden, war so viel allein gewesen. Ihr wurde direkt ängstlich zumute bei der Vorstellung, in einer großen Runde mit fremden Menschen zusammenzusitzen und unbefangen zu plaudern, Gott weiß worüber. Das hatte sie ganz verlernt.

Der Gedanke, dass man sie über ihre Vergangenheit befragen könnte, versetzte ihr einen Schrecken. Sie wollte nicht darüber reden, auf keinen Fall! Was um Himmels willen sollte sie nur sagen, wenn man sie fragen würde, wo sie bisher gelebt, gearbeitet hatte? Warum sie bei Nacht und Nebel und völlig abgerissen hier gelandet war?

Bei dieser Vorstellung begann ihr Herz wieder schwer und hart zu klopfen. Beängstigend und unregelmäßig - wie es ihr inzwischen nahezu vertraut war, was ihr aber nach wie vor Furcht einjagte.

Sie setzte sich auf einen Stuhl in der kühlen Diele nieder, schloss die Augen und zwang sich, langsam, tief und gleichmäßig zu atmen. Wieder und wieder.

Allmählich beruhigte sich ihr Herzschlag, sie konnte wieder normal durchatmen, das Hämmern und Stolpern in ihrer Brust war vorbei. Erleichtert atmete sie auf. Für dieses Mal hatte sie es wieder geschafft. Würde sie das wohl jemals wieder loswerden?

Ich muss nur Geduld haben, sagte sie sich. Zeit und Geduld und ein normales Leben, hatte der Arzt gesagt.

Und all das würde sie haben. Ein Besuch bei netten Nachbarn war nichts Furchteinflößendes, es war etwas Schönes. Das normale Leben war ihr nur fremd und unwirklich geworden, aber das sollte anders werden!

Heute und hier, jetzt gleich!

Die Nachbarn

Judith trat zögernd auf die Terrasse hinaus und spähte zum Haus der Familie Winterstein hinüber. Undeutlich konnte sie zwischen all dem Grün hin und her huschende Gestalten erkennen. Fröhliche Stimmen schallten zu ihr herüber.

Zwischen beiden Grundstücken gab es einen niedrigen Zaun, zum Teil von Efeu und anderen Rankengewächsen in eine dichte grüne Mauer verwandelt. Duftende Lavendelstauden, Jasmin und Rosen wuchsen in paradiesischer Eintracht wild durcheinander und überwucherten teilweise dieses lebendige Mäuerchen, so dass ein Zaun kaum noch zu erkennen war.

Judith entdeckte eine hölzerne Pforte und überlegte, ob sie dort hindurchschlüpfen oder die Haustüre benutzen sollte. Während sie noch unschlüssig davorstand, ertönte eine sehr laute freundliche Frauenstimme.

»Hallo, Sie müssen Judith sein! Da sind Sie ja endlich, wir warten schon auf Sie. Kommen Sie doch gleich hier durch!«

Eine kräftige, rundliche Frau erschien an dem Gartenpförtchen und stieß es resolut auf. Ehe Judith es sich versah, hatten zwei feste Hände die ihren ergriffen und schüttelten sie herzlich. Judith blickte in zwei lachende blaue Augen unter einer hohen Stirn. Ein grau-braun-meliertes Lockengewirr umrahmte ein braungebranntes, offenes Frauengesicht.

»Ich bin Lisa Winterstein. Und nun kommen Sie, damit Sie Ihre nächsten Nachbarn kennenlernen.«

Im Handumdrehen fand sich Judith auf der Wintersteinschen Terrasse wieder, blickte in freundliche, lächelnde Gesichter, nickte ihnen zu, als sie ihr vorgestellt wurden, schüttelte eifrig entgegengestreckte Hände, stotterte irgendwelche Phrasen, die ihr gerade einfielen und sank schließlich erleichtert in einen Korbsessel neben einem üppig blühenden Strauchgewächs, dessen Name und Blüten ihr fremd waren.

Ein hohes Glas mit einer dunkelbraunen Flüssigkeit und einem dicken, flockigen Sahnebällchen darauf wurde vor sie hingestellt.

»Mögen Sie Eiskaffee? Sie können auch etwas Anderes haben,« sagte Lisa und rückte eine schon angeschnittene, gewaltige Torte in ihre Nähe.

»Sie müssen unbedingt meine Kirschtorte probieren, liebes Kind.«

Judith sank atemlos in ihrem Stuhl zurück. Sie war nahezu überwältigt von soviel lebendiger, überschäumender Herzlichkeit.

Verwirrt blickte sie um sich. Sie war froh, dass sie erst einmal saß und strich sich mit beiden Händen nervös über die Stirn. Sie spürte ihr Gesicht vor Hitze und Aufregung glühen, und eine Strähne ihres Haares hatte sich auch schon wieder gelockert.

»Nun lasst doch das Mädel erst mal Luft holen,« schaltete sich da der Pastor mit Gemütsruhe ein und klopfte seiner Frau gutmütig auf das runde Hinterteil, was nicht gerade sehr pastörlich anmutete.

Ein Paar blaue Augen in einem runden roten Gesicht zwinkerte Judith beruhigend und verschwörerisch zu. Eine derbe braune Männerfaust, der man eher die Arbeit mit Hacke und Spaten als das Umblättern von Bibelseiten zugetraut hätte, fuhr mit einem großen schneeweißen Tuch über das blanke Rund einer Glatze, die ein graublonder, dichter Haarkranz umrahmte.

Seine Stimme war tief und warm, und sein Blick ruhte herzlich und voller Verständnis auf der leicht verwirrten Miene des neuen Gastes.

Judith mochte ihn sofort. Sie lächelte ihn zutraulich an und entspannte sich langsam. Während sie sich hungrig über das gewaltige Stück Kirschtorte hermachte, das Lisa Winterstein vor sie hingeschoben hatte, nahm man das unterbrochene Gespräch in der Runde wieder auf. Nun ließ man ihr Zeit und Ruhe, sich zurechtzufinden und in aller Muße ihren Kuchen zu essen. Endlich konnte sie sich umzusehen und die einzelnen Menschen ringsum eingehender mustern.

Da waren außer dem Pastorenehepaar, das ihr ausnehmend gut gefiel, eine Lehrerin samt ihrem alten Vater, Tauber hießen sie wohl, wie Judith sich erinnerte. Anita Tauber musste etwa Mitte 40 sein, eine freundliche Frau mit lustigen Augen, die häufig eines dieser Augen misstrauisch auf ihren schrulligen Vater warf, weil sie ihn immer in Verdacht hatte, er könnte aus heiterem Himmel irgendwelche Streiche im Schilde führen.

Im Augenblick war er ein wenig in seinem Korbsessel eingenickt. Das Kinn war ihm auf die Brust gesunken und leise Schnarchtöne entwichen seinem halb geöffneten Mund.

Dann war da das Ehepaar Scheffler. Martin Scheffler war Arzt und hatte seine Praxis direkt neben seinem Wohnhaus. Er war ein gutaussehender Mann, groß und mit breiten Schultern, sehr dunkel in Haut und Haarfarbe, mit braunen Augen und schwarzen Brauen. An den Schläfen war er bereits leicht ergraut und Judith schätzte ihn irgendwo in den Fünfzigern. Seine Frau schien einige Jahre jünger zu sein. Sie war sehr schlank und hatte bemerkenswert grüne Augen. Das schwarze Haar, noch von keinem Grau durchzogen, musste sehr lang sein. Sie trug es in der Mitte gescheitelt, im Nacken zu einem glatten Knoten geschlungen. Judith musterte die beiden verstohlen. Sie saßen nah beieinander, und oft wanderte Martin Schefflers Hand zu der seiner Frau hinüber. Mitunter lehnte sie sich dicht an ihn; ob das nun bewusst oder unbewusst geschah, war schwer zu sagen. Es schien fast, als suchten beide instinktiv immer wieder die äußere Berührung und den nahen Kontakt zueinander. Nie zuvor hatte Judith so etwas gesehen.

Inzwischen waren auch die Kinder des Pastorenehepaars hinzugekommen. Judith lernte die 16-jährige Astrid und den 19-jährigen Matthias kennen. Und schließlich auch den 9-jährigen Nikolai, den sie schon von weitem aus ihrem Fenster gesehen hatte. Auch jetzt war das braunhaarige Mädchen bei ihm, und Judith erfuhr, dass es die jüngste Schefflertochter Jennifer war. Die beiden schienen dicke Freunde zu sein. Jenny war ein fröhliches Kind mit den auffallend grünen Augen der Mutter und einem dichten goldbraunen Pferdeschwanz, der ihr lustig über den Rücken wippte.

Endlich kam auch Sarah. Sie sah müde und abgekämpft aus und hatte anscheinend gerade geduscht. Ihr glattes, metallisch glänzendes Haar war noch feucht.

»Hallo, alle zusammen!« sagte sie und ließ sich aufatmend in einen Liegestuhl fallen. Sibylle musterte ihre Tochter besorgt.

Lisa begann sofort, das Mädchen mit Kaffee und Torte zu bewirten, aber Sarah schüttelte den Kopf.

»Nein, nur keinen Kuchen jetzt,« sagte sie abwehrend und griff nach der Wasserflasche auf dem Tisch. Inzwischen war Opa Tauber aus seinem Schlummer erwacht. Neugierig spähte er in die Runde.

»Na, was ist denn das,« ließ er sich aufgeräumt vernehmen. »Zwei schöne Mädels auf einmal in unserer Mitte! Das lob ich mir.«

Er wollte sich – zu welchem Zwecke auch immer – ächzend aus seinem Sessel in die Höhe schieben, wurde jedoch von seiner Tochter Anita sanft, aber bestimmt wieder hineingedrückt.

»Bleib nur sitzen, Vater. Ich hole dir schon, was du brauchst,« ordnete sie an.

»Was möchtest du, Kaffee oder noch ein Stück von Lisas großartiger Torte?«

Opa Tauber runzelte verdrossen die Stirn.

»Nichts gegen Lisas Torte, aber die hatte ich schon. Nun würde ich was Flüssiges vorziehen.«

Und dabei zwinkerte er dem Pastor listig zu. Der hatte das scheinbar längst kommen sehen, denn er war kurz ins Haus gegangen und mit einem Korb voll kühler Getränke zurück gekehrt. Anita warf ihrem Vater einen warnenden Blick zu. Der aber hatte sich gerade angelegentlich zur Seite gebückt, um einen großen Busch goldgelben Mauerpfeffers zu bewundern, der ihn zu anderer Zeit nicht im geringsten interessiert hätte.

»Teufel noch mal, seht euch nur diese saftigen Blätter an,« grunzte er mit Unschuldsmiene und schielte dabei auf des Pastors gefüllten Getränkekorb.

Leo Winterstein sah diesen Blick und stellte schmunzelnd eine eisgekühlte Flasche Bier vor ihn hin, deren dunkles Glas in der warmen sommerlichen Luft sofort beschlug.

Nun schaltete Anita sich ein.

»Du wirst doch jetzt nicht dieses Bier trinken wollen, Vater,« mahnte sie verdrießlich, denn sie wusste schon, worauf das Ganze wieder hinauslaufen würde.

»Du weißt doch, was der Arzt gesagt hat,« fügte sie lahm hinzu.

Opa Tauber riss die Augen auf und musterte die Flasche mit bedauernden Blicken. Dann schüttelte er scheinheilig sein zotteliges graues Haupt und stöhnte gramvoll: »Du hast recht, liebe Tochter. Dieses hier ist entschieden zu kalt für mich.« Und mit einem listigen Zwinkern zu Leo hin: »Haste nicht ein wärmeres für’n alten Magen wie meinen?«

Anita seufzte ergeben und hob die Schultern. Warum versuchte sie überhaupt noch, dem alten Querkopf Vernunft beizubringen? Dafür war es ohnehin zu spät! Mochte er morgen wieder über sein gichtiges Knie jammern und kohlensaures Natron schlucken. Sie gab es auf, ein für alle Mal!

Während der herbe Geschmack des Bieres Opa Taubers Leib und Seele erquickte und auch Leo Winterstein sich genussvoll eines zu Gemüte führte, suchte seine Frau Lisa ihre Torte an den Mann bzw. an die Frau zu bringen.

Sarah, die in ihren Liegestuhl hingelümmelt lag, lehnte jedoch kategorisch ab.

»Du solltest mal ordentlich essen,« räsonierte Opa Tauber. »Hast ja nichts auf den Knochen, Meechen.«

Sarah schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht so für Kuchen,« erklärte sie bestimmt.

»Du musst doch Hunger haben, Kind,« fiel nun auch Sibylle ein. »Du warst heute Mittag nicht zum Essen da.«

»Ich hatte etwas mit,« sagte Sarah kurz und nippte an ihrem Mineralwasser.

Judith musterte das müde Gesicht der Kusine.

»Du hast doch aber nur das eine Brötchen mitgenommen,« sagte sie. »Oder hast du unterwegs noch was anderes gegessen?«

»Aber ja, habe ich,« war die unbestimmte Antwort.

»Ich mache dir gern ein Brot,« ließ sich nun Lisa vernehmen und erhob sich von ihrem Stuhl.

Sarah schüttelte den Kopf. »Nein, bitte nicht. Vielen Dank. Mir ist viel zu heiß zum Essen.«

»Es ist doch gar nicht mehr heiß jetzt,« fiel Jenny ein und spähte über den Tisch.

»Kann ich noch ein Stückchen von der Torte bekommen?«

Pastor Leo sprang auf wie ein Gummiball, und Judith sah, wie Martin Scheffler schmunzelte.

»Aber ja, mein Kind,« sagte Leo und wuselte beflissen um den Tisch herum. »Hier hast du!« Damit schnitt er ein gewaltiges Stück von Lisas Torte herunter und manövrierte es geschickt auf einen Kuchenteller.

»Danke, Pastor Leo! Wie lieb von dir, mich zu bedienen,« sagte sie und lächelte den Pastor schmeichelnd an, der ihr liebevoll die braune Wange tätschelte. Dann ließ sie sich unbekümmert mit ihrem Kuchenteller ins Gras plumpsen und begann hingebungsvoll ihre Torte zu essen, wobei der Pastor die schmausende Jenny mit wohlwollenden Blicken bedachte.

»Musst du denn so auf Kalorien achten, Sarah?« schaltete sich nun Astrid ein und musterte seufzend ihre eigenen runden Arme.

Sarah nickte. »Oh ja. Darauf achte ich schon. Ich esse keine Süßigkeiten, dafür viel Gemüse und Salate.«

»Das sollte ich wohl eher tun,« fügte Astrid mit schmerzlichem Blick auf die Torte hinzu.

»Aber ich ess’ doch so gern Kuchen.«

»Nun macht euch mal nicht verrückt mit den Kalorien. In eurem Alter sollte das noch kein Problem sein,« sagte Sibylle begütigend und wies auf Jenny. »Schaut euch Jenny an. Die hat nun schon ihr drittes Stück vor sich und kümmert sich um keine Kalorien.«

»Sie ist ja auch ständig in Bewegung, da kann ja nichts ansetzen,« meinte Astrid bedauernd. »Ich müsste eigentlich Sport treiben, aber ich kann mich einfach nicht dazu aufraffen.«

»Eine ausgewogene Ernährung und Genießen in Maßen,« ließ sich Jenny vernehmen und lachte ihren Vater verschmitzt an. »Nicht wahr, Papa?«

»So ist es,« bestätigte dieser lachend. »Da erkenne ich doch meine eigenen Worte wieder.« Er wandte sich an Sarah.