Arrion - Tanja Rast - E-Book

Arrion E-Book

Tanja Rast

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Beschreibung

Epische High Fantasy mit Helden, Schlachten, Magie und einer Romanze, die sich wie ein rotes Seidenband durch die Geschichte zieht und weder drohende Niederlagen noch selbst den Tod fürchtet.

Geistersängerin Neve hilft verlorenen Seelen, den Weg ins Jenseits zu finden. Als sie von Schwarzmagiern gejagt wird, macht sie eine furchtbare Entdeckung: Die Magier wollen aus den Seelen eine unbesiegbare Armee aus Geistern aufstellen. Geisterritter Arrion, ehrenhaft über den Tod hinaus, eilt ihr zur Hilfe. Gemeinsam stellen sie sich der Bedrohung, und zunächst scheint die ungewöhnliche Zusammenarbeit zu funktionieren - bis sich Sängerin und Geist ineinander verlieben. Kann ihre Liebe nicht nur die Magier, sondern auch den Tod besiegen? Die Romane können unabhängig voneinander und in beliebiger Reihenfolge gelesen werden. Dies ist eine überarbeitete Neuauflage meines Romans

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Arrion

 

 

 

 

Tanja Rast

 

 

 

 

Inhaltswarnungen

 

Kann Spuren von Erdnüssen enthalten!

 

Es gibt Inhalte, die Betroffene triggern können, das heißt, dass womöglich alte Traumata wieder an die Oberfläche geholt werden. Deswegen habe ich für diese Personen eine Liste mit möglichen Inhaltswarnungen für alle meine Romane zusammengestellt:

 

www.tanja-rast.de/inhaltswarnungen

Inhaltsverzeichnis
Prolog
1 Der Ritter von Kyelle
2 Auf der Flucht
3 Der Fall der Festung
4 Unter dem Schutz des Ritters
5 Die perfekte Falle
6 Der Sterbende
7 Verfolger
8 Erinnerungen
9 Das Dorf über den Fällen
10 Sängerin und Geist
11 Die Macht einer Sängerin
12 Arrions Heer
13 Ein Schwarzer Krieger
14 Zorn und Hass
15 Neve
16 Arrion

 

Die Autorin

Prolog.

 

Der Geist der alten Frau war ein formloser, weißer Klecks.

Neve stand neben ihrer Mutter Balan in der Mitte des Kreidekreises und sah den Schemen mitleidsvoll an. Sie spürte Schmerz und Trauer, Verzweiflung und Sehnsucht nach Frieden.

»Ich wollte ihn retten«, raunte der Geist, »ich wollte ihn nur retten. Er war mein Enkel, und ich habe ihn so geliebt. Er war seiner Kinderfrau weggelaufen und in den Fluss gefallen. Ich hörte seine Rufe. Ich bin gerannt und wollte ihn aus dem Wasser holen. Er ging vor meinen Augen unter.«

»Du bist ihm nachgesprungen«, sagte Neves Mutter. Ihre tiefe, sanfte Stimme war voll Mitgefühl.

»Ich wollte ihn retten«, flüsterte der Geist.

»Natürlich wolltest du das.«

»Er war untergegangen. Und ich ging auch unter. Meine Kleider sogen sich mit Wasser voll und zogen mich hinab. Das Letzte, was ich hörte, waren die Schreie seiner Eltern. Meine Tochter, meine arme Tochter.« Ein körperloses Schluchzen erklang.

Neve und ihre Mutter standen auf einem Steinplateau am Rande des Flusses, in dem das Enkelkind und die alte Frau ertrunken waren.

Der Schmerz des Geistes hatte die beiden Sängerinnen hierher geführt. Meilen entfernt hatten Balan und Neve das Leid gespürt und waren davon gerufen worden.

Balan nickte ihrer jungen Tochter zu, und Neve begann zu singen. Eine Melodie, so alt wie die Menschheit, stieg aus der Seele und dem Herzen auf. Neve sang, bis der Geist immer blasser wurde, bis das gestaltlose Weinen kaum noch zu vernehmen war.

»Gehe hinüber«, sagte die Mutter freundlich, »niemand ist dir böse. Sie warten schon auf dich. Lass sie nicht länger alleine. Geh.«

Der weiße Fleck löste sich auf, verschwand, und irgendwo sang ein Vogel. Balan atmete kaum hörbar auf. Mit dem Geist war auch dessen Schmerz von dieser Welt gegangen.

Neve wischte sich eine Träne von der Wange und holte tief Luft. »Tut es immer so weh, Mutter?«

»Manchmal mehr, manchmal weniger. Du nimmst einen Teil des Schmerzes in dir auf, bis der Geist den Weg in die andere Welt gefunden hat.« Balan setzte sich im Schneidersitz in die Mitte des Kreises und lächelte. »Du bist gut, Neve. Du bist besser, als ich es jemals war. Du bist besser als jede andere Sängerin, die ich jemals getroffen habe. Und das ist der Grund, warum sich hier und heute unsere Wege trennen.«

Neve ballte die Fäuste, sagte aber nichts. Sie hatte immer gewusst, dass dieser Tag kommen würde. Sängerinnen waren selten, und sie waren immer einsam. Es gab nur eine Zeit der Ausnahme: Während eine Sängerin ihre Tochter ausbildete und gemeinsam mit ihr durch die Reiche zog, bis die Tochter die Aufgabe alleine bewältigen konnte.

Dann gingen sie auseinander. Gemeinsam waren sie zwar nicht einsam, aber getrennt konnten sie mehr Leid lindern, mehr Geister zur Ruhe in die andere Welt schicken.

Neve wusste all das, aber sie wollte ihre Mutter nicht verlassen. Sie wusste, dass sie selbst so lange alleine und einsam bleiben musste, bis sie einer Tochter das Leben schenkte.

Irgendwann hatten die Götter beschlossen, dass es Sängerinnen geben musste. Der Gesang für die verlorenen Seelen war eine Gabe, ein göttliches Geschenk, und so richteten sich die Sängerinnen nach dem Diktat der Notwendigkeit.

Balan strich sich müde die langen Haare aus dem Gesicht. »Ich weiß, was du denkst, Neve. Ich habe das Gleiche gedacht, als deine Großmutter sich von mir trennte. Ich hatte jüngere Schwestern, die noch einige Jahre in Gesellschaft mit meiner Mutter leben konnten. Ich habe nur dich. Ich habe dich so gut ausgebildet, wie ich nur konnte. Und jetzt ist der richtige Zeitpunkt, vertraue mir.«

»Ich vertraue dir, Mutter. Es wird anfangs schwer werden ohne dich.«

»Glaub mir, das weiß ich, und ich werde dich vermissen. Aber eines Tages werde ich sterben. Und falls ich dann zwischen den Welten wandere, will ich, dass die fähigste Geistersängerin der Welt da draußen ist, meinen Schmerz spürt und mich erlöst. Du bist die beste Sängerin, Neve, die diese Welt jemals gesehen hat. Ich liebe dich.«

Balan stand auf, streckte sich und wies auf einen Wald in der Ferne. »Das ist mein Weg.« Sie wies auf eine breite Straße, die in grünes Weideland hinabführte. »Das ist deiner. Ich will nicht weinen, deswegen machen wir den Abschied kurz.«

Sie küsste ihre Tochter auf die Stirn, wirbelte in einem Rauschen von langen Röcken und weiten Umhängen herum und rannte auf den Wald zu.

Neve blieb wie erstarrt stehen und sah Balan nach, bis die Nachmittagsschatten die sich eilig entfernende Gestalt verschluckten.

Einen Moment lang weinte Neve leise. Dann wischte sie sich die Tränen von den Wangen, bevor sie sich bückte, ihr Bündel und ihren Wanderstab aufnahm und sich entschlossen auf den Weg zur Straße machte.

 

Nicht jeder Sterbende fand sofort den Weg in die andere Welt, in der jene Verwandte und Freunde auf ihn warteten, die vor ihm gestorben waren.

Manchmal blieb eine Seele in dem Raum zwischen den Welten, weil sie den Weg nicht fand oder nicht finden wollte. Gründe dafür waren Legion. Jeder Seele war etwas anderes wichtig, wie ja auch die Lebenden sich unterscheiden.

Was auch der Grund war: Zurück blieb eine verlorene Seele, die einsam auf der Erde wandelte. Manche Menschen nahmen diesen als Geist wandelnden unruhigen Toten wahr. Manche spürten nur eine unangenehme Kühle, wenn sie sich in der Nähe einer verlorenen Seele befanden.

Neve und andere Sängerinnen konnten den Geist sehen und mit ihm sprechen. Ein Kreidekreis, der durch den Gesang zu einer Barriere wurde, schützte sie. Manche Sängerin war von einer verwirrten Seele schon in den Wahnsinn gezogen worden. Hass auf die Lebenden, Schuldgefühle und Trauer konnten eine tödliche Mischung ergeben, die Unschuldige mit sich riss. Der hilflose Rest Dasein verstand nicht, dass die Sängerin helfen wollte, fasste alles als Angriff auf. Dann gingen die Geister zur Offensive über, und nur der Kreis stand zwischen der Sängerin und dem Irrsinn.

Balan hatte Neve beigebracht, das Schutzsymbol zu zeichnen. Neve wollte niemals nachlässig sein, sich niemals aus Mitleid verleiten lassen, aus Eile oder gar Selbstherrlichkeit, weil sie die Beste war, den Kreis achtlos zu zeichnen. Nur diese Linien standen zwischen ihr und dem möglichen Angriff einer vor Verzweiflung irrsinnigen Seele.

Was war der Lohn?

Ein wenig Schmerz und Leid von dieser Welt zu tilgen, eine verzweifelte Seele befreit zu haben – und immer einsam zu sein, es sei denn, sie bildete eine Tochter aus.

 

Neve wanderte durch die Acht Reiche, vernahm Geschichten und Sagen und folgte dem Schmerz, der sie immer und immer wieder rief, um eine Seele zu befreien.

Nach zehn Jahren des Wanderns, des Singens und der Suche nach dem Mann, der ihr die lang ersehnte Tochter schenken konnte, hörte sie zum ersten Mal vom Ritter der Festung über der Fördestadt Kyelle.

1.

Der Ritter von Kyelle

 

Es war keine Festung, sondern nur noch eine Ruine.

Neve blieb überrascht stehen, sah von der Anhöhe auf eine reiche, blühende Stadt hinab, die sich rund um die Förde an das Meereswasser schmiegte. Der Ansiedlung vorgelagert hatte einst eine trutzige Festung gestanden, deren gewaltige Rundtürme nur noch als bröckelnde, rußgeschwärzte Trümmerlandschaften unter der Sonne lagen.

Das hatte Neve nicht erwartet. Sie stützte sich schwer auf ihren Wanderstab und sah hinab, nahm die Einzelheiten in sich auf. Immer wieder schweifte ihr Blick zur Festungsruine.

Eine Stadt wie Kyelle musste Seeräuber anlocken. Sie war reich, und diesen Reichtum sah man ihr schon von Weitem an. Warum war die Festung nach ihrem Fall vor über sechzig Jahren nicht erneut aufgebaut oder ersetzt worden? Warum lagerte hier keine Garnison, um die reiche Handelsstadt zu schützen? Solche Nachlässigkeit sah dem Herrscher nicht ähnlich und verwunderte Neve.

In diesem Moment fühlte sie den Schmerz, der sie wie eine Meereswelle überrollte.

Neve atmete keuchend tief ein und brach in die Knie. Die Welt verschwamm vor ihren Augen. Sie rang nach Luft und konzentrierte sich verzweifelt auf den Ursprung dieses Schmerzes.

Die Festung. Eine Seele in der Festung.

Neve hatte es gewusst. Schon seit Tagen spürte sie das Leiden einer Seele, die zwischen den Welten gefangen war. Aber noch nie zuvor hatte sie solche Sendungen empfangen. Es war wie ein Hilfeschrei aus tiefster Qual.

Neve biss die Zähne zusammen, atmete ein letztes Mal tief durch und bohrte dann den Wanderstab in die Erde, um sich an ihm wieder auf die Beine zu ziehen.

Die Welle, die über sie hinweggegangen war, rollte aus, wurde wieder schwächer, bis sie nur noch wie ein entzündeter Zahn pochte. Schmerzhaft, aber auszuhalten, dachte Neve und machte sich auf den Weg die breite Straße hinab auf die Stadt zu.

Neve hatte keinen direkten Weg zur Festung gesehen. Also musste sie durch Kyelle bis zum zweiten Tor gehen, durch das sie zur Ruinenlandschaft gelangen konnte.

Vielleicht fand sich ein wohltätiger Mensch, der ihr Essen und ein Nachtquartier schenkte. Geistersängerinnen taten Gutes für die Gemeinschaft, und meistens dankten die Menschen in der Umgebung einer gefangenen Seele dies mit Almosen. Wie Priester und Heiler galten Sängerinnen als unberührbar. Als solche mussten sie kaum etwas fürchten. Ein Vorteil der Einsamkeit.

Je näher Neve dem hoch aufragenden Wall kam, desto beeindruckter war sie von dem Reichtum, der ihr von fahnengeschmückten Wehranlagen entgegensprang. Es musste einfach eine Garnison innerhalb der Stadtmauern geben. Die Mauern alleine konnten niemals ausreichend Schutz bei einem Angriff bieten, wenn keine Soldaten auf den Wehranlagen standen, um die Seeräuber zurückzuschlagen.

Reichtum, dachte Neve sich, während sie mit langen Schritten die Straße entlang ging, lockte immer Neider auf den Plan. Sie war froh, dass sie nichts besaß, was das Stehlen wert war. Sogar Räuber akzeptierten eine Sängerin als unantastbar und ließen sie unbehelligt passieren. Kyelle aber war ein Handelsposten. Tagtäglich kamen hier Waren von hohem Wert an, um entweder auf dem Landweg oder über das Meer weitertransportiert zu werden. Eine solche Stadt mit ihren Warenhäusern und Speichern würde kein Seeräuber verschmähen, der aus Hunger und Armut auf Raubzug ging. Wer sich das erhoffte, konnte nur ein Träumer sein.

Aber das war nicht Neves Problem. Ihre Aufgabe bestand alleine in der Erlösung der Seele, deren Leid sie spürte. Deswegen strebte sie auf die Festung zu, und nur an diesem Schmerz konnte sie etwas ändern.

 

Es standen Wachen am Tor, aber sie trugen nicht die Uniformen des Herrschers. Die Männer sahen die Neve nur beiläufig an und ließen sie eintreten, ohne nach ihrem Ziel oder ihren Geschäften zu fragen.

Sie hatte beinahe das Gefühl, sich in einem Traum zu bewegen. Noch nie war sie an Wachen vorbeigegangen, ohne dass diese ihr zumindest einen Guten Tag gewünscht und wenigstens eine Frage gestellt hatten. Wozu hatte man Wächter vor der Tür, wenn diese nichts taten, sich nicht für diejenigen interessierten, die an ihnen vorbei gingen?

Die Straßen waren gepflastert, überall gab es Geschäfte, die in ihren Auslagen Waren zur Betrachtung boten.

Neve wanderte wie in einer fremden Welt durch die Stadt, auf deren Straßen mehr Menschen unterwegs waren, als sie jemals auf einmal gesehen hatte. Niemand beachtete sie. Sie wurde nicht angerempelt. Niemand bot ihr Waren an.

Sie kam sich ein wenig schäbig und schmutzig vor inmitten dieser bunt gekleideten, lauten Menschen, die geschäftig an ihr vorbei hasteten.

Öffentliche Brunnen, Grünanlagen und immer wieder Händler und Werkstätten boten sich ihrem erstaunten Auge dar. Sie sah Sänften, die von Männern oder Pferden getragen wurden. Sie erblickte ganze Gruppen von Sklaven, die Straßen und Bürgersteige fegten.

Aber sie sah nicht einen einzigen Soldaten des Herrschers.

Sie bog nach links ab und erkannte verwirrt, dass sie in einer Seitengasse gelandet war. Sie wollte umkehren und zurück auf die Hauptstraße gehen, dort notfalls nach dem Weg zum zweiten Tor fragen, als sie den Schmerz erneut spürte.

Dieses Mal war es nicht ganz so schlimm, aber auch nur, weil sie darauf vorbereitet gewesen war.

Für einen Moment glaubte sie, eine Stimme zu hören. Es trieb ihr die Tränen in die Augen. Was musste ein Mensch zu Lebzeiten durchgemacht haben, um mit solchem Schmerz zwischen den Welten zu wandern?

Dann spürte Neve seinen sengenden Hass.

Sie stützte sich an einer Mauer ab und wartete, bis Schmerz und Hass abebbten. Es dauerte eine Weile, bis sie wieder normal atmen konnte.

Die Intensität schockierte sie. Er war wie ein Leuchtfeuer über stürmischer See – auf Meilen zu sehen. Sie spürte die Hitze seines Zornes. Jede Zelle ihres Körpers vibrierte mit seinem Schmerz.

Wie lange war er schon tot? Sechzig, siebzig Jahre? Erstaunlich, dass er sich über eine so lange Zeit so viel Wut erhalten hatte und nicht schon verblasst war.

Die meisten Hilferufe erklangen schwach und unartikuliert. Meistens war es nur Trauer. Hier schwang sehr viel mehr mit. Es war entsetzlich, wie viel mehr als Sendung bei Neve ankam. Warum war der Ritter noch nicht erlöst worden?

Neve hatte die Grenze zum Reich überquert, weil sie seine Sendungen gefühlt hatte, und da war sie noch einige Wochen Fußmarsch von ihm entfernt gewesen! Ja, er machte ihr Angst mit seiner Mischung aus Wut und Verzweiflung. Aber das war kein Grund, seinen Hilfeschreien nicht zu folgen.

Sie kehrte auf die Hauptstraße zurück und ließ sich im Menschenstrom mitziehen, bis sie die hohen Zinnen des Torbaus sah. Karren voller Obst und Gemüse zogen an ihr vorbei, und sie spürte beinahe schmerzhaften Hunger. Ihr Magen knurrte. Aber das musste nun warten. Diese Seele, die in tiefster Qual um Hilfe schrie, nach jemandem, der nur für einen Moment zuhörte, hatte Vorrang vor allem anderen.

Neve schob sich an einem Marktstand an zwei schwatzenden Frauen vorbei und sah nun das Tor vor sich.

Sie atmete erleichtert auf. Die Stadt war so riesig, dass es allzu einfach war, sich in ihr zu verlaufen, da sie sich nicht auskannte.

Dieses Tor, erkannte Neve verblüfft, war überhaupt nicht bewacht. Die großen Flügel waren geschlossen, nur die kleine Fußgängerpforte stand sperrangelweit offen. Neve schlüpfte hindurch und sah den breiten Weg zur Festungsruine hinauf.

Ein Mann blickte für den Moment zu ihr herüber, runzelte die Stirn und sah wieder weg.

Neve fühlte sich seltsam erleichtert, dass sie die Stadt hinter sich gelassen hatte. Kein Windhauch hatte sich zwischen den hohen Mauern gerührt. Kein Mensch hatte ihr ein Lächeln oder überhaupt nur einen Blick geschenkt. Es war unheimlich gewesen, und Neve kannte sich mit diesem Begriff wirklich gut aus.

Grasbüschel und Unkraut wuchsen zwischen den schweren Steinblöcken, aus denen die Straße gefertigt worden war. Es sah nicht aus, als wäre in den letzten Jahrzehnten jemand zur Festung hinaufgegangen. Bäume hatten mit ihren Wurzeln ganze Steinquader angehoben. Die Natur eroberte sich ihr Reich zurück, und eine Straße, die nicht benutzt wurde, konnte innerhalb weniger Jahrzehnte vollkommen überwuchert werden, als wäre sie niemals da gewesen.

Neve blieb einen Moment stehen und sah zur Festungsruine hinauf. Das war einst ein mächtiges Bollwerk gegen Angreifer gewesen. Neve konnte sich die letzte, alles zerstörende Schlacht, die vor so vielen Jahrzehnten hier getobt haben musste, nicht einmal vorstellen.

Aber es war keinesfalls Nachlässigkeit gewesen, die zum Fall der Festung geführt hatte. So viel hatte sie den Erzählungen in Gaststätten und an Lagerfeuern auf ihrem Weg nach Kyelle entnehmen können. Vom Ritter wurde mit beinahe ehrfürchtigem Respekt gesprochen. Er hatte die Festung jahrelang gehalten und die Stadt im Schatten dieser Wehranlage gegen jeden Angriff verteidigt.

Die Legenden berichteten von der Übermacht der Seeräuber, die an jenem verhängnisvollen Tag gelandet waren und die Festung überrannt hatten. Einen Teil der Garnison hatte der Ritter in die Stadt geschickt. Dort war der Angriff schlussendlich abgewehrt worden, aber auch die Stadtbevölkerung hatte einen hohen Blutzoll für diesen Sieg entrichtet. Es hieß, die Seeräuber hätten gezielt Jagd auf Kinder gemacht. Eine entsetzliche Vorstellung.

Als der Ritter inmitten seiner brennenden Festung starb, fiel auch der letzte Eindringling. Die Stadt war gerettet worden.

Aber warum war dann nichts von einer neuen Garnison zu sehen? Warum ließ der Herrscher nach jenem schweren Angriff die Stadt ohne Beschützer offen für die seefahrenden Plünderer?

Seeräuber wuchsen nach wie Korn auf den Feldern. Eine vernichtende Schlacht, die ihre Flotten geschlagen hatte, bedeutete nicht, dass es niemals wieder einen Angriff gab.

Neve schüttelte den Kopf, um diese Gedanken zu vertreiben. Es war nicht ihre Aufgabe, für den Herrscher zu denken. Ihre Aufgabe erwartete sie dort oben in den Ruinen.

Es war gar nicht mehr weit. Neve raffte ihre langen Röcke, schulterte das Bündel und machte sich auf den Weg zu einer verlorenen Seele. So hatte ihre Mutter es ihr beigebracht, so tat sie es, seitdem Balan sich von ihr getrennt hatte. Das war die Aufgabe, die die Sängerinnen zusammen mit der Gabe von den Göttern erhalten hatten.

 

Rußgeschwärzte Mauern ragten über Neve auf. Wo früher das doppelte Tor gewesen war, gähnte ein schwarzes Loch in der Wehranlage. Neve musste über Trümmer klettern, die den Graben, der die Festung einst umgeben hatte, beinahe aufgefüllt hatten. Unkraut, Bäume und Büsche wuchsen auch hier. Rankpflanzen hatten das Mauerwerk zum Teil überwuchert.

Neve durchschritt den Torbau und fand sich auf einem großen Platz wieder, der an drei Seiten von Gebäuden gesäumt wurde.

Rundum ragten die Ruinen der Türme auf. An jeder der fünf Ecken der Festung hatte ein solches Bollwerk gestanden.

Der Legende nach war der Ritter auf der Plattform einer dieser Türme gefallen, als seine Festung rund um ihn herum bereits in Flammen stand.

Neve überquerte den Platz langsam, wobei sie sich immer wieder nach allen Seiten umsah und vor allem mit ihren geschärften Sinnen um sich spürte. Nach so vielen Jahren konnte der Geist nicht mehr als ein blasses Flackern sein. Aber dann ermahnte sie sich, dass ihre bisherigen Erfahrungen ihr hier vielleicht nicht wirklich nützten, denn noch nie zuvor hatte sie so starke Sendungen empfangen. Deren Intensität warnte sie, dass der Ritter vielleicht stärker war als nur ein glimmendes Licht im Wind.

Schließlich blieb sie stehen, schloss die Augen und hielt mit ihrem Gespür für Geister Ausschau nach dem Ritter.

Seit Jahrzehnten hatte kein lebender Mensch einen Fuß in die Festung gesetzt, davon war Neve überzeugt.

Sie war gespannt auf den Geist. Er war ein Held dieses Reiches gewesen und lebte in den Erzählungen weiter. Die Legenden über ihn wurden stets im Tonfall der Ehrfurcht und Verehrung erzählt. Er war nur ein Mensch gewesen, aber im Sterben, während er die Stadt unter seinem Schutz verteidigte, hatte er einen Status erreicht, der weit über das Übliche hinausging. Die Festung war nur noch eine brennende Trümmerlandschaft gewesen, aber Kapitulation hatte der Ritter nicht gekannt, und dafür hatte das Volk ihn zum Helden verklärt. Wie viel davon war Legende, wie viel Wahrheit? Neve würde es herausfinden, sobald sie den Geist aufgespürt hatte.

Die Welle überrollte sie wieder, aber sie konnte spüren, von wo die Sendung gekommen war. Neve stützte sich schwer auf ihren Wanderstab und wartete, bis auch diese Gefühlswoge sanft ausrollte und sie atemlos auf dem großen Kasernenhof alleine ließ.

Sie wischte sich Schweiß von der Stirn und Tränen von den Wangen. Dann ging sie direkt auf einen der Türme zu. Dieses Bollwerk war dem Meer zugewandt, der erste Teil der Festung, der die volle Wucht des Angriffs zu spüren bekommen hatte.

Wie viele Soldaten mochten gefallen sein? Wie viele Todesopfer hatte der Angriff der Seeräuber in der Stadt gefordert? Aber hier herrschte nur Leere: kein Soldat, kein Seeräuber, kein Knecht, keine Frauen und Kinder. Was blieb, war eine Einsamkeit, die Neve trauern ließ um die Gefallenen und den Ritter, der seit Jahrzehnten alleine in den verbrannten Mauern herumirrte.

Sie hielt weiter auf den Turm zu, passierte die Trümmer, die einst Pferdeställe gewesen sein mochten, kletterte über umgestürzte Säulen hinweg, die früher das Dach eines großen Gebäudes getragen hatten. Eine Gemeinschaftshalle, ein Festsaal, Neve wusste es nicht.

Ein wenig außer Atem erreichte sie den Turm. Diesem fehlten das Dach, eine vollständige Seite und jegliche Innenmauer. Er war nur noch ein Schlot, ragte auf wie ein Schornstein. Und genau das war er vor vielen Jahren gewesen, als die Festung niederbrannte.

Neve legte den Kopf in den Nacken und sah hinauf, wo sich früher die Plattform befunden haben musste, auf der der Ritter gefallen war. Dort oben hatte er gekämpft und seine Gegner erschlagen, während rings um ihn alles in Flammen gestanden hatte. In der Hitze musste das Blut der Erschlagenen verdampft sein. Niemand hatte inmitten der Lohe noch atmen können.

Wie vollbrachte ein Mensch so etwas? Er als Ritter und Stratege musste gewusst haben, dass er sterben würde, dass er inmitten brennender Trümmer nur noch darum kämpfte, die Liste der Toten immer länger zu schreiben. So viele Seeräuber, so viele Soldaten, ein Ritter. Er hatte nicht mehr gewinnen können. Jeder ausgeteilte Schlag hatte das unvermeidliche Ende nur um Augenblicke hinausgezögert.

Wie konnte man da noch den Mut für einen Hieb und noch einen Weiteren finden? Die Hitze des brennenden Turmes um sich herum. Jeden Augenblick konnte der Boden nachgeben. Aber der Ritter hatte dort oben bis zuletzt seine Feinde niedergemacht – obwohl es sinnlos gewesen war.

Wieder spürte Neve den Geist, aber dieses Mal war die Sendung beinahe sanft und ließ sie nicht nach Atem ringen wie die Male zuvor.

Hatte der Ritter sie bemerkt und hielt sich deswegen zurück? Befürchtete er, das einzige Wesen zu vertreiben, das ihm helfen konnte und wollte?

Sie drehte sich langsam im Kreis, um den Ausgangspunkt zu finden. Nicht der Turm. Von dort hatte sie den Ritter das erste Mal gespürt. Aber er bewegte sich frei in der Ruine, strich ruhelos durch das, was früher sein Reich gewesen war.

Das Gebäude mit den umgestürzten Säulen! Neve fuhr herum, kletterte mühsam zurück und lief auf die Halle zu. Auch dieser fehlte das Dach, und der Boden war bedeckt mit verkohlten Überresten vom Dachgebälk, zerschlagenen Dachpfannen und Mauertrümmern.

Ja, jetzt war sie ihm nahe. Sie konnte seine Präsenz ganz deutlich spüren. Neve zerrte ihr Bündel von der Schulter, zog die Schnüre auf und holte den kleinen Beutel mit der gemahlenen Kreide hervor.

Selbst falls der Geist jetzt noch weiter wanderte, sie erwartete fest, dass er wieder hierher kommen würde. Er würde neugierig sein, und er würde spüren, dass sie seine Möglichkeit auf Frieden war. Geister kamen zu ihr, wenn sie ihnen nur nahe genug war. Auch sie erkannten eine Sängerin und wurden wie Motten vom Licht von ihr angezogen.

Neve nahm sich Zeit, ihren Kreis auf den Boden zu zeichnen. Sie vertrieb jeden Gedanken an den Ritter aus ihrem Kopf. Erst wenn das schützende Rund gezeichnet war und sie sich in ihm befand, konnte sie den Ritter ansprechen. Vorher war sie leichte Beute für einen verwirrten Geist, und an die Wut, die wie Feuer brannte und ihr im Herzen wehtat, erinnerte sie sich nur ungern.

Diese Seele konnte Neve schaden, falls sie wollte. Und so wie ihr Hass loderte, war alles möglich.

Der Kreis war vollendet, und sie trat über die bunten Linien in die Mitte des schützenden Zeichens. Neve stellte ihr Bündel vor ihre Füße und ließ sich im Schneidersitz in der Mitte des Rundes nieder, legte den Wanderstab über ihre Oberschenkel und flüsterte die Worte, die die Kreide in mehr als bunten Staub verwandelten, den Beistand der Götter erflehten und den Ritter spätestens jetzt auf sie aufmerksam machten.

Sie wartete in Ruhe. Notfalls würde sie den Rest des Tages und auch die kommende Nacht hier sitzen. Drängen und Eile waren falsch. Ihre Mutter und vor allem ihre Erfahrungen der letzten Jahre hatten Neve das gelehrt. Ihr Mitleid war grenzenlos, ihre Fähigkeit zum Verständnis für die Qual ungebrochen. Der Ritter würde zu ihr kommen, sobald er die Zeit für reif hielt.

Aber er ließ sie nicht lange warten.

Die Worte lockten ihn an, seine Neugier und vor allem seine Sehnsucht und Einsamkeit trieben ihn auf Neve zu.

Umgeben von den Glassplittern der vom Feuer geborstenen Fenster, von Asche, Ruß und Trümmern erschien vor Neve ein blasses Schimmern.

Sie atmete tief durch, öffnete ihr Herz für sein Leid und wartete noch einen Augenblick ab, bevor sie ihn ansprechen wollte.

Doch dann geschah etwas Unerwartetes, das sie noch nie zuvor gesehen hatte, wovon ihre Mutter niemals ein Wort erwähnt hatte.

Das fahle Schimmern verdichtete sich, wurde zu einem grauen Nebel, faserte in alle Richtungen, wandelte sich zu einer aschefarbenen Rauchwolke, die von innen heraus rot und flackernd beleuchtet wurde. Die Rauchschwaden teilten sich, und vor Neve stand ein Ritter in voller Rüstung, eine gewaltige Streitaxt am langen Arm, ein Augenhelm ohne die geringsten Verzierungen auf dem Kopf, einen Schild an der Seite.

Neve roch Rauch und Feuer, Blut und Männerschweiß. Unbewusst richtete sie sich ein wenig auf, als der große Ritter einen Schritt nach vorne und auf sie zu machte, aus dem Rauch wie von Kämpfen und Schlachten heraustrat und dann wenige Ellen vom Kreidekreis entfernt stehen blieb.

Aus den schmalen Sehschlitzen des Helmes funkelten unglaublich blaue Augen, deren Blick zu erwidern fast wehtat.

Ein langer Pelzmantel hing von den breiten Schultern hinab, die Rüstung schimmerte wie frisch poliert.

»Guten Abend«, brachte Neve nach einer kleinen Weile des fassungslosen Starrens hervor. Noch nie hatte sie einen Geist gesehen, der so lebendig, so greifbar und echt aussah. Sie kannte nur blasse Kleckse, formlose Schemen, die der leiseste Windhauch zur Seite wehen konnte. Und so war dieser hünenhafte Ritter ihr zuerst auch erschienen. Was war geschehen, woher hatte er die Kraft genommen, sich ihr so zu zeigen?

Das war der erste Eindruck, die erste Verwirrung.

Das zweite Gefühl, dass sie nie einen Mann wie ihn gesehen hatte, wirkte stärker in Neve. War dies eine Projektion, wie er sich selbst gerne gesehen hätte? Dann sah sie eine helle Narbe wie von einem Messerschnitt auf seinem rechten Unterarm die Reinheit der sonnengebräunten Haut unterbrechen. Die hatte er gewiss bereits zu Lebzeiten getragen. Dies war keine Vortäuschung falscher Tatsachen. Dies war die Gestalt des Ritters, wie er vor mehr als sechzig Jahren ausgesehen haben musste, als er auf dem Turm hinter ihr gekämpft hatte.

»Guten Abend, Mädchen«, antwortete er so deutlich und klar, als wäre er tatsächlich noch am Leben.

Seine Stimme war tief, und beinahe meinte Neve, sie als Vibration in ihrer eigenen Kehle zu spüren. Trotz ihrer Fassungslosigkeit über diesen Geist kannte Neve die Aufgabe. Er war ein Held des Volkes, und ihm gebührte Respekt.

»Du bist Arrion, der Ritter dieser Festung.«

Er nickte, dann sah er sich um, als hätte er seit Jahrzehnten den Verfall nicht bemerkt, nicht verstanden, dass die Ruinen um ihn herum immer mehr in sich zusammenfielen.

Sein Arm sank herab, der doppelte Kopf der großen Kriegsaxt berührte leicht den Boden.

»Wer hat dich geschickt?«, fragte der Ritter schließlich.

»Niemand hat mich geschickt, Arrion. Ich folgte den Legenden, die man sich über dich erzählt. Ich folgte deinem Schmerz, deiner Trauer.« Sie unterschlug den Hass, den sie so deutlich gespürt und der ihr Angst gemacht hatte.

»Dies ist meine Festung, Mädchen. Niemand wird mich von hier vertreiben.« Er klang trotzig und verletzt.

»Niemand will dich vertreiben, Arrion. Ich möchte nur helfen. Ich spürte dein Leid so deutlich, dass es mich hierher rief. Schau dich um, was aus deiner Festung geworden ist. Es ist lange her, dass hier Soldaten an deiner Seite kämpften. Du hast hier keine Aufgabe mehr – schon seit Jahrzehnten. Arrion, du kannst frei sein. Dies ist nicht mehr deine Welt.«

Er sah noch einen Moment lang auf sie herab, dann löste er die Riemen des schweren Schildes, legte diesen zu Boden und ließ sich vor ihr ebenfalls im Schneidersitz nieder. Arrion legte die Kriegsaxt über die muskulösen Oberschenkel und nahm den Helm ab, den er neben sich auf dem Boden abstellte. Dann sah er Neve direkt an.

Seine Augen waren kobaltblau.

Neves Gedanken rasten: Er sah zu echt aus, zu lebendig! Sie hatte das Leder seiner Kleidung knarren gehört, als er sich hingesetzt hatte. Das Kettenhemd unter dem Brustpanzer klirrte leise. Der Wind fuhr in seine langen, schwarzen Haare, die Arrion sich mit einer knappen Handbewegung aus dem Gesicht strich. Geister sahen nicht so aus – und sie hatte es wirklich schon mit vielen zu tun gehabt.

Selbst Seelen, die erst ein oder zwei Jahre zwischen den Welten umherirrten, waren nur noch fahle Schemen. Sie verloren stündlich an Kraft, bis nur noch der Schmerz und ein Weinen im Wind übrig blieben. Diese Seele jedoch war seit fast sieben Jahrzehnten an diesem Ort gefangen, und Arrion sah aus, wie er zu Lebzeiten gewirkt haben musste.

Neve erkannte Spuren von Blut an seiner Rüstung, verwischt zu Streifen, einzelne Tropfen. Sie sah, wie der Wind mit seinem Haar spielte, hörte das Leder erneut knirschen, als der Ritter sich leicht nach vorne beugte.

»Es ist so lange meine Welt, wie ich es will, Mädchen.«

»Ich spüre deinen Schmerz und deine Trauer, Arrion. Das ist es, was dich hier festhält – nicht dein Wille oder diese Welt, an der du festhältst, obwohl sie dir keinen Platz mehr bietet. Ich kann dir den Weg in die andere Welt zeigen. Ich bin sicher, dass jemand dort auf dich wartet.«

Er wandte den Kopf mit einem Ruck ab. Seine Kiefermuskeln spannten sich kurz an. Für einen Moment packte seine Hand den Stiel der Kriegsaxt fester. Seine Fingerknöchel traten scharf hervor.

Sie wusste, dass sie ihn berührt hatte. Es gab immer jemanden, der wartete: Kinder, Eltern, die Ehefrau, der beste Kamerad, eine Geliebte. Es war gut, die verlorene Seele auf diesen Umstand hinzuweisen, wenn sie sich an dieser Welt festklammerte, die nicht mehr die ihre war.

Viele vergaßen in ihrer Trauer, dass es jemanden gab, der um sie weinte.

Allzu leicht konnte ein Ritter, der so viel Verantwortung getragen hatte, es vergessen.

Er sah sie wieder an, und sie fühlte sich von diesem unglaublich dunklen, blauen Blick nahezu durchbohrt, als könnte er ebenso leicht in die Abgründe ihrer Seele blicken, wie ihr das bei ihm gelang. »Was weißt du von meinem Schmerz, Mädchen?«

Sie kannte diese Frage. Jede Seele glaubte, ihr Leid wäre einzigartig. Alle dachten, ihre Geschichte, ihr Leben wäre besonders grausam und hart gewesen. Niemand bedachte, dass es Tausende gab, die ihre Kinder sterben sahen und sich schuldig fühlten.

Neve tastete mit allen Sinnen umher, um seinen Schmerz genau richtig beschreiben zu können. Er musste ihr glauben, dass sie ihn verstand.

»Dies war deine Festung. Hier waren deine Männer stationiert. Du warst ihr Kommandant und sowohl für sie als auch für die Stadt verantwortlich. Du denkst, dass du versagt hast.«

»Ich denke, dass ich versagt habe? Schau dich um, Mädchen! Ist das hier die Festung eines siegreichen Ritters? Hast du die Brandspuren gesehen? Den Zerfall? Die geborstenen Mauern? Wobei habe ich deiner Meinung nach nicht versagt?«

Er klang schroff, und es war wie eine Anklage. Aber die richtete sich nicht gegen Neve, wie sie sehr wohl wusste. Der Ritter klagte sich selbst an.

»Wie lautete der Auftrag des Herrschers, Arrion? Er befahl dir, die Stadt zu schützen – um jeden Preis. Du hast deine Truppen geteilt. Du hast das tun müssen, um die Stadt zu halten. Du hast die Seeräuber zurückgeschlagen und die Stadt gerettet. Das nenne ich nicht Versagen.«

»Ich habe die Festung nicht gehalten«, sagte er ruhiger.

»Ja, stimmt. Hätte auch stümperhaft ausgesehen, falls du dich mit all deinen Soldaten in der Stadt verschanzt hättest. Dann wären die meisten deiner Männer am Leben geblieben. Und du auch – zumindest so lange, bis der Herrscher davon erfahren hätte. Die Seeräuber hätten die Festung eingenommen und die Stadt von dieser sicheren Position aus angegriffen. Du weißt, dass die Vierteilung auf Befehl des Herrschers die Strafe gewesen wäre, Arrion. Du hast versucht, Festung und Stadt zu retten, weil du wusstest, was der Herrscher erwartete, wenngleich er es nicht befohlen hat. Er hat Unmögliches verlangt, und du hast dein Bestes gegeben.«

Sie war es gewohnt, dass verlorene Seelen sich für ihr eingebildetes Scheitern rechtfertigten, ohne selbst auch nur ein Wort davon zu glauben. Sie flüsterten Worte, die sie besser darstellen sollten, obwohl sie sich jenseits des Vergebens fühlten. Sie bettelten mit ihren Entschuldigungen um Mitleid. Sie wollten hören, dass sie nicht schuld waren.

Aber hier kam nicht eine einzige Entschuldigung. Arrion glaubte wirklich an sein angebliches Versagen, und er nahm die Schuld auf sich, weil sein Scheitern für ihn eine Tatsache darstellte.

Und unter all diesen Schuldgefühlen und seiner unübersehbaren Trauer spürte Neve den Hass brodeln, an seiner Kette ziehen wie ein wildes Tier, das nur töten wollte. Gegen wen richtete sich dieser Hass? Diese Wut machte ihr Angst, denn der Zorn stand in totalem Gegensatz zu Arrions Selbstvorwürfen und Schmerz.

War dies der Grund, warum er so lebendig und echt wirkte? Weil in ihm mehr als nur Verzweiflung steckte?

Mit einem Mal sah er zur Seite, unterbrach den intensiven Blickkontakt. Sie bedauerte es kurz, denn in seinen Augen konnte sie sich verlieren.

Dann hörte auch sie Schritte und leises Stimmengemurmel. Sie verharrte, wo sie war. Es blieb ihr auch nichts anderes übrig, denn sie konnte und durfte den Kreidekreis in Gegenwart des Geistes auf gar keinen Fall verlassen.

Arrion stand auf, den Helm unter dem Arm, die Axt in der freien Hand. Noch ruhte der gewaltige Waffenkopf auf dem Boden, aber jeder Zoll des Geistes sprach von seiner Bereitschaft zum Angriff.

Neve fühlte sich versucht, ihn darauf hinzuweisen, dass niemand außer einer Sängerin ihn sehen oder hören konnte. Aber kümmerte es ihn? Seine Haltung sprach Bände, dass er ihre Berufung akzeptierte und sie notfalls verteidigen würde. Aber vor wem?

Sie lauschte auf das Stimmengemurmel und konnte nach kurzer Zeit mehrere Sprecher unterscheiden, die offenkundig über irgendetwas aufgebracht waren. Sie lehnte sich ein wenig zurück, sorgsam darauf achtend, dass sie keine der Kreidelinien berührte.

Jetzt konnte sie die Männer sehen, die in einem dichten Pulk über den großen Platz vor der Halle herankamen, vor den Trümmern der Säulen kurz stehen blieben und dann nacheinander über dieses Hindernis hinweg kletterten. Soldaten der Stadt, nicht des Herrschers. Neve war verwirrt, was die Männer hier wollten.

Arrion rührte sich nicht.

Sie beobachtete, wie seine Brust unter der Rüstung sich wie bei einem Einatmen hob. Neve sah seine Wimpern sich bei jedem Lidschlag senken.

Ihre Mutter hatte ihr gesagt, dass sie die beste Geistersängerin dieser Welt war. An Arrion musste sie dies beweisen. Seine Seelenqual tat ihr weh. Auch jetzt, da er mit allem Anschein von Gelassenheit den Soldaten entgegensah, spürte sie seine Schmerzen. Für den Augenblick war die kochend heiße Wut in den Hintergrund gedrängt, aber seine Schuldgefühle waren für Neve nahezu greifbar. Sie wollte sie ihm entreißen und ihm den Frieden geben, den er sich als Ritter des Herrschers auch durch die Hingabe seines Lebens verdient hatte. Sie musste es schaffen.

Die Fremden traten in die Ruinen der Halle. Neve erkannte ihre Wächteruniformen und ein Gehabe von Selbstgerechtigkeit, das sie überraschte.

Nicht ein Blick flackerte zu Arrion, obwohl er hochaufgerichtet und einsatzbereit dastand. Es war kaum zu glauben, dass ihn niemand außer ihr sah, so greifbar und lebendig wirkte er. Aber so war es mit Geistern, und wenigstens das stimmte auch in Bezug auf ihn – wenn schon alles andere von Neves Erfahrungsschatz abwich.

»Weib, verschwinde von hier und lass dich nie wieder blicken!«, brüllte der Anführer des kleinen Trupps Neve an, nachdem er sie einen Moment lang nur gemustert hatte.

Dieser Angriff kam unerwartet und vor allem von der falschen, menschlichen Seite.

»Was?«, fragte Neve verwirrt nach.

Der Hauptmann stürmte zu ihr, verhielt kurz vor dem Kreidekreis, in dessen Mitte sie immer noch im Schneidersitz saß. »Du sollst verschwinden! Ich weiß, was für eine du bist. Du wirst den Ritter nicht erlösen. Der bleibt hier und tut das, was seine Aufgabe ist. Verschwinde, oder du kannst im Kerker verrotten, du Miststück!«

Arrion drehte sich ganz langsam zu ihr um. Die blauen Augen waren geweitet vor Überraschung. Keiner der Männer sah ihn, das war offensichtlich. Vielleicht hätte der Soldat, der Neve so anbrüllte, dann den Mund gehalten. Die Eröffnung, dass die Stadtbewohner sich seiner so sicher waren, stellte ganz offenkundig eine Neuigkeit für den geisterhaften Ritter dar.

Aber Neve verstand nicht, was die Stadt davon hatte, wenn eine verlorene Seele in den Festungsruinen umging. Welchen Nutzen zogen sie aus ihm? Ihr schwirrte der Kopf von diesen ganzen Widersprüchen.

»Ich bin eine Geistersängerin«, sagte sie ganz ruhig, obwohl sie Angst bekam. Noch nie war sie so behandelt worden. Sie war noch niemals angeschrien worden – außer von dem einen oder anderen verwirrten Geist. »Ich bin hier, um dem Ritter Arrion Frieden zu schenken. Ich spüre seinen Schmerz. Niemand soll unter solchen Qualen zwischen den Welten wandern …«

Der Mann sprang unter den empörten und anfeuernden Rufen seiner Kumpane in den Kreis und packte Neve am Oberarm, zerrte sie mit sich, bevor sie noch begriff, was da geschah.

Als sie es verstand, wehrte sie sich erbittert. Der Kreis war ihr einziger Schutz!

Dieser Kerl trat auf die Linien, verwischte die Kreide, trampelte sie in den Dreck – und erstarrte zur Salzsäule, als Arrions Hand sich wie eine Stahlklammer um seinen Unterarm schloss.

Neve vernahm das synchrone Aufkeuchen der übrigen Soldaten, und sie wusste mit absoluter Sicherheit, dass die Kerle den Ritter jetzt sahen – wie auch immer das möglich war.

Was ist er? Was ist hier los?

Sie glotzen ihn direkt an, und der Hauptmann sank in die Knie, während er sich in seine Uniform erleichterte. Der dunkle Fleck breitete sich aus, und Neve schlug sich die freie Hand vor den Mund, um nicht laut aufzulachen.

Für einen kleinen Moment, nur so lang wie ein Wimpernschlag, blickte Arrion ihr in die Augen. Sie sah ihr Gelächter in seinen leuchtend blauen Iriden gespiegelt.

Dann war jede Heiterkeit verschwunden, als er den knienden Mann und auch das Pack hinter diesem mit täuschend ruhiger Stimme mit einigen unangenehmen Fakten vertraut machte. »Sie ist eine Geistersängerin. Hat dich deine Mutter nicht vernünftig erzogen? Weißt du nicht, dass man einer Geistersängerin mit Respekt begegnet?«

Der Mann plapperte etwas, das unverständlich blieb. Arrions Fingerknöchel waren weiß, so fest hielt er den Mann. Dieser war in seiner Todesangst noch nicht auf die Idee gekommen, Neve loszulassen, nachdem er sie durch den halben Kreis gezerrt hatte.

Neve konnte für den Augenblick nur starren. Sie hatte schon vieles gesehen, aber noch niemals erlebt, dass ein Geist sie vor den Lebenden schützte und obendrein von diesen als tatsächliche Bedrohung wahrgenommen wurde.

Ihre Welt wurde gerade gründlich auf den Kopf gestellt.

»Sie ist im göttlichen Auftrag hier. Wenn du meine Wut nicht fürchtest, wirst du dann vor den Göttern Angst haben? Oder soll ich dich hier und jetzt zu deinen Ahnen schicken?«

Das leise Kratzen, als Arrion die Kriegsaxt zwei Fingerbreit über den Boden zog, bevor der gewaltige Klingenkopf in der Luft war, erschien selbst Neve ohrenbetäubend laut. Die Soldaten hörten das Geräusch ebenfalls. Sie sahen die Axt, ihre Blicke klebten wie gebannt an der schimmernden Klinge, die unglaublich groß, gebogen und rasiermesserscharf aussah.

Endlich lösten sich die Finger um Neves Arm, nachdem der Druck für einen Moment schmerzhaft geworden war.

Als hätte er nur auf diese Hand geachtet, schleuderte Arrion den Mann von Neve weg. Die bunte Uniform war staubbedeckt und voller Unrat, als der Mann vor den Füßen seiner Kameraden hart auf dem Boden aufprallte.

Arrion war ein hünenhafter Ritter, und der erheblich kleinere Anführer der Stadtwache hatte gegen diese Naturgewalt nicht den Hauch einer Chance.

Keuchend und schwitzend versuchte der Mann, sich aufzurappeln. Zwei seiner Kumpane flohen in wilder Panik über die Trümmer der Säulen hinweg aus der Festung. Noch ein Mann suchte sein Heil in der Flucht, als der Ritter mit langen, kraftvollen Schritten auf die kleine Gruppe zukam. Der beinahe schwarze Pelzumhang zeichnete seine Bewegungen nach.

Wie lächerlich die Stadtwächter neben dem Hünen aussahen. Bei Ritter Arrion machten jede Bewegung und jedes Wort klar, dass man ihn besser nicht verärgern sollte. Kriegshandwerk war sein Beruf und seine Berufung. Jeder Einzelne der Wächter sah dagegen aus wie jemand, der ein Amt gesucht hatte, in dem er nicht viel tun musste. Deutlicher konnte ein Gegensatz nicht sein.

Neve saß in den Resten ihres Kreidekreises, massierte ihren schmerzenden Oberarm und starrte offenen Mundes auf diesen Geist. Der alles war, aber niemals das, was sie erwartet hatte, was ihre Mutter ihr zu besänftigen und in die andere Welt zu singen gelehrt hatte.

Was war er? Woher nahm er diese Kraft? Warum konnten normale Menschen ihn mit einem Mal sehen? Und wie bei allen Göttern besänftigte man jemanden wie ihn?

Das konnte alles gar nicht sein! Solche Wirklichkeit besaßen Geister nicht, und so benahmen sie sich auch nicht.

»Geht, und lasst euch hier nicht mehr blicken. Falls jemand berechtigt ist, die Geistersängerin fortzuschicken, bin alleine ich es. Du siehst in mir eine Waffe, und bei den Göttern, das bin ich. Aber ich gehöre dir nicht. Ich gehöre niemandem. Und jetzt verschwinde, bevor ich die Geduld verliere und dich einen Kopf kürzer mache!« Damit wandte er sich schwungvoll um und kehrte zum Kreidekreis zurück, nickte Neve zu und fragte mit vollkommen veränderter, nahezu zivilisierter Stimme: »Wo waren wir stehen geblieben, Mädchen, bevor wir unterbrochen wurden?«

Er würdigte die Stadtsoldaten keines weiteren Blickes mehr. Und sie krochen wirklich in die heranziehende Dämmerung davon – wie Hunde mit eingeklemmtem Schwanz.

Neve sah ihnen nach. Wieder drängte sich ihr die Frage auf, warum noch nie eine Geistersängerin bis zu Arrion vorgedrungen war. War sie die Erste, der es gelungen war, an den Stadtwächtern vorbeizukommen? Sie schüttelte diese beklemmenden Gedanken ab, sah hoch in die leuchtend kobaltblauen Augen und lachte laut auf. »Du bist der ungewöhnlichste Geist, dem ich jemals begegnet bin, Ritter Arrion.«

»Viele Mädchen sagten mir, ich wäre der ungewöhnlichste Mann, dem sie jemals begegnet wären.«

Neve starrte ihn einen Augenblick lang an, bis sie verstand, dass er gerade mit ihr tändelte.

»Bevor wir unterbrochen wurden«, sagte sie möglichst würdevoll, als sie sicher war, dass ihre Stimme nicht mehr vor Lachen beben würde, »sagte ich dir, dass du dein Bestes gegeben hast. Du hast eine Katastrophe verhindert, und du bist dafür gestorben, weil der Herrscher Unmögliches von dir verlangte. Sterbliche vollbringen keine Wunder, Arrion.«

Er ließ sich vor ihr im Schneidersitz nieder, und das Funkeln in seinen Augen wirkte frech. »Andere Mädchen teilen diese Ansicht durchaus nicht.« Er schien tief einzuatmen. Zumindest bewegte sein Brustkorb sich entsprechend, und Neve meinte sogar, die Luft wieder ausströmen zu hören. Das Glitzern verschwand aus seinem Blick. »Kannst du mich in die andere Welt bringen?«

»Ich werde mein Möglichstes tun«, sagte Neve sanft.

»Auch wenn ich es nicht will?«

»Arrion, ich spüre deinen Schmerz und deine Verzweiflung. Ich habe viele Seelen befreit, die wie du von Zweifeln zerrissen waren. Aber ich zwinge mich niemandem auf, und ich werde dich keinesfalls gegen deinen Willen von diesem Ort befreien. Ich biete Hilfe – mehr nicht.«

»Sing für mich, kleine Geistersängerin. Und dann nimm den Weg entlang der Klippen, um von hier wegzukommen. Zwischen den beiden großen Türmen ist eine Bresche in der Wehranlage. Wenn du mich erlöst, kann ich dich nicht vor den Männern aus der Stadt beschützen.«

»Sie haben dich ausgenutzt«, sagte Neve leise und zum ersten Mal an diesem merkwürdigen Abend mit einem leichten Beiklang von Zorn.

»Wie gut, dass dieser fette kleine Kerl mir die Augen geöffnet hat, nicht wahr? Sing, Mädchen. Auf mich warten Heerscharen von liebevollen Frauen, das weiß ich. Ich will sie nicht enttäuschen.«

Sie sah rasch auf, aber das aufreizende Lächeln lag nicht mehr in Arrions Augen. Einen Herzschlag lang meinte Neve, Angst in den kobaltblauen Tiefen zu sehen. Aber sein Gesicht war ernst und ruhig.

Wenn sie ehrlich war, dann konnte sie sich nur zu gut vorstellen, dass er Mädchenherzen gleich reihenweise gebrochen hatte. Schwarzes Haar und blaue Augen waren exotisch in diesen Ländern. Er war groß, stattlich und – wenn er lächelte und lachte – durchaus charmant.

Neve ballte die Fäuste, schloss die Augen und begann zu singen.

Die ersten Silben klangen nicht so rein und süß, wie sie es sonst taten, aber nach einem Atemzug kam Neves Stimme von ganz alleine zur vollen Kraft und Reichweite.

Neve sang, und von ihm hörte sie nur ruhige Atemzüge.

Sie öffnete die Augen. Arrion saß ganz still da und sah sie einfach nur an, schien jede Silbe durch die halb geöffneten Lippen zu trinken. Sie bemerkte, dass seine eindrucksvolle Gestalt leicht durchscheinend wurde.

Sie konnte durch ihn hindurch die Trümmer seiner Halle sehen. Er war stark für einen Geist, dem Hier und Jetzt verhaftet, aber er reagierte auf ihren Gesang, wehrte sich nicht, wollte hinüber in die andere Welt.

2.

Auf der Flucht

 

Neve verließ die Festungsruine noch in der Nacht.

Arrion war fort, dessen war sie sich gewiss. Sie packte ihr Bündel und suchte sich den Weg an der Außenmauer entlang, bis sie die Bresche erreichte, durch die sie die Festung verlassen konnte.

Weit unten donnerte das Meer an die Klippen, und mit einem flauen Gefühl in der Magengrube nahm Neve diesen Weg. Es war dunkel, nur die Gischt der Wellen leuchtete und zeigte ihr deutlich, wo sie besser nicht gehen sollte.

Sie kletterte vorsichtig über Felsbrocken und Geröll, bis sie bemerkte, dass der Wind vom Meer an Stärke gewann und ihr das verschwitzte Haar aus dem Gesicht wehte. Sie hatte den oberen Saum der Klippen erreicht.

Warum sie Arrions Richtungsanweisung folgte, wusste sie auch nicht ganz genau. Sie stand unter dem Schutz der Götter, hieß es. Wie oft, wenn sie im Winter frierend unter ihrem Umhang im Windschatten eines Felsens gekauert und sich gesorgt hatte, ob ihr in dieser Nacht Zehen oder die Nase abfrieren könnten, hatte sie göttlichen Schutz genossen? Die Götter waren verdammt nachlässig, fand Neve.

Es war ein bitteres Gefühl, an dem sie sich nachts wärmte.

Vor einem Jahr wäre Neve fast an einer entzündeten Wunde gestorben, und nur ihr eigenes Kräuterwissen hatte sie gerettet. In fieberfreien Momenten war sie aus ihrem Zelt gekrochen und hatte die richtigen Pflanzen gesammelt, um ihre Verletzung zu versorgen.

Oh, ein gläubiger Mensch würde ihr nun sagen, dass sie ihr Wissen um die Heilkunde den Göttern verdankte. Aber das stimmte nicht. Sie verdankte es ihrer Mutter. Das Gegenargument wäre dann wohl, dass die Götter die Pflanzen gemacht hätten. Ja, vielen Dank, den spitzen Fels, an dem sie sich die Wade aufgerissen hatte, hatten die Götter nach dieser Logik auch gemacht. Wo war der Sinn?

Und es gab noch mehr, das ihr unsinnig erschien.

Wie ein Ertrinkender sich an alles klammert, was ihn vielleicht tragen kann, klammerte Neve sich an das, was ihr zustand, was die Belohnung der Götter war: ihre Tochter, der sie ihre Gabe vererben und ihr Wissen weiterreichen sollte. Es gab da nur ein Problem: Sie hatte keine Tochter!

Sie hatte mit zahlreichen Männern geschlafen, zufällige Begegnungen, die willens gewesen waren, mit einer Geistersängerin zu schlafen. Wohl der Reiz des Ungewohnten.

Für keinen von ihnen hatte sie ein wärmeres Gefühl empfunden, einzig die Zeugung ihrer Tochter im Sinn gehabt. Sie hatte einen Namen, eine Gabe und einen Berg an Wissen und Erfahrung, aber sie wurde nicht schwanger.

Sie hatte sich allzu oft wie eine Hure gefühlt, wenn sie einen Fremden in sich aufgenommen hatte. Es ging nicht um den Mann, um einen flüchtigen Höhepunkt – der allzu oft ausblieb. Es ging um ihre Tochter, auf die sie seit einem Jahrzehnt wartete und hoffte.

Einige der Kerle hatten ihr wirklich gefallen. Es hatte Spaß gemacht, mit ihnen zu schlafen. Unter anderen hatte sie stillgelegen und gehofft, dass sie es endlich schaffen würden. Bei wieder anderen hatte es wehgetan. Aber alles war vergebens gewesen. Danke, ihr Götter!

Ein Mann war in ihr Leben getreten, dem sie sich mit Leben, Leib und Seele hingegeben hätte. Einer. Und was hatte sie getan? Sie hatte ihn in die andere Welt gesungen.

Neve warf ihren Wanderstab zornig zu Boden.

Unsinnige, dumme Gedanken. Er war kein Mann, er war ein Geist gewesen, und sie hatte genau das Richtige getan.

Wenn seine Augen nur nicht so blau gewesen wären, dass sie sich in ihnen hätte verlieren können. Wenn er nur nicht gemerkt hätte, dass sie lachen musste, als der Mann aus der Stadt sich einpisste. Wenn er nur nicht ihr Lächeln erwidert hätte. Wenn er nur nicht gebaut gewesen wäre wie noch kein Mann, den sie zuvor gesehen hatte.

Was hatte er gesagt? Zahllose Mädchen warteten nur auf ihn! Ja, das glaubte sie beinahe unbesehen.

Neve hob den Wanderstab wieder auf und suchte sich weiter ihren Weg entlang der Klippen, ohne in die Tiefe zu stürzen, als sie eine allzu vertraute Stimme hinter sich vernahm. Ihre Nackenhaare stellten sich auf. Ihr Herzschlag beschleunigte sich rasant.

»Dir folgen Reiter. Komm hier entlang.«

Neve unterdrückte einen entsetzten Schrei, wirbelte herum, und da stand er: in voller Rüstung, der Schild an seiner Seite eine vom Mondlicht beleuchtete, milchige Scheibe, das Funkeln der Axtklinge tödlich und kalt.

»Ich habe dich in die andere Welt gesungen«, schnappte Neve atemlos.

»Ich erinnere mich. Ich war nämlich anwesend. Komm jetzt, wenn du leben willst. Hier entlang.«

Er fegte an ihr vorbei. Der lange Fellumhang streifte sie, und sie packte zu, hielt sich an dem dichten Pelz fest und ließ sich so von einem Geist durch die Dunkelheit ziehen.

Sie hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten, denn er war so viel größer als sie. Der Pelz fühlte sich kalt und fettig in ihrer Hand an, aber sie ließ sich von Arrion führen, während sie in die Dunkelheit lauschte und ihre Gedanken rasten.

Wie hatte der Geist sie gefunden? Und warum war er nicht in der anderen Welt? Warum war er nicht mehr an die Festungsruine gefesselt? Warum vertraute sie gerade ihr Leben einer verlorenen Seele an, von der sie ebenso gut in die Tiefe geschleudert werden konnte?

Ihre Gedanken wirbelten durcheinander. Nichts ergab mehr Sinn. Aber das war fast gleichgültig, da sie von der Klippenkante fortgeführt wurde und atemlos hinter dem Ritter herstolperte.

Dann hörte sie tatsächlich Hufschlag hinter sich und verdoppelte ihre Anstrengungen, mit Arrion Schritt zu halten, der sie an eine zweite Klippenreihe geführt hatte.

»Klettere da hinauf, Mädchen. Mach schnell, sie sind gleich da. Ich will dich da oben in Sicherheit wissen, wenn sie angreifen. Außerdem wirst du da nicht schmutzig.«

»Ich habe keine Angst vor ein bisschen Schmutz!«, gab sie hitzig zurück, während sie nur im blassen Schein eines halben Mondes versuchte, den Felsvorsprung zu erklimmen.

»Es könnte ein wenig mehr als ein bisschen werden«, sagte er beinahe entschuldigend, warf den schweren Fellumhang ab, kontrollierte den Sitz von Helm und Schild und bezog zu Füßen der Klippe Position. Er drehte sich noch einmal zu Neve um, und sie konnte sein Lächeln und die kobaltblauen Augen erkennen. »Sie scheinen mich mehr als die Götter zu fürchten, Mädchen.«

»So scheint es«, gab sie zurück, packte ihren Wanderstab fester und nahm sich vor, mit ihren weichen Knien später abzurechnen. Sie benahm sich wie ein Backfisch vor dem ersten Mal. Seine Selbstsicherheit machte sie nervös. Seine reine Anwesenheit verstieß gegen jede Lehre, die sie je empfangen hatte. Sie wusste doch, was sie getan hatte! Und trotzdem war er ihr nachgekommen, um sie vor den Menschen aus der Stadt zu warnen. Die Welt steht kopf, fluchte Neve in Gedanken.

Sie stieß sich die Knie, zerrte den Wanderstab mit sich. Das Donnern der Hufe kam immer näher und trieb sie zur Eile an. Sie verstand nicht, was die Stadt Kyelle so ungewöhnlich machte, aber es jagte ihr Angst ein.

Dann sah sie eine Reitergruppe um eine Biegung fliegen, und Neves Herz sank. Es war eine kleine Abteilung, ein gutes Dutzend Männer. Mehr brauchte es ja auch nicht, um eine einsame Frau zu fangen, dachte sie bitter.

Das waren nicht die Uniformen des Herrschers. Es waren die gleichen Abzeichen und Farben, wie die beiden Wächter am Stadttor sie getragen hatten. Das konnte sie im Mondlicht ebenso erkennen wie die Speere, die die Männer mit sich führten.

Hatten die Kerle den Befehl, sie zu fangen oder zu ermorden? Wer hatte ihnen diese Order gegeben? Warum? Weil sie ihre Aufgabe erfüllt und einen Geist zu befreien versucht hatte? Wie viele Truppen wie diese waren aus der Stadt geströmt, um die Verfolgung einer Geistersängerin aufzunehmen?

Was hatte Arrion die Jahrzehnte seit seinem Tod getan, um eine solche Reaktion zu rechtfertigen?

Sie sah zu ihm hinab, wie er mit allen Anzeichen der Gelassenheit auf die Reiter wartete. Der Kopf der Kriegsaxt ruhte auf dem Boden. Selbst der Ritter konnte unmöglich mit der Horde da fertig werden! Das waren zu viele – sogar für einen hünenhaften Ritter, der besser ausgebildet worden war als das ganze Pack vereint. Sie hatten den Vorteil, vom Pferderücken aus kämpfen zu können.

Neves Atem stockte, als einer der Reiter etwas rief: Sie waren entdeckt worden! Warum war Arrion nicht zusammen mit ihr in Deckung gegangen? So wie er jetzt dastand, hatten die Soldaten ihn gar nicht übersehen können.

Die Pferde wurden in eine Kurve gezwungen, und der Trupp donnerte auf Arrion zu, als wäre er gar nicht da.

»Da oben ist sie!«

»Komm runter, Weib. Du hast ausgespielt!«

»Mach schon!«

Neve richtete sich halb auf und legte verwundert den Kopf schräg.

Die Pferdehufe stampften keine drei Schritte von Arrion entfernt auf dem steinigen Boden. Die Tiere waren unruhig. Die Reiter nicht. Nicht einer von ihnen sah den Ritter an, alle starrten nur zu ihr herauf.

»Komm schon, Weib! Komm, oder wir holen dich!«

»Los, du Miststück. Du hast genug Schaden für eine Nacht angerichtet.«

»Arrion«, sagte sie leise, »sie sehen dich nicht.«

»Ich weiß«, erklang seine ruhige Stimme, und eines der Pferde scheute wiehernd, »aber das ändert sich gleich. Sag ihnen, dass sie weggehen sollen. Die Gelegenheit will ich ihnen geben.«

»Du kannst unmöglich mit ihnen fertig werden! Das sind Männer aus Kyelle. Du hast diese Stadt beschützt.«

»Ich schütze die Stadt nicht länger. Sag ihnen das.«

»Weib, lass das. Das hilft dir auch nichts mehr. Komm herunter«, unterbrach einer der Soldaten diesen verwirrenden Dialog, von dem die Reiter nur Neves Anteil gehört haben konnten.

Neve wischte sich schweißfeuchte Haare aus der Stirn. Sie verstand nichts mehr.

Sie stand auf und sah auf die Soldaten hinab. Was hatten die Männer mit ihr vor? Warum sahen sie Arrion nicht? Konnte er es wirklich beeinflussen, wann ihn jemand sah?

»Geht weg. Lasst mich ziehen. Ich stehe unter dem Schutz der Götter, ich bin eine Sängerin. Ritter Arrion beschützt die Stadt nicht länger.«

»Ja, du verdammte Hure, das wissen wir. Und du wirst dafür bezahlen! Ich sage es ein letztes Mal: Komm herunter! Oder ich hole dich und schleife dich hinter meinem Pferd in die Stadt!«

Weitere Schimpfworte wehten zu ihr herauf. Zornesröte kroch in ihre Wangen. Ihr Herzschlag beschleunigte sich vor Wut.

Der Anführer der Soldaten stieg von seinem Pferd, reichte die Zügel an den Mann neben sich. »Du hast es so gewollt!«

»Du auch«, sagte Arrion.

Bis zu diesem Moment hatte er direkt vor den Soldaten gestanden, sich nicht gerührt. Sie hatten ihn weder gesehen noch gehört. Jetzt scheuten fast alle Pferde, und die Männer schrien sich gegenseitig Warnungen zu: »Der Ritter!«

Die große Kriegsaxt beschrieb einen milchig schimmernden Bogen im blassen Mondlicht, und der gewaltige Kopf der Waffe grub sich scheinbar mühelos bis zur Hälfte in die Brust des ersten Soldaten.

Er sollte so etwas nicht können, dachte Neve benommen. Und warum sehen sie ihn jetzt? Eben gerade haben sie nichts von ihm mitbekommen. Und er weiß es.

Die anderen Soldaten sprangen von ihren scheuenden Pferden, warfen die Speere beiseite, zogen ihre Waffen.

Neve stand auf ihrem Felsvorsprung und sah fassungslos zu, wie Arrion seine Axt aus der Brust des Toten befreite und dann den nächsten Mann niedermachte.

Große Männer waren ihr bislang immer schwerfällig und langsam erschienen. Er ragte höher auf als jeder andere Mann, den Neve je gesehen hatte. Er war schneller und wendiger, als seine Masse es zuließ. Es war erschreckend, wie er herumwirbelte, wie leichtfüßig er sich bewegte.

»Arrion!«, schrie sie, als sie sah, dass zwei der Soldaten ihn zu umrunden versuchten. Nichts hielt Neve mehr auf ihrem Felsen. Sie sprang hinab und verstauchte sich fast einen Knöchel. Ihr Rock war im Weg, sie trat auf den Saum und holte sich blaue Flecken und Schürfwunden. Energisch warf sie das Bündel von sich und wirbelte den Wanderstab als ihre einzige Waffe herum.

Vergessen war in diesem Augenblick, dass der Ritter tot, dies nur seine ruhelose Seele war. Neve hatte in seine lachenden Augen gesehen, hatte seine Stimme erkannt und war nur zu gerne bereit, mit ihm zu scherzen. Sein Humor war boshaft, unanständig und vollkommen ungebändigt.

Sie stieß einen weiteren Warnruf aus und stürmte auf jenen Soldaten zu, der Arrion hinterrücks niederstechen wollte. Es pfiff, als sie den Wanderstab im Kreis wirbeln ließ. Für eine einsame Wanderin war dies die effektivste Waffe, und Neve hatte gelernt, sich zu verteidigen. Jetzt beschützte sie Arrion, und sie war tief befriedigt, als das obere Ende ihres Stabes den Soldaten genau zwischen die Augen traf.

Der Mann schielte für einen Moment, dann ging er langsam zu Boden.

»Merk dir das!«, rief Neve zornig – zu zornig, um noch klar zu denken.

Etwas Warmes traf ihren Rücken, wie ein Schwall warmes Wasser, aber sie roch, was es war – Blut von der breiten Klinge der Axt im Schwungholen davon geschleudert.

Ein wenig Schmutz? Er hatte recht gehabt, erkannte Neve, an der das Blut von mindestens einem erschlagenen Soldaten hinab rann. Das war mehr als ein bisschen.

Ein weiterer Schwall Rot traf ihr Gesicht, als Arrions Axt direkt neben ihr in den zweiten Soldaten einschlug, der versucht hatte, dem Ritter in den Rücken zu fallen.

Sie sah, wie Arrion einer wuchtigen Kriegsmaschine gleich arbeitete, als er die Klinge aus der Leiche befreite. Schweiß glitzerte auf seinen nackten Unterarmen.

Er war zu echt!

Der letzte Feind sank auf den blutigen Fels, und Arrion drehte sich zu Neve um. »Mädchen, sagte ich nicht, dass du zurückbleiben sollst, wenn du nicht schmutzig werden willst? Ich wusste schon, warum ich dich da oben in Sicherheit wissen wollte. Du hättest getötet werden können.«

»Wie machst du das, Arrion? Ich habe noch nie einen Geist wie dich kennengelernt.«

»Ich bin in vielen Aspekten außergewöhnlich, wie ich dir nur zu gerne beweisen werde, Mädchen.«

Arrion beugte sich zu ihr herab. Sie roch Leder, Männerschweiß und das Blut der Erschlagenen, als er seine raue Hand in ihren Nacken legte und Neve an sich zog.

Er wartete einen Herzschlag lang, gab ihr damit die Gelegenheit, ihm auszuweichen, ihn abzuweisen. Er forderte stumme Zustimmung ein damit, begriff sie. Doch nicht für einen Augenblick kam es ihr in den Sinn, sich gegen ihn zu wehren. Wie kein anderer Mann faszinierte er sie. Dann beugte er sich zu ihr herab.

Seine Lippen waren eiskalt, fühlten sich an wie verwesende Quallen und schmeckten nach vergammeltem Fisch.

Sie fuhren auseinander, als hätten sie sich verbrannt.

Neve würgte, die Hand an der Kehle. Scheinbar alles in ihr war mit diesem ekelhaften Geschmack erfüllt. Sie roch toten Fisch mit jedem Atemzug, hatte vergammelten Froschlaich in der Lunge, das Gefühl, dass schmierige Fischschuppen auf ihrer Zunge und ihren Lippen klebten.

Sie beugte sich über einen Felsen und erbrach sich, bis andere, ebenfalls ekelhafte Gerüche und widerliche Aromen den elenden Geschmack von lange totem Meeresgetier übertünchten.

»Götter! Mädchen, was hast du gegessen?«, keuchte Arrion hinter ihr.

»Das war ich nicht!«, gab sie den Vorwurf zurück, wischte sich den Mund mit einem Zipfel ihres Mantels ab und spuckte übel schmeckenden Speichel – bitter und immer noch ein wenig fischig – aus. »Das warst du. Das war widerlich! Es muss daran liegen, dass du ein Geist bist. Menschen und Geister küssen sich nicht.«

»Das kann ich nicht glauben«, verkündete Arrion, der offensichtlich so viel Kontrolle über seine geisterhaften Eingeweide hatte, dass er sich nicht hatte erbrechen müssen. Aber auch er wischte sich über den Mund. Ob er ebenfalls das Gefühl hatte, dass schimmelige Fischschuppen an seinen Lippen hafteten?