Auch die Vögel sind fort - Yaşar Kemal - E-Book

Auch die Vögel sind fort E-Book

Yasar Kemal

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Beschreibung

Jeden Herbst gehen die Vögel in Schwärmen auf einem Strand vor Istanbul nieder. Seit den Tagen des alten Byzanz will es die Sitte, dass die Städter sie vor den Moscheen, Kirchen und Synagogen kaufen und wieder freilassen. Sie sollen an der Pforte des Paradieses Fürbitte leisten. Als aber drei Gassenjungen ihre vollgestopften Käfige auf Istanbuls Plätze tragen, ernten sie nur Spott und Hohn. Man beschimpft, verjagt die Jungen und hetzt die Polizei auf sie. Mit knurrenden Mägen, leeren Taschen, enttäuscht und erniedrigt, kehren sie an den Strand zurück. Yaşar Kemals Istanbul ist eine farbige, brodelnde Welt. Spitzbuben und Tagträumer, Gestrandete und Gescheiterte leben an den Rändern einer Stadt, die gleichgültig und hektisch geworden ist.

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Seitenzahl: 198

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Über dieses Buch

Es ist ein alter Brauch, dass die Städter vor den Moscheen, Kirchen und Synagogen Vögel kaufen und sie anschließend wieder freilassen. Die drei Gassenjungen aber ernten mit ihren Käfigen nur Spott und Hohn. In Yasar Kemals Istanbul leben die Gestrandeten und Gescheiterten an den Rändern einer Stadt, die gleichgültig und hektisch geworden ist.

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Yaşar Kemal (1923-2015) wird der »Sänger und Chronist seines Landes« genannt. Er wuchs in einem Dorf Südanatoliens auf und lebte in Istanbul. 1997 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 2008 wurde er mit dem Türkischen Staatspreis geehrt.

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Cornelius Bischoff (1928-2018) verbrachte seine Jugendjahre in der Türkei und studierte Jura in Istanbul und in Hamburg. Seit 1978 ist er als literarischer Übersetzer tätig und schreibt Drehbücher.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, Hardcover, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Yaşar Kemal

Auch die Vögel sind fort

Roman

Aus dem Türkischen von Cornelius Bischoff

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 6 Dokumente

Die Originalausgabe erschien 1978 unter dem Titel Kuşlar da gitti im Verlag Milliyet Yayinlari, Istanbul.

Originaltitel: Kuşlar da gitti

© by Yasar Kemal 1978

© by Unionsverlag, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Ara Güler

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30782-7

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

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Version vom 22.06.2022, 09:10h

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Jeden Herbst gehen die Vögel in Schwärmen auf einem Strand vor Istanbul nieder. Seit den Tagen des alten Byzanz will es die Sitte, dass die Städter sie vor den Moscheen, Kirchen und Synagogen kaufen und wieder freilassen. Sie sollen an der Pforte des Paradieses Fürbitte leisten. Als aber drei Gassenjungen ihre vollgestopften Käfige auf Istanbuls Plätze tragen, ernten sie nur Spott und Hohn. Man beschimpft, verjagt die Jungen und hetzt die Polizei auf sie. Mit knurrenden Mägen, leeren Taschen, enttäuscht und erniedrigt, kehren sie an den Strand zurück.

Tuğrul ging am Waldrand entlang und weiter bis in die Nähe des Zeltes.

Obwohl noch nicht einmal Mitte September, waren die drei aus Fatih gekommen, hatten im Osten der grünen Ebene, dicht bei der alten Pappel, ihre Zelte aufgeschlagen und mit den Vorbereitungen begonnen. Sie knüpften Netze, bauten Fallen, und von Morgengrauen bis Sonnenuntergang sangen sie eigenartige, alte Lieder.

Der eine war klein gewachsen, aber breitschultrig, hatte mächtige Hände und einen gewaltigen Kopf. Seine Augen verengten sich wie Dreiecke, darüber buschige Augenbrauen und struppige Stachelhaare. Das Weiße im einen seiner Augen hatte zwei, das Weiße im anderen Auge drei Flecken, und ein Fleck im linken Auge dehnte sich bis zur schwarzen Iris aus und verschwamm mit ihr. Dieser Junge war wortkarg, fast stumm, und öffnete seinen Mund nur, wenn ein neues Lied angestimmt wurde. Der andere war lang wie eine Bohnenstange. Sein Hals war übermäßig gewachsen, und seine hervorquellenden Augen schienen aus ihren Höhlen zu springen. Er redete in einem fort, redete und redete, und verstummte dann plötzlich. Solange sein Wortschwall anhielt, streckte er seinen Hals immer weiter vor, wurde noch länger und dünner.

Der Dritte war ein rechtes Schlitzohr. Einer von der Sorte, die man »Feuerball« nennt, ja, so einer war das. Nicht einen Augenblick konnte er stillhalten, seine Hände waren ununterbrochen in Bewegung, formten irgendetwas, zerstörten es wieder, während er fortwährend erzählte, schimpfte oder seine Kameraden foppte. Oft huschte über seine hellbraunen Augen hoffnungsloser Kummer und verschwand wieder, wie er gekommen war. Die Enden seines dünnen Schnurrbarts hingen herab, und wenn seine Hände gerade nichts verrichteten, schnellten sie hoch und zupften so heftig an den Bartspitzen, als wollte er sie ausreißen. Sein rundes, kräftiges Kinn stand vor. Aber auch dieses starke Kinn hatte einen Anflug von Trauer.

Tuğrul hockte auf der kleinen Anhöhe vor dem Drahtzaun, der die Pappel umgab, nieder und legte die Arme um seine Knie. Fast zehn Tage beobachtete ich immer wieder, wie Tuğrul am unteren Waldsaum entlangschlenderte, auf dem mit Männertreu bewachsenen Hügel niederkauerte, sich an den Drahtverhau lehnte, den Rücken gegen den Stacheldraht, und dort, ohne ein Wort zu sagen, sitzen blieb. Seltsam, nie blickte er zum Zelt hinüber, wo die Jungen lauthals hantierten, auch nicht zu den Flugzeugen und Hubschraubern hinauf, die immer wieder über ihn hinwegflogen. Er saß nur so da, das Kinn auf den Knien.

An Sonntagen ließ der Hauptkommissar von der Insel Kinali Modellflugzeuge in den Himmel steigen. Aber nicht nur der Hauptkommissar von der Insel Kinali kam hierher, in die Ebene von Florya, um Modellflugzeuge in den Himmel zu schicken. Mit Mercedes und Volkswagen, mit Volvos und Murats kamen die Männer in Scharen angefahren. Ihre fliegenden Spielzeuge, die, vom Boden aus gelenkt, mehr lärmten als die Linienmaschinen hoch droben, schwirrten kreuz und quer durch den Himmel von Florya. Um sie zu bestaunen, kamen die Kinder von Çekmece und Menekşe, von Cennet Mahallesi und Yeşilyurt. Still, andächtig, vor Ehrfurcht bis in die Fingerspitzen versteinert, starrten sie schweigend nach den Flugzeugen und zu den Männern hinüber, die sie steuerten.

Tuğrul rührte sich nicht, hob nie den Kopf, sah kein einziges Mal in den Himmel. Die Hubschrauber flogen über ihn hinweg, streiften fast den Wipfel der Pappel, Tuğrul saß nur da, reglos wie ein Stein, nichts schien ihn zu kümmern, und auch wenn eines der Flugzeuge auf ihn herabgestürzt wäre, nichts hätte ihn von seinem Platz vertrieben.

Ich ging oft an ihm vorbei, aber er schien auch mich kein einziges Mal zu bemerken. Aber wer weiß, vielleicht nahm er mich doch wahr, beobachtete auch die Flugzeuge, die über ihn hinwegschwirrten, hörte ihren Lärm, und mir fiel es nur nicht auf. Vielleicht verfolgte er von seinem Sitz aus bis ins Kleinste alles, was in der Ebene vorging.

Vom nahen Meer strahlte Helle über das Land, hallte das dumpfe Tuckern der Kutter, strömte der Geruch von Salz, Jod und fauligem Tang herüber, feucht, warm und durchdringend.

Eines Morgens entdeckte ich, dass in der Ebene von Florya zahllose Netze aufgespannt waren. Am Waldrand, auf dem kleinen Hügel, der zum Bahndamm abfiel, im Kardendickicht, unter den Feigenbäumen, in der tiefen Mulde bei den Mandelbäumen, den Pappelhain entlang, überall … Kinder, Jugendliche und Erwachsene, geschniegelt oder zerlumpt, Losverkäufer, Herumtreiber, Schneider-, Schlosser-, Schmiedelehrlinge, Fischer ohne handwerkliches Geschick, sie alle hatten ihre Netze ausgelegt, darum herum Lockvögel angebunden oder in Käfige gesperrt, hatten sich hingekniet und ahmten mit gespitzten Mündern oder Lockflöten Vogelstimmen nach. Das Gepfeife über der Ebene schwoll an wie Vogelgezwitscher, sowie sich ein Vogelschwarm blicken ließ.

Der Grünling, aschfarben, fast schwarz und etwas kleiner als der Spatz, der gelbe Distelfink, der Buchfink, der Zitronenzeisig … Und zahllose winzige, glanzfarbene Vögel. War ihre Brust gelb, so war es das leuchtendste, herrlichste Gelb, und war sie rot, dann im flammendsten Rot … Dieses Gelb leuchtet noch in der Dunkelheit, sogar das Rot und das Grün … Ein winziger Vogel, drei Daumen groß, von reinstem Blau … Wie eine Leuchtkugel schießt er durch die Lüfte und lässt eine Spur von seinem Blau zurück, kleine, tiefblaue Lichtbahnen zeichnet er in den Himmel.

Tuğrul hatte das Kinn wieder auf seine Knie gestützt und die Arme um seine Beine gelegt.

»Grüß dich, Tuğrul!«

Er beachtete mich nicht, stellte sich taub. Ich war sicher, dass er mich gehört hatte, erkannte es am leichten Zucken seiner rechten Schulter.

»He, Tuğrul, grüß dich! Was treibst du denn?« Er antwortete wieder nicht, nur sein Rücken spannte sich, bäumte sich auf und fiel wieder in sich zusammen. Dann zog er seinen kraftlosen, dünnen Hals noch tiefer zwischen die Schultern. In diesem Augenblick fiel ein Blatt von der Pappel auf seinen Fuß und blieb dort haften.

Ich setzte mich zu ihm und legte meine Hand auf seinen Rücken. »Was ist los, Tuğrul?«

Schwerfällig, vielleicht verlegen, mit glänzenden, ja wie tränenfeucht glitzernden Augen drehte er sich zu mir um, sah mich an und versuchte zu lächeln. Seine rissigen, dünnen Lippen dehnten sich, er senkte den Kopf und sagte sanft: »Da ist nichts, Onkel.«

»Doch!«, beharrte ich.

»Und wenn auch, was gehts mich an!«

»Du denkst wohl, das geht den Onkel nichts an?«

»Doch, doch, etwas ist los«, brach es aus ihm heraus.

»Was ist es denn?«

»Da!«, schrie er und zeigte auf das Zelt. »Die dort!«

»Was ist mit denen?«

Er sah mich mit großen Augen an und schwieg.

Ich drängte nicht weiter, stand auf und ging. Tuğrul hatte mich verärgert, ja, ich war wütend auf ihn. Wenn in dem Zelt etwas vorging, hätte er es mir doch wie ein vernünftiger Mensch erzählen können, oder? Ob Tuğrul mir böse war, weil ich nicht hartnäckiger gefragt hatte? Vielleicht würde er nie mehr mit mir sprechen. Soll er doch, aus welchen Gründen auch immer; der Pascha schuldet niemandem Rechenschaft.

Seitdem hielt ich jedes Mal inne, wenn ich an jener Stelle vorbeiging, und beobachtete aufmerksam das Zelt und seine Insassen.

Zwei oder drei Tage vergingen, und obwohl ich das Zelt nicht aus den Augen ließ, konnte ich nichts Außergewöhnliches entdecken. Wie alle anderen hatten die drei ihre Netze gespannt, daneben Käfige aufgestellt und Lockvögel angebunden. Und wie alle anderen spitzten auch sie ihre Lippen und trillerten. Gingen daraufhin die Vögel auf die dichten Kardendisteln nieder, zogen die Fänger mit befreiendem Jauchzen und weit aufgerissenen Augen die Netze über sie. Und während die Vögel, die sich auf dem stacheligen Gestrüpp niedergelassen hatten, gefangen in den Netzen flatterten und zappelten, rannten die Jungen von drei Seiten auf sie los, ungeduldig, erregt, voller Grimm und Gier.

Schließlich konnte ich nicht anders; wie Tuğrul ging auch ich hin, setzte mich unter den alten Zürgelbaum zur anderen Seite des Zeltes und beobachtete die Burschen. Mal sah ich zu Tuğrul, mal zu ihnen hinüber. Und Tuğrul, der sonst immer ins Leere starrte, blickte zu mir herüber, aber diesmal so auffällig, dass ich es nicht übersehen konnte. Jedes Mal wenn die Schwärme über uns hinwegschwirrten, die Vögel sich auf die Disteln niederließen, die Jungen sie in ihre großen Käfige sperrten und hinter den Gittern die gelben, braunen und roten Vögel aufgeregt umherflatterten, starrte Tuğrul in den Himmel, blickte dann zum Netz hinüber, musterte die Jungen und ihre Käfige, senkte schließlich die Augen und legte das Kinn auf seine Knie, bis der nächste Vogelschwarm vorbeiflog, die Vögel auf den Karden landeten und die Jungen mit Freudenschreien auf das Netz zuliefen …

Einmal ging ich an ihm vorbei; da hob er den Kopf und sah mich an, sehr lange; dann ging sein Blick zum Käfig, in dem die Vögel wimmelten, glitt weiter zu den Jungen und blieb auf ihnen wie festgenagelt haften.

Auch auf meinen nächtlichen Spaziergängen führte mich mein Weg an der Pappel vorbei. Eines Nachts, es war Mitternacht, saß da nicht Tuğrul an seinem altgewohnten Platz? Grelles Licht, Stimmen kamen aus dem Zelt. Jemand lachte von Zeit zu Zeit, es klang wie Schluchzen, wie eine Totenklage, wie ein Fluch, wie eine seltsame Vogelstimme. Ich gebe Brief und Siegel darauf, dass dieses Lachen das Lachen des langen Jungen, diese Stimme seine Stimme war.

Unwillkürlich lenkte ich meine Schritte in Tuğruls Nähe und blieb in einiger Entfernung stehen.

»Tuğrul!« Er gab keine Antwort. In der Dunkelheit konnte ich auch nicht erkennen, ob er seinen Rücken krümmte oder mit der Schulter zuckte.

»Tuğrul! Tuğrul!«, rief ich ungehalten.

Schwerfällig stand er auf, klopfte sich mit beiden Händen den Staub ab und schlug den Weg zum Meer ein, ohne sich auch nur ein einziges Mal nach mir umzusehen. Er war mir also sehr böse. In der Dunkelheit ballten sich die Umrisse seines Körpers zu einem kugelrunden Schatten. Dann verschwand er zwischen den Wellblechhütten.

Ein Feuer loderte vor dem Zelt, und der kleinste der drei, das Schlitzohr, sammelte in der Nähe unermüdlich trockene Disteln und warf sie in die Flammen.

Sie standen morgens sehr früh auf. Aber Tuğrul war schon dort, wenn der Morgen graute, noch bevor sie wach waren. Oft sah ich ihn vom Wald zur Pappel hasten, als befürchte er, zu spät zu kommen. Er rannte wie von Sinnen, und wenn er ankam, bevor sie aufgewacht waren, atmete er auf, hockte sich auf seinen Platz vor dem Stacheldraht, legte die Arme um seine hochgezogenen Beine und stützte das Kinn auf die Knie.

In der Ebene von Florya war der Wettstreit der Vogelfänger in vollem Gange. Wie immer, wenn der Oktober kommt, wenn der Karayel von Nordwesten und der Poyras von Norden kalt und schneidend wie Rasiermesser über das Land stürmen, wenn der Lodos vom Süden her das Meer bei Florya schäumend aufwühlt und Regenschauer vor sich hertreibt, aber auch Schwärme von kleinen Vögeln, die Zickzacklinien in den Himmel zeichnen und auseinanderstiebend auf die Karden niederfallen.

Bei Regen und rauem Wind schwirren die Vögel wieder hoch, kaum dass sie die Disteln berührt haben. Über den Wald zum Meer, zum Çekmece-See, über die Wipfel der Bäume wischen sie hinweg, jagen dahin, kleine bunte Tupfer im Grau des Himmels, bis sie den Blicken entschwinden. An lauen, sonnigen Tagen aber kommen sie zu Tausenden und machen sich, übereinandersteigend und flatternd, mit unheimlicher Gier und Lust über die Samen der verdorrten Karden her, deren gelbe Blüten im Sommer die weite Ebene in leuchtendes Safrangold getaucht hatten.

Seit es dieses flache Land gibt, seit den Zeiten von Byzanz und dem Osmanischen Reich, kommen und gehen diese winzigen Vögel, wer weiß, woher und wohin, und machen vom Oktober bis weit in den Januar hinein die Ebene von Florya zu ihrem Standort. Seit jenen Zeiten bis auf den heutigen Tag locken die Einwohner der Stadt Istanbul diese Vögel in Fallen aller Art. Sind sie gefangen, werden sie vor den Kirchen an die Christen, vor den Synagogen an die Juden, vor den Moscheen an die Muslime verkauft und mit der Beschwörung: »Fliege, Vogel, fliege vor, wart auf mich am Himmelstor!« freigelassen. Der Himmel von Istanbul wimmelt dann von befreiten Fürbittern, von Zeugen einer guten Tat, spottbilliges Entgelt für die Glückseligkeit. Besonders die Kinder sind ganz versessen darauf, Vögel zu kaufen und freizulassen. Und nicht zu vergessen: die Alten, die Hochbetagten …

Es ist schon sehr lange her, war wohl während meiner ersten Tage in Istanbul, als ich auf dem Taksim-Platz einen bejahrten Mann in einem Paletot mit Pelzkragen und ein sechs- oder siebenjähriges Kind beobachtete, die von einem ungefähr elfjährigen, barfüßigen Jungen zitronengelbe, verschreckt starrende Vögel kauften und in die Luft warfen. Mal griff sich der Alte einen Vogel aus dem Käfig, mal das Kind. Und jedes Mal, wenn sie dem Jungen einen Vogel abnahmen und hochwarfen, stießen alle drei nicht enden wollende Freudenschreie aus. Aber da war auch eine Katze, die im Gebüsch unter einer Platane kauerte; denn manche Vögel konnten nicht mehr fliegen, fielen zu Boden und suchten Schutz unter den Sträuchern. Kaum dass ein Vogel in den Busch geflüchtet war, schnappte ihn das kleine Biest, zerriss ihn mit Krallen und Zähnen, fraß ihn auf, putzte behaglich Zähne und Maul und lauerte auf das nächste Opfer, regungslos, unverwandt nach oben starrend.

Heutzutage werden vor dem Innenhof der Eyüp-Moschee keine Vögel mehr als Fürbitter verkauft. Die Kinder bringen die gefangenen Vögel nach Eminönü auf den Vogelbasar. Die Vogelhändler dort suchen aus Hunderten von Vögeln nur die besten und schönsten heraus, um sie zu sehr hohen Preisen an Liebhaber zu verkaufen, und geben die restlichen zurück. Müde und enttäuscht kehren die Kinder mit den vollen Käfigen heim, ratlos, weil sie nicht wissen, was sie mit all den Vögeln anfangen sollen.

Ich denke, dass jede Chronik von Istanbul wertlos ist, wenn ihre Verfasser nichts von Floryas Vögeln und ihren Fängern berichten. Schade um ihre Mühe! Ist das Glück von Abermillionen Vögeln, freigelassen im Laufe der Jahrhunderte vor Kirchen, Synagogen und Moscheen, und das Glück der Menschen darüber nicht ein Abenteuer, über das man berichten muss? Ich bin sicher, eines Tages wird einer kommen, ein guter Freund, mit reinem Herzen und klug, und er wird die schöne, hoffnungsvolle Geschichte der Vögel Floryas niederschreiben, und dann, ja dann wird Istanbul noch schöner sein, noch berückender. Liegt Istanbuls Zauber denn nur in seinem Meer, seinen Bauwerken, seinem Himmel, seinen Flüssen und seinen Menschen? Und Floryas Vögel, was ist mit ihnen?

Einige Tage später sah ich Cem neben Tuğrul sitzen. Das Kinn auf den Knien, hockten beide nebeneinander. Es vergingen kaum zwei Tage, und auf dem Hügel kauerten sie schon zu sechst am Drahtverhau. Die Arme um ihre Knie geschlungen, das Kinn aufgestützt, saßen sie da und blickten ins Leere. Bewegungslos, vielleicht wütend, vielleicht besessen, vielleicht in Gedanken versunken, mit ausdruckslosen Gesichtern, die nichts verrieten, hockten sie da oben, am Rande der grünen Ebene.

Die Knaben beim Zelt hasteten geschäftig hin und her, ahmten Vogelstimmen nach, ließen die Lockvögel auffliegen, holten sie wieder ein und zogen das Netz über die Vögel, die sich auf die Karden niedergelassen hatten. Ab und zu konnten sie es sich nicht verkneifen, die Jungen, die da so reglos saßen, mit einem kurzen Blick zu streifen. Sie wussten offensichtlich nicht, was sie von denen halten sollten. Als der erste riesige Käfig voll war, holten sie einen zweiten, dann einen dritten. Schließlich standen im Zelt acht Käfige, prall voll mit zappelnden gelben, roten und blauen Vögeln, ihre verschreckten Augen glitzerten wie tausendfach sprühende Wunderkerzen, wie wahnsinnig schlugen sie mit ihren Flügeln, flatterten voller Angst gegen den Käfigdraht, zerfetzten sich, um freizukommen. Acht volle Käfige von der Sorte fünfzig mal achtzig mal sechzig.

Diese Jungen aus Fatih – woher wusste ich eigentlich, dass sie aus Fatih waren? Wer sagte es mir? Ich weiß es nicht mehr. Mir schien wohl, kein anderer Stadtteil passe zu ihnen. Diese Jungen, sagte ich mir, können nur in Fatih wohnen. Diese Jungen aus Fatih also blickten hin und wieder zu den sechs regungslosen Gestalten hinüber, misstrauisch, ein bisschen verwundert, ja mit einer Spur von Angst.

In diesem Jahr lachte ihnen das Glück; viele Vögel waren auf die Ebene niedergegangen, in großer Zahl und allen Arten, und in den Käfigen waren solche, die sie noch nie gesehen, deren Namen sie noch nie gehört hatten. Wie diese sechs, jeder groß wie eine Faust, von fleckenlosem, zur Brust und unter den Flügeln heller werdendem Rot. Jeder von ihnen würde weiß Gott mindestens sieben Lira bringen. Und dann hatten sie noch einen Falken gefangen. Sie sperrten ihn in einen getrennten Käfig und gaben ihm täglich fünf, sechs lebende Distel- oder Buchfinken; kaum hatte sie der wilde Vogel in seinen Fängen, zerfetzte er sie wie eine Katze, rasend über seine Gefangenschaft.

Eigentlich waren Falken in dieser Gegend selten. Vielleicht kam er von weit her, hatte sich über den Istranca-Wäldern an die Schwärme der kleinen Vögel geheftet und war ihnen bis hierher gefolgt. Dann war er wie ein Blitz aus heiterem Himmel auf die Lockvögel herabgestoßen, aber kaum schlug er die Beute, war das Netz schon über ihm. Und auch als sich das Netz schon über ihn stülpte, ließ er den Distelfink nicht aus seinen Fängen. Als die Jungen den Lockvogel befreien wollten, wehrte sich der Falke mit Schnabel und Krallen so heftig, dass ihre Hände ganz blutig wurden. Es war ein rötlicher Falke. Sie verkauften ihn für sage und schreibe fünfunddreißig Lira an Halil den Zigeuner. Sie fingen noch zwei kastanienbraune Falken. Auch die kaufte ihnen Halil der Zigeuner ab, zu je fünfundzwanzig Lira. Zigeuner-Halil brachte die Falken ins Dorf Kavak und verhökerte sie an die Jäger.

Am Himmel, in weiter Ferne, dort über dem Meer, kreiste wieder ein Greifvogel. Ich ging zum Zelt.

»Seht!«, sagte ich. »Da! Ein Falke!«

»Haben wir gesehen«, sagte der Kleine mit den Dreiecksaugen.

»Ob er wohl herkommt?«

»Er wird bald hier sein«, antwortete er und seufzte. »Er wird bald hier sein, aber …«

»Aber?«

»Aber, Onkel, aber sie zerfetzen die Netze. Und außer Halil dem Zigeuner will sie niemand haben, und der zahlt für jeden Vogel nur fünfundzwanzig bis dreißig Lira. Der Segen dieser Vögel lohnt den Frosch nicht, den sie erschrecken.« Der Lange nahm ihm ungeduldig das Wort von der Zunge: »Von morgens bis abends verjage ich sie und laufe mir dabei die Seele aus dem Leib. Sie stürzen so plötzlich von hoch oben senkrecht auf die Lockvögel herunter, dass mir jedes Mal der Schreck in die Glieder fährt.«

»Fangt den da!«, sagte ich.

Der Lange reckte seinen Hals gegen den fliegenden Vogel. »Er wird bald hier sein«, sagte er, und sein Hals blieb gestreckt. Der Kleine zog die Stirne kraus. »Ich kann auf seinen Besuch verzichten.«

»Fangt ihn!«, sagte ich.

Da blitzten die Augen der drei. »Was ist dein Preis?«

Ich überlegte kurz. »Hundert Lira!«

»Bravo!«, brüllte der Kleine.

»Bravo!«, antwortete ich.

Der schlanke Hals des Langen reckte sich wieder gegen den Vogel empor und wurde noch dünner. »Komm, komm!«, lockte er. Dann drehte er sich zu mir und sagte: »Er kommt gleich.«

»Wenn du willst, Onkel, kannst du beim Zelt warten«, sagte der Kleine, »der Vogel kommt gleich, wir fangen ihn, und du nimmst ihn mit.«

»Abgemacht«, sagte ich und hockte mich am Wegrand nieder. Hunderte von Vögeln machten in den Käfigen einen Lärm, als ginge die Welt unter.

»Hundert Lira«, sagte der Junge, der nie stillhalten konnte, strich das Netz glatt und legte es zurecht. »Hundert Lira!« Er blickte in den Himmel, der Vogel hatte sich heruntergeschraubt und schwebte jetzt über dem Palast des Präsidenten. »Hundert Lira, hundert Lira«, hörte ich den Jungen verhalten murmeln, »hundert Lira, hundert Lira … Das macht zweihundert Lira, sehr gut! Und noch ein Hunderter und noch einer, macht zweihundert, macht fünf, macht zehn … zweitausend Lira!« Das Schlitzohr hatte sich ein Spiel ausgedacht. Er passte seine Bewegungen seinem Singsang an. Er kam und ging, prüfte Netz und Fallen, zog an den Schnüren, schwenkte sie auf und ab, sodass die Lockvögel an ihren Fesseln auf- und niederflatterten.