Das Reich der Vierzig Augen - Yaşar Kemal - E-Book

Das Reich der Vierzig Augen E-Book

Yasar Kemal

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Beschreibung

Die Stadtherren zittern vor dem Rebellen Memed, der die Reichen tötet und den Armen hilft. Man setzt ihm den Hauptmann Farouk und dessen furchterregenden Komplizen Ali die Echse auf die Fersen. Wer hat Memed gesehen? Wer kennt ihn? Doch für Memed sind die Legenden, die sich um ihn ranken, zum Fluch geworden. Mit der schönen Seyran möchte er in Ruhe und Frieden leben. Aber kann ein Räuber und Rebell seinem Schicksal entrinnen? Heldentaten, Intrigen und Verrat, Schreckensgeschichten, die in Städten und Dörfern umhergeistern, wilde, überwältigende Landschaften – aus diesem Stoff schöpft Yaşar Kemal ein Epos von trunkener Schönheit, die süchtig machen kann.

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Seitenzahl: 1188

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Über dieses Buch

Memed möchte mit der schönen Seyran in Ruhe und Frieden leben. Aber Hauptmann Farouk verfolgt ihn. Kann ein Räuber und Rebell seinem Schicksal entrinnen? Heldentaten, Intrigen und Verrat, wilde, überwältigende Landschaften – aus diesem Stoff schöpft Yaşar Kemal ein Epos von trunkener Schönheit, die süchtig machen kann.

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Yaşar Kemal (1923-2015) wird der »Sänger und Chronist seines Landes« genannt. Er wuchs in einem Dorf Südanatoliens auf und lebte in Istanbul. 1997 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 2008 wurde er mit dem Türkischen Staatspreis geehrt.

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Cornelius Bischoff (1928-2018) verbrachte seine Jugendjahre in der Türkei und studierte Jura in Istanbul und in Hamburg. Seit 1978 ist er als literarischer Übersetzer tätig und schreibt Drehbücher.

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Yaşar Kemal

Das Reich der Vierzig Augen

Roman

Aus dem Türkischen von Cornelius Bischoff

Memed-Romane III

E-Book-Ausgabe

Mit einem Bonus-Dokument im Anhang

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 7 Dokumente

Originaltitel: Ince Memed III (1984)

© by Yaşar Kemal 1984

© by Unionsverlag, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Avni Arbas

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30784-1

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Version vom 22.06.2022, 08:15h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

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Inhaltsverzeichnis

DAS REICH DER VIERZIG AUGEN

1 – Manche Jahre senkt sich der Frühling jäh auf …2 – Der Stechdorn ist eine Pflanze der hohen …3 – Seit gestern Nacht, die ersten Schüsse waren kaum …4 – Der vierzehnjährige Hirtenknabe Müslüm hockte schon seit gestern …5 – Der Brandfuchs stand weitab auf einem Felsen aus …6 – Der Knecht, den sie zum Gestüt geschickt hatten …7 – Die Gipfel der Berge lagen im Licht der …8 – Ali der Hinkende, so in Unterwäsche, barfuß und …9 – Zunächst kamen die Eltern jenes Räubers, dessen Schweiß …10 – In der Kleinstadt wollten sich die Wellen der …11 – Zwischen Myrtenbüschen am Hang über der Stadt spielten …12 – In den Dörfern der Çukurova bestehen die meisten …13 – Das Dorf Değirmenoluk erwachte schon vor Tagesanbruch zu …14 – Seit jenen Jahren, als die Turkmenen aus Chorasan …15 – Tahsin der Windhund hatte im Schutz der Berge …16 – Mit der Liste aller Dorfvorsteher in der Tasche …17 – In Hochstimmung durchmaß Murtaza Aga immer wieder das …18 – Ince Memed ging es seit einigen Tagen besser …19 – Ince Memed erreichte die Felsen oberhalb des Dorfes …20 – Ince Memed und Tahsin der Windhund begegneten sich …21 – Auf einer felsigen Waldlichtung machte Ince Memed halt …22 – Ümmets Tisch war jederzeit für jedermann gedeckt …23 – Fazli der Gerissene beschwerte sich beim Hauptmann. »In …24 – Molla Durans Heimatdorf lag jenseits jener violetten Berge …25 – Weißt du, dass sie uns hängen wollten, Memed?« …26 – Schnell wie der Wind kam der Brandfuchs herangestürmt …27 – Als sie den Pass überquert hatten, lag das …28 – Der Wind, der von den Bergen her ins …29 – Ein sanfter Wind wehte über die Ebene …30 – Sie waren über die Berge und durch die …

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Über Cornelius Bischoff

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1

Manche Jahre senkt sich der Frühling jäh auf die Çukurova. Plötzlich überschwemmen Blumen, Knospen, Vögel, Bienen, Käfer und Gräser die Ebene. Die warme Sonne durchflutet strahlend hell das Land. Wolf und Vogel, Ameise und Schlange, alle Geschöpfe kommen aufgeregt aus ihren Nestern und Bauen, staunen über die taufrische, neue Welt und strolchen im Freudentaumel auf der samtweichen Erde umher. Verstreut steigen weiße Wolken über dem Mittelmeer auf, werfen hier und da Tupfen dunkler Schatten auf die Niederungen, wandern weiter zu den Taurusbergen. Und völlig unvermittelt, aus heiterem Himmel prasseln Regenfälle nieder, schwemmen Wildwasser alles fort. Die Flüsse schwellen an, wälzen ihren schwefelgelben Schlamm weit über die Ufer, strömen in reißender Eile zum Mittelmeer, wo sie das blaue Wasser rötlich färben. Zwischen kantigen violetten Felsen blüht leuchtend gelb der Krokus auf, verwandeln sich die Matten in riesige Gärten, wiegen sich die Hänge im Duft von tausendundeiner Blüte. Unentwegt ertönt aus Senken und Gestrüpp der girrende Schrei der Frankoline.

Und jedes Mal, wenn über Nacht der Frühling hereinbricht, warten die Menschen der Ebene grimmig auf die hennafarbenen Gazellen. Früher kamen sie zu Tausenden vom Ödland herauf, ergossen sich wie ein rotes Flammenmeer über die Ebene, zogen in Herden von Anavarza bis unterhalb Kozan, von dort durch die Tarsus-Niederung weiter nach Yüreğir und Payasa, vorbei an Osmaniye bis Dumlu. Und die Menschen der Çukurova maßen bei der Hetzjagd auf diese Gazellen ihre Pferde. Als edelstes galt jenes, dessen Reiter als Erster ein Tier zur Strecke brachte. Seit den Zeiten der Assyrer bis auf den heutigen Tag haben so die grauen Pferde der Çukurova Rasse und Ruf bewahrt.

Wenn der Frühling hereinbricht, senkt sich auch ein frisches, leuchtendes Blau auf das Mittelmeer. Dieses Blau, das nur mit dem Frühling kommt, spiegelt sich im Himmel, in der Ebene, in den weißen Wolken wider, wandert sachte über die von Licht, Blumen und Grün berstende fruchtbare Erde, bis es den Taurus erreicht. Im Nu sind die Berge und violett überschatteten Täler, die gleich einer Mondsichel die Ebene umringen, in reines Blau getaucht; Bäume, Vögel, Felsen, Wasser und Wälder verschwimmen in einem funkelnd-blauen Sternenwirbel …

Die wärmende Sonne und milde Brisen bringen den Duft des Meeres und der in den Gärten wolkenweiß blühenden Orangen, Zitronen und Pomeranzen, und alle Geschöpfe der Ebene fallen trunken vor Freude in einen heiligen Rausch.

In Jahren, in denen der Frühling so plötzlich kommt, ist auch der Sommer auf einen Schlag da, senkt sich die gelbe Hitze wie Blei auf die Menschen, und der Jubel über den unerwarteten Frühling erstickt in ihren Kehlen. Ein riesiger, Funken sprühender Gluthaufen, verbrennt die Sonne Erde, Gräser und Blumen, verwandelt sie Gewässer in dampfende Gräben, löst sie auf in nichts. Kreuz und quer spalten sich die krustigen Betten der kleinen Flüsse, und schon bald sieht die rissige Erde aus wie ein endloses Spinnennetz. »Die Çukurova brennt und brennt, zum reißenden Wolf wird jede Mücke« – so beginnen die Lieder, die über die einbrechende Hitze gesungen werden.

Die Menschen der Ebene, berauscht von der Pracht des Frühlings, dann erschlagen von der gelben Hitze, die wie ein scharfes Schwert auf sie niederstößt, wissen nicht, wie ihnen geschieht. Fast blind von den grellen Sonnenstrahlen tappen sie wie im Dunkeln einher, taumeln bei der Arbeit, bis sie sich an die gleißende Hitze gewöhnt haben. Keine Wohlgerüche mehr bringt der Wind, sondern Staubwolken so dicht, dass Dörfer, Marktflecken, Häuser, Gräser, Bäume und Menschen unter einer weißen Schicht fast verschwinden. Mit dem Staub kommen Schwärme von Mücken, breitet sich wie eine Seuche das Sumpffieber aus. In Ortschaften und Dörfern, auf Landstraßen, Feldern und hügeligem Gelände schüttelt es die befallenen Menschen, rafft Kinder dahin, und frische, kleine Erdhügel füllen die Friedhöfe am Rande der Dörfer. Aus Sümpfen, Röhricht und Reisfeldern steigen Moskitowolken, stürzen auf Mensch und Tier, saugen sie aus, zerstechen sie so, dass ihre Haut sich blutig färbt.

Früher, wenn der Sommer kam, schon wenn das Frühlingsende nahte, packten die Bewohner der Çukurova, bevor Hitze, Staub und Mücken sie heimsuchten, ihre Siebensachen auf Lasttier und Wagen, zogen in die Hochebene zu jenen blauen Bergen und schlugen dort an kühlen Wassern ihre Zelte und Laubhütten auf. Heute sind die Berge das verlorene Paradies, eine wehmütige Erinnerung – nach Minze duftende kühle Quellen, immergrüner Silberwurz, Damhirsche, Beizvögel auf der Krücke vor jedem Zelt, großäugige Araberpferde mit lang gestreckten Lenden und Mähnen wie Frauenhaar, schlanke, langbeinige Windhunde – all das ist nur noch unerfüllbarer Traum. Die härenen Zelte, vererbt von den Vätern, verrotten in einer Ecke unter den Rieddächern der Hütten, gammeln in Ställen und auf Heuböden. Und doch: Bei den ersten Frühlingsboten, wenn die vorzeitigen Krokusse zwischen Felsen goldgelb leuchten und die Spitzen der Nomadenzüge auftauchen, werden die verwitterten Zelte hervorgeholt, gesäubert, gewaschen und am angestammten Platz aufgestellt. Und im Herzen eines jeden entflammt der Wunsch, eines Tages wieder das Leben vergangener Zeiten zu führen. Sie beneiden die Nomaden, die in die Berge ziehen, beobachten sie mit aufkeimendem Groll, ein bisschen auch mit Wohlgefallen, und trösten sich bei qualvoller Arbeit in der gelben Hitze auf den von Kletten starrenden Feldern der fieberverseuchten Çukurova und bei blutwarmem Wasser mit der Vorstellung, dass eines Tages die alten Zeiten zurückkehren werden.

So heftig, wie die Sehnsucht nach den violettschattigen Bergen in den Menschen der Çukurova brennt, verzehren sich – vielleicht noch mehr – die Bergbewohner nach der Ebene, den tausendfach fruchtgebenden Äckern: Gibt es denn keinen Ausweg aus der unglaublichen Armut in den Wäldern und den steinigen Hängen, der in die samtweichen, sonnenwarmen Felder führt?

Wo die üppigen Niederungen enden, erheben sich die dürren felsigen Hänge des Taurus. Und hier liegen die armseligsten Böden der Çukurova. Die Bauern dieser versteppten Landschaft müssen außer der Hitze auch noch die Mücken und Krankheiten der Ebene ertragen, dazu auf Äckern, die nichts hergeben. Anavarza, Yüreğir, die Tarsusniederung, die Ebene von Osmaniye, das Unterland von Kozan, das sind die fruchtbaren Gegenden, wohin es sie zieht.

Jahre schon, bis auf den heutigen Tag, verwünschen sie ihre Väter, die an diesen Hängen ihre Dörfer gegründet hatten. Sie schmähen sie und fragen sich, warum die Vorfahren in den Zeiten der Landnahme sich ausgerechnet hier niederließen, während die jungfräuliche Erde der Çukurova auf Pflug und Egge tatkräftiger Landwirte wartete. Kaum war der fette Boden der Ebene aufgeteilt, hatte es in den Menschen, die am Berghang siedelten, zu gären begonnen …

Gleich über den Hängen beginnen dichte Wälder, dazwischen kleine, wuchernde Wiesen, sprudeln von Minze umwachsene Quellen. An schmalen Feldern stehen ein, zwei Häuser, denn die Äcker zwischen Wald und schroffem Fels können nur eine oder zwei, höchstens drei Familien ernähren. Allein aus diesem Grund liegen die Bauernhäuser in den Bergen, die das Mittelmeer von Maraş bis Antalya umrahmen, so verstreut. Drei, fünf, ja sechs Stunden zu Pferd benötigt man in den meisten Flecken vom ersten bis zum letzten Haus. Die winzigen, weit auseinander liegenden Anbauflächen, über Jahre aufgebrochen und dicht besät, sind inzwischen so ausgelaugt, dass sie die Menschen nicht mehr ernähren. Wildwasser schwemmen die Krume zu Tal, zurück bleiben auf dem steinigen Boden zwischen den Felsen baufällige Hütten und einige Ziegen.

Je höher man die Berge hinaufsteigt, desto lichter werden die Wälder, desto niedriger die nur noch krüppeligen Eichen, bis auch sie nach und nach wurzelhohem Gestrüpp weichen. Darüber sind die Berge kahl bis zum Kamm; nur hier und da wächst noch der Stechdorn. In Herbstmonaten, wenn seine harten Blüten verdorren und ihren Glanz verlieren, lassen sich Hunderte, ja Tausende Marienkäfer auf ihm nieder, so dass es an manchen Stunden des Tages scheint, als stünde der Busch in Flammen.

In Jahren, in denen sich der Frühling so plötzlich auf die Çukurova senkt, kommt er in den Bergen mit ebenso unerwarteten Regenfällen, Sturzbächen und Stürmen. Wildwasser lassen die Bäche anschwellen, überschwemmen die Flussbetten und Senken, spülen mit Ungestüm und unglaublicher Schnelle das Erdreich der kleinen Fluren zu Tal und weiter ins Mittelmeer. Und die Menschen der Berge sind berauscht von den Düften und Farben Tausender Blumen, die mit dem einbrechenden Frühling überall gesprossen sind, von den Sternen, die wie reingewaschen vom großen Regen glänzen, von den Berghängen, die sich wie im Gleichmaß eines Schlummerliedes wiegen, sie werden hilflos und ratlos. Sie wissen von der Hitze, die jetzt über der Çukurova brütet, von den mörderischen Mücken dort, dem Wasser, warm wie Blut und Gift für den Durstigen. Dennoch träumen sie von der Ebene wie von einem fernen, unerreichbaren Paradies. Und fürchten sich gleichzeitig vor ihr. So, wie die Menschen der Çukurova inzwischen die Berge fürchten.

2

Der Stechdorn ist eine Pflanze der hohen, steinigen Hänge, aber auch der Steppen Anatoliens. Er wächst zu Büschen von drei bis sieben Handbreit Durchmesser in baumlosen, kahlen Bergen, in tiefen Steppen und auf Hochebenen. Manchmal stehen zehn, fünfzig oder hundert Sträucher verstreut, manchmal bedeckt er wie ein Teppich weite Strecken der öden, steinigen Erde. Teilweise stehen die Büsche eng beieinander, dann wieder verteilt mit einem bis zehn oder fünfzehn Schritt Abstand. An jedem Strauch Tausende Blattstiele, die zu spitzen Stacheln ausgewachsen sind, mindestens dreißig bis vierzig an jedem Stängel, aneinander gereiht wie Sterne. Aus dem Stamm sprießen Hunderte weitere Triebe, bedecken zu großen Kugeln ineinander gewachsen die Erde. Die Blüten entspringen langen Stängeln, die über die Dornen hinausragen.

Kaum zeigt sich der Frühling, überzieht auch das weiche, warme, zarte Grün des Stechdorns die hohen Hänge und die Steppe, als hätten sich schemenhaft pastellfarbene, helle Wolken darübergelegt. Noch sind die Blätter weich. Doch mit dem dunkelnden Grün verhärten sich die Spitzen, verholzen zu nadelfeinen Dornen. Werden die Disteln dunkelgrün, schießen die Blüten aus den Büschen empor. Und jetzt scheint es, als überzögen kaum sichtbar rosafarbene Wolkenschleier mit stahlblauen Funken Steppe, baumlose Hänge und Kämme. Die Blütenstängel, die zwischen sternförmigen Dornenblättern hervorragen, sind fünf bis fünfundzwanzig Zentimeter lang. Und an jedem wachsen zehn, zwanzig, dreißig Blüten. Sie sind sehr dunkel, sind blau gestreift und rosa und ihre Kelche so klein, dass sie kaum einer Ameise oder winzigen Biene Raum bieten. Und sie stehen so dicht, diese rosa Blumen mit den blauen Blitzen, dass die endlosen Steppen, die Hochebenen und steilen Hänge in ihren Farben funkeln. Unter den Sträuchern und zwischen den Büschen finden Insekten, kleine Vögel und andere Tiere Schutz.

Der Reiter, der mit verhängten Zügeln aus Değirmenoluk hervorpreschte, trieb sein Pferd geradewegs über das weite Flachland den sich violett färbenden Bergen zu. Als er in das dunkle Gehölz hineinritt, wuchsen schon die Schatten der Dämmerung. Er zügelte sein Pferd und verhielt eine Weile. Es raschelte überall, aus der Tiefe des Waldes drang dumpfes Grollen. Von weit her lockte in Abständen der Ruf eines Nachtvogels. Der Reiter kannte diesen Wald seit Langem, dennoch zögerte er. Ob die Gendarmen da drinnen schon im Hinterhalt lagen? Erst wenn er dieses Gelände hinter sich hatte, würde alles leichter werden. Bog er jetzt nach links ab, war die Gefahr nicht geringer. In diese Richtung kannte er kein Dorf und keine Menschenseele. Nicht anders war es zu seiner Rechten, gegen Osten. Und ins Ungewisse konnte er sein Pferd nicht treiben. Ritte er aber quer durch den Wald zur Hochebene, könnte er das Lager der turkmenischen Nomaden erreichen, vielleicht sogar das Zelt der Sippe Kerimoğlu. Dann wäre er gerettet. Auch Ali der Hinkende könnte ihn dort finden. Ganz kurz nur spielte er mit dem Gedanken, in das Dorf Koca Süleyman zurückzukehren. Doch das Gebiet war von Gendarmen längst abgeriegelt, da hatte er keinen Zweifel. Hauptmann Faruk und der Gefreite Asim konnten sich ja denken, dass er sich zu den Nomaden aufmachen würde, aber vielleicht hatten sie den Wald noch nicht erreicht. Das Pferd unter ihm war schaumbedeckt. Sein Brustkorb hob und senkte sich, es keuchte mit geblähten Nüstern. Um den Wald im Galopp zu durchqueren, gab es keinen anderen Weg als den der Vierzig Quellen. Im dichten Unterholz, auf felsigem Boden und im Gestrüpp konnte das Pferd nicht ausgreifen. Und ließe er das Tier zurück, würde er, obwohl er den Wald gut kannte, die Strecke auch in mehreren Tagen schwerlich schaffen. Er stieg vom Pferd, zurrte die Zügel um einen Strauch und setzte sich, den Rücken an eine Platane gelehnt. Das dumpfe Grollen des Waldes wurde lauter, der eintönige Ruf des fernen Vogels vermischte sich mit Rascheln und Knistern. Der Mann presste sein Ohr an die Erde und horchte nach weiteren Geräuschen. Dann, von weit her, vernahm er ein Glöckchen. Es schlug dreimal und erstarb. Der Mann, das Ohr wieder am Boden, lauschte eine Weile, konnte aber nichts mehr hören. War das die Glocke eines Kamels, eines Maultiers, eines Rindes oder eines Ziegenbocks? Er konnte es nicht ausmachen, so weit entfernt war das Geläut gewesen. Ein bisschen näher, und er hätte es mit Leichtigkeit unterscheiden können. Ihm war, als tönte die Glocke noch einmal, doch schon war es wieder vorbei. Er richtete sich auf und schaute in das weitgefächerte Geäst der Platane. Kein Hauch bewegte die Blätter. Vom dicksten und längsten Ast bewegte sich ein Zug roter Ameisen den Stamm hinunter, bahnte sich einen Weg zum nächsten Baum, unter dem sich Tannennadeln häuften. Auf den winzigen gewölbten roten Tierrücken schimmerte der schwindende Schein des Tages. Als der Mann sich wieder an die Platane lehnte, überfiel ihn der Schlaf. Durch seine zu Schlitzen verengten schweren Augenlider sah er das erschöpfte Pferd. Es hatte die rechte Hinterhand zur Hüfte hin eingeknickt, sein rostbraunes Fell kräuselte sich jetzt in schwarzen, schweißigen Zotten. Ergeben und müde ließ es den Kopf hängen, fast berührte die Mähne den Boden. Vor den Augen des Mannes erschien immer wieder das safrangelb verfärbte Gesicht Hamza des Glatzkopfs – verzerrt, zu einem Todesschrei erstarrt; riesengroß der weit aufgerissene Mund, flehte es mit hervorquellenden Augen um Gnade, erhoffte sich Hilfe von Freund und Feind, vom fliegenden Vogel, von der Ameise am Boden. Schon im Halbschlaf, dachte der Mann, wie süß doch das Leben, wie unverzichtbar es war und wie weit Menschen, vielleicht die meisten von ihnen, sich erniedrigen konnten, um es zu bewahren. War die Menschenseele es wert, sich so zu demütigen? Soll ein Mensch um jeden Preis weiterleben wollen? Fieber und Seuchen, Misshandlung, Unterdrückung, Hunger und Elend hat den Lebenswillen der Menschheit nicht brechen können, Totschlag, Mord und Gemetzel hat sie überstanden. Woher kommt diese schreckliche Kraft, dieses beharrliche Aufbäumen, diese Bereitschaft, beschämendste Demütigung zu ertragen, nur um zu überleben? Überleben wofür? Als er Hamza den Glatzkopf vor seinem Pferd durch das Dorf scheuchte, hatte dieser so hündisch flehend zu ihm heraufgeschaut, dass er es fast nicht ertragen konnte. Und er musste lange Zeit mit sich kämpfen, bis er schließlich zu der Überzeugung gekommen war, dass es Sünde sei, solch einen Unmenschen am Leben zu lassen.

Auch als er vor Safa Bey auftauchte und sagte: »Mein Name ist Ince Memed, erkennst du mich wieder?«, da verzerrte sich dessen Gesicht, weiteten und schlossen sich immer wieder seine Augen vor Entsetzen, und er starrte, wenn auch nur einen Lidschlag lang, verzweifelt um Erbarmen flehend, in die Gewehrmündung. In diesem kurzen, flehentlichen Blick lag vielleicht die tiefste Erniedrigung, die einem Menschenkind widerfahren konnte. War das Leben eine solche Demütigung wert? War es kostbarer als alles andere? Würde zum Beispiel Mutter Hürü sich im Angesicht des Todes so erniedrigen, auch wenn sie mit Sicherheit wüsste, dass man ihr daraufhin das Leben schenkte? Oder Ali der Hinkende? Er stutzte, und plötzlich schämte er sich, dass er so von ihm gedacht hatte. Was auch immer kommen mochte, der Hinkende wird sich nie und nimmer erniedrigen. Und wenn es um mein Leben ginge, überlegte er, wird Ali den Mann, der mich töten will, etwa nicht anflehen? Diesmal zögerte er, darauf fand er keine klare Antwort. Ach, wäre jetzt Ferhat Hodscha da, ihn könnte er all das fragen … Als er an den Hodscha im Gefängnis dachte, krampfte sich sein Herz zusammen. Der kleine Hodscha, dieser Mann, weich wie Seide, wie mag es ihm wohl dort ergehen? Ob sie ihn erniedrigen? Konnte Yobazoğlu sich genügend um ihn kümmern, Seyran ihm Kleidung, Geld und Essen bringen? Gleich nach seiner Einlieferung hatte sich der Hodscha das Rauchen abgewöhnt; dabei liebte er den Tabak, vergingen ihm fast die Sinne, wenn er sich eine Zigarette drehte, die Augen schloss und den Rauch in sich hineinsog … Warum hatte er wohl das Rauchen aufgegeben? Bestimmt las er da drinnen mit seiner schönen Stimme fließend und fehlerlos aus dem Koran, erklärte er den lauschenden Strafgefangenen jeden Satz der Sure. Dieser Hodscha machte keinen Unterschied zwischen Weisen und Irren, zwischen Alt und Jung. Er sprach herzlich mit jedermann, und jeder, ob weise oder irr, ob Alt oder Jung, empfing seinen Fähigkeiten gemäß das Seine mit demselben Maß an Zuwendung. Was würde Ferhat Hodscha wohl sagen, wenn er von ihm erführe? Wieder hatte er zwei Menschen getötet, musste er sich in die Berge schlagen, stand er dem Tod von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Denn jetzt waren die Getöteten ihm auf den Fersen, lechzten ihre Rächer nach seinem Blut. Und was hatte er erreicht? War das Dorf Vayvay denn befreit? Würde an Stelle Ali Safas nicht ein anderer kommen und ein anderer den Platz von Hamza dem Glatzkopf einnehmen? Wozu also dieser Kampf? Und wie sollte es nun weitergehen? In diesem Augenblick wusste er ja nicht einmal, wohin. Und die Gendarmen hatten ihn vielleicht schon eingekreist. Würden die Dörfler nicht die Regierungsstellen benachrichtigen, kaum dass sie die Kuppen seiner Finger gewahrten? In weiter Ferne auf grasgrünem, schmalem Pfad zwischen stahlblau blitzendem Stechdorn, dessen Blüten wie rosafarbene Wolken schimmern, ziehen die Dörfler, unzählige, wie der Zug von Ameisen zu Tal. Einer hinter dem anderen kommen sie herunter und sammeln sich in der Ebene am Fuß des Alidağ. Ferhat Hodscha hat eine Anhöhe erklommen, trägt aus dem Koran vor und deutet das Gelesene. Dann reckt er den Hals und spricht mit seinen eigenen Worten aus vollem Herzen weiter, während sein Adamsapfel hüpft.

Und er sagt zu den Menschen vor ihm: »Die Hoffnungslosigkeit darf niemals unsere Hände und Arme lähmen. Kämpfen ist ein Recht.« Und da macht sich die Menschenmenge auf, strömt wie die Springflut vom Taurus, von den Wäldern hinunter in die Çukurova. Sie strömt und füllt die Anavarza-Ebene, dann das Gebiet zwischen Yilankale und Dumlu, springt weiter in das Unterland von Kozan, überschwemmt Misisi und Incirlik und alle Ebenen bis hin zum Mittelmeer. Und wie ein stilles Meer wogt die Menge über der Çukurova, so schweigsam ist sie. Und von der Anavarza-Burg spricht Ferhat Hodscha mit Donnerstimme, sagt er schöne, kluge, überzeugende Worte. Überwältigt von seinem Zauber, marschiert die Menge den Städten zu, Ferhat Hodscha predigt ununterbrochen, feuert sie an, und die Scharen strömen, als risse sie die Sturmflut mit. Eine dichte Staubwolke bedeckt den Himmel über der Çukurova, die Menschen überrennen Städte und Dörfer, die unter den Massen verschwinden. In glühender Hitze steht Memed am Hang eines hohen Berges, als ein Wildbach herunterstürzt, ihn mit entwurzelten Bäumen, mit Felsen und Erdreich in die Tiefe reißt und die Fluten ihn zu verschlingen drohen. Und Ferhat Hodscha brüllt: »Rettet den Mann, den die Wasser mitnehmen, es ist Ince Memed, um Gottes willen, rettet ihn!« Doch niemand hört auf sein Rufen. Wie erstarrt bleiben die Menschen stehen, mit weit aufgerissenen Augen starren sie ihn an, rührt sich keiner vom Fleck. Pferdegetrappel kommt von weit her immer näher. Ferhat Hodscha hat ein Ohr auf die Erde gepresst und horcht auf die Geräusche hinter den Bergen. Der Hufschlag kommt immer näher, vermehrt sich rasch. Die Reiter, in hellen Haufen, setzen in gestrecktem Galopp über Memed hinweg. Immer mehr kommen, springen und preschen weiter. Er kann seinen Kopf nicht heben. Dann senkt sich die Dunkelheit herab, so dicht, dass keine Kugel sie durchdringen könnte. Sie nimmt ihm jede Sicht, nimmt ihm den Atem. Hielten die Reiter doch nur einmal an, dass Memed sich aufrichten könnte … Über dem Dunkel sprudelt rotes Blut, verbreitet moderigen Geruch. Es quillt aus Ali Safas und des Glatzkopf Hamzas Wunden und rinnt in einem fort. Gendarmen tauchen daraus auf, und der Hauptmann Faruk, der Hauptmann mit den zornigen Augen, trägt rote Stiefel, und seine Peitsche knallt wie prasselnde Flammen … Plötzlich verstummt das Pferdegetrappel über Memed, verschwinden die Menschenmassen, hört der Blutregen auf, erstarren Ali Safa Bey und Hamza der Glatzkopf mit weit aufgerissenen Augen und Mündern. Stille breitet sich aus, furchtbare, dröhnende Stille, Memed steht in einer endlosen Ebene, die flach ist, so weit sein Auge reicht. Über ihm tiefblauer Himmel, der sich mit seiner ganzen Schwere auf ihn herniedersenkt. Memed flüchtet in die eine Richtung, er kann diesem undurchdringlichen Himmel, der wie ein wuchtiger blauer Marmorblock auf ihm lastet, nicht entrinnen, kehrt um, rennt in die andere Richtung, nach links, nach rechts, doch kein Entkommen … Er hetzt im Kreis, doch dieser Himmel, der in die Ebene kippt, lässt ihn nicht zu Atem kommen, der Himmel senkt sich mit einer Seite aufs Meer, drückt mit seiner ganzen Schwere die Fluten zusammen, zermalmt mit der anderen Hügel, Berge, Felsen und Bäume, der Wald erzittert, schwankt, riesige Stämme neigen sich, richten sich mit lautem Ächzen wieder auf, die Welt springt knirschend aus den Fugen. Und genau in diesem Augenblick sprang Memed auf die Beine. Das Pferd dicht vor ihm hatte die Ohren gespitzt; den Kopf hoch erhoben, schien es in die Tiefe des Waldes zu äugen. Plötzlich scharrt es und bäumt sich jäh auf. Schnaubend stößt es die Luft durch die Nüstern, scharrt erneut, schlägt aus und versucht, sich loszureißen. Memed, schlaftrunken, halb wach, halb träumt er noch, horcht in die Finsternis hinein. Es war schon sehr dunkel, dumpfes Rauschen überall und aus der Ferne wieder dieser raue Ruf des Vogels. Sonst nichts, wovor das Pferd jetzt scheuen könnte, doch diese edlen Tiere haben ein so feines Gespür, dass sich die Nüstern bebend weiten, wenn nur ein Blatt sich regt, und sei es vierzig Tagesmärsche weit entfernt. Vorsicht war geboten! Das Pferd wurde immer ungestümer, konnte nicht stillstehen, schien nach alter Gewohnheit um seine Mitte sich zu drehen, dort auf der Lichtung wie ein Kreisel wirbeln zu wollen, wenn es sich vom Halfter nur befreien könnte. Bald würde das wilde Tier ihn nicht mehr an sich heranlassen. Memeds Schenkel schmerzten im Schritt, als risse man ihm die Beine vom Leib. Nicht einmal während seines tagelangen Ritts hatten sich seine Muskeln so verkrampft, waren seine Glieder so bleiern gewesen. Das Pferd wurde immer ungebärdiger, tänzelte zerrend ums festgezurrte Zaumzeug, stellte sich auf die Hinterhand, keilte und schnaubte, dass es weithin zu hören war. Memed blieb keine Zeit, zu überlegen, er löste die Zügel vom Gestrüpp, schwang sich aufs Pferd und trieb es in die Richtung, aus der er gekommen war, dem Alidağ zu. Das rasende Pferd scheute vor einem Wasserlauf, stockte wie angewurzelt, beinahe wäre Memed gestürzt, er konnte sich gerade noch halten, riss den Kopf des Pferdes herum und jagte in den Wald hinein. Links und rechts glitten die Bäume wie strömendes Wasser an ihm vorbei, das Pferd wurde so schnell, dass ihn im erfrischenden Luftzug wohlig fröstelte. Dicht an seinem Ohr vernahm er Pfeifgeräusche, djiv, djiv, wie von Geschossen, Blätter flogen auf ihn herab, Zweige streiften ihn, aber auch Geäst, das ihn fast aus dem Gleichgewicht peitschte. Während das Heulen an seinen Ohren immer lauter wurde, kam der Ruf des Vogels immer näher. Mit zusammengekniffenen Augen vermeinte Memed seitlich Licht zu sehen, schon war er daran vorbei. Wieder ein Lichtschein, noch einer und noch einer … Hintereinander zogen die Lichter an ihm vorbei, gingen ineinander über, vermischten sich. Unter sich nimmt er einen schmalen Pfad wahr, weiß, dass er über mehrere Bäche setzt, ahnt, wo er sich befindet. Der plötzliche Schmerz, unter dem er sich eben noch krümmte, lässt nach, darüber freut er sich. Überflüssig, dem Pferd die Fersen in die Weichen zu stoßen, es hatte den Hals weit gestreckt und stob mit schnaubenden Nüstern dahin, schweißnass wie er selbst auch. Allmählich werden seine Glieder taub, spürt er seine Schenkel nicht mehr, die er in die Flanken des Pferdes presst. So gelähmt, weiß er nicht mehr, wie lange er schon reitet, nimmt er das Pferd nur wahr, wenn es über Gräben und Bäche setzt, Hürden aus Stämmen und Felsbrocken nimmt, wenn im Sprung die Zweige Kopf und Rücken geißeln. Als das Pferd langsamer wurde und er kühles Wasser an seinen Füßen spürte, wusste er, dass sie am Waldrand waren. Im selben Augenblick schlug tausendfaches Vogelgezwitscher an sein Ohr. Es musste demnach kurz vor der Morgendämmerung sein. Als er durch das Wasser ritt, wendete er den Kopf in die Richtung, in der er Osten vermutete. Dort wurde der Himmel fahl, verblassten die Sterne. Das Vogelgezwitscher schwoll ohrenbetäubend an. Diese Stare, dachte er und musste dabei lächeln. Vor einem großen Felsen hielt das Pferd einen Augenblick inne, als warte es auf etwas, dann griff es wieder aus. Rings um den Felsen ragten Bäume in den Himmel, mit Stämmen so alt und mächtig, dass drei ausgewachsene Männer sie nicht umfassen konnten. Memed kannte hier jeden Strauch. Vor seinen Augen wurden die Tage lebendig, die er hier verbracht hatte, und seine Muskeln entkrampften sich. Ganz kurz nur glimmte tief in seinem Innern ein Schimmer von Hoffnung, von Freude auf. In Kürze würde er den Wald hinter sich haben und das Lager der Nomaden an den Quellen der weiten, baumlosen Berghänge erreichen. Gewöhnlich schlug der Stamm der Kerimoğlus in dieser Gegend seine Zelte auf, meistens bei der sprudelnden Quelle am Fuße des rötlichvioletten Felshangs, dessen Spitze schroff und scharf wie ein Schwert emporragte. Was aber, wenn die Jurten der Kerimoğlus nicht dort waren, wenn die anderen Nomaden ihn überwältigten und den Gendarmen auslieferten? Ja, was dann … Doch dann dachte er nicht mehr an sich, das Bild Ferhat Hodschas in Handschellen will nicht weichen, Ferhat Hodscha mit den schönen, traurigen Augen, dem feinen, gelockten schwarzen Bart. Das Pferd ist langsamer geworden, im gleichmäßigen Takt der Hufe werden Memeds Gedanken klarer. Wäre jetzt Ferhat Hodscha bei ihm oder der Große Süleyman, sie würden ihm einen Weg zeigen, würden ihm schon sagen, ob er den Nomaden trauen könne.

Eine schreckliche Angst beschlich ihn, mit einem Ruck reißt er den Kopf des Pferdes herum und treibt das schweißbedeckte Tier in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Als er das kühle Wasser an seinen Füßen spürte, beruhigte er sich. Kurz darauf waren sie wieder am Felsen. Noch mehr Vögel lärmten, Tausende bevölkerten den Wald, schilpten aneinander gedrängt auf Abertausenden Zweigen. Mit hartem Griff zügelte er das Pferd; der Morgen dämmerte, ein fahles Blau zog dort am Himmel auf, erschöpft hielt das Tier inne. Und wieder stieg diese Angst in Memed hoch, wurde größer und größer, traf ihn wie ein Schwerthieb, bis ins Innerste. Das Pferd hatte eigenmächtig gewendet und war zum Bach getrabt. Diesmal gewahrte Memed, wenn auch verschwommen, das Wasser, bevor es seine Füße benetzte. Ein schwarzes Etwas strömte dahin und verlor sich im Dunkel des Waldes. Von dort drang das Gurgeln einer Stromschnelle an sein Ohr. Das Pferd machte wieder kehrt, lief noch einige Mal hin und her und blieb schließlich am Ende des Felsens unter dem rauschenden Geäst eines mächtigen Baumes stehen. Memed rührte sich nicht. Er war ausgepumpt wie das Tier unter ihm, das kurz darauf die Ohren hängen ließ, die rechte Hinterhand nach vorne zog und das Fesselgelenk einknickte. Memed hatte sich über den Kamm gebeugt, als wolle er den Schweiß riechen, der in schaumigen Flocken den Hals des Tieres bedeckte. So verharrten beide eine Weile.

Plötzlich schreckte ein dumpfes Geräusch das Pferd, es spitzte die Ohren und stürmte los. Während sie in ein trockenes Bachbett hineinjagten, an dessen Flachhängen links und rechts hellrosa der Lorbeer blühte, schwoll das Gezwitscher zu irrsinnigem Gekreische an, und kaum hatten sie die Mulde hinter sich, empfing sie ein Kugelhagel, der von den Bäumen zu ihrer Linken kam. Das Pferd knickte ein, fing sich und hetzte über rutschige Kiesel in die entgegengesetzte Richtung. Sie waren schon in der Biegung vor ihnen, in die ein niedriger Schwemmkegel hineinragte, als Memed einen leicht schmerzenden Schlag unter dem rechten Schulterblatt verspürte, dann, etwas tiefer, einen zweiten … und noch einen, heftigeren, über der Hüfte … Memed hing über dem Nacken des Pferdes, das ihn flussaufwärts trug, und die Schmerzen in seinem Rücken wurden stärker. Hinter ihm rief eine Stimme in einem fort: »Ince Memed, Ince Memed, diesmal entkommst du mir nicht, diesmal nicht, diesmal nicht! Der ganze Wald ist umzingelt, ist umzingelt!« Das Pferd raste durch niedriges Gestrüpp, durch dichtes Unterholz und immer wieder über die steinige Bachrinne hinweg, der Duft trockener Minze, von Kiefernharz und vom Qualm nassen Holzes stieg Memed in die Nase. Und die da hinter ihm, verdeckt von den Felsen, stellten das Feuer nicht ein, schossen weiter wie wild. Im Osten dämmerte es, Bäume, Gräser und Blumen schälten sich aus dem Dunkel. Das Pferd erreichte flaches Land, stockte, als es Menschenstimmen und das Geläut von Glöckchen hörte. Von seinen Hufen bis hin zum Gipfel des Berges dampften im Frühnebel überall auf den kahlen Hängen die rosa Blüten des Stechdorns, aus dem winzige blaue Funken schlugen. Memed horchte – das Gewehrfeuer war verstummt. Er hatte nicht mehr die Kraft, das Pferd zurück in den Wald zu treiben. Ihm war, als habe er hinter dem rotvioletten schroffen Felsen, dessen Spitze wie eine geschliffene Schwertklinge blitzte, dünne blaue Rauchfahnen aufsteigen sehen. Über ihm zwitscherten alle Vögel dieser Welt, und er spürte warmes Blut von seiner Schulter über seine Brust auf seinen Bauch rinnen. »Oh, oh, Ferhat Hodscha!« murmelte er. »Das also ist mein Los.« Stimmen drangen an sein Ohr, und er sah, wie Frauen, Männer und Kinder auf Zehenspitzen den Hang herunterkamen. Angeführt von Ferhat Hodscha … Memeds Körper zitterte vor Freude. Er versuchte, die Augen aufzureißen, um hinter Wolken von rosa Blüten den bedächtigen, ernsten Hodscha, der da kam, noch einmal anzuschauen, doch ein schwarzer Schleier legte sich über sie. Er glitt vom Pferd und streckte sich lang auf dem Stechdorn aus, den man auch Ruhekissen des Hirten nennt.

Eine Flamme züngelte bis zu den Augen des Pferdes, das dicht bei ihm ausharrte. Die Flamme dehnte sich, fiel zusammen, wuchs, vervielfachte sich, die Stimmen und Geräusche wurden lauter. Das lauschende Pferd schnellte plötzlich vorwärts, jagte in weiten Bögen und zog dabei seine Spur immer enger, bis es sich schließlich wie ein Kreisel um seine eigene Mitte drehte. Nach einer Weile hob es stolz seinen prächtigen Kopf, spitzte die Ohren, schaute mit seinen schönen, großen Augen zum Gipfel des Berges und preschte kurz darauf in gestrecktem Galopp auf ihn los.

3

Seit gestern Nacht, die ersten Schüsse waren kaum verhallt, füllte sich Ali Safa Beys Hof mit Menschen. Die Schreckensbotschaft war bis in die entferntesten Dörfer gedrungen, und längst schon hatten sich viele der Klageweiber aus der näheren Umgebung eingefunden und ihre Tätigkeit aufgenommen. Mit wiegendem Körper sangen die Frauen an Safa Beys blutigem Leichnam die Totenklage, hoben den Verstorbenen in den Himmel, rühmten sein glanzvolles Leben, zählten seine Tugenden auf, lobten seine Menschlichkeit und verfluchten Ince Memed mit den blutbefleckten Händen und dem finsteren Herzen. Doch bald schon würden die Gendarmen ihn gefangen nehmen und in die Kreisstadt bringen, würden Arif Saim Bey und Halil Bey ihn an die Platane im Innenhof der Moschee fesseln und vor den Augen von Ali Safa Beys Witwe, seiner Brüder, Verwandten und der ganzen Stadt bei lebendigem Leibe die Haut abziehen. Ja, ließen denn die den Adlern gleichen Herren diesen Blutrünstigen, diesen Feind des Glaubens am Leben? Schlachteten sie ihn etwa nicht, rissen sie ihn denn nicht in Stücke? Wäre er ein Recke, wie Safa Bey einer war, wäre dieser Kerl, der einen Großgrundbesitzer, einen Augapfel der Regierung, tötete, wenigstens ein Mensch. Aber der, den sie Ince Memed nennen, sei ein elender, barfüßiger Waisenknabe, ein Dörfler, dessen Bauch vom Kürbisfraß gedunsen, der, eine Handbreit groß und mit spindeldürrem Hals und quellenden Augen, vor einer Ameise erschrecke. Ja, wenn jener, der den Recken, dies Mannsbild von einem Aga, tötete, ein ganzer Kerl wäre und nicht ein rotznäsiger Ausgestoßener … Wenn er, der Ali Safa tötete, ein Kerl von Mann wäre, dann brennte dieser Tod im Herzen der Menschen nicht so schmerzlich.

Die Menschenmenge im Hof war schnell angewachsen, quoll auf die Dorfstraße, wälzte sich bergab bis in den Vorraum der Moschee. Gegen Mittag bevölkerte sie das gesamte Ladenviertel, das freie Gelände davor und schob sich weiter zum Flussufer hinunter. Pferde, Wagen und Karren drängten sich dort auf dem Marktplatz. Einige Verwandte des Toten und ein Teil der Ortsgrößen drangen auf eine sofortige Beerdigung, aber Karadağlioğlu Murtaza, Çaymakzade Bekir, Halil Bey, Lehrer Rüstem Bey und Safa Beys Witwe weigerten sich. Schade um ihn, bei dieser Hitze, er blähe schon auf und stinke, sagten die einen; soll er sich blähen und stinken, erst müsse alle Welt den blutigen Leichnam sehen, müsse jedermann am Begräbnis eines geheiligten Toten teilnehmen können, hielten die anderen dagegen.

Wie es die Witwe wollte, so wurde verfahren und der Tote auch am nächsten Tag noch nicht begraben. Was an kölnisch Wasser im Ladenviertel und in den Häusern aufzutreiben war, hatte man herbeigeschafft und damit Ali Safa Beys geheiligten Leichnam ordentlich begossen. Gleichwohl war der Tote prall wie eine Pauke aufgedunsen, und der Gestank hatte sich vom Haus über den Vorhof bis hinunter zum Marktplatz am Flussufer ausgebreitet und im Wasser, in den Bäumen, den Kleidern der Menschen eingenistet.

Inzwischen hatten sich neben vielen anderen Trauergästen der Abgeordnete Arif Saim Bey und der stellvertretende Präfekt der Provinz Adana mit weiteren hoch gestellten Amtsinhabern, ferner Ali Safa Beys Freunde, allesamt Grundbesitzer in Adana, sowie die großen Beys der Turkmenen aus Kozan, Osmaniye und Ceghan zum Leichenbegängnis eingefunden. Karadağlioğlu Murtaza Aga raufte sich öffentlich die Haare, jammerte, schlug sich gegen Brust und Kopf und sagte jedem, der ihm über den Weg lief: »Er hat ihn getötet, diese Handbreit Waisenknabe mit dem Hals einer Dörrbirne hat einen Löwen wie Ali Safa Bey getötet. Er tötete ihn, Freunde, Verwandte und Verschwägerte. Tötete den großen Helden des Freiheitskrieges, den Freund Tufan Paschas und Dogan Paschas. Wie soll ein Herz das ertragen? Tötet ihn, bringt seinen Leichnam in der gelben Hitze zum Stinken. Das erträgt ein Herz schon gar nicht. Davor hatte er bereits unseren Abdi Aga getötet, den Aga von fünf Dörfern, eine Säule unseres Glaubens. Nachdem er wie jetzt unsere Stadt überfallen hatte und dann dem Armen zwischen die hellbraunen Augen schoß … Wen alles hat dieser Ince Memed nicht schon getötet? Mit seiner Handschar soll er den Frauen der Agas die Bäuche aufschlitzen, ihre Leibesfrucht herausreißen und als Zielscheibe benutzen. Mit den Reichen geht er so um, nun gut, was aber sollen wir dazu sagen, wie er es mit den Armen treibt! Nachdem er ihre Mädchen und Frauen tüchtig vergewaltigt hat, schneidet er ihnen die Köpfe ab, spießt sie auf und säumt damit die Straßen. Jetzt soll er sich in die Berge geschlagen haben, zum Bach der Blumen, um dort unseren Helden des Freiheitskrieges, Mahmut Aga, zu töten. Das habe er sich geschworen, sagt uns dieser berühmte Mann hier, Ali der Hinkende, der die Spuren fliegender Vögel sogar auf der Erde lesen kann, Ali der Hinkende, der Abdi Agas treuer Gefährte war, Ali der Hinkende, der das Fleisch jenes Ungläubigen zu Kebab rösten wird, wenn er ihm in die Hände fällt. Und nicht einmal dieser Ali konnte Ince Memed das Handwerk legen.«

Ali der Hinkende, den Murtaza Aga jedem, der ihm über den Weg lief, anpries und mit Lob überschüttete, hielt sich einen Schritt rechts hinter ihm. In Trauer versunken, den Kopf gesenkt, hörte er mit feuchten Augen seinem Aga zu, ohne die geringste Regung im Gesicht, als gelte das Loblied nicht ihm.

»Sollten unsere Gendarmen den Bach der Blumen nicht rechtzeitig erreichen, wird auch Mahmut Aga, der Held, der im Freiheitskrieg seine Brust wie einen bronzenen Schild unseren Feinden entgegenstreckte, sterben. Und auch die anderen Agas mit eherner Brust … Wehe unseren Frauen und Töchtern! Dann wird Ince Memed mit seinen Ungeheuern, die Galgen und Pfahl entgangen sind, die Strick und Pfählung verdient haben, von den Bergen herabsteigen, zuerst unsere Stadt überfallen, dann Adana, Mersin und die ganze Çukurova einnehmen … wird uns allen die Haut abziehen und die Köpfe abschlagen. Wehe unseren Frauen, wehe unseren Töchtern, wehe unseren Äckern! Wehe, wehe, wehe, was uns erwartet … Dennoch, ich weiß, auch wenn er die ganze Çukurova erobert, dass wir wie damals im Freiheitskrieg die Franzosen, die wir in diesen Bergen des Taurus, auf dieser heiligen Erde erstickt haben, auch Memed den Falken erwürgen werden.«

Während er so sprach, stockte Ali der Hinkende, hob die Brauen, sah ihn mit seinen Fuchsaugen seltsam von der Seite an und ging weiter.

Karadağlioğlu Murtaza Agas Lage war in der Tat verzweifelt, denn alles, was er daherredete, glaubte er selbst aus vollem Herzen. Ince Memed, dieses blutrünstige Ungeheuer, raubte ihm den Schlaf, versetzte ihn in Angst und Schrecken. Als Murtaza nun auch noch vom Ende Ali Safa Beys hörte, drehte er völlig durch, ergriff ihn Todesangst. Seine einzige Zuflucht und Hoffnung, der einzige Zweig, an den er sich klammerte, war Ali der Hinkende. Gäbe es den nicht, Karadağlioğlu Murtaza Aga wäre schon längst kopflos vor Angst in die Berge geflüchtet. Deswegen bemühte er sich um ihn, wollte er auch nicht einen Augenblick seine Gegenwart missen. War dieser Mann nicht in seiner Nähe, stürzte er in eine dunkle, bodenlose Leere des Schreckens. Er glaubte an Ali. Denn wären die Gendarmen stehenden Fußes aufgebrochen, als Ali in die Wache kam und »Helft, helft! Ince Memed ist unterwegs, um Ali Safa Bey zu töten« brüllte, lebte dieser noch, ach, würde Ali Safa Bey noch leben … Denn Ali der Hinkende hatte geschrien, hatte sich zerrissen und getobt, doch die Gendarmen in Bewegung setzen, nein, das hatte er nicht vermocht. Und Ince Memed, die Flinte unverhüllt in der Hand, auf nacktem Pferderücken, war hingeritten und hatte Ali Safa Bey getötet … Ja, Ali der Hinkende ist schon ein tapferer, selbstloser Kerl. Der wusste alles, kannte die Berge, die Ebene, die Wolfshöhlen, die Vogelnester und die Herzen der Menschen.

»Ich habe immer gesagt, der Kopf der Schlange muss zertreten werden, solange er noch klein ist. Da habt ihrs, er wurde nicht zerschmettert, und jetzt spielt Memed mit der gewaltigen Türkischen Republik, die gegen sieben Welten, gegen fünfzehn Großmächte kämpfte, ja, sie in Schutt und Asche legte, als hinge diese Republik an seinen Fingern, mehr noch, an seinen Fingerspitzen … Wenn wir nicht auf der Stelle mit einer Armee die Berge einkesseln und uns jenes Ince Memed samt seinen Spießgesellen bemächtigen, wird diese Bewegung Kreise ziehen, sich über alle Berge und von dort über ganz Anatolien ausdehnen, dann aber wird man dieser Nacktbeinigen nicht mehr Herr werden, wird unsere wohl geordnete, einer Rose gleichen Heimat, die wir aus dem Nichts geschaffen, stinkenden Händen entrissen haben, untergehen. Und wenn dieser Spurensucher und Recke, Ali der Hinkende, nicht gewesen wäre, hätten wir diese Heimat schon längst verloren, trüge man sogar unsere Köpfe aufgespießt im Umzug von Dorf zu Dorf.«

Murtaza Aga, in Schweiß gebadet, mit geschürzten, zitternden Lippen, redete, tobte und brüllte. Vom Gesucheschreiber, den sie Politiker nannten, zum Unterpräfekten, vom Unterpräfekten zu Halil Bey machte er die Runde durch die Stadt, wirbelte er durchs Gedränge.

Politiker hockte vor seiner Schreibmaschine, um ihn herum die Agas, und tippte ununterbrochen Telegramme für Adana, für Ankara, und eins nach dem andern, ohne die übliche Wartezeit, gab sie der Postamtleiter nach Adana und Ankara durch.

Während Politiker die Texte aufsetzte, redete er gleichzeitig in einem fort, wobei er sich immer wieder verhaspelte.

»Nur ein Regiment kann es mit diesem Mann aufnehmen, besser noch: eine Division! Hinter jedem Busch im Taurus steckt doch jetzt ein Ince Memed. Ich sage euch, unser hoch geschätzter Herr Murtaza Aga hat recht, und wie recht er hat!«

Jedes Mal, wenn er so sprach, schob Murtaza Aga ihm heimlich einen Zehnliraschein in die Tasche, und jedes Mal, wenn Murtaza Aga wieder vor Politikers Schreibstube auftauchte, egal, worüber er sich gerade unterhielt, unterbrach dieser sein Gespräch und brüllte: »Der hochwohlgeborene Murtaza Aga hat vollkommen recht, jetzt schon steckt hinter jedem Busch im Taurus ein Ince Memed. Aber wir werden nicht zulassen, dass diese Opankenträger unser Land mit Füßen treten. Diese Nacktbeine kehlen unsere Männer ab, von denen ein jeder tausend Goldstücke wert ist, aber sie werden was erleben, wenn erst ein Regiment aus Ankara hier eintrifft …«

Währenddessen schrieb er schwitzend eine Bittschrift nach der anderen, gab sie den Männern, die darauf warteten, stellte Quittungen aus, warf sie in seine Schublade, und während er im Innersten für Ince Memed betete, machte er sich schon an das nächste Gesuch.

Gesucheschreiber Fahri den Verrückten suchte keiner der Agas auf. Und Fahri der Verrückte, der aus den Augenwinkeln die einem Fließband gleichende Schreibstube Politikers beäugte, beschimpfte die Agas samt seinem Nachbarn, was das Zeug hielt.

»Zu mir kommen sie natürlich nicht. Sind mir feind geworden. Weil ich es war, der mit einem Gesuch Ince Memeds Hatçe vor dem Gefängnis bewahrte. Weil ich es bin, der die Eingaben des Gottesmannes hinter Gittern, Ferhat Hodscha mit dem schönen Gesicht einer Rose, verfasst. Weil meine Gesuche, die sogar einen Marmorstein erweichen, ihn befreien werden. Lüge ist, dass Ferhat Hodscha getötet hat … Sie verleumden den Heiligen Gottes … Lüge auch, dass Ince Memed getötet hat …«

Als die Menschenmenge vor seinem Laden unruhig wurde, sah Fahri der Verrückte ein, dass er zu weit gegangen war. Er versuchte, seiner Rede eine andere Wendung zu geben, doch dann verlor er wieder die Beherrschung und zog erneut vom Leder.

»Vielleicht, aber nur vielleicht«, lenkte er ein, »ist es Ince Memed gewesen, der Ali Safa Bey getötet hat – vielleicht. Es könnte ebenso gut ein Landarbeiter gewesen sein, dem Ali Safa nicht gab, was rechtens war, vielleicht ein Bauer, dem er den Acker nahm. Wozu also dieser Aufstand, dieses schändliche Treiben … Gegen einen einzigen Mann wollen sie in Ankara eine Armee in Marsch setzen, eine ganze Armee für einen Mann, grenzt dieser Aufwand nicht an Sünde? Und wo soll ein großes Heer einen einzigen Ince Memed aufstöbern? Vielen Menschen, vielen armen Bauern wird es übel mitspielen, vielen …«

In diesem Augenblick steckte Murtaza Aga seinen Kopf durch die Tür.

»Verdammter Hund, verrückter Hund, wenn ich diesen Finger in deine Augen stoße, drücke ich sie heraus!« brüllte er und schnellte seine Hand wie einen Pfeil gegen Fahris Gesicht. Wäre dieser nicht auf der Hut gewesen, der Aga hätte ihm das Auge ausgestochen, so schnell war der Finger hervorgeschossen. »Willst du wohl schweigen, du Hund!«

Fahri der Verrückte lief quittengelb an: »Um Gottes willen, mein Aga, ich schweige«, entsetzte er sich, senkte den Kopf und fügte hinzu: »Was habe ich denn schon gesagt?«

»Was du gesagt hast, Hund, habe ich gehört«, donnerte Murtaza Aga, und seine Halsschlagader schwoll an. »Kerl, wenn ein Mann der Regierung hört, was du sagst, baumeln sie dich auf, und zwar auf der Stelle, an diesem Baum, auf diesem Platz … auf der Stelle! Mensch, hören deine besoffenen Ohren denn nicht, was du da sagst?«

Fahri der Verrückte war aufgestanden, hatte die Hände über die Brust gekreuzt und buckelte: »Um Gottes willen, mein Aga, ich rutsche vor dir auf den Knien, Gnade, mein Aga … Nie wieder, nie wieder … Aber Ihr gebt mir nie ein Gesuch in Auftrag … Immer der Politiker, immer der Politiker … Der ist schon reich geworden … Seit heute Morgen schreibt immer nur er, immer nur er …«

»Schweig! Er redet noch immer, der räudige Hund, schweig!«

»Ich bin ja schon still, mein Aga … Ich habe ja nur gesagt, dass dieser Heide Ince Memed mit seinen hundertundelf Kumpanen, wenn nicht heute, dann morgen Abend von den Bergen herabkommen und unser wunderschönes Städtchen brandschatzen wird. Frag alle hier, sie haben es gehört!« Er beschwor die Dörfler vor seinem Laden mit flehentlichen Blicken: »Sagt, Brüder, habe ich nicht so gesprochen?«

»Waaas?« erregte sich Murtaza Aga. »Woher hast du diese Nachricht?«

Fahri der Verrückte war beruhigt.

»Ich höre viel«, antwortete er, »und aus sicheren Quellen.«

»Wenn es so ist, einen Augenblick!« sagte Murtaza Aga, musterte die Runde, bis sein abschätzender Blick auf einen alten Bauern fiel. »Du da, komm her!« befahl er, und der Dörfler bahnte sich einen Weg durch die Menschenmenge.

»Zu Befehl, Murtaza Aga!«

»Du wirst jetzt ein Telegramm, das Fahri Efendi aufsetzen wird, nach Ankara schicken. Falls du nicht schreiben kannst, wirst du es mit deinem Fingerabdruck besiegeln!«

In Windeseile hatte sich Fahri vor seine Schreibmaschine gesetzt und einen Bogen eingelegt.

»Mach dir keine Sorgen, mein Aga«, sagte er, »ich setze ein Telegramm auf, dass Mustafa Kemal, seine Armee und Gendarmerie, ja, Ankaras Steine und Berge davon sprechen werden …«

»Was wirst du schreiben?« fragte, schon milder gestimmt, Murtaza Aga.

»Ich bitte dich, Murtaza Aga Efendi, mein hoher Bey, Fahri der Verrückte wird doch wissen, was er schreiben muss.«

»Was wirst du schreiben?« beharrte, jetzt strenger, Murtaza Aga. »Was wirst du schreiben?«

Fahri sprang auf, faltete ehrerbietig die Hände und verdrehte die angstgequälten, blutunterlaufenen Augen.

»Was wirst du schreiben?«

»Dass Ince Memed mit seinen Kampfgefährten alle Berge besetzt hält … alle Wege und Pässe … Dass sie Mädchen, schwangere Frauen … und siebzigjährige Greisinnen …«

»Nein, so nicht. Das alles ist schon geschrieben worden. Was noch, was noch, los, streng deinen Kopf an!«

»Dass Ince Memed heute Nacht mit dreihundert Reitern kommen wird … und unsere Kreisstadt …«

»Gut so«, lachte Murtaza Aga, »so ist es gut. Du wirst jetzt noch zehn Personen auswählen, jedem ein Telegramm aufsetzen und mit ihnen zum Postamt gehen. Wir haben dort ein Guthaben. Gib die Papiere dem Leiter des Telegrafenamtes, und vergiss nicht, sie von den Leuten mit Daumendruck bestätigen zu lassen. Nimm auch noch dieses Geld!« Und sagte, während er ihm ein Bündel Scheine in die Hand drückte: »Verrückter Kerl, beinah … wäre ich nicht zur rechten Zeit gekommen, hättest du dich um Kopf und Kragen geredet.«

»Immer zu Diensten, mein Aga, lang sollst du leben, möge Allah jeden Schaden von dir wenden!«

Fahris Hand, mit der er das Geld hielt, zitterte.

Eilig entfernte sich Murtaza Aga, und der Gesucheschreiber brüllte in die Menschenmenge: »Kommt herein! Du, du und du! Keine Ausflüchte! Wer seinen Daumen nicht auf diese Telegramme drückt, wird schwer bestraft. Wir kommen sonst alle in Teufels Küche. Ihr habt es eben gehört, fast wäre ich am Strick gelandet.«

An die fünfzehn Bauern traten schweigend vor und drängten sich in die Schreibstube, Fahri der Verrückte spannte einen Bogen ein und begann holterdiepolter zu schreiben.

»Sie haben es bereut«, stieß er hervor, »haben es bereut und kommen letztendlich zu mir. Was versteht dieser Politiker schon von Telegrammen, geschweige denn davon, wie Ankara zu ködern ist. Wenn nicht jedermanns Augen zwei Brünnlein werden beim Lesen meiner Telegramme«, er stemmte die alte, klapprige Schreibmaschine in die Höhe, »dann hebe ich dieses Ding so hoch und knalle es auf die Steine, dass es in tausend Stücke zerspringt. Was weiß dieser Politiker denn schon von Bittschriften … Der weiß nicht einmal, wo das Loch in seinem Arsch sitzt. Wenn Ankara auf Politikers Gesuch auch nur einen einzigen Gendarmen schickt, werde ich diese Stadt nie wieder wunderschönes Ankara nennen. Jetzt werdet ihr ja sehen, wie schon morgen, wenn nicht noch früher als morgen, unsere Armee heranrückt und sich auf den Taurus stürzt …«

Er schrieb und lächelte dabei, ließ seiner Fantasie freien Lauf. Schon seit Langem wusste er von der Wirkung seiner Gesuche auf höchste Stellen und war stolz darauf. Jetzt würde er von jedem, den er auftrieb, einen Fingerabdruck nehmen. Gott sei Dank gab es in dieser Stadt genügend Menschen mit willigem Daumen. Und während er sorgfältig seine Telegramme verfasste, war er eifrig bemüht, für jeden, der die Schreibstube verließ, einen Nachfolger zu bestimmen, der dessen Stuhl einnehmen musste. So hatte Fahri Efendi bis in den Abend ununterbrochen zu tun, und wäre Murtaza nicht gekommen und hätte gesagt: »Nun aber genug, Fahri Efendi, Bruder, jetzt reichts, du treibst uns in den Ruin, mit den Gebühren deiner Telegramme könnte ich weiß Gott ein Gut kaufen, hör auf, Fahri Efendi, Bruder, hast du denn nicht einen Funken von dem im Leib, was man Religion, Barmherzigkeit und Rücksicht nennt?«, hätte er, einmal in Schwung, bis in den Morgen weitergemacht.

Murtazas Worte empörten Fahri Efendi aufs äußerste. Das sind doch undankbare Menschen, dachte er im Stillen, Wohltaten wissen sie nicht zu würdigen … Er hob den Kopf, sah mit seinen blutunterlaufenen und traurigen Augen eines geschlagenen Hundes den Aga an und sagte mit müder, sanfter Stimme: »Könnten sämtliche Advokaten Adanas, Ankaras und Istanbuls, kämen sie zusammen, solche Telegramme wie die meinen aufsetzen? Ich habe sie mit meinem Herzblut geschrieben, mein Aga.« Dann ließ er gekränkt den Kopf sinken.

Murtaza Aga bereute seine Worte.

»Schon gut«, lachte er, »schon gut, Fahri Efendi, mein Freund. Mann, bist du empfindlich.« Dabei schlug er ihm zärtlich auf die Schulter und streichelte sie. »Sei mir nicht böse, Bruder!«

»Ich kränke mich, Freund«, antwortete Fahri und fügte dann hinzu: »Alldieweil ich ein Meister meines Faches bin, alldieweil niemandes Feder besser ist … diese Trunksucht ist es, die uns kaputtmacht, die Trunkenheit.« Er kniff die Lippen zusammen, seine Gesichtshaut spannte sich, und seine Augen füllten sich mit Tränen. »Ach, die Trunkenheit …«

»Hör zu, mein Freund, du verstehst ja überhaupt keinen Spaß! Hör zu, mein Freund, ganz Ankara wird jetzt von deinen Telegrammen überschwemmt, Himmel und Erde Ankaras hallen jetzt wider vom Wehgeschrei der Menschen, denen deine Worte, die Steine erweichen können, das Herz zerreißt. Gesegnet seien deine Hände! Und morgen, noch bevor der Tag graut, musst du deine Arbeit mit aufrechtem Herzen weiterführen. Schreib mit ganzer Kraft, Fahri Efendi, erster Gesucheschreiber unserer Stadt, sogar ihr oberster erster, dessen Bittschriften Eisen erweichen. Setz alle deine Fähigkeiten ein, schreib so lange, bis sie die Leiche dieses Ince Memed über den Rücken eines Esels werfen und in die Stadt bringen. Schreib, so viel du kannst! Und reg dich doch nicht über meine Späße auf. Kann ein Mensch denn seinem Murtaza Aga böse sein?«

»Ich bin ihm nicht böse«, antwortete Fahri der Verrückte und lachte. »Wie soll ich dir deine Worte verargen! Ich nehme überhaupt nichts übel, verehrter Karadağlioğlu Murtaza Aga Efendi, ich werde doch meinem Herrn Wohltäter, dem Sultan der Agas, nicht grollen? Würde nicht andernfalls der liebe Gott meine, des Undankbaren, Augen auslaufen lassen? Gut sind sie geworden, meine Gesuche, hervorragend gelungen, dank dir so beispielhaft, dass jedem, der sie liest, vor Staunen die Zunge in die Kehle rutschen wird. Und du hast mich dazu angespornt. Kann ein Mensch dir denn böse sein, Sultan der Agas?«

Er stand auf, hob den rechten Arm in die Höhe, als hielte er eine Rede. »In dieser Nacht noch werde ich dich mit Gesuchen überraschen, mit Gesuchen!« rief er. »Denn es sind die Nächte, die mit dem Gold des Morgens schwanger gehen, sogar mit goldenen Gesuchen! Jetzt, noch in dieser Nacht, werde ich das Gesuch meines Lebens schreiben, das schönste, eindrucksvollste, meisterlichste. Die großen Vorbilder des geschriebenen Wortes vor Augen, werde ich Zeilen verfassen, die den Magen eines jeden Lesers erzittern, ja, zerspringen lassen. Und dann mögen sie das Ungeheuer Ince Memed gefangen nehmen, den Leichnam dieses Blutrünstigen, in dessen hellen Augen lila Schmeißfliegen nisten werden, über den Rücken eines räudigen Esels, obendrein den nackten Rücken eines räudigen Esels werfen und in die Stadt bringen. Und dann mögen sie ihn inmitten eines jeden unserer siebenundsechzig Dörfer ausstellen, ihn in allen Marktflecken von Kozan, Kadirli und Adana herumzeigen, mit ihm durch Ankara und Istanbul ziehen und ihm schließlich vor dem Haus der Großen Nationalversammlung mit scharfen Metzgermessern die Haut vom Körper trennen!«

Während Fahri Efendi all diese prachtvollen geflügelten Worte gestaltete, heftete er seine glühenden Augen Beifall heischend auf Murtaza Aga. Und dieser hörte ihm mit leicht spöttischer, aber auch etwas bedauernder Miene zu und schüttelte hin und wieder fast unmerklich den Kopf. Doch als Fahri Efendi ganz außer Atem wieder Platz nahm, spürte der Aga, dass er nicht umhinkam, auf ihn einzugehen: »So ist es, du hast recht, vollkommen recht! Gott gebe, dass sich erfülle, was du eben beschworen hast, und sie, allen zur Lehre, diesem Ince Memed die Haut abziehen, inschallah!«

»Allen zur Lehre«, schrie Fahri der Verrückte und sprang auf die Beine, doch gleich darauf setzte er sich, erschöpft nach Luft ringend, wieder hin. »Ach!« seufzte er. »Ach, aaach, habe ich nicht mehr verdient, als nur ein Gesucheschreiber zu sein? Ach, Vorsehung, dein Auge soll erblinden, dein Haus in Trümmer fallen! Und verdammt seien Trunkenheit und Armut! Verdammte Armut, Ursprung alles Bösen.«

»So ist es nun einmal mit der Vorsehung, Fahri Efendi, was können wir dagegen tun. Der Mensch ist zu allem Bösen fähig, mein Freund. Da siehst dus, ein barfüßiger Dorfjunge, dessen Blut und Lunge keine zehn Para wert sind, tötet, ohne mit der Wimper zu zucken, einen Helden unseres Freiheitskrieges und geht anschließend mit schlenkernden Armen in den Bergen spazieren.« Während Murtaza ihm mitleidig zuredete, streichelte er behutsam seinen Rücken. »Diese Stadt wird nicht in deiner Schuld bleiben, sie wird dir deine guten Taten lohnen. Wenn du nur weiterhin Ankara mit Gesuchen bombardierst.«

»Auch weiterhin!« brüllte Fahri Efendi. »Auch weiterhin Feuer frei! Über die Berge hinweg mit dem Sperrfeuer einer Flugabwehrkanone werde ich Ankara in Brand schießen!«

»Ja, mein Freund, schieß die ganze Welt in Brand! Dein Leben und meines, das unseres Vaterlandes und Volkes und aller Geschöpfe unserer Erde ist in großer Gefahr.«

Nachdem Karadağlioğlu ihm wieder ein bisschen Geld zugesteckt hatte, schritt er mit durchgedrücktem Kreuz Richtung Brücke davon. Die Dörfler, denen er begegnete, wichen in Habachtstellung beiseite, bis er an ihnen vorüber war. Und er, die Brust geschwellt, den Kopf gereckt, bedankte sich herablassend mit knappem Gruß. Ali der Hinkende ging schweigend drei Schritte hinter ihm.