9,99 €
Eines Morgens steht unversehens ein prächtiger, reich geschmückter Schimmel vor Ahmets Hütte und will nicht weichen. Kein Bewohner des Berges Ararat würde jemals gegen die alte Sitte verstoßen und ein solches Geschenk Allahs wieder zurückgeben. Der Pascha aber will seinen Schimmel zurückerobern, er kennt weder Tradition noch überkommenes Recht. Sein Herrscherwahn findet schließlich eine Grenze: der Stolz der Menschen von Ararat schlägt um in Revolte. Im Hintergrund steht immer der Berg Ararat, der feuerspeiende, ewige Vulkan, ein Mahnmal der Brüchigkeit alles Bestehenden, eine Drohung gegen Herrscherwillen, eins mit den Bauern, die ihn bewohnen, ein Schutz für die Liebenden, aber auch bereit, sie zu vernichten, wenn sie mit seinem Gesetz brechen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 222
Veröffentlichungsjahr: 2015
Eines Morgens steht ein prächtiger Schimmel vor Ahmets Hütte. Kein Bewohner des Berges Ararat würde jemals gegen die alte Sitte verstoßen und ein solches Geschenk Allahs wieder zurückgeben. Der Pascha aber will seinen Schimmel zurückerobern, er kennt weder Tradition noch überkommenes Recht. Der Stolz der Menschen von Ararat schlägt um in Revolte.
Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.
Yaşar Kemal (1923-2015) wird der »Sänger und Chronist seines Landes« genannt. Er wuchs in einem Dorf Südanatoliens auf und lebte in Istanbul. 1997 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 2008 wurde er mit dem Türkischen Staatspreis geehrt.
Zur Webseite von Yaşar Kemal.
Abidin Dino, geboren 1913 in Istanbul, war Maler. Schon seine Kindheit verbrachte er in der Schweiz und in Frankreich, und auch sein späteres künstlerisches Leben bewegte sich stets zwischen der Türkei, Frankreich und den USA. Er starb 1993 in Paris.
Zur Webseite von Abidin Dino.
Helga Dağyeli-Bohne (*1940) übersetzt seit Ende der Siebzigerjahre gemeinsam mit ihrem Mann literarische Texte aus dem Türkischen.
Zur Webseite von Helga Dağyeli-Bohne.
Yildirim Dağyeli ist Verleger und literarischer Übersetzer. Anfang der Achtzigerjahre gründete er in Berlin den auf türkische Literatur spezialisierten Dağyeli Verlag.
Zur Webseite von Yildirim Dağyeli.
Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)
Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.
Yaşar Kemal
Die Ararat-Legende
Roman
Aus dem Türkischen von Helga Dağyeli-Bohne und Yildirim Dağyeli
E-Book-Ausgabe
Unionsverlag
HINWEIS: Ihr Lesegerät arbeitet einer veralteten Software (MOBI). Die Darstellung dieses E-Books ist vermutlich an gewissen Stellen unvollkommen. Der Text des Buches ist davon nicht betroffen.
Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 6 Dokumente
Die Originalausgabe erschien 1970 unter dem Titel Ağridaği Efsanesi.
Originaltitel: Agridagi Efsanesi
© by Yasar Kemal 1970
© by Unionsverlag, Zürich 2024
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Martina Heuer
ISBN 978-3-293-30790-2
Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte
Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)
Version vom 27.07.2024, 00:15h
Transpect-Version: ()
DRM Information: Der Unionsverlag liefert alle E-Books mit Wasserzeichen aus, also ohne harten Kopierschutz. Damit möchten wir Ihnen das Lesen erleichtern. Es kann sein, dass der Händler, von dem Sie dieses E-Book erworben haben, es nachträglich mit hartem Kopierschutz versehen hat.
Bitte beachten Sie die Urheberrechte. Dadurch ermöglichen Sie den Autoren, Bücher zu schreiben, und den Verlagen, Bücher zu verlegen.
Falls Sie ein E-Book aus dem Unionsverlag gekauft haben und nicht mehr in der Lage sind, es zu lesen, ersetzen wir es Ihnen. Dies kann zum Beispiel geschehen, wenn Ihr E-Book-Shop schließt, wenn Sie von einem Anbieter zu einem anderen wechseln oder wenn Sie Ihr Lesegerät wechseln.
Viele unserer E-Books enthalten zusätzliche informative Dokumente: Interviews mit den Autorinnen und Autoren, Artikel und Materialien. Dieses Bonus-Material wird laufend ergänzt und erweitert.
Durch die datenbankgestütze Produktionweise werden unsere E-Books regelmäßig aktualisiert. Satzfehler (kommen leider vor) werden behoben, die Information zu Autor und Werk wird nachgeführt, Bonus-Dokumente werden erweitert, neue Lesegeräte werden unterstützt. Falls Ihr E-Book-Shop keine Möglichkeit anbietet, Ihr gekauftes E-Book zu aktualisieren, liefern wir es Ihnen direkt.
Wir versuchen, das Bestmögliche aus Ihrem Lesegerät oder Ihrer Lese-App herauszuholen. Darum stellen wir jedes E-Book in drei optimierten Ausgaben her:
Standard EPUB: Für Reader von Sony, Tolino, Kobo etc.Kindle: Für Reader von Amazon (E-Ink-Geräte und Tablets)Apple: Für iPad, iPhone und MacE-Books aus dem Unionsverlag werden mit Sorgfalt gestaltet und lebenslang weiter gepflegt. Wir geben uns Mühe, klassisches herstellerisches Handwerk mit modernsten Mitteln der digitalen Produktion zu verbinden.
Machen Sie Vorschläge, was wir verbessern können. Bitte melden Sie uns Satzfehler, Unschönheiten, Ärgernisse. Gerne bedanken wir uns mit einer kostenlosen e-Story Ihrer Wahl.
Informationen dazu auf der E-Book-Startseite des Unionsverlags
An den Hängen des Ararat, in einer Höhe von viertausendzweihundert Metern, liegt ein See, Küp-See genannt. Er ist so groß wie ein Dreschplatz, und sein Grund reicht weit in die Tiefe – eigentlich mehr ein Brunnen als ein See. Der See, oder die Öffnung dieses Brunnens, wird rings umrahmt von roten, messerscharfen, glänzenden Felsen. Die weiche, kupferne Erde, die sich am Fuß der Felsen zum See hin erstreckt, ist von Längsstreifen durchzogen. Da und dort sprießt auf der kupferfarbenen Erde Gras in einem frischen Grün. Dahinter leuchtet das Blau des Sees. Ein außergewöhnliches Blau. In keinem anderen Wasser trifft man es an, ein solches Blau gibt es kein zweites Mal. Es schimmert dunkel, weich, samten.
Jedes Jahr zur Schneeschmelze, wenn der Frühling erwacht und aus dem Ararat das taufrische Grün hervorbricht, blühen an den Rändern des Sees neben den dünnen Schneestreifen kräftige, kurzstielige, kleine, scharf riechende Blumen. Ihre Farben leuchten wie Juwelen. Selbst die winzigste unter ihnen kann man noch aus weiter Ferne blau, rot, gelb und purpurn glänzen sehen. Die Blumen verströmen einen so scharfen, schwindelerregenden Geruch, dass auch das blaue Wasser und die kupferne Erde des Sees ihn angenommen haben. Man riecht den Duft schon von Weitem.
Und jedes Jahr, wenn auf dem Ararat der Frühling erwacht, stellen sich am Küp-See – gleichzeitig mit den scharfen Düften, den Farben, der kupfernen Erde – die kräftigen, groß gewachsenen Hirten ein, die Hirten des Ararat mit ihren melancholischen schwarzen Augen, den langen, feingliedrigen Fingern und ihren Flöten. Am Fuß der roten Felsen breiten sie dann rings um den See ihre Filzumhänge auf der kupfernen Erde und dem tausendjährigen Frühling aus, um sich darauf niederzulassen. Im Morgengrauen noch vor Sonnenaufgang ziehen sie die Flöten aus dem Gurt und stimmen das Lied vom Zorn des Ararat an. Es zieht sich dahin vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Untergang. Und wenn der Tag sich zu Ende neigt, beginnt ein winziger Vogel – weiß wie der Schnee – über dem See seine Runden zu drehen. Ein Vogel, spitz und lang, der Schwalbe ähnlich. Er kreist pfeilschnell über dem See. Stetig zieht er seine weißen, langen Kreise, die einer nach dem andern in das tiefe Blau des Sees fallen. Genau in dem Augenblick, in dem der Tag der Nacht weicht, verstummen die Flöten. Die Hirten stecken ihre Flöten in den Gurt und erheben sich. Der Vogel schießt jählings, aus vollem Flug, auf das blaue Wasser hinab, streift es dreimal nacheinander mit einem seiner Flügel, schwingt sich dann steil wieder in die Lüfte empor und verliert sich in der Ferne. Mit dem weißen Vogel entfernen sich auch die Hirten, still, einer nach dem andern, allein oder zu zweit, und versinken in der Dunkelheit.
Der Grauschimmel stand seit dem letzten Abend vor Ahmets Haustür. Er reckte den Hals, und seine weit geöffneten Nüstern schienen das rissige Holz der Türschwelle gewittert zu haben. Als Erster sah diesen Schimmel vor Ahmets Tür der uralte Weise, der Weise mit dem langen, schneeweißen Bart. Auf dem Schimmel lag ein mit Tulasilber beschlagener Tscherkessensattel. Aus feinem Silber war auch der Steigbügel geformt. Der Weise trat näher an den Schimmel heran und blieb mit gebeugtem Rücken dicht vor ihm stehen. Das Zaumzeug, das an dem mit Gold und Perlmutt beschlagenen Vorderzwiesel hing, war mit Goldfäden durchwirkt. Der Woilach, der unter dem Sattel lag und bis zur Kruppe hin reichte und der einem schon von Weitem ins Auge stach, dieser Woilach war aus gut gekochtem, besticktem Filz. Das Bild einer Sonne war hineingestickt, eine auffällig orangefarbene Sonne aus längst verflossenen Tagen. Hinter der Sonne reckte ein großer, sattgrüner Lebensbaum seine Äste empor. Auch die linke Seite des Schimmels war so bestickt. Der Weise hatte dies irgendwo schon einmal gesehen. Eine flüchtige Erinnerung streifte ihn. Diese Bilder mussten das Zeichen eines ruhmvollen Stammes, einer ruhmvollen Sippe sein.
Der Weise verharrte einen Augenblick lang reglos, etwas verängstigt, ein wenig verwundert, ein wenig erschrocken zugleich. Wer konnte dieser ruhmvolle Gast sein, der Ahmets Haus besuchte? Von welcher Sippe, welchem Bey, welchem Pascha konnte dieses Zeichen stammen? Er kam zu keinem Schluss. Dieses Zeichen aber jagte ihm Angst ein. Solche Zeichen bringen immer Unheil. Mit ihnen kommt und geht die Angst einher.
In dieser Gegend gab es niemanden, der seinen Schimmel so hätte ausstatten können. Außerdem kannte der Weise die Zeichen aller hiesigen Sippen in- und auswendig.
Es war Frühling. Der Schnee auf dem Ararat begann zu schmelzen. Stellenweise schauten schon rote Felszacken hervor, und da und dort lugten die Spitzen der Märzenbecher aus dem Schnee. In der Ferne zogen mit großen Flügelschlägen Kraniche, in einer Linie aufgereiht, vorüber. Sie flogen hinüber zum Van-See.
Ahmet wusste von alldem nichts. In der Morgendämmerung drang die Melodie einer Flöte aus dem Haus. Der Weise kannte sie seit alters her. Ahmets Großvater, Sultan Aga, hatte schon so gespielt. Auch Resul, sein Vater … Niemand am Ararat übertraf die Männer dieses Hauses in der Kunst des Flötenspiels. Vielleicht niemand sonst auf der Welt. Und wenn der Weise das sagte, hatte es Gewicht. Denn er selbst war hier im ganzen Osten, im Kaukasus, Iran und Turan, als berühmter Flötenspieler bekannt.
Er trat noch etwas dichter an den Schimmel heran. Er prüfte das Zeichen aus der Nähe. Der Schimmel schien der aus dem Haus klingenden Flötenmelodie zuzuhören, ja ihr mit gespitzten Ohren zu lauschen. Ahmet spielte ein Lied aus längst vergangener Zeit, ein Lied vom unerbittlichen Zorn des Ararat. Der Weise selbst hatte es den Flötenspielern vom Ararat beigebracht.
Der Schimmel reckte seinen Hals der Melodie entgegen. Auch der Weise … Es war schon lange her, dass er sie nicht mehr gehört hatte. Wie kann in der Melodie einer Flöte ein so riesiger Berg in einen so rasenden Zorn geraten! Des Menschen Sohn steckt voller Rätsel, dachte er. Er ist imstande, aus dieser dünnen Flöte einen riesigen, brüllenden Berg hervorzuzaubern! Solange die Welt besteht, werden die Menschen alles herausfinden, alles über den Adlerflug, den Ameisenhaufen, über den Auf- und Untergang des Mondes und der Sonne, den Tod, das Leben, wirklich alles. Sie werden alles über die Dunkelheit, das Licht – alles, aber auch wirklich alles herausfinden. Nur den Menschensohn selbst werden sie nicht ergründen können. In sein Geheimnis werden sie nicht eindringen.
In der Melodie der Flöte setzte sich der Berg förmlich in Bewegung. Und die Abgründe, die Lawinen, die frostklare Winternacht barsten. Der Mondschein barst. Und der zürnende Berg ging unaufhaltsam seinen Weg. Der Berg schwitzte, der Berg keuchte … Der Ararat stöhnte wie ein gewaltiges Ungeheuer. Der Weise hörte aus dem Innersten des Berges heraus ein Ächzen. Ein entferntes, dumpfes Dröhnen drang aus dem Erdinnern. Ahmet spielte weiter, und der Atem und Zorn des Berges schwollen an. In solchen Augenblicken pflegte dann der Weise sein Ohr auf die dröhnende Erde des Berges zu legen. Dessen Zorn aber wuchs und wuchs, er holte immer tiefer Luft, seine Brust hob und senkte sich, sein Atem flog, er barst auseinander und lud sein ganzes Gewicht auf der Welt ab. Stille breitete sich aus. Eine gähnende Leere. Die Welt war öde, vollkommen öde, während der Ararat von dannen zog und all seine Tiere, seine Menschen mitnahm, seine Sterne, seinen Mond, seine Sonne, seinen wehenden Wind, seinen Regen, Schnee und seine Blumen. Eine leere Welt blieb zurück. Er nahm auch die Herden der Gazellen mit, die Gazellen mit den schwarzen Augenlidern, die die Wüsten bevölkern. In der Melodie der Flöte erstarrte die Öde, eine leere Welt.
Dann auf einmal erstanden vor den Augen des Weisen erneut all die Blumen, die Sterne und Düfte der Welt, die hellen Wasser mit ihren Forellen, die Wüsten mit ihren Gazellen. Er sah den Schimmel vor sich verändert. Die Sonne auf dem Woilach des Pferdes war zum Leben erwacht. Der Lebensbaum hatte seine Blätter abgeworfen undblühte.
Für einen Augenblick hielt die Melodie der Flöte inne. Hinter dem Gipfel des Ararat tauchte die glutrote Sonnenscheibe auf.
Der Weise kam zu sich. Sein Blick wanderte zum Schimmel, dann wieder zur Tür. Auch der Schimmel hob den Kopf und schaute mit seinen großen, traurigen Augen den Weisen an. Den Weisen beschlich Angst, eine unbestimmte Angst. »Ahmet, Ahmet!«, schrie er.
Ahmet erkannte die Stimme des Weisen und öffnete die Tür. »Komm rein, Onkel!«
Er staunte nicht schlecht, als er den Schimmel sah. Er guckte zuerst den Schimmel, dann den Weisen an.
Der Weise fragte: »Wer ist dein Gast, Ahmet? Er sei willkommen!«
»Ich habe keinen Gast.«
Die Blicke der beiden fielen auf den Schimmel.
Da galoppierte der Schimmel davon, umrundete einmal das Haus, kehrte schließlich zurück und stellte sich wieder vor der Tür auf. Es war ein langer, hochgewachsener Schimmel. Seine Ohren liefen spitz zu. Er hob den Kopf in die Luft, und es machte den Anschein, als wolle er wiehern, aber er wieherte nicht.
Ahmets Haus stand am Fuß eines Felsens. Es war aus unbehauenen roten Steinen gebaut, hatte eine breite Tür und nur ein einziges Fenster.
Der Weise war in Gedanken versunken. Auch Ahmet dachte nach.
Schließlich eröffnete der Weise das Gespräch: »Dieser Schimmel ist dir vom Schicksal zubestimmt!«
»So ist es«, erwiderte Ahmet, »da er nun einmal gekommen ist und sich vor die Tür gestellt hat. Aber wem gehört er eigentlich?«
»Auf seinem Woilach ist ein Zeichen angebracht. Ich glaube, es aus alter Zeit von irgendwoher zu kennen. Es könnte sich um das Zeichen eines schrecklichen, grausamen Geschlechts handeln. Aber wem er auch gehören mag, dieser Schimmel ist nun dein. Er ist an deine Tür als Geschenk Gottes gekommen.«
»Gottes …«, wiederholte Ahmet.
Bedeutete dies Freude oder Leid? Der Schatten, der auf Ahmets Gesicht fiel, entging dem Weisen nicht.
»Wem dieser Schimmel auch gehören mag, er ist nun dein. Nur … irgendwie kommt mir dieses Siegel bekannt vor. Es stammt aus uralten Zeiten.«
Ein Schimmel mit so einem Geschirr konnte unmöglich einem gewöhnlichen Mann gehören.
»Überleg nicht so viel, führ ihn zu dem Weg da unten und lass ihn dort stehen! Wenn er noch einmal zu deiner Tür kommt, so führ ihn wieder weg, das wiederholst du dreimal«, empfahl der Weise. »Wenn der Schimmel auch dann noch zurückkommt, ist er dein. Sogar wenn sein Besitzer ein Bey, ein Pascha, ein osmanischer Sultan, ein persischer Schah, ja sogar Köroğlu sein sollte, dann gibst du vielleicht deinen Kopf her, aber nicht diesen Schimmel, den können wir nie mehr zurückgeben.«
Die Sonne ging auf, die silbrigen Wolken trieben auseinander, und ein glänzender Nebelschleier legte sich über die Dunkelheit. Ahmet hielt den Schimmel fest. Große Ruhe strahlte aus ihm, als er ihn bestieg und nach unten ritt. Dann ließ er ihn stehen und kehrte um. Er glaubte seinen Augen nicht zu trauen – als er zurückkehrte, stand der Schimmel neben dem Weisen! Dies wiederholte sich dreimal.
»Da ist nichts zu machen, Onkel!« Was auch immer geschehen sein mochte, eines Tages würde sich der Besitzer bestimmt auf die Suche machen. Aber wer er auch immer war – eines war gewiss: Ahmet würde ihm das Tier nicht zurückgeben. Er würde seinen Kopf hergeben, nicht aber den Schimmel.
Dann führte er den Schimmel in den Stall. Freude und Angst erfüllten ihn zugleich. Soweit er sich zurückerinnern konnte, er hatte noch nie einen so schönen Schimmel gesehen.
Der Weise freute sich: »Wenn der Besitzer des Schimmels ein Lump ist und unbedingt auf dem Schimmel besteht, dann kommt es zum Kampf. Wenn der Ararat erst einmal in Zorn gerät, kämpft er gegen die ganze Welt!«
Ahmet pflichtete ihm bei: »Und wie er kämpft!«
Im Dorf sprach es sich herum, dass ein Araberpferd vor Ahmets Tür erschienen war. Alle strömten herbei, um es in Augenschein zu nehmen. Dann verbreitete sich die Nachricht auch in den Nachbardörfern, und bald im ganzen Ararat-Gebiet. Alles, was Beine hatte, kam herbeigeeilt und begutachtete den Schimmel. In kurzer Zeit wurde sein Ruhm bis in den Iran, bis in den Turan getragen. Jeder deutete dieses Ereignis und das unerwartete Glück Ahmets auf seine Weise. Der eine hielt es für etwas Gutes, der andere für etwas Böses …
Schließlich erreichte die Nachricht auch die kurdischen Beys in Karakilise, Gihandin und in Iğdir unten im Tal. Auch sie machten sich auf, um den Schimmel zu sehen. Sie wünschten sich, sie hätten auch so viel Glück wie Ahmet gehabt …
Lange Zeit hörte man nichts vom Besitzer des Pferdes.
Ahmet bestieg des Öfteren seinen Schimmel, um zusammen mit seinen Gefährten auf Plünderungszüge in den Iran zu reiten. Er stahl Waren, auch Schafe und Pferde, die er zum Ararat hinübertrieb.
Dennoch regte sich ein beklemmendes Gefühl in ihm. Der Besitzer dieses Schimmels – wer das auch war – musste doch eines Tages auftauchen. Wer das wohl sein mochte? Vielleicht ein blutrünstiger, unerbittlicher Bey. Oder ein Schlappschwanz?
Sechs Monate zogen durchs Land. Ahmets Angst, seine Beklemmung und auch seine große Freude hatten sich gelegt.
Eines Tages, zur Morgenstunde, als die Sonne sich glutrot und frostig an die Flanke des Ararat lehnte, kam der Weise mit seinem zitternden, langen, weißen Bart, auf seinen Stock gestützt, zu Ahmet. »Hast du schon gehört, Ahmet?«, fragte er.
»Ja, ich habe davon gehört«, erwiderte dieser.
»Mahmut Khan, der Pascha aus Beyazit, sucht sein Pferd.«
»Ich habe es gehört«, wiederholte Ahmet.
»Wer ihm seinen Schimmel zurückbringt, soll fünf Pferde bekommen und fünfzig Goldmünzen obendrein.«
»Ja, so ist es«, bestätigte er.
»Er will denjenigen um einen Kopf kürzer machen lassen, in dessen Haus, in dessen Hand er ihn findet.«
»Was soll man machen? Dieser Schimmel ist mir vom Schicksal zubestimmt«, gab Ahmet zu bedenken.
»Er wird seine Armee rüsten und gegen uns ziehen!«
»Der Schimmel ist mir vom Schicksal zubestimmt!«
»Ein tyrannischer Pascha ist dieser Mahmut Khan!«
»Der Schimmel ist mir vom Schicksal zubestimmt!«
»Niemand kann es mit Mahmut Khan aufnehmen.«
»Dieser Schimmel kam zu mir als Geschenk Gottes!«
»Mahmut Khan weiß nicht, was ein Geschenk Gottes bedeutet. Er ist zu einem Osmanen geworden.«
»Dieser Schimmel kam zu mir als Himmelsgabe!«
Nicht einmal ein Monat war vergangen, als Mahmut Khans Männer auch schon vor Ahmets Haus aufkreuzten. »Der Pascha lässt ausrichten«, verkündeten sie, »dass du dir Pferde, Waren und Geld wünschen darfst. ›Nur soll er mir meinen entlaufenen Schimmel zurückgeben. Da er vor seiner Tür haltgemacht hat, will ich ihm geben, was sein Herz begehrt!‹«
Ahmet entgegnete: »Weiß der Khan denn nicht, dass dieser Schimmel als Geschenk des Himmels zu mir gekommen ist? Ein Pferd, das man geschenkt bekommt, gibt man nicht her, niemandem, aber auch gar niemandem. Den Kopf gibt man hin, doch nicht das Pferd. Weiß der Pascha das nicht?«
»Der Pascha weiß es, aber er will trotzdem seinen Schimmel zurück. Auch er hat das Pferd als Geschenk bekommen. Er bekam es vom Bey des Zilan-Stammes, den er wie einen Bruder liebt.«
»Der Pascha kann von mir aus mein Hab und Gut und meine Seele haben, aber mein Geschenk kriegt er nicht«, beteuerte Ahmet noch einmal, um das Gespräch zu beenden.
Aber die Männer des Paschas ließen sich nicht beirren: »Der Pascha bestellt dir, dass du dich nicht auf den riesigen Berg hinter dir und auch nicht auf das Häuflein Herumtreiber in deinem Rücken verlassen sollst. Den Berg und auch alle um dich herum will er dem Erdboden gleichmachen, sagte er. Und das tut er auch!«
Ahmet hüllte sich in Schweigen. Der Weise auch. Die Männer des Paschas zogen zornig und mit leeren Händen davon.
Die Nachbarn, die Leute aus den umliegenden Dörfern und die kurdischen Beys mit den zornfunkelnden Augen versammelten sich um Ahmet.
»Hat man schon einmal so etwas erlebt!«, empörten sie sich, »hat man schon einmal erlebt, dass man ein Pferd seinem Besitzer zurückgibt – mag er Bey oder Pascha sein –, wenn man es als Geschenk Gottes bekommen hat!«
»Hat man schon einmal so etwas erlebt«, wiederholte Ahmet und versank dann in Schweigen.
Der Pascha hatte das nicht erwartet. Er war außer sich, als Ahmets Antwort eintraf. Die Tradition kannte er sehr wohl. Würde ein Pferd des osmanischen Sultans oder des persischen Schahs herbeilaufen und nicht mehr von der Stelle weichen – er würde lieber sterben als das Pferd aushändigen. Er, er würde es nicht zurückgeben, aber dieser Ahmet, der Lümmel aus den Bergen, wofür hielt der sich überhaupt?
Er musste sein Pferd zurückhaben, komme, was wolle! Den ganzen Konak versetzte er in Aufregung. Er zitierte seine Männer, seine Kommandanten herbei, doch konnten sie zu keiner Entscheidung kommen. Wegen dieses Pferdes würde er den ganzen Ararat gegen sich aufbringen. Ahmet stand nicht allein da.
Der Pascha lud die kurdischen Beys, die mit ihm befreundet waren und ihm all seine Wünsche von den Augen ablasen, zu sich in den Palast. Auf schönen Pferden kamen sie dahergeritten – die Beys aus Van, Patnos, vom Süphan-Berg, aus Muş und Bitlis. Mahmut Khan ließ ein großes Fest feiern. Er überschüttete sie mit nie gekannter Gastfreundschaft. Danach berief er den Rat ein und erstattete von dem Geschehenen und von seinem Unheil Bericht.
»Ein Lümmel aus den Bergen, ein Plünderer, ein bartloses Kind hat mein Pferd gestohlen, hat mich beschimpft«, klagte er.
Niemand wagte es, dem Pascha vom Himmelsgeschenk zu erzählen. Keiner brachte es fertig, darauf hinzuweisen, dass die Menschen vom Ararat eher ihr Leben aufs Spiel setzen, als zuzulassen, dass so ein Pferd zurückgebracht wird. Nein, sie schwiegen nur. Der Zorn des Paschas flammte noch mehr auf. Um dem Ganzen ein Ende zu machen, befahl er: »Ich verlange von euch, dass ihr dieses Pferd herbeischafft!« Gegen ihren Willen schickten die kurdischen Beys einen Bittsteller zu Ahmet, zu den Menschen am Ararat. Aber auch ihm händigte Ahmet den Schimmel nicht aus. Er gab ihm vielmehr giftige, ätzende Worte mit auf den Weg. Wussten sie denn nicht, dass man ein Pferd, das als Geschenk gekommen war und an der Tür gestanden, das man dreimal weggebracht hatte und das immer wieder zurückgekehrt war, unmöglich zurückgeben konnte?
»Nicht zu mir ist dieses Pferd, dieses unerwartete Glück gekommen, sondern zum Ararat. Beys schimpfen sie sich, wie aber können sie es dann wagen, unser Pferd zurückzuverlangen? Sie sind also doch keine Beys, sondern Diener des Paschas«, ging es ihm durch den Kopf.
Die Worte Ahmets erfüllten die kurdischen Beys nicht mit Zorn, machten sie nicht wütend. Die Leute am Ararat haben ja recht, gaben sie zu, aber es gibt nun mal keinen anderen Ausweg. Der Pascha ist in der Tat entschlossen, alles zu unternehmen, um den Schimmel zurückzuholen.
Als der Pascha auch von den kurdischen Beys keinen Beistand erhielt, machte er sich daran, Soldaten einzuziehen. Zusammen mit den kurdischen Beys marschierte er auf den Ararat los.
Es war in den Herbstmonaten. Die Talsohlen des Ararat glichen Feuerstellen. Rote, violette Felsen, kleine morsche Tuffsteine kollerten unter den Pferdehufen talwärts wie rauschendes Wasser. Eines Nachmittags erreichten sie Sarik, Ahmets Dorf. Es lag vollkommen verlassen da, keine Menschenseele ließ sich blicken. Sie machten im Dorf Rast. Anschließend setzte man auf Anordnung des Paschas die Häuser in Brand. Ein Greis mit schmutzig weißem Bart und so dichten Augenbrauen, dass sie fast die Augen verdeckten, stürzte aus einem der brennenden Häuser geradewegs auf den Pascha zu. Er trug eine neue, blau bestickte, wollene Pluderhose mit Weste. Es war der Weise. Er warf dem Pascha einen scharfen Blick zu. Seine Adleraugen funkelten.
»All das wegen eines Pferdes, Pascha?«, fragte er. »Wer hat jemals, seit die Welt besteht, ein Pferd zurückgegeben, das an seine Tür gelaufen kam? Weißt du das nicht, Pascha? Du bist zu einem Osmanen geworden, Pascha, sonst würdest du uns wegen eines Pferdes nicht all das antun, Häuser in Brand stecken, Familien ins Verderben stürzen. Möge der Fluch des Ararat, der Zorn des Ararat, die Wut des Ararat über dich kommen, Pascha. Ich kenne deinen Vater; er war ein tapferer Bey. Du aber bist ein verdorbener Pascha geworden. Dein Vater hätte von keinem ein geschenktes Pferd zurückverlangt. Selbst wenn ein Pferd an die Tür einer Witwe, eines Waisenkindes, eines Diebes, eines Armen gelaufen kam und dort verweilte, verlangte er es nicht zurück. Dein Vater war ein Bey, du aber bist Pascha geworden. Der Fluch des Ararat soll über dich kommen!«
Der Pascha gab keine Antwort, sondern sagte nur: »Bindet ihm die Hände zusammen, hängt ihm ein Halseisen um und führt ihn in den Kerker!«
Am Fuß und an den Hängen des Ararat lagen zahlreiche Dörfer. Mahmut Khan zog mit den kurdischen Beys, deren Männern und seinen Soldaten im Rücken von Dorf zu Dorf. In welches Dorf sie auch einmarschierten, alle waren wie ausgestorben. Als hätte keines Menschen Fuß sie je betreten. Beim Anblick der menschenleeren Dörfer geriet der Pascha außer Rand und Band: »Sie haben die Fahne des Aufstands entrollt!«, schäumte er.
Der Pascha war hochgewachsen, hatte eine Adlernase, schwarze Augen und einen schwarzen, krausen Bart. In seinem Benehmen, seinem Auftreten, seinen Gesten und in seiner Redeweise äußerte sich sein Selbstbewusstsein. Er war ein wortkarger Mann, stets in Gedanken verloren. Mit weit ausholenden Schritten stolzierte er majestätisch einher. Ständig schwitzte er unter seinem Zobel.
Vom Iğdir-Tal zog er weiter nach Başköy. Stieg den Ahuri-Kessel hinan und von dort zur Ahuri-Hochebene. Niemand begegnete ihnen, nicht einmal ein Hirte oder ein Reisender, auch kein Räuber. Kein Vogel, kein Bär, kein Fuchs, kein Tiger, keine einzige Seele lief ihnen über den Weg. Die Welt lag da wie am Tag ihrer Schöpfung. Nichts regte sich.
»Ich werde sie schon finden«, sagte der Pascha, »selbst wenn die Erde auseinanderbricht und sie alle verschlingt, werde ich sie finden! Ich werde sie finden, selbst wenn sie ans andere Ende der Welt fliehen, in den Iran, nach Indien, China oder noch darüber hinaus!«
Die kurdischen Beys neben ihm brachten kein Wort hervor, es war, als hätten sie die Zunge verschluckt.
Der Winter stand vor der Tür. Alle waren müde, die Pferde, sie selbst, die Soldaten mit den Ranzen auf dem Rücken. Als sie den Ararat einmal umkreist hatten, kamen sie zum Fuß des Kleinen Ararat. Der Pascha sah blass und erschöpft aus. Er war ganz von Sinnen, dass sie keiner Seele begegneten. Er verlor jedoch kein einziges Wort, sprach mit niemandem. Seine Gefolgsleute versuchten, aus seinem Verhalten Schlüsse zu ziehen, was er im Schilde führte.
Mullah Kerim, einer der kurdischen Beys, fasste sich ein Herz und sprach den Pascha an: »Mein Pascha, auch wenn wir tausend Jahre lang suchen, werden wir auf diesem riesigen Berg niemanden mehr finden. Wenn diese Bergbewohner sich verstecken, dann tun sie es so gründlich, dass sie nicht einmal der Teufel aufspüren kann. Ich will unter der Erde liegen, wenn das nicht die Wahrheit ist!«
Der Pascha warf ihm einen sorgenvollen Blick zu, schwieg aber.
Sie durchkämmten weiter den Ararat. Der Pascha dachte: »Wenn ich nur außer dem uralten Weisen einen von diesen Bergbewohnern einmal zu Gesicht bekäme, das würde mir ja genügen.«