Die Disteln brennen - Yaşar Kemal - E-Book

Die Disteln brennen E-Book

Yasar Kemal

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Beschreibung

Ali Safa Bey ist süchtig nach der schweren, schwarzen, fruchtbaren Erde der Ebene von Anavarza. Durch Betrug, Feuer und Mord, mithilfe der Polizei, des Gouverneurs und der ganzen Staatsmacht hat er die fruchtbarsten Böden schon in seinen Besitz gebracht. Nur die Bauern des Dorfes Vayvay leisten noch Widerstand. Aber auch sie müssen sich schließlich beugen. Da klopft eines Tages ein abgerissener, ausgehungerter Fremdling an die Tür des alten Osman. Es ist Memed, der legendäre Räuber und Rebell, der in seinem Dorf Unterschlupf sucht.

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Über dieses Buch

Memed, der legendäre Räuber und Rebell kehrt zurück! Er musste lernen, dass selbst der größte Held nichts ausrichtet, wenn er einsam bleibt. Und so unterstützt er die Bauern des Dorfes Vayvay im Widerstand gegen den gierigen, herrschsüchtigen Ali Safa Bey, der die fruchtbaren Böden in seinen Besitz zu bringen versucht.

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Yaşar Kemal (1923-2015) wird der »Sänger und Chronist seines Landes« genannt. Er wuchs in einem Dorf Südanatoliens auf und lebte in Istanbul. 1997 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 2008 wurde er mit dem Türkischen Staatspreis geehrt.

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Helga Dağyeli-Bohne (*1940) übersetzt seit Ende der Siebzigerjahre gemeinsam mit ihrem Mann literarische Texte aus dem Türkischen.

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Yildirim Dağyeli ist Verleger und literarischer Übersetzer. Anfang der Achtzigerjahre gründete er in Berlin den auf türkische Literatur spezialisierten Dağyeli Verlag.

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Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Yaşar Kemal

Die Disteln brennen

Roman

Aus dem Türkischen von Helga Dağyeli-Bohne und Yildirim Dağyeli

Memed-Romane II

E-Book-Ausgabe

Mit einem Bonus-Dokument im Anhang

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 7 Dokumente

Die türkische Erstausgabe erschien 1969 unter dem Titel Ince Memed II.

Originaltitel: Ince Memed II (1969)

© by Yasar Kemal 1969

© by Unionsverlag, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Avni Arbaş

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30791-9

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Version vom 22.06.2022, 10:23h

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Inhaltsverzeichnis

DIE DISTELN BRENNEN

1 – Im Süden der Anavarza-Ebene fließt der Ceyhan …2 – Der Stechdorn wächst in der schönsten, der fruchtbarsten …3 – Osman der Mächtige, der bis zum Morgen keinen …4 – Vom Savrun-Fluss herüber hörte man mehrere Schüsse hintereinander …5 – Der Tag zog herauf. Yobazoğlus Pferd stand reglos …6 – Als sie an die Tür klopften, wartete er …7 – Tau war auf die schweigsame Menge gefallen …8 – Du öffnest heute keinem die Tür«, befahl Osman …9 – Er hieß Müslüm Bey. Es gab ein Riesenfest …10 – Osman der Mächtige bewegte lautlos die Lippen …11 – Als die Kugeln pfiffen, schnellte Osman der Mächtige …12 – Noch bevor der Morgen heraufzog, suchte Osman der …13 – Adem war von kleiner Statur. Nie verzog sich …14 – Der schwarze Krausbart von Ferhat Hodscha begann zu …15 – Das Haus hatten sie also dem Mädchen Seyran …16 – Ali Safa Bey lief zornig im Salon seines …17 – Sie kehrten mit leeren Händen zum Dorf zurück …18 – Sie trug immer ein grünes Kopftuch. Sie war …19 – Seyran stammte aus dem Dorf Harmanca. Harmanca lag …20 – Es war sehr sonnig, sehr heiß. Der dunkle …21 – Es war eine dunstige, schwüle, schwere Nacht …22 – Idris Bey sah aus wie dreißig. Er war …23 – Adem schwebte in tausend Ängsten. Seit dem Vorabend …24 – Die Bauern hatten sich sichtlich verändert. Die Leute …25 – Ali Safa Bey warf einen Blick aus dem …26 – Memed kam nach und nach zu sich …27 – Schlangenköpfe, ungeheuerlich groß, die flammenden Zungen herausgestreckt …28 – Ali der Hinkende folgte einer Spur. Er trug …29 – Der Landrat war ein Mann mit Schmerbauch und …30 – Ali der Hinkende klopfte an der Tür Süleymans …31 – In jener Nacht begann es fürchterlich zu regnen …32 – Nach dem Besuch des Landrats ereignete sich nichts …33 – Anfangs nahmen es die Bauern gar nicht recht …34 – Am Nachmittag umzingelten die Gendarmen zusammen mit der …35 – Die Pferde tummeln sich in der Anavarza36 – Bis zu den Hüften mit Schlamm bedeckt …37 – Muslu, Süleyman der Blonde und Ahmet saßen zu …38 – Ali Safa Bey verstand die Welt nicht mehr …39 – Wirklich ein prächtiger Kerl!«, schwärmte der Hauptmann. »Ein …40 – Auch die Leiche Ibrahims des Schwarzen, über ein …41 – Ich, Osman der Mächtige, gebe das Leben für …42 – Über dem Akçasaz-Sumpf erweiterte der Savrun-Fluss sein mit …43 – Seyran konnte kein Auge zutun in jener Nacht …44 – Ali Safa Bey ließ sich alles gründlich durch …45 – Auf dem Weg, der zu Füßen der Anavarza-Burg …46 – Obwohl bis zum Sonnenaufgang noch reichlich Zeit war …47 – Memed war eben erst eingeschlafen, als ihn ein …48 – Mutter, Mutter«, sagte Seyran. »Mutter Kamer, was ist …49 – Schüsse rissen sie aus dem tiefen Schlaf …50 – Wie jeden Tag kurz vor Sonnenaufgang schlich sich …51 – Bei Allah, er ist es! Bei Allah …52 – Die Julihitze in der Çukurova ist schrecklich …53 – Idris Bey streifte Nacht für Nacht wie ein …54 – Eines Morgens, als es eben hell wurde …55 – D as gelbe, glänzende Licht in seinem Kopf …

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1

Im Süden der Anavarza-Ebene fließt der Ceyhan. Schnurgerade bahnt er seinen Weg vom Hemite-Berg herunter und ohne größere Windungen hinüber zu den Felsen von Anavarza. An manchen Orten haben seine Wasser den Boden tief ausgehöhlt. Das ausgewaschene Erdreich stürzt von Zeit zu Zeit ein und versinkt mit lautem Donnern in den Fluten. Da und dort öffnen sich Abgründe, so steil, als hätte man sie mit dem Schwert eingekerbt, Zeichen ständiger Einbrüche, Klüfte mit gezackten Rändern, die zur Wasserseite hin abfallen und am Flussufer kleine Sandbuchten bilden. An anderen Stellen fließt der Fluss wieder breiter, strömt behäbig dahin und streut seine Kieselsteine über die Ebene. Hier gleiten über dem hellen, seichten Grund in ständigem Hin und Her, einer hinter dem andern, Tausende von großen, in Licht getauchten Karpfen vorüber. Hier wächst niedriges Röhricht an den Flussufern, und mitten im Schilf hüpfen große grüne Frösche, stelzen die Fischreiher umher, mit langen Hälsen und wolkenfarbigem Gefieder.

Da und dort säumen Tamarisken, Keulschlammbäume, Weiden, Erlen und Brombeersträucher die Ufer. Wespen, darunter auch Keulenblattwespen, Hornissen, rote und bläuliche, bauen an ihren Waben. Das Röhricht ist ein einziges Surren und Summen. Und dann kommen die Bienenfresser mit ihren bläulich buntglänzenden Federn, ihre Rücken sind so hart wie die von Käfern, und sie treiben mit ihren langen Schnäbeln tagelang schmale, enge Röhren in die gekerbten Hänge, um schließlich tief im Grund des Bodens ihre Nester zu bauen. Vom Hemite-Berg bis zur Anavarza-Burg liegen diesseits des Wassers, an der Seite der Burg, die Dörfer Hemite, Urhaniye, Selimiye, Endel und Kesikkeli. Da der Fluss ab und an sein Bett verlegt, verliert er sich manchmal weit von den Dörfern in der Ferne, und manchmal dringt er bis in die Häuser vor. Große Überschwemmungen reißen dann halbe Dörfer mit sich davon.

Der Ceyhan bildet bei der Anavarza-Burg eine breite Talsperre. Zu Füßen der Burg staut sich ein großer See, in dem es ständig kocht und strudelt. Das Wasser dreht sich unaufhörlich im Kreis, mit schwindelerregender Geschwindigkeit, ist übersät mit kleinen Wirbeln, in denen das Wasser, eben erst hinabgezogen, seinen feinen Schaum wieder und wieder an die Oberfläche spritzt. Wenn ein Aststück oder ein Blatt ins Wasser fällt, dreht es sich pausenlos um sich selbst, gleitet von einem Wirbel in den nächsten, bevor es schließlich weitergetrieben wird von dieser Talsperre zur nächsten. Und wenn Tausende und Abertausende von Schmetterlingen über dem Wasser gaukeln, dann schnellen Welse, größer als ein Mensch, aus dem Wasser und reißen ihr breites, schnurrbärtiges Maul auf. Sie packen eine Masse von Schmetterlingen und tauchen wieder unter. Und auf dem Wasser bleibt ein gelber Schaum zurück.

Die Felsen der Anavarza-Burg gleichen einem Schiff, das von Norden nach Süden dahinzieht. Mit seinen alten, eingestürzten Mauern gleitet das Schiff von Anavarza dahin, auf einem stets ruhigen Meer, gemächlich, ohne zu schwanken.

Wenn man die großen, weglosen, violetten Felsen von Anavarza erklimmt und sich nach Osten wendet, erblickt man als Erstes den Hemite-Berg mit seiner Wolkenkrone. Und wenn sich das Firmament unter der aufgehenden Sonne heller färbt und die Wolken steigen, fällt der Blick auf die Baumgruppen und das Grabmal auf dem obersten Gipfel des Hemite. Die Höhen, die ihn umgeben, sind flacher und stärker gerundet. Die Gegend um das Dorf Bozkuyu ist kahl, nichts als graue Erde. Aus der Ferne wirkt sie wie ein weißer Fleck. Bei dem Dorf Cigcik verfärbt sich die Erde, wird dunkler; hier beginnt auch der Wald mit seinem Grün und setzt sich fort in einem Meer von Blumen. Mitten in den Feldern von Cigcik liegt eines, das mit byzantinischem Mosaik übersät ist. Es blüht mitten in der Ebene auf, wie ein großer, wilder Garten.

Im Norden erstreckt sich Kadirli mit seinem Sülemis-Hügel … Er ist mit immergrünen Büschen bestanden. Ihm zu Füßen entspringt der Savrun-Bach, der seine Wasser ins Tal hinabgießt. Im Nordwesten des Tales verläuft die Landstraße nach Kozan … Der Sumbas-Bach teilt sie entzwei und fließt hinüber zu den Felsen von Anavarza.

Die andere Talsperre des Sumbas liegt an der westlichen Flanke der Anavarza-Burg, gegenüber dem Dorf Hacilar … Auf der anderen Seite liegt das Dorf Aslan … Dort wohnen die letzten Lek-Kurden, die Alten nennen sie »Raubvögel«. Noch weiter in der Ferne erhebt sich Dumlukale, wie ein Schiff segelt es mit aufgeblähten Segeln in Windeseile zum Mittelmeer, als flöge es … Dumlukale verbirgt sich immer hinter einer Dunstwand. Seine roten Felsen dampfen in der Hitze.

Dies ist die fruchtbare Anavarza-Ebene. Mitten hindurch zieht sich der endlose, dunkle Akçasaz-Sumpf, aus dem dumpf ein Brummen steigt, in dessen Röhricht und Schilf sich jedoch kein Vogel, keine Schlange verirrt. Aus Schilfrohr gebaute Hütten turkmenischer Dörfer umsäumen sie … Der Akçasaz-Sumpf beginnt im Süden, dort, wo sich der Savrun in den Ceyhan ergießt, und er endet im Norden genau an der Stelle, wo, unmittelbar an seinen Ufern, das Dorf Vayvay liegt.

Die fruchtbare Erde von Anavarza trägt dreimal im Jahr Ernte. Und jeden Tag sprießt aus dieser schwarzen, fetten, vertrauten Erde, diesem trächtigen, frischen Boden eine neue Pflanze. Jede schießt hoch und überragt, was in anderer Erde wächst, um das Drei- bis Fünffache. Sogar die Blüten, die grün aufbrechenden Gräser, die Bäume sind völlig anders in ihren Farben. Ihr Grün ist kristallklar, ihr Gelb bernsteinfarben. Ihr Rot glänzt, züngelt wie Feuer, ihr Blau leuchtet tausendmal tiefer. Die Flügel, die Panzer, die Rücken der Käfer, Ameisen, der Schmetterlinge und Vögel schillern hier in tausend zauberhaften Farben. Die Käfer der Ebene, die Schmetterlinge, die Vögel und Heuschrecken sammeln sich zu einem tosenden Sturm. Eines Tages erhebt er sich, ein Sturm aus unzähligen Schmetterlingen, in tausend Farben leuchtend, und braust über die Anavarza-Ebene hinweg. Bäume, Gräser, Steine, Lehm, Erde und Himmel verwandeln sich in Schmetterlinge. Tausend-, millionenfach wirbeln sie umher, gelb, rot, grün, blau und weiß, jeder Einzelne groß wie ein Vogel, in einem einzigen riesigen Schwarm, nichts als Schmetterlinge, wie eine Flut branden sie gegen den Himmel und fallen wieder ins Tal herab, erheben sich mit einemmal erneut in die Lüfte, steigen, Wolke um Wolke, wieder empor und verwandeln die Gegend in eine entrückte, ganz und gar veränderte Zauberwelt. An einem anderen Tag geschieht es, dass die großen roten Waldameisen, auf ihren langen Beinen federnd, in die Ebene einfallen und sie von einem Ende zum anderen durchqueren. Und dann wieder weht der Wind die Keulenblattwespen herbei, mit ihren gesprenkelten Flügeln.

Auch die Leuchtkäfer in diesem Tal sind riesig. Nachts ist die Ebene über und über in Licht getaucht, als seien dort Sterne ausgestreut. Bis zum Morgen erglühen Gräser und Bäume, Blumen, Blätter und Zweige, um dann wieder zu verlöschen. Und die Leuchtkäfer sind so zahlreich, dass sie gezwungen sind, übereinanderzufliegen. Es tobt dann Feuersbrunst, ein Sturm aus lauter Sternen. Diese Sternenfeuer auf Erden und am Himmel lodern empor, verbinden sich, verschmelzen. Grüne Fliegen, Heuschrecken, Leuchtkäfer mit ornamentgeschmückten Panzern, alles wirbelt im Sturm.

Jedes Gras und jeder Baum, jeder Käfer und jeder Vogel, jedes Tier paart sich unaufhörlich, zeugt ständig neues Leben. Die Lebewesen in der Anavarza-Ebene sind anders als alle anderen. Sie sind die Lebewesen einer fruchtbaren, gesunden, gleißenden Zauberwelt.

Am Ufer des Akçasaz-Sumpfes stehen landeinwärts Narzissen über Narzissen. Sie reichen einem bis zum Nabel hoch. Ihre Blüten sind so groß wie Rosenblüten. Rings um den Sumpf erstrecken sich gelbe Narzissenfelder. Deshalb strömt im Frühling kein Sumpfgeruch aus dem Akçasaz. Der leichte Duft entsteigt der sanften Erde, legt sich auf die Hitze, auf Steine, Gräser und Bäume, auf Menschen, Käfer und Vögel … Im Frühling riecht in Anavarza alles, Fliegen, Käfer, Wölfe und Vögel, nach Narzissen. Tagsüber hängt der Duft schwer in der Sonne. Im Frühling taumeln die Menschen von Akçasaz wie Betrunkene, ihnen dreht sich der Kopf. In Anavarza dreht sich allen Lebewesen der Kopf, auch den Vögeln und Wölfen.

Drei Gazellen mit schwarzen Augenlidern, die letzten aus fernen Zeiten, als Tausende von ihnen der Wüste entsprangen und die Ebene bevölkerten, jagen blitzschnell durch das Tal, mitten durch die Schwärme von Schmetterlingen, Heuschrecken, Käfern, Wespen und Vögeln und durch den Narzissenduft, vom Hemite-Berg abwärts zur Anavarza-Burg, von der Anavarza-Burg bis hinter die Ortschaft Vayvay, von Vayvay nach Hacilar, an Dumlu vorbei bis zum Ufer des Ceyhan, sie kommen und gehen, tagein, tagaus. Kein Lebewesen vergreift sich an ihnen, keine Schlange, kein Riesenläufer, auch kein Raubvogel oder Adler, kein Mensch, kein Wolf, Schakal oder Hund. Sie schwirren frei und ungebunden durch die Ebene, wie die letzten heiligen Lebewesen.

Das Röhricht des Akçasaz-Sumpfes steht so dicht, dass keine Kugel hindurchkommt, keine Schlange hineinfindet. Mancherorts brodelt es im Sumpf, zischt das Wasser wie Feuer, dass man unmöglich einen Finger hineinstecken könnte, er würde glatt verbrennen. An anderen Stellen zeigt sich das Wasser jedoch ganz anders, hat mit jenem brodelnden Etwas nichts mehr zu tun. Auf seinem hell leuchtenden Grund liegen Kieselsteine; es ist eiskalt. Bis zu den Kieseln hinab sickert das Sonnenlicht und wirft Kringel. Wieder ein Stück weiter liegt das Wasser trüb und faul da und stinkt.

Auch die Erde im Sumpf ist nicht überall die gleiche. Sie verändert ständig ihr Aussehen. Hier hohes, baumlanges Schilfrohr, dort kleine, stämmige Gräser und kurzstielige, leuchtende Felsblumen … Bisweilen flach daliegende sattgrüne Wiesen. Dann wieder ein dichter Hain mit riesigen Bäumen, die den Himmel verdecken … Die vielfältigsten Bäume und Gräser in bunter Farbenpracht … Efeu in allerlei Formen. Es blüht blau in der aufgehenden Sonne, entfaltet Blüten, groß wie zwei Handteller. Dichtes Röhricht, Hundsrosen, helle, auf dem Wasser schwimmende Seerosen, ausladend wie ausgebreitete Arme. Und Karpfen, Welse, Schildkröten, große Wasserfrösche … Mückenschwärme. Vipern, Nattern, rotschwänzige Füchse, feige Schakale, Tausende von grauen, grünlichen, langbeinigen, langhalsigen Wasservögeln.

Wenn man vom Taurusgebirge in die Ebene kommt, herrscht dort vollkommene Stille. Kein Vogelgezwitscher, kein Rauschen von Wasser, keine Menschenstimme ist zu vernehmen. Das flache Tal schluckt alle Geräusche. Vor allem wenn die Sonne scheint, und in brütender Hitze hört man hier nicht den leisesten Ton. So bleibt es, bis man sich Akçasaz nähert. Dann aber bricht mit einem Mal ein Getöse los, das den Menschen in Verwirrung stürzt, ihm das Blut in den Adern erstarren lässt. Aus dem Sumpf dröhnt ein Gewirr der verschiedensten, merkwürdigsten Laute. Kreischende Vogelstimmen, Quaken von Fröschen, das Brodeln des Sumpfwassers, seltsames Surren von Käfern, das Rauschen des Hains und das Raunen des Schilfrohrs vermischen sich und donnern ans Ufer wie eine Kanone. Akçasaz ist furchterregend. Aus diesem Grund betreten die Menschen ihn nicht gerne.

Im Herzen der Çukurova, mitten in ihrer Hitze breitet sich fruchtbar und wollüstig die Erde von Anavarza aus, mit ihrer tausendjährigen toten Stadt, den Burgen auf steilen Felshängen, dem ungebändigt über die Ufer tretenden Ceyhan-Fluss, den Bächen Savrun und Sumbas mit ihren Vögeln, Adlern, den riesenhaften Blumen und Käfern, den Feldern, die ein Samenkorn tausendfach zurückgeben, mit Akçasaz, seinen klaren Quellen, die unter der gelben Hitze eiskalt sprudeln, den staubigen Wegen, den fliegenden Fischen und seinem fruchtbaren, immer aufs Neue sich fortpflanzenden, ununterbrochen Leben spendenden Reichtum.

Wenn die Sonne sich über die Felsen von Anavarza gegen Westen neigt, heben sich gegen den sinkenden Feuerball die Umrisse eines Schmetterlings ab, kerzengerade thront er auf einem Zweig der Besenheide, ein bunt gemusterter, pomeranzfarbener Schmetterling, groß wie ein Vogel, er faltet die Flügel auf dem Rücken, streicht sich mit den Beinen über Kopf und Augen, durch seinen zierlichen Körper läuft ein feines Zittern. In dem Augenblick, wo die Sonne versinkt, werden die ganze Ebene, alle Bäume und Gewässer, die Erde und der Himmel in Blau getaucht. Auch der Schmetterling färbt sich blau.

Die Erde von Anavarza ist eigentlich keine Erde, sondern blankes Gold. Nur Ali Safa Bey weiß das, nur er verspürt bis ins Innerste die Lockung, die von dieser Erde ausgeht. Jeder Mensch, ob gut oder schlecht, kennt die Liebe, die Leidenschaft. Ali Safa Bey dagegen kennt die Schwermut, die unheilbare Schwermut, das schlimmste aller Übel. Ali Safa Beys Leidenschaft gilt der strotzenden schwarzen Erde von Anavarza. Jeden Tag, wenn die Welt aufs Neue erwacht und die Sonne emporsteigt, stellt sich Ali Safa Bey breitbeinig auf die schwarze Erde, lässt den Blick über die Ebene schweifen und zittert lüstern vor Wohlbehagen. Er betrachtet den erwachenden Tag, die durcheinanderkrabbelnden Käfer, die kriechenden, gesunden, fetten Schlangen, die aufeinanderklebenden großen Wasserfrösche mit ihrem frisch leuchtenden Grün, die schnellen Schildkröten, die Käfer mit ihren harten, in tausend Farben schillernden Panzern, die Wespen, die Vögel, die Gazellen, die riesigen Blumen, den aufsprießenden Weizen, die satten, grün aufbrechenden Reisfelder, die Schmetterlinge, die Bäche, die Sümpfe, die Quellen, die Wege, die Staubsäulen, die silbernen Wolken, die sich auf ihrer Wanderung ausregnen; sein Blick ruht auf dieser brodelnden, überschäumenden, wirbelnden, ununterbrochen sich paarenden und neues Leben zeugenden Welt, einer Welt, die allen Schrecken einflößt, einen Schrecken wie am Jüngsten Tag, und die immer wieder neu entsteht, es schwindelt ihm bei diesem Gedanken, er verliert fast den Verstand. Und er möchte die Ebene in seine Arme nehmen und an sich drücken … Früher gehörte ihm hier keine Handvoll Erde, heute jedoch nennt er ganze Güter sein Eigen und hat noch immer nicht genug. Warum eigentlich nicht von der ganzen Ebene Besitz ergreifen? Warum nicht seine Felder noch mehr, noch weiter vergrößern? Leben heißt kämpfen, sagte Ali Safa Bey immer. Noch mehr, immer noch mehr Felder. War das Leben nicht Kampf, so taugte es nichts. Und der Kampf um die Erde ist schließlich der heiligste aller Kämpfe. Wenn das Menschengeschlecht nicht kämpfte auf dieser Welt, was war es dann überhaupt wert? Was unterschied es dann noch vom Gras, vom Staubkorn?

Der Kampf um die Erde wurde jedoch zusehends schwieriger. Die Turkmenen, die unter Zwang angesiedelt wurden, in dieser Hitze, unter den vielen Mücken, und die dem sesshaften Leben in den Strohhütten lange feindselig gegenüberstanden, sie hatten mit der Zeit begriffen, dass diese Erde ihre einzige Zukunft war. Die Zeiten waren längst vorüber, in denen er fünfzig Morgen Land gegen fünf Kilo Salz, eine Ziege, zehn Lira, ein Fohlen oder eine Kuh getauscht hatte. Vor fünfzehn bis zwanzig Jahren konnte man noch ein Dorf mitsamt den Feldern und Häusern für dreitausend Lira kaufen und die Bauern anderswohin umsiedeln. Jetzt aber hatten die Zeiten sich gewaltig geändert. Die Bewohner dieser Strohhütten wären sogar imstande gewesen, für ihr Land Blut zu vergießen. Ali Safa Bey bedauerte zutiefst, dass er sein Geschäft nicht mehr im Geheimen betrieben hatte. Er hätte seine Leidenschaft nicht so deutlich zeigen sollen. Er selbst hatte den Bauern die Augen geöffnet, durch seine Gier und seine Wertschätzung dieses Bodens. Gegen einmal hellhörig gewordene Bauern zu kämpfen war zwar schwierig, doch er genoss es. Es gereichte einem Menschen zur Ehre. Und es war richtig, dass man ein so kostbares Gut wie diese Erde nicht so leichthin im Handumdrehen erwerben konnte.

Eines der Dörfer in der Anavarza-Ebene ist das Dorf Vayvay. Im Vergleich zu anderen Dörfern ist es klein. Die Bauern in Vayvay standen Ali Safa Bey im Weg. Weder der Schrecken, den ihnen die Banditen oder die Regierung einjagten, noch gute noch schlechte Worte konnten sie zur Vernunft bringen. Sie kämpften wie das Kraut der Unsterblichkeit, das sich in der Erde festklammert, und boten unerschrocken allen Heimsuchungen die Stirn. Hätte Ali Safa Bey erst einmal das Dorf Vayvay herumgekriegt, so hätte sich alles andere von allein erledigt. Der Rest hätte sich von allein gegeben. Ganz Anavarza wäre ihm in den Schoß gefallen, so leicht, wie eine Masche im Strumpf läuft.

Das Dorf Vayvay liegt über der Ebene, eine halbe Stunde vor dem Berg Topraktepe, zur Rechten des Röhrichts von Dedefakili, dort, wo der Savrun-Bach seine Kieselsteine verstreut, breit und seicht wird. Alle Häuser des Dorfes sind Hütten aus Schilf und Besenheide. Sie schauen ungehindert auf die Anavarza-Ebene hinab. Vom Ceyhan-Fluss bis zum Sülemis-Hügel ist die Ebene so flach, dass sie trotz ihren Sümpfen, Dörfern, Hügeln, dem Röhricht und den baumbestandenen Hainen einem Meer gleicht. Kurz vor Sonnenaufgang leuchtet sie in einem einzigen Weiß, genau wie das Meer. Nicht der geringste Laut. Diese Erde, die sonst jedes Geräusch tausendfältig vervielfacht, verstummt dann. Solange das Tal noch weiß glänzt, reckt auf einem Zweig der Besenheide ein pomeranzfarbener Schmetterling, groß wie ein Vogel, seine aufgerichteten, bebenden Flügel und die Vorderbeine, mit denen er sich über den Kopf streicht, der aufgehenden Sonne entgegen.

2

Der Stechdorn wächst in der schönsten, der fruchtbarsten Erde. Er übertrifft den Menschen zwar nicht an Größe, aber aus jeder einzigen seiner Wurzeln sprießen zahlreiche neue Triebe. Der junge Stechdorn ist honigfarben. Je älter er wird, desto dunkler wird dieser Ton. Er ist der Erste, der im Frühling Knospen treibt, Blätter ansetzt und die gelben Blüten öffnet. Die Stechdornblätter sind anfangs zartgrün, die hellen Blüten von einem zarten Gelb; später dann verwandeln sich die Blätter in ein dunkles Grün, ein Grün, das fast ins Schwarze spielt … Auch das Gelb der Blüten wechselt mit Beginn des Sommers in ein Orange.

Die Stechdornhaine erstrecken sich über Hunderte von Morgen Land in der Çukurova, in der Anavarza-Ebene. Es sind Flecken, die noch keine Axt berührt, kein Vogel gestreift, keine Karawane durchzogen hat.

Der Stechdorn ist ein Busch mit stahlharten Dornen. Kurz und dreieckig bedecken sie den ganzen Stamm bis hoch in den Wipfel und hinab zu den Wurzeln, sitzen auch noch auf den dünnsten Zweigen. Geht der Stechdorn vom Honiggelb ins Schwarze über, werden auch seine Dornen härter, hart wie Eisennägel. Seine Wurzeln sehen seltsam aus, reichen tief hinab und sind gekrümmt. Einen Stechdorn aus der Erde zu reißen ist eine schwierige Sache. Er krallt sich fest in die Erde, ist untrennbar mit ihr verbunden. In einen Stechdornhain verirren sich keine Pferde, Esel, keine Rinder, Wildschweine oder Wölfe. Die Hunde machen einen Bogen um ihn. Täuscht sich aber doch einmal einer und wagt sich hinein, kommt er blutüberströmt wieder zurück. Ein Stechdornhain dient jedoch den Hasen als Zuflucht, auch den Dachsen und den kleinen Schakalen. Außerdem sieht man dort dann und wann mal Füchse mit zerzupften, rot leuchtenden Schwänzen.

In den Frühlingsmonaten tummeln sich dort scharenweise die Wespen. An den harten Dornen der Zweige hängen dann zu Tausenden die Waben der Wespen, der Keulenblattwespen, der bläulichen Hornissen … Und Tausende, Millionen von Bienen, eben ihren Stöcken entflogen, surren im Stechdorndickicht hin und her, als wollten sie schwärmen.

Auch Spinnen weben ihr Netz im Stechdornhain. Morgens bei Sonnenaufgang sieht er aus, als hätte er sich in einen dünnen, weißen Schleier gehüllt. Die zwischen den Stechdornen aufgespannten großen Netze schwingen im Morgenwind.

Feiner Regen sprühte herab, fast unmerklich, fein wie Staub. Kein Lüftchen regte sich. Über der Anavarza-Ebene lag Dunst. Der Tag brach an. Im Osten jenseits des Nebels leuchtete ein milchig trübes Licht auf und verschwand wieder. Der Mann, in einen silberbestickten Filzumhang gehüllt, ließ den Kopf auf seinem Gewehr ruhen, das er gegen den Fuß eines Stechdorns gelehnt hatte, und schlief ganz zusammengekrümmt, mit bis zum Bauch hochgezogenen Knien. Gerade über ihm zog kreischend über den Stechdorn hinweg ein Vogelschwarm, und ein Gezeter wie am Jüngsten Tag erhob sich, sodass der Mann die Augen aufschlug, um sie jedoch gleich wieder zu schließen. Etwas später richtete er sich auf, rieb sich die Augen und schaute achtlos um sich. Sein Körper war eingeschlafen, die Knie schmerzten ihn. Er reckte sich und stand auf, fühlte einen faden Geschmack im Mund und musste ausspucken. Er traf mitten auf ein Spinnennetz, das zerriss und in die Astgabel eines Stechdorns fiel. Er bückte sich, hob das Gewehr vom Boden auf und legte es sich über die Schulter. Sein langer tscherkessischer Dolch mit silbernen Ornamenten, fein ziseliert nach der Art von Tula, hing ihm von der linken Hüfte bis zu den Knien hinab. Dicht daneben steckte seine Nagant-Pistole. Über dem groben, handgewebten, bunten Seidenhemd trug er drei Patronentaschen … Der große schwarze Feldstecher, der ihm um den Hals hing, sah so neu aus, als habe ihn noch niemand berührt. Auch die aus bestickter, dicker Haut gefertigten Bauernschuhe waren neu. Die bestickten Wollstrümpfe reichten ihm bis zum Knie. Er hatte sie über die Pluderhose aus Wollstoff gezogen, eine mit Walnusshaut hellbraun gefärbte Pluderhose, wie sie die Bauern im Taurus weben.

Das Krähen der Hähne und das Hundegebell kamen aus drei Richtungen. Der Mann wandte sich nach Süden, konnte dort aber nichts Bestimmtes erspähen. Nur ein lang gezogenes Kikeriki hallte herüber. Im Westen ein dumpfes Dröhnen. Da und dort quakten Frösche noch von der Nacht her. Aus dem Osten erhob sich ein angenehmes Brausen, das dann aber jäh abbrach. Und aus der Ferne, außerhalb des Stechdorndickichts, drang ein langes, schrilles Pfeifen an sein Ohr. Die Luft war klebrig vor Hitze. Der Tag war bereits voll erwacht, die Sonne stieg bis zu den Minaretten empor. Im undurchdringlichen Nebel des herabrieselnden Regens verschwammen ihre Konturen.

Er marschierte nach Osten. Alle Kraft war von ihm gewichen, seine Knie gaben nach. Seit vier Tagen war er nun unterwegs. Obwohl sein Proviant gestern Mittag zur Neige ging, verspürte er keinen Hunger. Er kam gar nicht dazu, daran zu denken. Vor vier Tagen hatten ihn Soldaten in Savrungözü umzingelt. Zahlreich waren sie gewesen, über ihn hatte es Kugeln geregnet wie Regentropfen. Zum Glück hatte schon der Abend heraufgedämmert, als man ihn einkreiste. Als es dunkel wurde, setzte außerdem Regen ein. Gegen Mitternacht schlich er sich durch den Ring aus Soldaten, klammheimlich wie eine Katze, ohne das leiseste Geräusch. Auf dem Gebirge gab es kein Entrinnen mehr. Auf den Bergen und Felsen wimmelte es nur so von Soldaten; eine Meute von mit Steinen, Stöcken und Gewehren bewaffneten Bauern hatte sich zudem auf die Seite der Soldaten geschlagen und durchkämmte das ganze Röhricht, Höhle um Höhle auf der Suche nach Räubern. Vor einer Woche erst hatten Tausende von ihnen den unbezwingbaren Gipfel eines riesigen Berges erklommen und Ali den Mächtigen festgenommen, der sich dorthin zurückgezogen hatte.

Die einzige Zuflucht, der einzige Hoffnungsschimmer, der einzige rettende Ausweg war das Dorf Vayvay, und dort wiederum Osman der Mächtige. Er war sich noch nicht recht schlüssig: Womöglich würden ihn die Bauern von Vayvay auf der Stelle der Obrigkeit übergeben, kaum hatte er den Fuß in ihr Dorf gesetzt. Vielleicht aber würden sie ihn wie einen Sohn, wie einen Bruder aufnehmen. Überdies war Osman der Mächtige sehr alt, stand schon mit einem Fuß im Grab … Schon lange hatte er nichts mehr von ihm gehört. Und wenn er schon tot war, wer sonst in Vayvay konnte sich an ihn erinnern? Auf seinem Weg hatte er bei Ümmet dem Blonden übernachtet, doch der hatte vor Angst nur so gebebt. Wenn nun auch Osman den Mächtigen die Angst gepackt hatte? Er war zwar ein tapferer Greis mit einem offenen Herzen, der schon vieles mitgemacht hatte; aber auch er war schließlich nur ein Mensch …

Alles Denken und Grübeln half da nicht weiter, wie es auch enden mochte, er wollte nun einmal in das Dorf Vayvay gehen. Selbst wenn es einen anderen Ausweg gegeben hätte, wenn er anderswo hätte Zuflucht finden können, er wünschte sich nichts sehnlicher, als Vayvay wiederzusehen. Die Neugier trieb ihn: Osman der Mächtige und die Bauern, die ihn einst so herzlich und freundschaftlich aufgenommen hatten, wie würden sie ihn wohl jetzt empfangen? Er dachte an das Schicksal von Ali dem Mächtigen, dem Freund der Armen und Feind der Reichen, der ihnen nie ein Haar gekrümmt hatte, ihnen vielmehr stets zu Hilfe gekommen war. Die Bauern hatten ihn auf dem Gipfel festgenommen, ihn geprügelt und bespuckt, zum Kommandanten geschleppt und gesagt: »Kommandant, mögen alle deine Feinde bald den Tod finden wie dieser!« Danach hatten sie drei Tage und drei Nächte lang gefeiert.

Er stellte sich vor, wie Osman der Mächtige ihn an Händen und Armen fesseln und zu Ali Safa Bey bringen würde … Was für ein Mensch dieser Ali Safa Bey wohl war?

Als er sich letzte Nacht in das Stechdorngestrüpp flüchtete, hatte er sich darin die Beine zerschunden. Die Wunden schmerzten. Der Regen rieselte ununterbrochen, beinahe unsichtbar. In den durchnässten Waben kauerten sich die Wespen aneinander …

Das Gestrüpp war so dicht, dass er nur langsam vorankam.

Bis Mittag lief er weiter und geriet schließlich mitten in das Schwemmland eines Flussbetts. Es durchzog das Dickicht, durchschnitt es. An einem Abhang vor einer Anhöhe, wo vier aufgeschwemmte Flussbetten sich trafen, sah er drei riesige Bäume stehen. Der Stamm des Baumes in der Mitte war morsch und so stark ausgehöhlt, dass zwei Männer darin Platz finden konnten. Er stieg in den hohlen Baum und lehnte sich an. Der Regen hatte nicht durch seinen Filzüberwurf dringen können, sodass er am Körper noch trocken war. Nur seine Beine und Füße waren nass. Er nahm das Gewehr ab und stützte es an den Baum. Dann griff er nach dem Feldstecher, dem Dolch, der Pistole und legte sie alle daneben. Er schloss die Augen. Der Hunger plagte ihn jetzt, doch er achtete nicht weiter darauf. Ümmet der Blonde hatte ihm die Stelle beschrieben, wo das Dorf Vayvay lag: »Von unten, von Narlikisla aus überquerst du den Savrun und erreichst das Stechdorndickicht. Von dort aus musst du bergan laufen und gelangst schließlich zu einer Anhöhe. Dort siehst du drei Bäume am Hang stehen. Von da an sind es noch zwei Stunden bis zum Dorf Vayvay. Du musst es in der Nacht aufsuchen. Über den Dorfplatz ragt ein riesiger Baum, an dessen Fuß sich ein blendend weißer Marmorstein mit einer Inschrift erhebt. Selbst in der Nacht leuchtet er. Glänzt wie ein Licht. Wenn du zu diesem Baum kommst, musst du dich mit dem Rücken an ihn lehnen, dein Gesicht nach Süden wenden und in diese Richtung weitergehen. Selbst wenn es stockdunkel ist und man nichts erkennen kann, musst du dorthin laufen. Du wirst an eine Tür gelangen. Ruf dann nach Osman dem Mächtigen. Und die Tür wird sich sofort öffnen.« 

»Und wenn sie sich nicht öffnet?«, ging es ihm durch den Kopf. »Was dann? Und wenn sie sich öffnet und sich dahinter die Männer des Dorfes versammelt haben?« Halb träumend, halb in Gedanken verbrachte er die Zeit bis zum Abend in der Baumhöhle. Schließlich kletterte er hinaus. Es hatte sich ein wenig abgekühlt, der Regen nieselte noch immer. Da und dort stand ein heller Schein am Himmel, und der Nachtnebel ließ sich gerade im Stechdornhain nieder. Die Stechdornblüten strömten einen süßen, betäubenden Duft aus.

Das Gewehr, den Feldstecher, den Dolch, alles, was er mit sich trug, ließ er unter seinem Filzüberwurf verschwinden. Niemand hätte davon etwas bemerkt. Dieser Überwurf hatte nur einen Nachteil, nämlich, dass man ihn in der Çukurova nicht trug. Er gehörte zur Kleidung der Bergbauern. Aber wer konnte in der Nacht überhaupt sehen, was er trug?

In der Ferne leuchtete hell ein kleines, glänzendes Licht auf. Er war so erschöpft, dass er sich nur noch vorwärts schleppen konnte. Der Regen tropfte. Als er Dung roch, wurde er hellwach. Er hatte den Stechdornhain hinter sich und erreichte die ersten Häuser des Dorfes. Ein Hund heulte mit hoher, durchdringender Stimme. Es war stockfinster. Jetzt bedrängten ihn keine quälenden Gedanken mehr, und doch – er wusste nicht, warum – schlug ihm das Herz bis zum Hals. Als er den Fuß in das Dorf setzte, kam ihm ein Mann entgegen, was ihn jedoch nicht aus der Ruhe brachte. Er lief geradewegs auf ihn zu, grüßte ihn und ging an ihm vorbei.

Der Mann erwiderte den Gruß.

Obwohl ihm die Stimme unbekannt war, fügte er hinzu: »Viel Glück auf deinem Weg, Reisender, woher kommst du, wohin gehst du? So spät in der Nacht!«

»Ich komme aus den Bergen«, antwortete er. »Will nach Narlikisla.«

Der Mann ließ es dabei bewenden und sagte bloß leise: »Viel Glück auf dem Weg!«

»Danke«, antwortete er und zitterte dabei unwillkürlich.

Der Weg teilte das Dorf in zwei Hälften. Rechts hoben sich die dunklen Umrisse eines großen Baumes ab. Er ging dicht heran und blieb zu Füßen des Baumes stehen. Der weiße Marmorstein mit der Inschrift schimmerte. Nur in einem einzigen Haus brannte Licht, sonst lag alles im Dunkel. Totenstille … Er lehnte sich gegen den Baum. Die Müdigkeit steckte ihm so in den Knochen, dass er eine Weile so stehen blieb. Sein Herz schlug schnell. Wo hier Süden, Westen, wo Norden und Osten lag, konnte er beim besten Willen nicht unterscheiden. Ihm war schwindlig. Der Regen rieselte, und in den Zweigen des riesigen Baumes rauschte es. Er richtete sich auf und lief einfach drauflos. Kurz darauf stieß er gegen den Zaun vor einem Haus und tastete sich bis zur Tür vor.

»Osman Aga, Osman Aga, o Osman Agaaa …«

»Wer ist denn da?«, fragte eine verschlafene, tiefe Männerstimme.

»Ein Gast Gottes.«

Augenblicklich öffnete sich die Tür. »Bitte, Bruder«, sagte ein mit Hemd und Unterhose bekleideter Mann. »Bitte sehr, ich mache gleich Licht.«

»Ich suche das Haus von Osman Aga dem Mächtigen. Dies ist es doch, oder?«

»Warte, Bruder, ich ziehe mir nur was über und bringe dich zu ihm. Komm solange herein. Regnet es?«

»Ja, es nieselt.«

Der Mann kam sofort zurück, schritt vor ihm her, und sie gelangten, ohne noch ein Wort miteinander zu reden, zum Haus Osmans des Mächtigen.

»Osman Aga, Osman Aga, hier ist Besuch für dich, ich habe ihn hergebracht.«

Die Tür öffnete sich unverzüglich. Eine Frauenstimme sagte: »Willkommen, Gast, du bringst Freude, Gast Gottes. Komm auch mit herein, Veli. Es ist doch noch früh. Osman der Mächtige bessert gerade einen Tragsattel aus.«

»Ich bin müde«, sagte der Mann und ging wieder.

»Danke, Veli«, rief die Frau hinter ihm her und bat den Gast herein. »Bitte, Bruder.«

Vom Herd her drang die tiefe Stimme Osmans des Mächtigen: »Wer ist denn da?«

»Ich kenne ihn nicht«, sagte die Frau. »Ein Gast Gottes. Er trägt einen Überwurf. Muss ein Bergbauer sein.«

»Bergbauer ist er?«, fragte Osman der Mächtige. »So, so, Bergbauer also. Nun gut, er soll uns willkommen sein, soll uns Freude bringen. Tritt näher heran an den Herd. Setz dich hierher. Regnet es draußen?«

»Es nieselt.«

Osman der Mächtige legte den Tragsattel zur Seite und musterte den Ankömmling, der vor ihm stehen geblieben war, von Kopf bis Fuß. »Warum bleibst du denn stehen? Setz dich, Bruder, bei Gott, so setz dich doch. Was ist los mit dir?«

Er konnte sich aber nicht setzen, sonst wäre sein Gewehr zum Vorschein gekommen.

Osman der Mächtige stand auf und legte seinem Gast mit sanfter Gewalt die Hand auf die Schulter: »Setz dich, mein Sohn.«

Aber wieder kam er dieser Aufforderung nicht nach.

»Kamer, bring ein Bett her und leg es unserem werten Gast auf den Boden.«

Vom anderen Ende des Hauses antwortete die Frau: »Ich bin schon dabei.«

»Mein Sohn, mein Gast, dein Überwurf ist ja ganz nass. Woher kommst du, wohin willst du?«

Fröhlich erwiderte er: »Ich komme aus den Bergen und will zu Osman dem Mächtigen.«

»So, so, du willst zu Osman dem Mächtigen, seltsam.«

»Ja, seltsam«, entgegnete der Gast.

Mutter Kamer brachte das Bett und legte es links neben den Herd. »Bitte sehr, Bruder.«

»Setz dich doch, mein Sohn!«, rief Osman der Mächtige. »Zieh deinen Überwurf aus und nimm Platz. Das erlebe ich zum ersten Mal in meinem Leben, dass ein Gast sich nicht setzen will.«

Er blieb unschlüssig stehen und machte keine Anstalten, sich auszuziehen.

Kamer trat neben Osman den Mächtigen und flüsterte ihm ins Ohr: »Mit diesem Jungen stimmt etwas nicht.«

»Was ist denn nicht in Ordnung?«, fragte Osman der Mächtige mitfühlend. »Fehlt dir etwas, mein Gast?«

»Hast du mich nicht erkannt, Onkel Osman?«, fragte dieser liebevoll und lächelte.

Osman der Mächtige stellte sich dicht neben ihn, legte ihm die Hand auf die Schulter und blickte ihm ins Gesicht. »Ince Memed, mein Falke, mein Sohn! Gast, du ähnelst ja meinem Sohn, meinem Falken!«, rief er und umarmte Ince Memed. Er zitterte, zitterte am ganzen Leib, zitterte wie Espenlaub. »Bist dus, bist du mein Falke, Gast? Bist du Gottes Gast? Bist dus wirklich?«

Memed war außerstande, auch nur ein einziges Wort hervorzubringen. Er stand da wie angewurzelt. Es schien ihm wie ein süßer Traum.

»Kamer, du bist mit Blindheit geschlagen, komm her, schau doch, wer da gekommen ist! Komm, Kamer, so komm schon!«

Von der anderen Seite des lang gestreckten Hauses her ließ die Frau sich vernehmen: »Was sagst du da, Osman, was meinst du?«

»Komm, komm!«, rief Osman der Mächtige. »Komm her, komm und sieh, wer da ist, wer da gekommen ist!«

»Nun, und wer ist denn gekommen, Osman?«, fragte Kamer zurück.

»Mein Falke!«, schrie Osman der Mächtige. »Mein Falke, mein Falke!«

»Schrei nicht so, alter Wirrkopf«, sagte Kamer, »schrei nicht, der Junge wird doch gesucht. Ince Memed, bist du es, mein Sohn?«

»Ich bin’s, Mutter!«, erwiderte Memed.

»Sei willkommen, mein Sohn! Wenn dieser Verrückte dich nur mal in Ruhe lassen würde, damit du dich hinsetzen kannst. Wer weiß, von welchen fernen Bergen du kommen magst.«

»Halt den Mund, Frau!«, befahl Osman der Mächtige. »Ich lasse ihn jetzt nicht in Ruhe, nein, lasse ihn nicht in Ruhe. Ich lasse meinen Falken nicht in Ruhe, nicht bevor ich mich nicht an ihm sattgesehen habe.«

Er prüfte den Geruch, den er ausströmte, an der Schulter, am Rücken.

»Der Junge ist müde«, sagte Frau Kamer. »Er ist müde. Hat sich sicher abgerackert.« Sie packte den Alten am Arm und zog ihn von Memed weg. Osman der Mächtige stand eine Weile nur da und sah Ince Memed entzückt an. Als Ince Memed sich endlich besann, legte er augenblicklich seinen Überwurf ab, nahm Gewehr, Pistole, Feldstecher und Dolch ab, lehnte alles an die Wand und setzte sich dann auf das Bett, das Mutter Kamer zuvor ausgebreitet hatte.

Ihm gegenüber nahm Osman der Mächtige Platz und sah ihn unablässig an. Osmans Blicke ruhten lange auf seinem Gesicht, konnten sich vor Bewunderung nicht von ihm lösen.

Memed lächelte, während Mutter Kamer sprach und Osman der Mächtige unbeweglich immer nur Memed anstarrte.

»Mein Auge lügt doch wohl nicht, oder? Mein Ohr doch auch nicht, oder? Du also bist mein Falke? So habe ich dich doch noch einmal gesehen, noch einmal mit meinen Augen in dieser Welt … Ich habe dich gesehen, ja, das habe ich … Also, sei willkommen!«

Osman der Mächtige kam langsam zu sich. »So ist das also! Es war mir also beschieden, Ince Memed noch einmal zu sehen! Was für ein Glückspilz bist du doch, mächtiger Osman! Ein Sonntagskind. Ja, mein Lieber, die Freude begleitet dich bis ins Grab, mächtiger Osman …« Er stand auf, strich Memed über das Haar, sah ihn an und rief: »Bei Gott, du bist wirklich Ince Memed, bist mein Falke!«

»Komm zur Vernunft, komm doch zur Vernunft!«, schalt Mutter Kamer. »Verrückter Kerl, der Junge wird doch gesucht, nimm das Wort Ince Memed nie wieder in den Mund. Und schrei nicht so!«

»Mein Gott!«, schrie Osman der Mächtige. »Mein Gott, mein Gott!«

Kamer und Memed wurden plötzlich unruhig.

»Der Junge stirbt vor Hunger. Mein Falke stirbt vor Hunger, schnell, Kamer, schnell.«

»Du hast mir vielleicht einen Schrecken eingejagt!«, gab Mutter Kamer zurück. »Jetzt stelle ich sofort den Pilaw auf den Herd.«

»Mach dir keine Sorgen, Onkel Osman, ich werd schon nicht vor Hunger sterben«, lachte Memed.

»Schnell, mein Falke stirbt vor Hunger! Bring erst mal Käse und Joghurt, Honig war auch noch da, oder, und Butter, nicht wahr, frische Butter?«

Ince Memed sagte: »Mutter Kamer, ich brauche keinen Pilaw, jetzt mitten in der Nacht. Nur, was schon fertig ist …«

»Hab ich dir nicht gesagt, dass mein Falke vor Hunger stirbt, mach ihm doch die Tarhana-Suppe warm.« Er zeigte auf einen Topf auf dem Herd. Mutter Kamer nahm den Dreifuß und stellte den Topf aufs Feuer. »Dieser Mann macht mich noch verrückt. Ich bin schon ganz durcheinander.«

»Gedulde dich noch ein bisschen«, sagte Osman der Mächtige zu Memed. »Bald ist sie warm. Sie hat eine feine Tarhana Suppe gekocht.« Er schürte das Feuer und warf noch etwas Holz hinein, sodass es prasselte.

»Um Gottes willen, Osman«, flehte Mutter Kamer, »bitte, nimm doch Vernunft an … Komm doch ein wenig zur Besinnung!« Sie breitete vor Memed ein Tischtuch aus.

Bald darauf war die Suppe heiß. Mutter Kamer füllte sie in eine große Terrine und stellte sie vor Memed. Die Suppe dampfte lange still vor sich hin. Sie duftete vorzüglich. Memed aß sie in einem Zug auf, ohne ein Wort zu sprechen. Mutter Kamer setzte ihm Joghurt mit Honig vor. Memed aß es ebenfalls in einem Zug.

Stück für Stück, zwischendurch auch mehrere Dinge gleichzeitig, trug Mutter Kamer alles heran, was sie an Essbarem im Haus vorfand, und stellte es auf das Tuch: Butter, Zucker, Käse, Walnusskerne, getrocknete Äpfel, Zwetschgen und Maulbeeren …

»Vergelts Gott, vergelts Gott, möge Gott eurem Herd Halil Ibrahims Segen bringen«, bedankte sich Memed schließlich.

»Iss, mein Kind, iss!«, drängte Mutter Kamer unablässig. »Du hast einen weiten Weg hinter dir, kommst zudem aus den hohen Bergen …«

»Vergelts Gott, Mutter, vergelts Gott, ich platze gleich. Sieh her, mein Bauch ist schon prall wie eine Trommel«, meinte Memed lächelnd. In diesem Augenblick durchflutete ihn Freude. Dass man ihn im Haus Osmans des Mächtigen so herzlich willkommen hieß, ließ ihn alles Leid vergessen, und er fühlte sich fast wie ein Kind. »Onkel Osman, bei dir zu Hause fühle ich mich so leicht wie ein Vogel.«

Mutter Kamer legte sofort das Tischtuch zusammen und stellte eine kupferne turkmenische Kaffeekanne auf den Herd, die noch aus alten Zeiten stammte und deren Henkel schon abgebrochen war. »Wie möchtest du den Kaffee, mein Junge?«, fragte sie.

Memed zögerte. Er hatte sein Leben lang nur sehr selten Kaffee getrunken. Er schämte sich und errötete, dann hob er die Rechte und antwortete: »Das ist mir gleich, Mutter!«

»Mach ihn so wie meinen«, mischte sich Osman der Mächtige ein, »koch sie beide zusammen.«

Sie warteten schweigend auf den Kaffee. Die weit geöffneten Augen Memeds lächelten immerzu. Als Mutter Kamer den Kaffee in die Tassen goss, verbreitete sich ein angenehmer Geruch. Memed genoss diesen Duft sehr. Seine Hand zitterte, als er die Tasse am Henkel hielt, sodass er etwas Kaffee in die Untertasse vergoss. Memed beobachtete, wie Osman der Mächtige die Tasse in die Hand nahm, wie er trinken würde. Osmans Hände zitterten auch, trotzdem verschüttete er nichts in die Untertasse. Sie zitterten sogar noch mehr als seine eigenen, zitterten, als wollten sie davonfliegen. Mit seinen zittrigen Händen führte er die Tasse zum Mund und schlürfte geräuschvoll den Kaffee ein. Memed tat es ihm nach, konnte aber das Schlürfen nicht so gut und verbrannte sich den Mund. Der Kaffee hatte einen merkwürdigen, bitteren Geschmack. Als er sich etwas abgekühlt hatte, trank er ihn langsam wie Osman der Mächtige. Nie wieder in seinem Leben würde er einen Kaffee trinken, der so gut schmeckte. Jedes Mal, wenn er Kaffee trank, würde er sich an den von Mutter Kamer erinnern, aber diesen unnachahmlichen Geschmack, diesen unerreichbaren Duft würde er nie mehr kosten. Den Geschmack dieses Kaffees würde er sein ganzes Leben lang verspüren, in jedem Kaffee, den er trinken würde, würde er diesen Geschmack wiederfinden.

Als Osman der Mächtige ausgetrunken und die Tasse an den Herdrand gestellt hatte, fragte er: »Ist es kalt draußen? Ich friere.«

Mutter Kamer antwortete: »Es nieselt.«

»Das hast du gut gemacht, dass du gekommen bist, mein Junge, wie Hizir gekommen bist, um uns wieder Mut zu machen«, meinte Osman der Mächtige. »Ali Safa, dieser Bluthund, lässt uns keine Ruhe. So wie es aussieht, wird er uns dieses Dorf nehmen. Ich kann das aber einfach nicht ertragen, mein Junge, es verletzt meine Menschenwürde, mein Memed, mein Falke. Zehn Söhne habe ich großgezogen, lauter Angsthasen. Außerdem bin ich schon sehr alt, und die Bauern fürchten sich, haben sich von Ali Safa einschüchtern lassen. Und ein eingeschüchterter Mann ist ein schlechter Mann. Zum Teufel mit ihm, tausendmal zum Teufel!«

Der lange weiße Kinnbart zitterte. Sein von tiefen Runzeln durchzogenes Gesicht, das im Schein der Flammen kupfern leuchtete, zuckte schmerzvoll. Die grünen Schlitzaugen, die unter den dichten weißen Augenbrauen fast verschwanden, öffneten sich weit, blitzten auf, um sich dann wieder zusammengekniffen in den Falten zu verlieren. In jeder Geste Osmans des Mächtigen steckte etwas Kindliches. In seinem breiten, erstaunten Lachen, im verwunderten Blick unter hochgezogenen Brauen, in seiner Verbundenheit mit Mensch und Tier, mit Insekt und Käfer, Wolf und Vogel, in seinem ganzen Verhalten. In seiner Jugend und noch in den besten Jahren hatten die Bauern ihn deshalb »Osman das Kind« genannt. Wie mochte es wohl gekommen sein, dass sie eines Tages aus dem »Kind« den »Mächtigen« gemacht hatten? Wann das gewesen war, wusste Osman der Mächtige selbst nicht, und auch im Dorf konnte sich niemand erinnern, dass man ihn einmal Osman das Kind genannt hatte. Nur ein einziger Mensch hatte es nicht vergessen, und das war Mutter Kamer. Wenn sie sich über ihn ärgerte, nannte sie ihn immer so.

Mutter Kamer kam zornig von hinten hervor und schimpfte: »Was erzählst du dem Jungen da, noch bevor er sich die Schuhe ausgezogen, Atem geholt, sich den Staub von den Schuhen gewaschen hat! Oh, Osman, du Kind, du Kind …!«, seufzte sie. »Selbst wenn du hundert, tausend Jahre alt wirst, du wirst niemals vernünftig werden, Osman, du Kind! Dieser Junge hier ist eben dem Feuer und den Flammen entflohen, hat kaum seine nackte Haut retten können, und du lässt ihn nicht einmal Atem holen. Schau doch, wie er aussieht, merkst du nicht, dass er nur noch Haut und Knochen ist? Wie ein verletzter Vogel, der in einem Strauch Zuflucht sucht! Vielleicht sind ihm jetzt tausend Soldaten auf den Fersen, tausend Agas. Noch immer zucken ja die Agas bei dem Namen Ince Memed zusammen. Wissen sie vielleicht nicht, dass er in die Çukurova heruntergekommen ist? Denkst du, sie bekommen nicht heraus, dass er in der Çukurova zu dir gekommen ist? Und du liegst ihm sofort in den Ohren wegen unserer Nöte, und der arme Kerl hat noch nicht einmal Atem holen können. Ich will dir etwas sagen, Osman, du Kind. Mit deinem dummen Kopf wirst du Ince Memed den Agas bestimmt ausliefern. Ich kenne dich doch. Und die Agas werden Ince Memed ergreifen und zu ihrer Regierung schleppen, und die hängt ihn auf! Dann kannst du unter dem Strick um ihn weinen, ihm Klagelieder singen, Osman, du Kind …« 

Osman der Mächtige nützte einen günstigen Augenblick aus, um ihre Rede zu unterbrechen: »Du hast ja recht, Kamer, hast ja recht. Sei still jetzt! Sei still jetzt, Mutter, sei still.«

»Unverschämt, was du tust. Möge das Dorf über dir zusammenstürzen, soll doch dein Ali Safa Bey zur Hölle fahren! Ohnehin ist nichts mehr geblieben, nichts von unserer Tradition, unserer Sitte … Noch nicht einmal Atem geschöpft hat er … Wenn er will, soll er uns eben davonjagen, dieser Ali Safa. Alles bloß wegen euch Hasenherzen!«

»Schweig, Kamer, schweig!«, schrie Osman der Mächtige. »Schweig, Alte!« Memed verfolgte lächelnd den Streit der Eheleute.

»Schweig, Alte, schweig, Memed ist unser Sohn, unser Falke. Oh, Kamer, ist es denn nicht von Vorteil, wenn mein Memed über die Lage hier im Dorf Bescheid weiß?«

Mutter Kamer pflichtete ihm, wieder etwas besänftigt, bei: »Doch, das schon. Wenn du schon davon erzählst, dann aber auch von Zeynel. Als Erstes betrifft es ja Zeynel den Kahlen.«

Mit traurig herabgezogenen Mundwinkeln fuhr Osman der Mächtige fort: »Mein Falke, die Lage ist sehr ernst. Heutzutage kannst du keine Zuflucht mehr in den Bergen suchen. Die Leute in den Bergen sind eigenartig geworden. In diesen Tagen sind sie sogar wie verrückt. Haben weder vor Ince Memed noch Gizik Duvan Respekt. Hinter ihren eigenen Vätern sind sie her, um sie der Regierung auszuliefern. Wenn du jetzt in die Anavarza gehst, wirst du in zwei Tagen geschnappt. Vorläufig bleibst du also besser bei uns. Dass du hier bist, soll außer dieser Alten niemand erfahren, auch nicht meine Söhne. Keiner außer Veli hat dich hierherkommen sehen, nicht wahr?«

»Nein, niemand.«

»Dann ist es gut. Nicht einmal die Söhne dieser Alten werden es erfahren. Nur diese Alte, du, ich und der große Allah …«

Mutter Kamer wiegte den Kopf, sodass die Goldmünzen an ihrer Stirn, die unter dem weißen Kopftuch zu sehen war, klingelten: »Ach du!«, sagte sie. »Ich kenn dich doch, Osman, du Kind. Du erzählst es gleich morgen früh dem ganzen Dorf. O ja, ich kenn dich doch!«

Osman der Mächtige fuhr zornig hoch: »Du Satansweib, treib das Spiel nicht zu weit. Treib es nicht zu weit! Bin ich denn verrückt, ganz und gar verrückt? Ich werde es einem erzählen, sodass der es dann einem anderen brühwarm weitererzählt! Und der noch einem. Bis es schließlich Zeynel zu Ohren kommt. Dem in diesem Dorf sowieso nichts entgeht. Und Zeynel rennt dann natürlich zu seinem Aga, zu Ali Safa, diesem Hund, und erzählt ihm, dass sich Ince Memed in Vayvay im Haus von Osman dem Mächtigen aufhält … Und diese sollen ihn dann aufhängen, was? Und dann, wenn Memed tot ist, würden aus den Agas Sultane werden, die Dörfler müssten fortziehen, und die Dörfer würden zu Ruinen.«

»Genau so wird es kommen, Osman, du Kind.«

»Memed, mein Falke, sag du doch dieser Alten ein Wort. Sie soll mich in dieser Nacht Allahs nicht zur Weißglut bringen und mich nicht zur Sünde treiben! In dieser heiligen Nacht Allahs!«

In Augenblicken, wo Osman der Mächtige so vor Zorn kochte, wurde Mutter Kamer jeweils schweigsam. Und da sie schwieg, schwieg auch er.

Dann sagte Mutter Kamer: »Los, richten wir diesem Kind jetzt ein Versteck her.«

»Ja, machen wir ihm ein Versteck zurecht, wo ihn keiner findet. Dort soll er essen, trinken und schlafen, mein Falke. Er muss Fleisch auf die Knochen kriegen. Auch wachsen muss er noch. Lach nicht, Kamer, auch wenn er Ince Memed ist, so ist er doch noch ein Kind.«

»Allah möge ihn bewahren«, seufzte sie und wollte »ihn seinen Eltern bewahren« hinzufügen, dann aber fiel ihr ein, dass er keine Eltern mehr hatte. »Möge Allah dich deinem Land und deinem Volk bewahren«, sagte sie. Aber das gefiel ihr auch noch nicht. Die Regierung und die Agas waren ja seine Feinde. Hätten sie ihn gefunden, so würde ihr Hass vor nichts haltmachen, auch nicht vor einem Mord. »Allah bewahre ihn den unterdrückten Armen, die nichts zu lachen haben«, sagte sie schließlich.

Osman der Mächtige nahm ein Kienholz vom Herd und ging in den hinteren Teil der Schilfhütte. »Memed, komm!«, rief er. »Komm her, wir bereiten dir hier einen Winkel, und dann unterhalten wir uns, bis der Morgen kommt.«

Memed und Mutter Kamer kamen ebenfalls, und sie standen vor der Schranknische mit dem Bettzeug, die von einer Wand bis zur anderen reichte. Sie war verziert, und der riesige, rußgeschwärzte Schrank darin reichte bis unter die Decke. Osman der Mächtige öffnete die große Tür; in der Nische standen, dicht aneinandergereiht, randvoll gefüllte Kelimsäcke. Der Raum über den Säcken war durch ein breites Brett abgeteilt. In der oberen Hälfte lagen bis oben hin seidene Daunendecken und Matratzen.

»Also, Memed, das ist dein Haus«, sagte Osman der Mächtige. »Was dein anderes Haus angeht … Diese Alte lässt einem ja keine Ruhe … Und was deinen Acker betrifft, ich meine den, den die Bauern für dich gekauft hatten … Aber machen wir erst dein Bett und reden dann weiter, sonst fängt diese Alte gleich wieder zu streiten an. Diese Säcke müssen wir herausnehmen, mein Falke. Halt mal dieses Kienholz hier, Frau!« Er reichte den brennenden Span Mutter Kamer, die dastand und den beiden zuschaute. Sie riss ihm das Licht förmlich aus der Hand.

In kurzer Zeit hatten sie fünf Säcke voll Weizen herausgezogen und an die Wand gestellt.

»Nun lasst mich mal«, sagte Mutter Kamer, »jetzt bin ich an der Reihe. Memed, mein Junge, hol doch mal diese Matratze herunter. Verzeih, meine Kraft reicht dazu nicht mehr.«

»Sie ist alt geworden«, setzte Osman der Mächtige sogleich hinzu.

»Ja, ich bin alt geworden. Hol du die Matratze herunter, mein Junge.«

Memed nahm sie herunter. Kamer breitete sie in der Schranknische aus.

»Da ist noch das Kissen und hier die Decke …«

Das Bett roch nach Seife und war blitzsauber. Memed hätte hier am liebsten drei Tage und Nächte lang geschlafen, wenn man ihn gelassen hätte, denn er war fast von Sinnen vor Übermüdung.

»Nun komm, setzen wir uns an den Herd«, forderte Osman der Mächtige Memed auf.

»Lass den Jungen in Frieden, ich bitte dich, Osman. Siehst du nicht, dass sich der Arme kaum noch auf den Beinen halten kann!«, entgegnete Mutter Kamer.

»Also gut, mein Falke«, lenkte er ein, »dann schlaf erst mal, wir reden morgen miteinander.«

3

Osman der Mächtige, der bis zum Morgen keinen Schlaf fand, stand schon mit dem ersten Hahnenschrei auf, machte Feuer in der Feuerstelle und setzte Kaffee auf. Er hatte ein eigenartiges Gefühl, war voller Unruhe und konnte sich nur schwer beherrschen. Zweimal ging er zur Nische, öffnete die Tür und betrachtete den schlafenden Memed. In der Dunkelheit konnte er ihn nur undeutlich erkennen. Als er seinen Kaffee getrunken hatte, ging er noch einmal, auch dieses Mal mit klopfendem Herzen, und er verfiel in eine heftige, süße Erregung, wie er sie lange nicht mehr verspürt hatte.

Aus einer mit Ornamenten verzierten Truhe aus Nussbaumholz holte er seinen alten, aber pieksauberen Anzug hervor, den er immer zu Hochzeiten und anderen Festen getragen hatte. Er war tief dunkelblau, der Saum an den Taschen, die Aufschläge, die Hosennähte an der Pluderhose waren silberbestickt. Auch die Jacke passte noch immer genau auf seinen vom Alter ausgetrockneten, hageren Körper. Offensichtlich stammte er aus der Hand eines erstklassigen Schneiders. Er zog den Anzug an. Die Jacke, die Pluderhose, das gestreifte Hemd aus feiner Seide, die marineblaue Weste … Über die Weste hängte er die schwere, silberne Kette, die mit schwarzem Muster verziert war. Anstelle seiner Leibbinde schnallte er sich ein in Tula-Silber gearbeitetes goldverziertes Koppel um, ein Erbstück seines Großvaters, das aber noch ganz neu war; daran hängte er eine ebenfalls goldbesetzte lederne Pulvertasche und daneben seinen Trommelrevolver, dessen Griff von Perlmutt glitzerte. Dann polierte er eine Weile seine schwarzen Stiefel und zog sie an. Auf den Kopf setzte er sich einen Hut aus dünnem, gekochtem Filz, um den er ein Seidentuch schlang. Dann ging er mit festen Schritten ein paar Mal durchs Haus, von einem Ende zum anderen. Als es hell wurde, öffnete er die Nische, in der Memed schlief. Er lag zusammengerollt wie eine Kugel, mit dem Gewehr am Kopfende.

Osman der Mächtige dachte bei sich: »Dieser Hundesohn ist wirklich ein gerissener Kerl, mein Lieber. Wann hat er sich denn dieses Gewehr geholt und neben sich gelegt? Selbst in meinem Haus traut er keinem. Und dabei so ein Kerlchen, wenn ich es einmal kräftig anpacke, ist es aus mit ihm«, sinnierte er lächelnd. »Unser Junge ist zwar leicht an Gewicht, aber ein Prachtexemplar. Er ist unser Licht, unsere ganze Hoffnung. In den Bergen hat mein Armer nichts zu essen gefunden, um wachsen zu können. Aber wenn er hier eine Weile bleibt und kräftig isst, wird er vielleicht noch wachsen und ein stämmiger Kerl werden.« Er sah ihn bewundernd, gütig und liebevoll an und lächelte. »Aber wenn er nicht groß und stämmig wird, macht es auch nichts. Es ist ja kein Fehler. Der Falke ist auch klein, aber er lässt seine Beute nicht los.« Dieses Mal lachte er laut. »Wie man sich wohl Ince Memed vorstellt; die Leute, die ihn gesehen haben, und auch alle übrigen stellen sich einen Riesenkerl vor, so groß wie zwei. Das ist gut so. Kein Mensch wird dieses arme Jüngelchen für Ince Memed halten. Selbst wenn wir es schwören, keiner würde uns glauben. So kann er sich gut verstecken. Und wenn die Zeit gekommen ist, kann er die Agas umbringen und auf den Alidağ verschwinden, wo ganze Lichtbündel bersten, oder bis hinauf zum schneebedeckten Düldül steigen. Bis zum Gipfel hinauf. Kleine Menschen und kleine Raubvögel – die sind tapfer.«

Sein Inneres strömte über vor Zärtlichkeit, er beugte sich, küsste Memed auf das Haar, schloss die Tür zur Nische wieder und begann erneut, im Haus umherzumarschieren. Da wachte Mutter Kamer auf, nahm die Schnabelkanne und ging in den Hof. Auch sie hatte ihr großes, weißes, besticktes Kopftuch aus der Truhe genommen und es sich um den Kopf gebunden. Als sie Osman den Mächtigen sah, blieb sie stehen, lachte und erschrak dann plötzlich: »Osman, Osman«, rief sie, »du kannst dich doch an einem gewöhnlichen Tag nicht so anziehen. Meinst du denn, die Leute merken nicht, dass bei uns etwas Besonderes los ist?«