Der Granatapfelbaum - Yaşar Kemal - E-Book + Hörbuch

Der Granatapfelbaum Hörbuch

Yasar Kemal

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Beschreibung

Der amerikanische Marschall, so nennen ihn die Landarbeiter, hat nach dem Zweiten Weltkrieg gemäß seinem Plan die Türkei mit Tausenden von funkelnden, riesenhaften Traktoren überschwemmt. Seither ist in der Çukurova-Ebene nichts mehr so wie früher. Die Großgrundbesitzer sind vernarrt in ihre neuen Maschinen und glücklich, dass sie sich mit den Tagelöhnern aus den Bergdörfern nicht mehr herumschlagen müssen. So irrt ein Grüppchen von Dörflern durch Staub, Hitze und höllische Moskitoschwärme. Schließlich findet es sein Glück ganz unerwartet: auf dem Feld des menschenfreundlichen Melonengärtners.

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Zeit:2 Std. 32 min

Sprecher:Stephan Schad
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Über dieses Buch

Nichts ist mehr wie früher. Die Großgrundbesitzer sind vernarrt in ihre neuen Maschinen und glücklich, dass sie sich mit den Tagelöhnern aus den Bergdörfern nicht mehr herumschlagen müssen. So irrt ein Grüppchen von Dörflern durch Staub und Hitze – und findet sein Glück ganz unerwartet: auf dem Feld des menschenfreundlichen Melonengärtners.

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Yaşar Kemal (1923-2015) wird der »Sänger und Chronist seines Landes« genannt. Er wuchs in einem Dorf Südanatoliens auf und lebte in Istanbul. 1997 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 2008 wurde er mit dem Türkischen Staatspreis geehrt.

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Cornelius Bischoff (1928-2018) verbrachte seine Jugendjahre in der Türkei und studierte Jura in Istanbul und in Hamburg. Seit 1978 ist er als literarischer Übersetzer tätig und schreibt Drehbücher.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Yaşar Kemal

Der Granatapfelbaum

Roman

Aus dem Türkischen von Cornelius Bischoff

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 6 Dokumente

Die Originalausgabe erschien 1982 unter dem Titel Hüyükteki Nar Ağaci bei Adam Yayınları, Istanbul.

Originaltitel: Hüyükteki Nar Asaci (1982)

© by Yaşar Kemal 1982

© by Unionsverlag, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Hamed Iravanchi

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30786-5

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

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Version vom 22.06.2022, 04:52h

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Memeds Frau stand regungslos im endlosen Ödland. Dann beugte sie sich nieder und scharrte mit gekrallter Hand die Erde. Nachdem sie eine Weile gesucht hatte, fand sie einige Körner, die sie prüfend zwischen Zeigefinger und Daumen rieb, biss dann mit Bedacht auf jedes Einzelne und steckte sie in die Tasche.

 »Vay!«, jammerte sie, »mein armer Kopf. Alles verfault! Mein armer Kopf!«

 Sie kratzte erneut, fand noch einige Körner, nahm sie zwischen ihre Vorderzähne, biss, und spuckte sie wütend wieder aus.

 »Vay! All meine Mühe!«

 Auf dem ganzen Feld schimmerte nicht das geringste Grün. Graue Erde überall. Von Leben keine Spur.

 »Wir sterben«, stöhnte sie, »wir sterben dieses Jahr. Vay, mein sorgengeplagter Kopf!«

 Sie hockte sich nieder, fiel fast in sich zusammen, starrte in die endlose Steppe, starrte auf das tote Feld … Ihr Kopf drehte sich, und immer wieder klagte sie: »All meine Mühe!«

 Bis zum späten Nachmittag kam sie nicht mehr auf die Beine. Sie war ganz benommen, kauerte da, als sei ihre letzte Stunde gekommen. Doch plötzlich raffte sie sich auf und machte sich auf den Heimweg. Der Tag ging zur Neige, als sie zu Hause war und sich voller Groll vor den Kamin hockte.

 »Mädchen«, sagte Memed, »morgen noch nicht, wir gehen erst übermorgen. Sowie ich in der Çukurova bin, bringe ich Geld zur Post. Zehn Tage, nachdem ich weg bin, gehst du zum Krämer Cemal, denn ich werde das Geld zu Händen Cemal Efendi schicken!«

 Die Frau gab keinen Laut von sich.

 »Mädchen, was ist?«

 Wütend machte sie sich Luft: »Geh doch, geh doch hinunter in die Ebene! Und was sollen wir zehn Tage lang essen? Die ganze Saat ist verfault. Abgesehen vom Mehl, wir haben nicht einmal Salz im Haus. Was sollen wir zehn Tage lang essen? Die ganze Saat ist hin.«

 Zwei Zicklein tollten durchs Haus. Vier Kinder in abgerissenem Zeug standen aneinander gedrängt ganz still da. Nur das kleinste, ein Junge, fast nackt in seinen Lumpen, versuchte mit lautem Schniefen seinen Nasenschleim wieder hochzuziehen.

 »Wir verkaufen die weiße Ziege«, schlug Memed vor, »kaufen von dem Geld einen Scheffel Weizen und von dem Rest Salz.«

 »Verkauf doch!«, entgegnete die Frau. »Verkauf doch, dann ist auch das bisschen Aufstrich zum Brot weg.«

 »Wenn ich aus der Çukurova zurückkomme, kaufe ich uns zwei Ziegen, ja, sogar vier.«

 »Verkauf du die eine, verkaufe sie, damit wir verdorren!«

 Jetzt wurde auch Memed wütend. »Ja, ich werde sie verkaufen«, schrie er, »und wie ich sie verkaufen werde!«

 »Verkauf sie nur, damit wir endlich sterben.«

 Am nächsten Tag verkaufte Memed die Ziege im Nachbardorf an Duran Efendi.

 Als habe man einen Toten aus dem Haus getragen, weinte und schluchzte die Frau um die weiße Ziege. Memed aber konnte nicht zurück nach Haus und seiner Frau ins Gesicht sehen, und so trieb er sich nur noch draußen herum.

 Ein leichter Wind fegte Ziegendung an Mauern und Hauswände. Als Erster war Memed zur Stelle, nach ihm kam Hösük. Sie hockten sich unter ein Vordach und schmiedeten Pläne. Am nächsten Morgen wollten sie sich auf den Weg machen.

 »Sie lügen«, polterte Hösük. »In der Çukurova soll es keine Arbeit geben? Nichts als Lügen! Die Çukurova ist riesig!«

 »Lügen!«, sagte Memed schroff, »nichts als Lügen. Sie finden keine Leute in der Çukurova, bringen sich fast um für sie … Du musst nur rechtzeitig dort sein. Wie Köter betteln sie dort jetzt um Arbeiter.«

 Bald danach kam Yusuf und hockte sich nieder. »Ich habe gehört, ihr Kerle geht in die Çukurova. Das habe ich gehört …«

 »Ja, wir gehen«, entgegnete Hösük. »Ich, Memed und Ali der Barde auch.«

 Yusuf schnalzte. »Wo habt ihr denn euren Verstand gelassen? Ihr geht in den Tod, geht ins Siechtum, geht in die Fiebersümpfe zu elendem Fraß! Das alles ist die Çukurova. Fragt mich! Ich kenne sie. Ihr Wahnsinnigen! Lieber sterben, als in die Çukurova gehen. Schade um eure Jugend, ihr Wahnsinnigen. Memed, du hast vier rosenschöne Kinder. Tus nicht. Wer dorthin geht, kommt nicht wieder, und wenn er wiederkommt, dann so wie ich.«

 »Wir haben keine Wahl«, sagte Memed.

 »Wir wissen es ja, Bruder, aber wir haben keine Wahl«, sagte auch Hösük.

 »Nur wer die Çukurova kennt, kann es wissen«, begann Yusuf von neuem. »Und ich kenne sie. Sie brennt, ja, sie brennt. Wie Blut ist ihr madiges Wasser, ein reißender Wolf jede Stechmücke. Wie Wolken kommen sie über dich und saugen dein Blut. Sie brennt, Brüder, sie brennt. Lasst es sein! Seht mich doch an! Nehmt mich als Beispiel und lasst es sein! Das Wasser voller Maden und lau wie Blut … Meine Worte sind die Worte eines Bruders, sind wie der Rat eines Vaters. Seht doch meinen Zustand … Und müsstet ihr hungers sterben, geht nicht hin! Es gibt Arbeit, es gibt Geld, es gibt Brot, sogar Vogelmilch solls geben und alles, was du dir vorstellen kannst. Aber dort ist auch der Tod, das Elend, das Sumpffieber, die Schwindsucht. Seht mich doch an! Sie brennt, die Çukurova, sie brennt. Geht nicht!«

 »Nichts zu machen, wir gehen«, sagte Hösük.

 »Wir gehen«, nickte Memed.

 »Lieber Tod als Not, lieber Sumpffieber als Armut, lieber schwindsüchtig als ständig hungrig!«, meinte Hösük.

 »Wir gehen«, wiederholte Memed.

 »Seht mich doch an!«, jammerte Yusuf. »Gehe ich mit, erwartet mich dort der Tod. Gott bewahre! Ich gehe kein zweites Mal. Und müsste ich Schösslinge und Baumrinde essen, ich gehe nicht.«

 »Wir gehen«, wiederholte Memed.

 »Tot sein ist besser als arm sein. Wir gehen«, sagte Hösük.

 »Seht mich doch an«, klagte Yusuf.

 Er zeigte mit der Rechten immer wieder auf seinen Bauch, der aussah wie der einer schwangeren Frau. Yusuf steckte in zerlumpten Kleidern, seine nackten Fußsohlen schützte Hornhaut so dick wie Reifengummi. Er hatte einen spindeldürren Hals, die dicken Lippen im blutleeren Gesicht waren voller Risse. »Von mir an euch ein brüderlicher Rat! Jede Stechmücke …«, begann Yusuf von neuem.

 »Um Gottes willen, Yusuf, halt den Mund!«, herrschte Hösük ihn an.

 Yusuf sagte kein Wort mehr.

Die eingerollten Decken auf dem Rücken, die Sicheln an der Hüfte, warteten sie auf Memed, der noch mit seiner Frau sprach, sich dann mit den Worten: »Bleib gesund!« verabschiedete und losging.

 »Die ganze Saat ist verfault«, rief die Frau hinter ihm her.

 Der Morgen graute. Sie waren spät dran und machten sich eilig auf den Weg, blickten aber immer wieder zurück, bis das Dorf aus ihren Augen entschwunden war. Als sie Rufe hinter sich hörten, blieben sie stehen. Ganz außer Atem kam Yusuf angelaufen.

 »Was ist denn, Yusuf?«, riefen sie.

 »Alles bestens«, antwortete Yusuf. Er keuchte wie ein Blasebalg und hockte sich nieder. »Wartet, bis ich mich verschnauft habe. Vom Dorf bis hierher bin ich gelaufen.«

 Sie blieben bei Yusuf stehen. Nachdem dieser wieder zu Atem gekommen war, erhob er sich.

 »Ich habe hin und her überlegt und bin dann hinter euch her«, keuchte er. »Tot ist tot, was soll das Geröchel, sagte der Kurde. Tot ist tot … Los, gehen wir!«

 Am Himmel stand keine einzige Wolke. Die Steppe dorrte unter ihren Füßen.

 Als sie an Feldern entlanggingen, bückten sie sich und kratzten an der Krume.

 »Nichts los damit«, sagten sie. »Das wird nichts.«

 »Und wenn schon«, schimpfte Memed, »kratz dir ruhig Nagel und Finger aus. Zwei Hand voll Körner gesät! Das kann so oder so nichts bringen.«

 »Dann eben nicht«, sagte Hösük.

 »Das wäre immerhin besser als gar nichts«, meinte Ali der Barde.

 »Zum Teufel mit der Çukurova!«, fluchte Yusuf.

 Die andern lachten.

 Bei der Weißquelle verschnauften sie, tranken und wuschen sich die Gesichter. Und wer kam angerannt, als sie sich umsahen? Keklikoğlus Hirtenjunge Klein Memed.

 »Was hast du denn hier zu suchen?«, rief Hösük.

 »Ich hau ab«, antwortete Klein Memed. »In die Çukurova. Ich hörte, dass ihr gehen würdet und warte hier seit zwei Tagen auf euch. Ja, ich gehe. Soll der Aga doch erst einmal einen Schäfer wie mich finden! Ich mache mich auf und davon.«

 Klein Memed war dünn wie ein Stecken, hatte aber unglaublich große Hände und Füße.

 »Das hast du gut gemacht, Memed«, lobte ihn Ali der Barde. »Seit ich dich kenne, sehe ich dich in Keklikoğlus Diensten.«

 »Weder Lohn noch irgendetwas, nicht wahr?«, sagte Hösük.

 »Ja. Ich hab die Nase voll.«

 »Und jeden Tag den Stock«, fügte Hösük hinzu.

 »Wer die Freiheit will …«, sinnierte Ali der Barde.

 »Bekomme ich denn in der Çukurova mein gutes Recht?«, fragte Klein Memed.

 »Auch die Çukurova gehört Keklikoğlu«, antwortete Ali der Barde.

 »Hört, hört«, feixte Hösük.

 »Ich verlange nur mein gutes Recht!«, empörte sich Klein Memed.

 »Keine Sorge!«, beruhigte ihn Memed.

 »Von dem Geld kaufe ich ein Gespann Ochsen mit langen Hörnern«, schwärmte Klein Memed.

»Ich habe dort eine große Schwester«, sagte Memed. »Schon ihretwegen lohnt sich die Reise. Meine große Schwester liebt mich so sehr, sag ich euch … Wir werden gleich zum Landgut gehen. Und da werdet ihr sehen, es gibt in der Çukurova keine bessere als meine große Schwester. Und auf dem Gut arbeiten wir bis zum Herbst!«

 Sie gingen weiter bis Çamurlu und übernachteten dort.

 »Dieses Dorf Çamurlu ist einmalig in der ganzen Welt«, meinten sie, als sie aufbrachen. »So gastfreundlich gibts kein zweites.«

 Sie marschierten durch Ebenen, hasteten Hänge hoch und hinunter, hockten an schäumenden Quellen, verzehrten ihre belegten und eingerollten dünnen Fladen, streckten sich dann ins dicht blühende Ehrenpreis und schmauchten ihre Selbstgedrehten. Sie wanderten weiter. Der Wald rauschte. Am Blumenberg im Hochland standen Almzelte von Nomaden, aus denen geballte Rauchwölkchen stiegen. Mädchen in weißen Schürzen standen vor den Zelten und butterten. Bei Siyringaç kam ihnen, gefolgt von seiner Frau und fünf Kindern, ein barfüßiger, kahl geschorener Kurde entgegen, der einen Esel vor sich hertrieb. Du hättest sie umpusten können, so ausgemergelt waren Mann, Frau und Kinder! An ihren Körpern hing so wenig Zeug, als lebten sie damit schon vierzig Jahre in Elend. Sie grüßten im Vorbeigehen.

 Nach zwei Tagen waren sie drunten in der Ebene. Gleißend hell plätscherten die Wasser des Savrun.

 Oberhalb von Dikirli legten sie sich zum Ausschlafen unter einen Baum. Als sie erwachten, war schon Mittag.

 Noch ganz verschlafen rückte Klein Memed vorsichtig an Memed heran, hielt seinen Mund dicht an dessen Ohr und flüsterte: »Onkel Memed, hier prellt man mich nicht um meinen Lohn, oder?«

 »Hab keine Angst!«, beruhigte ihn Memed.

 »Sagst du auch die Wahrheit?«, fragte der Kleine. »Bekomme ich hier mein gutes Recht?«

 »Sag ich doch«, antwortete Memed.

 »Dann kaufe ich mir ein Gespann Ochsen, die Hörner lang … Ich werde hart arbeiten.« Klein Memed strahlte.

 »Ich bringe dich bei meiner großen Schwester unter, und du gehst ihr zur Hand«, sagte Memed.

 »Und mein Recht …«

 »Keine Angst«, unterbrach ihn Memed. »In diesem Land gibt es nichts besseres als meine große Schwester.«

 Sie warfen die Decken über ihre Schultern, Ali der Barde nahm noch seine langhalsige Laute mit den Troddeln am Griffbrett in die Hand, und brachen auf.

 »Da unten ist schon das Landgut«, rief Memed, »wir sind gleich da. Meine große Schwester wird vor Freude außer sich sein, wird gleich nach meiner Frau fragen, wenn sie mich sieht. Vor Jahren hatte sie ihr nämlich zwei von ihren Kleidern geschenkt, fast neu, und so fest im Stoff, dass sie die noch immer trägt. Sie wird sich gleich um uns kümmern, wenn wir dort sind, sie wird mich an die Hand nehmen und mir die leichteste Arbeit geben. Da können wir bis in den Herbst hinein arbeiten.«

 »So eine Schwester findest du in der ganzen Çukurova nicht«, sagte Hösük.

 »Bekommen die andern einen Tagelohn, lässt sie vom Aga an mich den eineinhalbfachen auszahlen. Und euch, den Gefährten ihres Memed, dasselbe«, brüstete sich Memed.

 »Gebe Gott, dass es so sein wird!«, sagte Ali der Barde.

 »Nichts geht über meine große Schwester«, fuhr Memed fort. »Ihr werdets gleich sehen. Wenn wir ankommen, bringt sie uns sofort Brot.«

 »Und mein Lohn?«, fragte Klein Memed.

 »Hab keine Angst!«, antwortete Memed.

 »Mit riesengroßen Hörnern …« flüsterte der Kleine.

 »Mein Leben für meine große Schwester!«, rief Memed. »Da soll doch der Aga wagen, jemandem sein gutes Recht zu verweigern. Sie stellt sich vor ihn hin, sagt: ›Schäm dich vor dem lieben Gott; schluckt einer denn den Lohn eines Armen!‹ Und schon rückt der Aga das Geld heraus.«

 »Wenn es so ist, ein Leben für solch eine große Schwester!«, rief auch Ali der Barde.

 »Riesengroße Hörner …«

 »Die soll sie sich reinstecken, deine Mutter …«, schimpfte Hösük. »Hörner, Hörner, Hörner!«

 »Rühr den Jungen nicht an!«, grollte Memed. »Seit seiner Geburt lungert er vor fremden Türen.«

 »Ja, rühr den Jungen nicht an!«, wiederholte Ali der Barde.

 »Ich werde hart arbeiten«, murmelte Klein Memed.

 »Ich musste mich damals um ein Ochsengespann kümmern und hütete es wie meinen Augapfel«, erzählte Memed. »Unter den Treibern gibt es keinen zweiten, der Ochsengespanne so gut pflegen kann wie du, sagte meine große Schwester immer. Und als ich wegging, weinte sogar der gelbe Ochse.«

 »Oho, oho!«, lachte Ali der Barde, »Unser Memed!«

 »Ich soll das Glück meiner Kinder nicht erleben, wenn ich lüge!«, schwor dieser. »Als ich wegging, hat der gelbe Ochse immer wieder zurückgeschaut und sich geleckt. Ihr werdet es ja gleich erleben. Wenn mich der gelbe Ochse sieht, erkennt er mich sofort. Er wird vor Freude stampfen und brüllen. Ihr werdet es gleich erleben!«

 »Gott gebe, dass es so kommt!«, sagte Ali der Barde.

 »Und ich kann mir zwei Ochsen kaufen«, lachte Klein Memed, »die mich so lieben wie der gelbe Ochse dich.«

 »Ochsen kaufen, Ochsen kaufen!«, feixte Hösük.

 »Hösük, lass den Jungen in Ruhe!«, sagte Ali der Barde. »Er kennt die Welt noch nicht, ist ja noch feucht hinter den Ohren.«

 »Schon gut, schon gut«, lenkte Hösük ein.

 »Zwölf Monate im Jahr quoll den andern Tagelöhnern der Bauch vor lauter Hirsebrei. Mir gab meine große Schwester fettige Fladenrollen, ja, so sehr liebte sie mich«, sagte Memed.

 Sie gingen durchs Tor. Dicht an dicht standen im Hof blaue, rote und gelbe Traktoren, Dreschmaschinen, Mähdrescher, Laster, Jeeps und Pferdewagen. Die Massey Fergusons und anderen Fabrikate funkelten nur so in der Sonne. Um sie herum machten sich ölverschmierte Männer mit hastigen Bewegungen zu schaffen.

 »Da ist meine große Schwester«, rief Memed und schritt aus.

 Die Frau in schwarzem Kopftuch gab einigen Leuten am Backofen Anweisungen. Sie war füllig und hatte ein breites Becken. Bis zu den Ellenbogen klirrten die goldenen Armreife an ihren Unterarmen.

 Memed ging zu ihr und blieb vor ihr stehen, doch die Frau beachtete ihn nicht einmal. Memed ging dicht an sie heran und blickte ihr lächelnd ins Gesicht. Die Frau scherte sich nicht. Memed stutzte, lächelte noch breiter: wir kennen uns doch … Nicht weit von ihnen standen die vier Freunde, ihre Blicke wanderten zwischen Memed und seiner großen Schwester hin und her.

 Schließlich konnte Memed sich nicht länger zurückhalten und sagte: »Große Schwester, ich bins, Memed.«

 Die Frau musterte ihn kurz.

 »Große Schwester, ich bin Memed, der Treiber … Na, der mit dem gelben Ochsen pflügte. Wir sind mit unseren Sicheln zur Ernte hier. Große Schwester, ich bin Memed …«

 Ohne ihn anzuschauen hob die Frau den Kopf und sagte zu der Arbeiterin, die das Brot schichtete: »Gib dem da ein Brot, damit er geht!«

 Die Frau drückte Memed ein Brot in die Hand, das dieser verdutzt festhielt. Wie mit kochendem Wasser begossen stand er da, sein Blut schien erstarrt, sein Gesicht rabenschwarz.

 »Große Schwester«, sagte er leise, »ich bin Memed, Memed der Viehtreiber … Der mit dem gelben Ochsen … Der den Kopf drehte und hinter mir herschaute, als ich wegging … Wo ist der gelbe Ochse?«

 Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, kehrte die große Schwester ihm den Rücken zu und ging zum Konak hoch.

 Verwirrt und ratlos kehrte Memed mit dem Brot in der Hand schwankend zu seinen Freunden zurück.

 Die andern verloren kein Wort darüber.

 Erst nach einer ganzen Weile sagte Ali der Barde: »Mach dir nichts draus! So ist die Çukurova nun mal. Wissen wir doch. Mach dir nichts draus! Hättest du doch wenigstens den gelben Ochsen wiedergesehen. Wer weiß, wie der sich gefreut hätte, der Arme.«

 Sie gingen zum Tor hinaus und hockten sich mit den Rücken zur Hofmauer nieder. Hösüks mächtiger Umriss schien der von zwei Männern zu sein, Ali der Barde war feingliedrig, Memed hoch aufgeschossen.

 Ein ölverschmierter blonder junger Mann in abgerissenem Kittel kam vorbei, stutzte und eilte herbei, als er Memed sah.

 »Oh, Onkel Memed, willkommen!«, rief er und ergriff dessen Hand. Er schien etwa siebzehn Jahre alt zu sein. »Ich habe dich schon so vermisst, und mich immer wieder gefragt, wo ist er nur abgeblieben? Es sind ja schon zwei Jahre her, dass du fort bist, nicht wahr? Ich hatte solche Sehnsucht nach dir, sagte mir immer, eines Tages wird er schon auftauchen. Willkommen, willkommen!« Der Junge strömte über vor Freude. »Gott sei Dank, Onkel Memed, dass ich dich gesehen habe. Eines Tages wird er kommen, sagte ich mir, und da bist du ja!«

 »Setz dich erst einmal!«, forderte Memed ihn auf.

 Der Junge setzte sich.

 »Blonder«, begann Memed, »hast du gesehen, wie die große Schwester mich behandelt hat? Das hätte ich nicht von ihr erwartet. Sie war immer besorgter um mich als meine leibliche Mutter. Während die Tagelöhner vom Hirsebrei schon anschwollen, bekam ich von ihr eingerollte, fettige Fladen.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, das hätte ich nicht erwartet … Und hätte ichs im Traum erlebt, ich hielt es für ein gutes Omen! Was soll das denn, Blonder, ich begreife es nicht.«

 »Frag nicht, Onkel Memed, frag nur nicht! Wenn du es hörst, kriegst du den Mund nicht mehr zu. Die große Schwester ist nicht mehr die Alte. Ich bin der Einzige, der hier übrig geblieben ist. Außer mir ist keiner mehr da. Die große Schwester hat sie alle davongejagt.«

 »Das hätte ich nicht von ihr gedacht«, murmelte Memed, »nein, niemals!«

 »Die große Schwester hat sich verliebt«, sagte Blonder, »sie sei von unerfüllter, von schwarzer Liebe befallen, heißt es.«

 »Was sagst du da?«

 »Sie ist verliebt«, antwortete Blonder. »Seitdem diese Motorfahrzeuge hier sind, ist sie diesen Motoren verfallen. Sie hat sich in sie verliebt.«

 »Oh weh, große Schwester«, klagte Memed.

 »Jeden Morgen, sowie sie aufsteht, nimmt sie einen Eimer Wasser und ein Stück Seife in die Hand, geht zu den Fahrzeugen, wäscht die Räder, putzt die Motoren, gerät bei jedem Körnchen Staub, bei jedem Spritzer Schlamm außer sich. An jedem Tag Gottes putzt und poliert sie. Sie sei in diese Maschinen verliebt, heißt es, sie sei ihnen verfallen.«

 »Gott bewahre! …«, sagte Ali der Barde. »Ein schweres Los.«

 »Seit diese Motoren hier sind, sitzt sie bei Wind und Wetter neben den Fahrern und fährt hinaus auf die Felder. Jeden Tag Gottes …«

 »Sie hat mich nicht erkannt«, meinte Memed. »Meine arme große Schwester. Also das ist es! Schlimmer noch als das, was sie Liebe nennen. Die Arme!«

 »Sie ist doch nicht verrückt«, entgegnete der Blonde. »Sonst ist noch wie damals. Sie ist nur vernarrt. Natürlich hat sie dich erkannt!«

 »Auf so etwas wäre ich nie gekommen«, sagte Memed. »Das heißt, sie ist bei Sinnen, aber mit schwarzer Liebe geschlagen … Gott bewahre uns davor!«