Die Ameiseninsel - Yaşar Kemal - E-Book

Die Ameiseninsel E-Book

Yasar Kemal

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Beschreibung

Als Musa mit seinem Ruderboot an der Küste der ägäischen Insel anlegt, stößt er auf ein menschenleeres, verlassenes Paradies. Sofort erliegt er dem Zauber dieser verwunschenen Welt und lässt sich auf der Insel nieder. Aber unter der friedlichen Oberfläche liegen Tragödien. Die Bewohner, alles Griechen, wurden nach dem Ersten Weltkrieg in einer gigantischen Umsiedlungsaktion von einem Tag auf den anderen vertrieben. Und in Musa erwacht die Erinnerung an die Grausamkeiten, die jahrzehntelang Anatolien, die Völker des Kaukasus und des Mittleren Ostens heimsuchten.

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Seitenzahl: 620

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Über dieses Buch

Als Musa mit seinem Ruderboot an der Küste der ägäischen Insel anlegt, stößt er auf ein menschenleeres, verlassenes Paradies. Sofort erliegt er dem Zauber dieser verwunschenen Welt und lässt sich auf der Insel nieder. Aber unter der friedlichen Oberfläche verbergen sich menschliche Tragödien.

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Yaşar Kemal (1923-2015) wird der »Sänger und Chronist seines Landes« genannt. Er wuchs in einem Dorf Südanatoliens auf und lebte in Istanbul. 1997 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 2008 wurde er mit dem Türkischen Staatspreis geehrt.

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Cornelius Bischoff (1928-2018) verbrachte seine Jugendjahre in der Türkei und studierte Jura in Istanbul und in Hamburg. Nach1978 war er als literarischer Übersetzer tätig und schrieb Drehbücher.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Yaşar Kemal

Die Ameiseninsel

Roman

Aus dem Türkischen von Cornelius Bischoff

Die Insel-Romane I

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 6 Dokumente

Die Originalausgabe erschien 1998 unter dem Titel Fırat suyu kan akıyor baksana im Verlag Adam Yayınları , Istanbul.

Originaltitel: Firat suyu kan akiyor baksana

© by Yaşar Kemal 1998

© by Unionsverlag, Zürich 2024

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: João Avelino Marques

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30789-6

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Version vom 26.07.2024, 21:24h

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Inhaltsverzeichnis

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Über dieses Buch

Titelseite

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Inhaltsverzeichnis

DIE AMEISENINSEL

1 – Es war kurz vor Sonnenaufgang. Das Meer dehnte …2 – »Die Nachricht ist aus sicherer Quelle«, sagte Barba …3 – Kaum hatten die Boote die Insel verlassen …4 – Als Musa der Nordwind aus seinem Blickfeld verschwand …5 – Die geschlagenen Soldaten schleppten sich in ein Dorf …6 – Musa der Nordwind tauchte auf, verschwand in einem …7 – »Ich habe lange nachgedacht. Sie sind in den …Worterklärungen

Mehr über dieses Buch

Über Yaşar Kemal

Günter Grass: Laudatio auf Yaşar Kemal

Yaşar Kemal: Über die Sprache

Yaşar Kemal: Die Natur, Universum der Mythen

Yaşar Kemal: Das Gefängnis – die Schule der türkischen Literatur

Yaşar Kemal: »Die Epen sind wie Kiesel auf dem Grund des Stromes«

Lucien Leitess: Vor seinen Büchern werden wir wieder zu Kindern

Über Cornelius Bischoff

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1

Es war kurz vor Sonnenaufgang. Das Meer dehnte sich regungslos und weiß. Außer dem Klatschen der Ruderblätter war kein Laut zu hören. Noch waren die Möwen nicht aufgewacht. Liegt vor Tagesanbruch die Welt so spiegelglatt da, verwandelt sich das Meer in dieses unendliche Weiß.

Ruhig und ohne abzusetzen ruderte Musa der Nordwind seit gestern Abend mit genau bemessener Gleichmäßigkeit. Von Zeit zu Zeit kam der Hauch einer Brise auf, legte sich wieder, vermischte den vom Rudern aufgewirbelten Meeresduft mit dem Schweißgeruch des jungen Mannes. Er war erschöpft, wollte es aber nicht wahrhaben. Als er sah, wie das Meer weiß zu schimmern begann, vergaß er den Schmerz in seinen Händen, die Müdigkeit und alles andere. Mit der aufkommenden Morgenbrise überkam ihn ein Gefühl überschäumender Freude, und als habe er nicht die ganze Nacht gerudert, legte er sich in die Riemen, dass sein Boot davonschoss. Das Meer war noch spiegelglatt, das Boot, die Ruder, der Himmel und die Sterne schimmerten weiß, aber auch Musa der Nordwind schien schneeweiß vom Scheitel bis zur Sohle.

Als es hinter den gegenüberliegenden Bergen aufhellte, bekam das Meer Farbe. Auf seinem Spiegel begannen violette, orangefarbene, tief grüne, gelbe und rote Lichter zu wirbeln. Musa der Nordwind hob den Kopf, und als er den Blick schweifen ließ, entdeckte er gar nicht so weit vor sich die Insel. Er verlangsamte die Fahrt, strich die Ruder, bis das Boot stoppte, stand auf, öffnete die Arme und tat einen tiefen Atemzug; das Boot schlingerte leicht. Vor ihm erhob sich ein Wunder. Die Insel war in rosarotes Licht getaucht, das sich im Meer leicht wellend widerspiegelte.

Hingerissen blieb Musa der Nordwind im dümpelnden Boot stehen, bis die Sonne aufging. Zuerst glitt das Weiß des Meeres davon, war im nächsten Augenblick verschwunden. Dann schwebte plötzlich das im Wasser widergespiegelte, pfirsichblütene Rosa davon und senkte sich auf die Insel nieder. Die Sterne blitzten noch einige Mal auf und verloschen. Ein Fisch, armlang, schoss aus dem Wasser, sprühte stahlblaue, stahlgrüne, stahlviolette, stahlrote Funken in die Luft und fiel zurück. Hinter ihm sprangen große und kleine Fische, ließen ihre Farben stehen und verschwanden in den Fluten. Wie Flitter hielt sich das Gefunkel meterhoch über dem Wasser.

Lächelnd setzte sich Musa der Nordwind, griff die Riemenholme, lenkte den Bug zur aufgehenden Sonne und begann längs dem Ufer zu rudern. Es war schon Vormittag, als er in die Bucht einfuhr, das Boot aufsetzte und vom Dollbord ans kiesige Ufer sprang. Nach einigen Schritten verhielt er und betrachtete die drei großen Platanen auf dem Platz vor ihm. Sie hatten schon Knospen, ihr feines, samtenes Grün streichelte Luft und Meer. Dann ging er über den Uferweg an den Reihen zweistöckiger Häuser entlang nach Süden, wendete sich beim letzten Haus nach Osten, wo gleichfalls zweistöckige Holzhäuser in Reihe standen. Schließlich bog er ab zur Dorfmitte. Auch hier waren alle Häuser aus Holz, die meisten sirupfarben, einige aber auch gelb, lila, auberginefarben, blau oder weiß gestrichen.

Die Häuser am Meerufer waren allesamt weiß, so auch die drei Windmühlen der Insel, die immer wieder in hellem Sonnenlicht standen. Musa der Nordwind schlug den Pfad zur mittleren ein, die auf einem Hügel stand. Ihre Flügel drehten sich gemächlich. Die Tür stand offen, er machte einige zaghafte Schritte ins Innere. Auf den wuchtigen, von breiten Eisenbändern eingefassten Mühlsteinen lag aufgeschüttetes Korn, der Mahlgang war mit handbreit hohen Brettern abgeschirmt, davor stand ein Holzbottich, in den aus einem hölzernen Trichter fein gemahlenes Mehl rieselte.

Schon als Musa der Nordwind diesen aus Quadern gemauerten Turm betrat, fühlte er sich eigentümlich berührt. Von weit her war ihm ein wohliger Mehlgeruch in die Nase gestiegen. Mit seinem Vater hatte er oft die Packsättel der Pferde mit prallen Kornsäcken beladen und war mit ihm zur Wassermühle am Fuße der nahen Berge gezogen. Schon von weitem war ihnen mit dem Rauschen des Wassers der feine Mehlgeruch entgegengekommen. Beim Anblick der Mühlsteine hörte er wieder das rauschende Wasser, roch er das Mehl. Rund um die Mühle hatten, mächtigen Platanen gleich, zahlreiche Feigenbäume und von Schlingpflanzen umrankte hohe Silberpappeln gestanden und Haine von Granatapfelbäumen sich weit in die Hänge hinein erstreckt … Und wars im Monat Juni, wellten sich knallrot ihre Blüten … Vom Rand des Gerinnes aufsteigender Duft der Minze und noch tausendundein anderer Geruch hatten sich mit dem des Mehls vermischt. Schäumendes Wasser, das von den Schaufeln schwappte, der Duft zahlloser Blumen am Mühlbach … Der Geruch von Wasser und Mehl und in den Feigenbäumen das reine Gelb dicht gedrängt schwirrender Pirole. Leuchtendes Gelb überall, goldschimmerndes Getreide, wohin das Auge blickte, die ganze Ebene ein brodelndes, wogendes Meer gelben Lichts. Solange das Korn gemahlen wurde, war Musa der Nordwind in den Feigenbäumen herumgeklettert, hatte er wie die taubengroßen Pirole auf den Ästen gehockt.

Lächelnd machte er noch einige Schritte. Grobfaserige Säcke lagen überall, daneben rostige Eisenstücke, gebrochene Zahnräder, an eine Wand gelehnt ein Balken, in Abständen von etwa vier Fingern in seiner ganzen Länge mit Löchern versehen. Gelehnt an eine andere Wand ein nagelneuer Windmühlenflügel, hier und da, achtlos hingeworfen, verbeulte, rußgeschwärzte Kupfertöpfe …

Über knarrende Stufen ging er nach oben. Noch immer stieg ihm Mehlgeruch in die Nase, vermischt mit dem Duft von wildem Majoran und frischen Feigen. Am obersten Treppenabsatz blendete ihn so starkes Licht, dass er taumelte. In jeder Himmelsrichtung war, wie eine große Schießscharte, ein Fenster. Die Läden waren aus der Halterung gerissen und lagen am Boden. Er ging zum Fenster an der Südseite und blickte hinaus. In der Ferne war das spiegelglatte Meer zu sehen. Tief unten lagen ihm die Ziegeldächer der Häuser zu Füßen.

Erst als er sich an eine der Öffnungen lehnte, fiel ihm auf, wie dick die Mauern waren. Mit Mühe schwang er sich im Quersitz auf die Fensterbrüstung und schätzte mit ausgestrecktem Arm. Das Mauerwerk maß fast einen Faden. Als er von der Brüstung hinuntersprang, knickte er ein und wäre beinahe hingefallen. Er war erschöpft. Mühsam richtete er sich auf und ging zum nächsten Fenster. Von hier aus sah er auf die Pfirsichbäume, deren rosa Blüten sich heute Morgen vor Sonnenaufgang im Meer widergespiegelt hatten. Himmel, Meer und Erde, die ganze Welt, ob Blumen, Vögel und Bäume, ob Grün, Violett, Gelb und Orange, alles hatte einen rosa Schimmer. Musa der Nordwind sah an sich herunter, auch er war von Kopf bis Fuß rosa angehaucht, und hoch über der Mühle sah er die rosa Wolke in einer Flut von Licht kreiselnd nach Süden gleiten. Ihm schwindelte leicht, als er an das östliche Fenster kam. Auch hier schimmerte alles rosa. Er eilte ans Fenster an der Nordseite. Von dort aus fiel ihm ein Schatten auf, der sich da unten im rosa Gebüsch bewegte, sich aufrichtete und immer wieder Deckung suchend davoneilte. Ein unheimliches Gefühl beschlich ihn, verstört eilte er die Treppe hinunter ins Freie, ging mit ausholenden Schritten zum nächstliegenden Haus am Dorfplatz und öffnete die Tür. Die Krone einer großen Platane an der Nordseite des Hauses überschattete das Dach, die Jungvögel in den hier und da im Laub versteckten Nestern waren noch nicht geschlüpft. Das Haus war gähnend leer.

Er ging über den kiesigen Strand zurück zu seinem blau gestrichenen Boot, bückte sich nach seiner zusammengeschnürten Matratze, doch er konnte sie nur herausheben, indem er sie mit beiden Händen an den Schnürstricken übers Dollbord zog. Er schleifte sie über den Kieselstrand ins Haus, hatte aber nicht mehr die Kraft, sie auszurollen, und sackte, angekleidet, wie er war, auf den Ballen nieder. Plötzlich sah er aus den Augenwinkeln den Schatten von vorhin am Haus vorbeihuschen. Jetzt noch die Sachen aus dem Boot zu holen, das würde er nicht mehr schaffen. Wenn aber jener Schatten jemand war, der nur darauf wartete, mit dem Boot davonzufahren? Im Nu war er auf den Beinen, rannte zum Strand, hob die Ruder aus, eilte mit ihnen zurück, verriegelte die Tür und ließ sich auf seine zusammengerollte Matratze fallen.

Er saß auf einem Grauschimmel und ritt über eine Ebene ohne Anfang und Ende. Weites Land rundum, blendend weiß und lichtdurchflutet. Riesige, weit geöffnete rosarote Blüten berührten den Bauch des Pferdes und streckten sich immer höher. Mühsam bahnte sich das Pferd einen Weg durch die rosaroten Blumen. Wildwasser, das aus dem Gipfel des gegenüberliegenden Berges schoss, toste schäumend über die Hänge zu Tal und verschwand zwischen den rosaroten Blumen. Plötzlich verstummte das rauschende Wasser. Das Pferd stieg auf die Hinterhand, der Berg färbte sich rosarot, und rosarote Schatten bedeckten die Ebene.

Das Mittelmeer dampfte in blau rieselndem Licht.

Regen fiel, rosarot.

Das gestiegene Pferd wieherte, es schimmerte rosarot. Der rosarot leuchtende Berg setzte sich in Bewegung, sein Licht schäumte. Ein rosaroter Sturzbach strömte schäumend über seine Hänge. Das Wiehern tausender rosarot schimmernder Pferde hatte die Ebene erfüllt. Sie waren ineinander verkeilt, sie flogen. Ihre Flügelspitzen berührten sich, ihre Mähnen und Schweife wehten.

Dann verschwanden die Pferde samt der nach und nach in fleckenloses Gelb übergehenden Ebene in undurchdringlichem Dunkel. Nur der tiefblaue Himmel, das tiefblaue Meer und die jetzt tiefblau schimmernde Wolke leuchteten immer noch.

Dann ging ein wahrer Wolkenbruch nieder, und alles versank in so tiefem Dunkel, dass man die Hand nicht vor Augen sehen konnte … Aus dem Dunkel tauchte wieder der Berg auf, bewegte sich kreiselnd und Licht sprühend zum Meer und verschwand. Das dunkle Meer wurde weiß, verströmte sein Licht über die Welt, und das Pferd begann wieder rosarot zu schimmern …

Musa der Nordwind in seinem Boot. Die geschwollenen Hände um die Holme gespannt, die Arme wie taub, er kann sie kaum heben. Immer wieder taucht er die Ruderblätter ins Wasser und blickt um sich, doch kein Strich von Land ist in Sicht. Kreischend toben die Möwen über ihm, stoßen herab, als wollten sie sich auf ihn stürzen und ihn zerfleischen. Erschrocken kauert er sich tief ins Boot. Die Möwen Flügel an Flügel, übereinander, auf und ab. Er bekommt keine Luft. Der Berg war ins Meer gewandert, das noch im Dunkel lag. Flammend tauchte der Berg in die Fluten. Wie ein sinkendes Schiff. Er sank in die Tiefe, aber sein Licht blieb auf dem Meeresspiegel zurück. Und da füllte sich das Meer bis auf den Grund mit hellem Licht. Auf dem Grund des Meeres riesige Schiffe, in der Tiefe riesige Fische, Schwärme von Fischen überall; und kreischend durcheinander fliegende riesige Möwen … Und vermischt mit den Sternen kreisten Vogelschwärme in einer endlosen Trombe.

Das Meer war wieder schneeweiß. Musa der Nordwind hatte sich auf die Kiesel gehockt und das Kinn auf die Knie gestützt. Betrachtest du den Meeresspiegel so in Augenhöhe, erscheint er dir wie Flitter, der in stahlvioletten, stahlblauen, stahlgrünen und stahlroten Farben schillert. Musa der Nordwind erhob sich, hakte die Daumen in seinen Gurt und ging mit wiegenden Hüften zu seinem Boot. Er öffnete den Mantelsack aus gewobenem Kelim, holte den Nussholzkasten hervor und setzte sich damit auf einen nahen wuchtigen Quader unter einer großen Platane, die ihre Äste über das Wasser streckte. Die Nester in den Zweigen waren leer. Wohin mochten die Vögel wohl geflogen sein? Er zog den Schlüssel aus seiner Tasche und schloss das Kästchen auf. Dreimal klickte es metallisch laut, als er den Schlüssel im Schloss drehte. Zuerst nahm er den Abziehriemen heraus, dann Rasiermesser, Pinsel, Seife und Wasserschälchen. Danach füllte er Meerwasser ins Schälchen. Die Seife war ja sehr gut, aber mit Meerwasser schäumte sie nicht. Als er sich umsah, entdeckte er auf dem Marktplatz, genau in der Mitte dreier Platanen, die eingefasste Quelle, und fast unmerklich durchrieselte ihn ein warmes Gefühl von Freude und Hoffnung. Er ging zum Brunnen, drehte den Hahn auf, und laut plätschernd schoss Wasser in die Rinne. Gierig drückte er die Lippen an den Wasserhahn. Wie durstig er doch war! Dennoch hatte er, brennend vor Durst inmitten so vielen Wassers, ans Trinken überhaupt nicht gedacht. Er füllte die Wasserschale, ging zum Quader unterm Baum und setzte sich. Über der eingefassten Quelle waren Bilder in den Stein gemeißelt und darunter Schriftzeichen, mit denen er nichts anzufangen wusste. Schriftzeichen, schief und krumm … Wer weiß, vielleicht war das die Schrift der Griechen.

Die Seife schäumte sofort, und gleichmäßig verteilte er mit dem Pinsel den Schaum auf Wangen und Kinn, strich die Klinge des Messers einige Mal über den Abziehriemen und hatte im nächsten Augenblick seinen Fünftagebart mit geübter Hand abrasiert. Anschließend rieb er bedächtig sein Gesicht mit seinem nach Zitrone duftenden Kölnischwasser ein, legte das Rasierzeug zurück in den Kasten und schloss ab. Wieder klickte es dreimal metallen laut.

Frisch rasiert, fühlte er sich gleich wohler. Er machte an Ort und Stelle ein kleines Lagerfeuer, schob seine Teekanne in die Glut und warf eine Prise Tee ins Wasser. Danach breitete er eine Essmatte aus und stellte eine handgetriebene, verzinnte Kupferschüssel auf die Unterlage. Aus einem Beutel aus Ziegenfell, an dem noch die Angorabehaarung hing, holte er ein Stück Ziegenkäse hervor. Bald lagen auch Brot, Frischzwiebeln und ein Glas Honig auf seiner Tafel.

Er goss den hasenblutroten Tee in ein geschwungenes, dünnwandiges Teeglas, hielt es gegen das Licht und betrachtete eine Weile andächtig die leuchtende Farbe. Der Tee war makellos rein.

Eine schwache Brise kam auf und brachte den starken Geruch des Meeres mit. Die Zweige der Platane wiegten sich leicht, und auch die frisch aus den geplatzten Knospen sprießenden kleinen Blätter schienen sich zu regen.

Musa der Nordwind stand auf, schüttelte die Unterlage am Wasser aus, faltete sie zusammen, verstaute sie im Boot, schlug den Weg zu den Häusern ein, öffnete die Tür des Hauses, wo er geschlafen hatte, nahm sein Bett, kam und rollte es vor seinem Boot auf den Kieselsteinen aus. Von der Matratze stieg ihm Muff in die Nase. Die Hände in den Hüften, wandte er sich dem Meer zu. Es kräuselte sich leicht. Der Hauch eines Lüftchens wehte, erstarb, und weit oben am Himmel schaukelte eine geballte, schneeweiße Wolke. Als er sich umdrehte, sah er im Brombeergebüsch dicht bei den Häusern schemenhaft wieder den Schatten. Ein Schauer durchlief ihn. Wer war dieser Schatten auf der menschenleeren Insel? Erst einmal sich hier niederlassen, und dann sehen wir weiter! Er ging zum Boot und holte aus einem größeren Kasten seinen Revolver hervor. Einen Nagant. Geladen. Und eine Patrone im Lauf. Er legte ihn an und schnallte das Koppel fester als sonst. Dann ging er zu den Häusern und blieb bei der ersten Tür stehen. Sie war nicht abgeschlossen. Als er öffnete, strömte das Tageslicht hinein. Was ihm zuerst ins Auge fiel, war eine bienengroße rote Spinne, die in einem Winkel ihr riesiges Netz gesponnen hatte und rechts darüber in einer Ecke hockte. Der offene Kamin an der Wand gegenüber der Tür stand auf einem Sockel aus weiß geädertem, schwarzem Marmor. Die Asche und Reste von Kohlen sahen aus, als sei das Herdfeuer erst vor kurzem gelöscht worden. Das Vordach der Abzugshaube war aus ziselierter Bronze. Schmal zulaufend führte ein breiter Schacht aus gemeißeltem, gelb geädertem rötlichem Marmor vom Rauchfang durch die Decke in den zweiten Stock. Der Fußboden war aus Kieselstein. Rechts und links des Kamins und der Tür befand sich je ein Fenster, das sich nach innen öffnen ließ. Die reich verzierten Fensterläden gingen dagegen nach außen. Musa öffnete alle vier. Abgesehen von etwas Staub, glänzte der Raum vor Sauberkeit. Die Tür zur Rechten führte in die Küche. Töpfe und Pfannen schienen unberührt. Merkwürdig, dass es nicht einmal in der Küche muffig roch. Er stieg die Treppe hoch, auf den hölzernen Stufen lag kein Staub, sie glänzten wie frisch gebohnert. Im oberen Stockwerk ein geräumiger Salon, an der Nordwand ein großes Fenster, zu beiden Seiten des Fensters bis hin zur Seitenwand je ein Bild. Darauf am Ufer blauen Meeres riesige Pflanzen mit weit geöffneten Blüten, die keiner Blume dieser Welt ähnlich sahen; rote, violette, rosarote, gelbe, fliederfarbene, so weit das Auge reichte … Und Licht. Der Meister hatte jeweils das Orange einer großen Sonne mitten in die Blumen gesetzt. Wüsste jemand, dass irgendwo auf der Erde solche Blumen blühten, er würde von Ort zu Ort durch die Welt wandern, und sei es bis jenseits des Zauberberges Kaf, nur um sie zu betrachten. Mitten im Meer drei Segelschiffe; mit geblähtem Tuch fliegen sie in unendliche Weiten dem Licht entgegen. Und auch der ferne Himmel darüber scheint Flügel zu haben.

Das Bild über dem Fenster reichte bis an die Decke. Der Maler hatte sein ganzes Talent, die Zauberkraft seiner Hände und das ganze Licht in seinen Augen in diese Blumen einfließen lassen und einen blendenden Paradiesgarten vor sich ausgebreitet. Wieder rahmten Blumen das leuchtende Meer ein, das sich wieder in flimmernder Weite verlor. Über diesem flimmernden Licht blühte eine einzige, in Blau übergehende Blume, deren eines ihrer Blätter in den blauen Himmel ragte, vielleicht von allen die Blume mit dem größten Zauber. In der Mitte des Bildes wenden zwei voneinander entfernte Schwäne ihre Rücken dieser aus Licht gewobenen Blume zu und fliegen dem Ufer zu, und genau zwischen den beiden ein landender Schwan mit angewinkelten Flügeln.

Blieb Musa der Nordwind nur einen Augenblick noch dort stehen, der Schwan würde mit seinen angewinkelten Flügeln, platsch!, auf dem Wasser landen! Er floh fast die Treppe hinunter und weiter zum Ufer. Sein Herz pochte, er holte tief Luft, schloss seine Augen; vor ihm zogen Schwärme von Schwänen und magische, nie gesehene, lichtgefüllte, mit Blau durchwirkte riesige Blumen vorüber. Er schlug die Augen auf. Das grelle Licht blendete. Als sich das Dunkel lichtete, hörte er es hinter sich rauschen, er kehrte um, das Haus kam mit all den Blumen immer näher. Im Laufschritt nahm er die Stufen nach oben und blieb vor den Blumen stehen. Träumte er mit offenen Augen, oder hatte er sie geschlossen? Er lief zur Treppe, rannte wieder nach oben. Wann er in die anderen Häuser gelaufen war, wann er sie verlassen hatte, er weiß es nicht mehr.

Gegen Abend ging er wieder in das Haus, in das er zuerst eingekehrt war. Eine unerklärliche Angst beschlich ihn, dieses Haus will ich nicht haben, sagte er sich, dieses Haus ist verhext … Als er durchs Fenster zum gegenüberliegenden Hügel, auf dem die Windmühle stand, hinüberblickte, sah er ganz verschwommen wieder diesen dunklen Umriss. Dieser Umriss war der eines Menschen, aber wenn es wirklich der Umriss eines Menschen war, warum kam dieser nicht zu ihm?

Er nahm zwei Stufen auf einmal, als er die Treppe hinuntereilte, lief bis zu der Stelle, wo er den Schatten gesehen hatte, blickte um sich, doch niemand war da. Er stieg auf den Hügel, ließ seine Augen schweifen, doch nicht der kleinste Zipfel, der von dem Umriss stammen könnte, fiel ihm auf. Erst als er den Hang hinunterging, war ihm, als habe er etwas gesehen. Es tauchte auf und verschwand. Mensch, dieser Schatten will mich wohl narren, murmelte er. War dies eine Insel der Feen? Als sie die Insel vereinnahmten, sind die Bewohner … Und dieser auftauchende und wieder verschwindende Schatten … Warum sollte sonst eine so himmlische Insel derart verwaist sein! Ob auch die Bilder in den Häusern von malenden Feen stammten? Konnten Menschenkinder so bezaubernde Bilder, bei deren Anblick einem schwindelig wurde, überhaupt malen? Ob in all diesen Häusern Elfen wohnten? Und dieser Schatten? Taucht auf und verschwindet in einem fort. Er lächelte, dies ist eine verzauberte Insel, sagte er sich. Soll ich zu einer anderen Insel fahren? Zu einer Insel ohne Feen und wo es nicht spukte? Gibt es denn eine Insel ohne Feen und ohne Zauber, fragte er sich.

Er ging zum Ufer hinunter, zündete ein Feuer an und füllte Wasser in seinen Topf. Erst einmal eine Suppe kochen!

Bis Mitternacht blieb er am Ufer hocken, dann nahm er seine Matratze auf die Schulter und ging zum ersten Haus am Dorfrand. Er zündete seine Karbidlampe an und ging ins Haus. Drinnen roch es nach Harz. Er rollte das Bett links von der Küche aus, verriegelte die Tür und schlief ein, kaum dass er den Kopf aufs Kissen gelegt hatte.

Sehr früh schon wachte er auf. Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Über den kiesigen Strand ging er ans Meer. Das Knirschen der Kieselsteine unter seinen Füßen hallte. Der Meeresspiegel flimmerte tausendfach in stählernem Violett und Grün. Über den Bergen des fernen, unsichtbaren Ufers stiegen Wolken auf. Schneeweiße Wolken, die sich unentwegt blähten … Plötzlich färbte sich die Welt wie ein Blumengarten. Noch nie geschaute, paradiesische Blumen, bunter und größer noch als jene in den Häusern. Die roten von reinem, glänzendem Rot, so auch die gelben, die rosaroten … Und fliederfarbener, reiner Blauglanz.

Wessen Hand auch immer, sie kam und überzog das Meer mit reinem, leuchtendem Orange. Danach blitzte gleich einem Pfeil ein roter Strahl auf, fuhr im nächsten Augenblick um die Platanen und verschwand. Gleich darauf erschien ein schmaler Rand der aufgehenden Sonne. Musa der Nordwind ging zum Strand hinunter und hob zuerst die Nussbaumtruhe aus dem Boot. Sie war sehr schwer. Obwohl er sie, an beiden Griffen gepackt, gegen seinen Bauch drückte, musste er sie auf halbem Wege absetzen. Er war in Schweiß gebadet.

Immer wieder absetzend, schleppte er die Truhe durch die Einfriedung zur Marmortreppe und wuchtete sie auf den obersten Absatz vor der Haustür. Es war eine dieser in ganz Südanatolien so berühmten Nussbaumtruhen aus Maraş. Der Deckel und auch die Seitenwände waren aus einem Stück gearbeitet, und die Schnitzerei auf der Vorderseite stellte eine dahinfliegende, großäugige Gazelle dar.

Jedes Mal, wenn er die Truhe öffnete, stieg ihm der Duft von Holzäpfeln in die Nase. Er zog den Schlüssel aus seiner Tasche und steckte ihn in das gesicherte Schloss. Es schellte dreimal: tschinn, tschinn, tschinn! Aus einem Beutel mit blauen Blumenmustern holte er seine Hose hervor, eine dunkelblaue Reithose. Die Bügelfalten hatten gehalten. Er entkleidete sich schnell, holte frische Unterwäsche aus einem anderen Beutel, dazu Seidenhemd, Weste und Jacke, legte alles an, band sich seine schönste, so selten getragene grüne Krawatte um und zwängte seine Füße in die Langschäfter, die ganz unten in der Truhe gelegen hatten. Ach, wenn er doch nur einen Schrankspiegel hätte und sich darin betrachten könnte! Vergiss es, murmelte er. Er zog sich wieder um und legte die Oberkleidung zurück in den Beutel. Dann eilte er wie im Fluge zum Boot und begann alles auzuladen. Dreimal ging er hin und her und brachte die Sachen ins Haus. Aus einer kleinen Schachtel nahm er seine Uhr, eine Longines, heraus – die goldene Uhrkette allein füllte eine Hand – und steckte sie in die Tasche. Dann setzte er sich auf die Stufen und überlegte. Wie das Haus abschließen? Wird dieser Schatten nicht alles wegschleppen, wenn ich die Tür nicht verriegle? Aber wohin soll der es denn wegschleppen. Und wenn er stehlen will, kann er ja jederzeit die Tür aufbrechen, denn auf dieser menschenleeren Insel wird ihn ja niemand hindern. Was solls, murmelte er, stand auf und ging. Er hatte nicht einmal die Truhe abgeschlossen. Nur sein Geld hatte er in einen Beutel aus Seide gesteckt, den er am Halse trug. Er sprang ins Boot und hängte sich in die Riemen; auf spiegelglatter See flog das Boot nur so dahin. Rudern hatte er im Mittelmeer gelernt. Noch vor Sonnenuntergang musste er es bis Küstennähe geschafft haben. Dann war er spätestens morgen Nachmittag im Städtchen. Wenn die See rau wird, bin ich geliefert, murmelte er. Er vertraute auf sein Glück.

Nachdem sein Boot eine Weile schnell wie ein Schwan dahingeglitten war, zog er die Riemen ein und ließ den Blick schweifen. Er hatte sich von der Insel schon ziemlich weit entfernt. Gemessen drehten sich die Windmühlenflügel. Die drei Platanen schienen aus der Ferne noch höher und breiter, sie ragten wie schwarze Hügel überm Ufer empor. Die Sonne spiegelte sich im Glanz der Fensterscheiben, sie hatte die ganze Insel vergoldet und mit Licht überflutet. Plötzlich schreckte er zusammen, sein Herz klopfte, seine Handflächen wurden schweißnass: Er hatte am Ufer den Schatten entdeckt. Hoch aufgerichtet stand der da, wurde immer länger und winkte ihm zu. Dieser Schatten ist tatsächlich nichts anderes als ein Mensch! Er stand auf und winkte zurück, bis der Schatten aufhörte zu wachsen. Was tun? Er hockte sich hin, schob hastig die Riemen ins Wasser, wendete das Boot und ruderte zurück, dass die Bugwelle rauschend schäumte. Doch als er hinter sich blickte, stieg blanke Wut in ihm hoch: der Schatten war verschwunden. Du Hund!, schrie er aus Leibeskräften. Bleib doch mutterseelenallein auf der Insel hocken, und platze vor Einsamkeit! Dann zog er den rechten Riemen durchs Wasser, bis das Boot wieder gedreht hatte.

Er ruderte mit aller Kraft, hielt aber immer wieder nach dem Schatten Ausschau, aber der war verschwunden. Kerl, ich werde vor einer Woche nicht auf die Insel zurückkehren, platze doch, platz und stirb! Kerl, ich werde auch in einem Monat, in fünf Monaten, in einem Jahr, in drei Jahren nicht auf die Insel zurückkommen, platz doch, platze … Mensch, ich werde überhaupt nicht mehr zurückkommen …

Nachdem er seinen aufgestauten Zorn so ausgespien hatte, fühlte er sich erleichtert. Beschwingt und ohne abzusetzen, legte er sich jetzt in die Riemen, und wie geölt glitt das Boot mit einer schmalen, sich schnell verlierenden Spur leicht schäumenden Kielwassers durch die spiegelglatte See. Musa der Nordwind hatte viel Zeit am Mittelmeer verbracht, er kannte auch viele andere Gewässer, aber so ein freundliches Meer hatte er noch nie erlebt.

An jenem Tag ruderte er bis zum Abend. Kurz vor dem Dunkelwerden holte er die Riemen ein, legte einige Brocken Schafskäse in einen Kanten altes Brot, aß mit großem Appetit, setzte danach den Wasserkrug an die Lippen und trank in kräftigen Zügen. Das Boot dümpelte leicht. So verhält sich das Meer wohl im Frühling, dachte er, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Vorplicht und blieb eine Weile so hocken. Als er die Riemen wieder auslegte, war er ausgeruht, fühlte er sich wie neugeboren. Sternenlicht erhellte das Meer, ließ es stellenweise glänzen. Er kannte die Sterne gut. Ob im Tiefland, auf den Hochebenen, in den Bergen, in der Wüste oder auf dem Meer, die Sterne sahen überall anders aus. Jetzt schienen sie sehr weit und auch sehr groß, als glitte von jedem Einzelnen ein ganzes Strahlenbündel zum Meer herab. Musa bestimmte seinen Kurs nach den Sternen, und es war nicht nur der Polarstern, wonach er sich richtete, auch viele andere zeigten ihm den Weg. Als Wegweiser waren die Sterne auf dem Meer ebenso wichtig wie in der Wüste. Das Rudern strengte ihn fast gar nicht an, wurde er dennoch müde, ließ er die Ruderblätter im Wasser eine Weile treiben, betrachtete die riesigen, wie aufgeblühte Lichtrosen auf den Grund der Finsternis genagelten Sterne und legte sich dann wieder taufrisch in die Riemen.

Hin und wieder ging ihm auch dieser aufgeschossene, sich immer höher streckende Schatten am Ufer durch den Kopf, aber er dachte nicht länger darüber nach. Vor seinen Augen lebten dafür die alten Zeiten wieder auf, Erinnerungen, Geschichten über die fernen Hänge des Zauberbergs Kaf und über den Padischah der Vögel, er sah die Festung Payas in der Mitte zwischen den Gavur-Bergen und dem Mittelmeer und die Festungssträflinge, die Stadt Urfa, die Gegend um Dörtyol, Apfelsinenhaine, das orangefarbene Dorf, den schäumenden, zu Tal donnernden Wasserfall am Gavurberg, die Kindheit, seinen Vater, Schlachtengetümmel …

Er stand auf, blickte zum Festland hinüber, das Meer war kurz vorm Aufhellen, am Ufer bewegten sich schemenhaft riesige Schatten, flackerten undeutlich Lichter auf.

Er warf den Anker aus, der sehr schnell Grund hatte. Demnach war das Ufer weniger als eine Meile entfernt. Er breitete seinen Soldatenmantel aus, kroch in seinen Hirtenumhang und rollte sich auf den Planken zusammen. Als er aufwachte, sah er die Sonne aufgehen. Langsam erhob er sich und linste in alle vier Himmelsrichtungen. Die Stadt lag genau vor ihm. Er beugte sich übers Dollbord, klatschte sich einige Hand voll Meerwasser ins Gesicht, holte sein Handtuch unter der Plicht hervor, trocknete sich ab, kämmte sich und zwirbelte vor einem Taschenspiegel sorgfältig seinen Schnauzbart. Dann pinkelte er ausgiebig über Bord.

Es hatte sich gar kein Leckwasser in der Bilge gesammelt, darüber wunderte und freute er sich.

Er zog den mit bunten Blumenmustern bestickten Beutel unter der Plicht hervor und holte seine neuen Kleider heraus. Das seidene Hemd mit dem auf Aleppoer Art verzierten Kragen und eine Weste reich an Knöpfen aus wertvollstem blauem Stoff. In Windeseile zog er sich an.

Könnte er sich doch einmal nur in einem großen Spiegel betrachten, bedauerte er wieder, band sich sehr sorgfältig die Krawatte um, versah sie mit einer perlenbesetzten Krawattennadel und steckte ein weißes, seidenes Ziertaschentuch in seine Brusttasche. Nun war die Reihe am Kalpak, der in ein Seidentuch eingewickelt war. Er nahm ihn in die Hand und betrachtete ihn eine Weile. Er war aus echtem Persianer und so schön, dass er sich an ihm nicht satt sehen konnte. Dann setzte er ihn, wie die Kämpfer der Nationalen Streitkräfte im Freiheitskrieg, etwas schräg auf und betrachtete sich im Taschenspiegel. Doch es gefiel ihm nicht, und er schob die hohe Fellmütze wieder gerade.

Seine langschäftigen Stiefel waren das Werk des namhaftesten Schuhmachermeisters von Aleppo. Streichelnd, als berühre er ein Heiligtum, zog er sie sich über die Füße.

Musa der Nordwind legte den Soldatenmantel auf die Ducht, setzte sich drauf und legte sich so weich in die Riemen, dass auch kein Tropfen Wasser sprühte. Wie ein Schwan glitt das Boot vorwärts.

Er steuerte das Boot in die Bucht und setzte es mit so viel Schwung auf den Sandstrand, dass es mit halber Länge aus dem Wasser herausragte. Ohne an die Bootswand zu stoßen, stieg er aus. Auf der Anlegebrücke spazierten einige junge Burschen umher, er rief, und sie eilten sofort herbei. »Bitte, mein Bey!«

»Zieht dieses Boot an Land!«

Die Jungs hängten sich ans Dollbord und zogen das Boot bis an die Böschung hoch. Musa der Nordwind drückte ihnen etwas Geld in die Hand, und die Gesichter der jungen Männer leuchteten.

»Ich gehe in die Stadt, gebt auf mein Boot acht!«

»Zu Befehl, mein Bey!«

Musa des Nordwinds Stimme klang so befehlerisch, beinah hätten die Jungen strammgestanden. »Lasst das Boot nicht aus den Augen!«

»Wir rühren uns nicht von der Stelle!«

Er machte sich auf in die Stadt, und ohne sich durchzufragen, fand er sofort das Ladenviertel. Am ersten Friseurladen ging er vorbei, die Wände schienen einzustürzen. Einige Läden weiter war der nächste Friseur, er blieb vor der Tür stehen, aber die Miene des dickbäuchigen Barbiers mit dem grauen Schnauzbart behagte ihm nicht. Da fiel ihm auf der anderen Straßenseite ein großes Schild mit der Inschrift »Barbier Gutes Omen« auf. Er ging hinüber. Drinnen stand ein hoch gewachsener, langhalsiger Mann mittleren Alters mit hängendem Schnauzbart und strengen Gesichtszügen, der ununterbrochen ein Rasiermesser am Abziehriemen schärfte. Dieser Mann sagte ihm zu. Unter den Friseuren waren Menschen dieses Typs oft die redseligsten. Er war noch nicht an der Tür, als sie sich schon öffnete.

»Bitte sehr, mein Efendi, mein oberster Herr, willkommen, du bringst Freude ins Haus!«, rief der Barbier freundlich wie eine Katze, die eine Hand am Türgriff, die andere auf dem Herzen. Noch während Musa der Nordwind eintrat, war der Barbier schon zum Sessel gewieselt, hatte das über seiner Schulter hängende Handtuch gegriffen und das Sitzpolster abgewischt. »Bitte sehr, mein Efendi, bitte, Herr, willkommen in unserer Stadt!« Ohne seinen Redefluss zu unterbrechen, knotete er den Frisierumhang um Musa des Nordwinds Hals.

Der Laden war alt und brüchig. Vielleicht stammt er noch von seinem Großvater, dachte Musa.

»Mein Name ist Nuri, der Meisterliche Barbier zum Guten Omen. Ich kam aus Istanbul hierher, hatte dort im Stadtteil Beyoğlu einen großen Frisiersalon für Damen und Herren. Neun griechische Gesellen und Gesellinnen arbeiteten für mich. Des Schicksals Auge möge erblinden, sein Herd verlöschen!« Er machte eine Pause und seufzte tief. »Hatten wir das verdient? Der Krieg brach aus, wir landeten in dieser Provinz und kauften diesen Laden von einem wohl Hundertjährigen. Schon der Vater und der Großvater des Alten waren in diesem Laden ihrem Handwerk nachgegangen, und um die Atmosphäre dieses jahrhundertealten Ladens nicht zu verändern, ja, um das Antike zu bewahren, haben wir ihn so, wie er war, erhalten. Doch zu tun gibt es nichts. Hier lässt sich niemand rasieren, mein oberster Herr, jedermann läuft mit einem schmutzigen, ellenlangen Bart und hüftlangen Haaren herum. Sie stinken alle, mein oberster Herr, sie stinken, mein Bester. Dabei sollen früher die Goldstücke in diesen Laden nur so hereingeregnet sein.« Er zeigte hinaus und rief: »Diese Häuser …«, dann drehte er sich dem Meer zu, »und all diese Inseln waren griechisch. Die Griechen sind gegangen und der Segen jener Tage mit ihnen. Ach, ach, wäre es denn sonst so weit mit mir gekommen? Wie mich gab es keinen zweiten Barbier nicht nur nicht in Istanbul, den gab es nicht einmal in Athen und Paris! Soll ich Ihnen mal etwas sagen, mein Efendi? Diese Welt macht überhaupt keinen Spaß mehr! Wir können schon froh sein, wenn wir satt werden.«

Dann goss er etwas Wasser in die dampfende Kanne auf dem Holzkohlebecken: »Werde ich auch Ihr Haar waschen?«

Musa der Nordwind wusste schon immer, wie man mit solchen Leuten reden musste: »Du wirst!«, antwortete er von oben herab laut und bündig.

»Zu Befehl, unser Efendi!« Kaum hatte der Barbier seine Utensilien zurechtgelegt, begann er in Musa des Nordwinds Haarschopf zu schnippeln. Und wie bei allen Meistern seines Fachs würde nichts mehr das gleichmäßige Klappern seiner Schere unterbrechen. Ob einer redet, ruft oder brüllt, ob neben ihm Kanonen donnern, nichts konnte den Gleichtakt seiner schnippelnden Schere mehr aufhalten!

»Was hatten sie sich nur gedacht, als sie die Griechen fortschickten! Wie Brüder verbrachten wir mit ihnen unsere Tage. Sie hatten uns doch gar nichts getan … Und mit ihnen ging auch der Segen! Weit und breit keine Maurer mehr und keine Zimmerer, die uns ein Häuschen bauen können, wir finden keinen Schneider, der uns die aufgeplatzten Nähte flickt, keinen Schmied, der uns die Pflugschar hämmert, es gibt keine Ärzte mehr, keine Tierärzte, weder Bootsbauer noch Autoschlosser. Wir sind der Not ausgeliefert, mein Efendi und oberster Herr. Sie sind ein studierter Mann und wissen, warum sie die Griechen fortgeschickt haben, ich habe lange darüber nachgedacht, doch bin ich nicht darauf gekommen. Wer hat die Griechen nur fortgeschickt und uns in diese missliche Lage gebracht?«

Unwillig hob Musa der Nordwind den Kopf, beinah wäre ihm die Schere in den Nacken gefahren. Er verhielt eine Weile und sagte dann mit zorniger Stimme: »Wir haben sie weggeschickt, Beyefendi, wiiir!«

Der Friseur erschrak. »Sie also, Hochwohlgeboren«, sagte er verängstigt, »Sie also … Und da von Euer Hochwohlgeboren ja nichts Schlimmes ausgehen kann, nicht wahr … Der nach Recht und Gesetz abgetrennte Finger kann nicht schmerzen, nicht wahr? Da werden die Griechen, bei all ihrem Geschick und ihren Talenten, wohl Vertreibung und Tod verdient haben, Hoheit … Ja, werden sie bestimmt verdient haben.«

»Mach weiter, Barbier!«, sagte Musa der Nordwind. »Und jetzt wirst du ehrlich auf meine Fragen antworten. Geradeheraus! Du brauchst keine Angst zu haben. Und mach weiter!«

Die Hände des Friseurs zitterten. Beinah wäre ihm die Schere aus der Hand geglitten.

»Sei unbesorgt, lieber Barbier Efendi, die Griechen hätten für dich noch viel tun können, aber wir haben sie nun einmal vertrieben. Es ist, wie es ist!« Er lachte schallend. »Was geschehen ist, ist Vergangenheit! Erzähl du mir erst einmal vom Landrat, vom Finanzdirektor und vom Standesbeamten! Auf Grund meiner langjährigen Erfahrung habe ich sofort erkannt, dass du ein kluger Mann bist, der viel erlebt und manchen Schicksalsschlag ertragen hat. Und wenn du mir ohne Scheu deine ehrliche Meinung sagst, soll es nicht dein Schade sein. Erzähle mir jetzt vom Finanzdirektor. Was weißt du über ihn? Was sagt man über ihn? Erzähle mir alles, und es wird sich für dich lohnen.«

»Zu Befehl, Efendi, zu Befehl, und immer zu Diensten, mein Efendi, immer zu Diensten!« Der Barbier hatte sich von seinem Schrecken erholt, und wie vorhin begann die Schere in einem fort, klipp, klipp, zu schnippeln.

»Ich verstehe, mein Efendi, worum es Ihnen geht. Wenn es so ist, dann hat Gott Sie geschickt. Dieser Landrat und auch der Finanzdirektor sind Millionäre geworden. Sie haben krügeweise Gold gehortet, haben in Istanbul Villen und Serails gekauft. Aber der Standesbeamte, der ist zu bedauern. Auch wenns um sein Leben ginge, ließe der sich nicht bestechen. Es genügt, ihn zu loben. Sein Großvater soll ein Khan oder Bey der Tschetschenen oder Ähnliches gewesen sein. Sage ihm nur, dass es in diesem riesigen Land der Osmanen, im Iran, im Turan und in dieser Türkischen Republik keinen gibt, der nicht von seiner Sippe weiß, sage ihm: ›Geh doch hin zum großen Retter des Vaterlandes mit dem Herzen eines Tigers, der Mähne eines Löwen, den meerblauen Augen und sonnenhellen Haaren, zu Mustafa Kemal, und höre dir an, was er dir über deinen Großvater, den Khan, erzählen wird!‹ Wenn er das hört, wird er zur Erde unter deinen Füßen, schlägt er sogar sein Leben für dich in die Schanze.«

»Ich habe verstanden. Barbier, dafür wirst du belohnt werden. Dieses Vaterland wird deine Dienste fürs Volk niemals vergessen. Nur einen freundschaftlichen Rat von mir: Sprich in Zukunft zu niemand Fremdem so über die Griechen, du könntest in Teufels Küche kommen …«

»Um Gottes willen, nie wieder … Gott behüte!«

»So ist es recht!«

»Ja, Efendi, die haben von den Griechen verlassene Häuser angeblich öffentlich versteigern lassen. Doch, mit Verlaub, niemand hat je erlebt noch gehört, dass auch nur ein Feld oder ein Haus durch Versteigerung in andere Hände übergegangen ist. Sie haben alles unter der Hand verkauft, und wenn sie drei Kuruş in den Staatssäckel abgeführt haben, warfen sie hundert Kuruş in den eigenen Geldbeutel. Und so wurden sie reich wie Krösus. Von sieben bis siebzig kennt jedermann in dieser Stadt ihre Bestechlichkeit. Hast du beim Finanzdirektor etwas zu erledigen, musst du, ohne anzuklopfen, zu ihm gehen. Ist jemand bei ihm, brauchst du nur zu warten. Da er schon an deiner Haltung erkennt, weshalb du wartest, beeilt er sich, die Anwesenden abzuwimmeln, steht dann auf, gibt dir die Hand und bittet dich, ihm gegenüber Platz zu nehmen. Er bestellt Kaffee, und wenn du nach den ersten Höflichkeitsfloskeln schon zur Börse greifst, ohne deine Wünsche zu äußern, so hängt die Anzahl der Goldstücke davon ab, was du von ihm erwartest. Aber weniger als drei Goldstücke dürfen es nicht sein. Legst du ihm nur zwei Goldstücke hin, wird er wütend. Und ist es nur ein Goldstück, kommst du, wer immer du auch seist, ohne eine Tracht Prügel nicht aus seinem Zimmer heraus. Leistest du Widerstand, ruft er seine hünenhaften Schläger herein, und die brechen dir die Knochen zu Mehl.« Der Friseur war wieder in Fahrt, er redete ununterbrochen, und seine Schere klapperte im Gleichtakt.

Seit geraumer Zeit schon stieg aus der Schnabelkanne warmer Dunst empor. Der Barbier holte ein tragbares, kleines Becken, hielt es dicht unter Musa des Nordwinds Kinn, schlug Seife schaumig, trug den Schaum auf und zog das Rasiermesser noch einige Male ab. Von Seifenduft geschwängerter Dunst breitete sich aus. Im Nu hatte der Barbier Musas Bartstoppeln abgeschabt. Er schüttete das Seifenwasser aus und goss kaltes Wasser in die Schnabelkanne nach. Dann wusch er mit lauem Seifenwasser Musas Kopf. Die Haare wurden gekämmt, die Gesichtshaut mit Kölnischwasser eingerieben, und jetzt zogen wahre Duftwolken durch den Raum.

Musa der Nordwind drückte dem Meisterlichen Barbier zum Guten Omen einen beachtlichen Betrag in die Hand, und der Barbier verabschiedete ihn mit allertiefsten Verbeugungen. »Ich erwarte Sie wieder, mein Sultan und Efendi!«

»Ich werde kommen, Barbier Efendi!« Plötzlich schien ihm etwas eingefallen zu sein, und er kam zurück. »Ist jemand in der Nähe, der mir die Stiefel ordentlich putzen kann?«

»Aber ich bitte Sie, mein Efendi und Sultan, ich werde einen Beyefendi wie Sie doch nicht zum Schuhputzer schicken. Kommen Sie doch in den Laden, machen Sie es sich im Sessel bequem, ich komme sofort mit einem Schuhputzer zurück. Das sind doch keine Umstände, mein Sultan, keine Umstände.« Er hängte sich bei ihm ein, schob ihn in den Laden, setzte ihn in einen Sessel und hastete ins Freie. Kurz darauf kam er mit einem Schuhputzer zurück, den er am Arm hinter sich her zog.

Musa der Nordwind musterte zuerst des Schuhputzers Hände und dann seinen Kasten. Ja, dieser Mann war kein Anfänger. Ein aus Perlmutt eingelegter Zug Kraniche zog, vielleicht schon etwas erschöpft, von einem Ende des Schuhputzkastens zum andern. Und ein Segelschiff aus blauem Perlmutt zog an einem Baum vorbei, schien über die Kante des Kastens hinauszugleiten. Die Hände des Schuhputzers waren so ansprechend wie sein Kasten, und in kurzer Zeit hatte er die Stiefel gefärbt, gebürstet und blank gerieben.

Musa der Nordwind entlohnte auch den Schuhputzer reichlicher, als dieser erwartet hatte, und verließ den Laden. Er fragte sich bis zum Amtssitz des Finanzdirektors durch, und dort angekommen, sagte er mit kerzengerader Haltung barsch zum Amtsdiener: »Geh sofort zu deinem Bey, und sage ihm, Musa der Nordwind möchte den Herrn sprechen! Und sage es ihm genau so!«

Der Finanzdirektor Abdülvahap Bey hatte drinnen schon seine kräftige, befehlende Stimme gehört, er war aufgestanden und zur Tür gegangen. Abdülvahap Bey erkannte an der Stimme eines Menschen, wer und was dieser war, ob ein Veteran der Nationalen Streitkräfte, ein Ağa oder Bey, Inspektor oder Offizier, Dörfler oder Städter. An der Tür standen sie sich gegenüber.

»Bitte sehr, mein Herr, willkommen, Nordwind Beyefendi!«

»Ich bin erfreut! Mein Name ist Musa.«

»Musa Beyefendi.«

Der Finanzdirektor rieb sich die Hände.

»Nordwind ist mein Spitzname. Als wir in Urfa gegen die Franzosen kämpften, gab mir der Nationalheld von Urfa und Freund seiner Hoheit Mustafa Kemal Pascha, Ali Saip Beyefendi, diesen Namen. Letzterer ist jetzt Abgeordneter von Adana.«

»Ahnten wir es doch, mein Efendi. Auch wir haben, mit Verlaub, in den Dardanellen und am Fluss Sakarya gekämpft und sind vor Afyon schwer verwundet worden, ja, ja, mein Herr …«

Vor seinem Schreibtisch angekommen, nahm der Direktor Musa den Nordwind höflich am Arm und drückte ihn auf den davor stehenden Stuhl nieder. Er selbst nahm ihm gegenüber Platz, ließ aber seinen Bürosessel frei. Musa der Nordwind wusste, dass eine derartige Platzverteilung eine große Ehrerbietung war.

»Was trinken Sie, mein Efendi?«

»Einen Kaffee ohne Zucker, wenn Sie so freundlich sind.«

»Aber selbstverständlich! Einen Schwarzen also! Auch für mich!«

Und der strammstehende Amtsdiener rannte. Bis der Kaffee gebracht wurde, erkundigte man sich nach dem Befinden, sprach man vom Wetter und Ähnlichem. Und als die Tassen gereicht wurden, schlürften beide genüsslich und still eine ganze Weile.

»Der Amtsdiener Eurer Wohlgeboren wissen einen vorzüglichen Mokka zu kochen.« Musa nahm noch einen Schluck und wandte sich an den Amtsdiener, der wieder mit verschränkten Händen stramm dastand: »Ich danke dir, du hast einen sehr guten, schaumigen Kaffee gebrüht!«

»Ihnen ein langes Leben, hochverehrter Beyefendi!«

»Du kannst gehen!«

Der Amtsdiener ging rückwärts aus dem Zimmer.

»Wir sind die Zukurzgekommenen, mein Herr, entlassen in die tägliche Not ums karge Brot; wir, die unter dem Befehl Mustafa Kemal Paschas die feindliche Flotte versenkten, wir, die tagelang bis auf die Haut durchnässt mit aufgepflanztem Bajonett kämpften, wir, die verwundet wurden und knapp dem Tod entronnen sind …« Der Direktor zog seine Jacke aus, öffnete den großen, goldenen Manschettenknopf am linken Handgelenk, krempelte den Hemdsärmel hoch und legte eine sehr tiefe Narbe frei, die vom Ellenbogen bis zur Schulter reichte. »Ich war Oberleutnant der Artillerie, mein Herr. Plötzlich sehe ich den Feind heraufstürmen, nicht viel mehr als dreißig Schritte trennen uns. Was machst du in so einer Lage? Ich griff mir des nächsten Soldaten Gewehr mit aufgepflanztem Bajonett und marschierte ›Allah, Allah!‹ brüllend los, dann wurde es dunkel um mich, und ich kann mich an nichts mehr erinnern … Erst in der Kirche auf der Ameiseninsel öffnete ich wieder meine Augen. Hätte der Feind sein Bajonett etwas weiter nach links gestoßen, genau auf mein Herz … Ich wäre jetzt nicht hier.«

Mit der Begeisterung eines geübten Geschichtenerzählers beschrieb er überschwänglich die Schlacht um die Dardanellen, die sinkenden Schiffe, die Bajonettkämpfe, wie viel Engländer sie getötet hatten, wie hoch sich auf den Schlachtfeldern die Toten türmten, wie alle Adler, Geier und sonstigen Greife über den Leichen kreisten, auf sie niedergingen und sie zerfleischten. Wer weiß, wie oft er schon die Schlachtensage der Dardanellen so dargebracht hatte, dass seinen Zuhörern vor Spannung die Daumenkuppen zwischen den Lippen kleben blieben.

»Die Ameiseninsel ist, wie du hier siehst, eine Insel mitten im Meer. Es gab dort viele gute Ärzte. Schiffsladungen von Verwundeten wurden dort an Land gebracht. In den Kirchen lagen sie fast übereinander. Auch die Schule wurde geräumt und mit Verwundeten voll gestopft. Und es kamen von den Dardanellen ununterbrochen neue dazu. Je mehr Verletzte kamen, desto mehr Häuser wurden geräumt, und die Bewohner schlüpften bei ihren Nachbarn unter. Ich weiß, dass bis zu zehn Familien in einem Haus wohnten. Die griechischen Frauen und Mädchen der Insel pflegten die Verwundeten und kochten für sie. Manchmal ging die Verpflegung zur Neige, dann brachten die einheimischen Griechen, was Küche und Keller hergaben. Es kam vor, dass auch sie keinen Bissen mehr hatten. Dann hungerten Verwundete und Einheimische gemeinsam, bis aus den umliegenden Dörfern der Turkmenen Hilfe kam. Mit Booten und Kuttern brachten sie Lebensmittel auf die Insel …«

Musa der Nordwind hatte schon viele dieser Kriegsgeschichten gehört, sie langweilten ihn, aber was sollte er dagegen tun, zumal der Direktor so schön erzählte, dass er in Gedanken nicht einmal abschweifen konnte.

Die Schlacht um die Dardanellen war geschlagen, jetzt war der Flussbogen des Sakarya an der Reihe. Der Direktor begeisterte sich immer mehr. Er redete und redete und erzählte schließlich, wie er Mustafa Kemal Pascha, gehüllt im Soldatenmantel, in tiefem Schnee gesehen hatte. Beim Namen Mustafa Kemal Pascha wurde er noch aufgeregter, er sprang auf, setzte sich wieder, wedelte mit den Armen, brüllte fast mit schäumenden Lippen Atatürks Befehl: »Armeen, euer Ziel ist das Mittelmeer!«, und stieß dabei seinen Zeigefinger dem Meer entgegen.

Musa der Nordwind zog seine Uhr aus der Westentasche und schaute aufs Zifferblatt. Schönheit und Wert der Taschenuhr waren dem Direktor nicht entgangen. Dann wanderten seine Augen wieder zu den Manschettenknöpfen seines Gastes. Es waren in Gold gefasste Saphire, er konnte seine Blicke nicht von diesen schönen Stücken wenden. Jemand mit einer so wertvollen Uhr, zudem so gut gekleidet und mit so kostbaren Manschettenknöpfen … Ihm wurde klar, dass er zu weit gegangen war: »Entschuldigen Sie, Beyefendi, Musa der Nordwind Beyefendi, ich bitte um Vergebung. Es kam so über mich, Efendi, in meiner Begeisterung konnte ich mich nicht beherrschen. Nie kann ich an mich halten, mein Efendi. Wie sollte ich auch, nachdem man uns so zurückgesetzt hat. Ihre Vergebung …«

»Aber ich bitte Sie!« Seine Stimme klang tief und kräftig, ein bisschen von oben herab.

»Entschuldigen Sie, ich habe sogar vergessen, mich Ihnen vorzustellen, entschuldigen Sie! Mein Name ist Abdülvahap.«

»Ich danke Ihnen, Abdülvahap Bey.«

Verlegen rieb Abdülvahap Bey seine Handflächen, als er sagte: »Ein kleines Anliegen habe ich noch. Heißt es doch: Sorgen lösen die Zunge, Kummer treibt die Tränen! Vor dem Krieg war ich mit zwanzig Jahren Sekretär bei der Finanzdirektion. Meine Zeit beim Militär beendete ich im Rang eines Leutnants. Leuten, die ein Schlachtfeld nicht einmal gesehen hatten, ließ man huldvoll Orden, Auszeichnungen, Ämter, Haus und Hof, Güter und Schlösser zukommen, ich aber, zweimal verwundet, fünf Jahre lang von einer Front zur anderen gekarrt, döse als Habenichts, wie Sie sehen, in Provinznestern wie diesem herum.«

Voller Wut stand er auf, schritt aus, und voller Wut ließ er sich krachend wieder in seinen Sessel fallen. Er verschränkte seine Hände ineinander und schaute Musa dem Nordwind in die Augen. Der andere wich seinen Blicken nicht aus, zuckte nicht mit der Wimper. So sahen sie sich an und wurden sich einig.

»Die Aufregung, mein Herr, das Unrecht, mein Herr. Ich bitte um Vergebung, dass ich Euer Wohlgeboren noch gar nicht gefragt habe. Hatten Sie eine Anordnung treffen wollen?«

»Ich bitte Sie, Beyefendi, ich hätte nur ein Anliegen gehabt. Sie sprachen doch vorhin von der Insel der Ameisen …«

»Ja, die Ameiseninsel.«

»Nun, ich habe mich auf der Insel niedergelassen.«

Abdülvahap Beys Gesicht strahlte. »Ja, Beyefendi, darüber bin ich froh und sehr glücklich. Aus allen Himmelsrichtungen sind sie gekommen, aus dem Kaukasus, aus Kreta und den anderen Inseln, und haben die ganze Ebene und die ganze Küste unter sich aufgeteilt. Aber kein Diener Gottes ist bei mir vorstellig geworden, um mir mitzuteilen, er wolle sich auf der Insel der Ameisen niederlassen. Ich bin hocherfreut. In welches Haus sind Sie eingezogen?«

Musa der Nordwind erhob sich, stellte sich neben den Direktor, nahm einen Bleistift aus der Schreibschale und zeichnete auf einen Bogen Papier ein Schema der Insel mit den Häusern.

»Dieses Haus«, sagte er.

»Angemessen! Ein sehr schönes Haus. Ein Neubau. Es ist das Haus vom Betuchten Manoli. Ja, er war der bedeutendste Händler von Tuchen, Wein und Olivenöl in dieser Gegend. Er exportierte Wein und Olivenöl nach Griechenland und Italien und importierte von dort Stoffe. Eine gute Wahl, Efendi, das schönste Haus, Euer Wohlgeboren! Und der Garten ist groß, über fünfzehn Ar, schätze ich.«

»So ist es.«

Und wieder sah Abdülvahap Musa dem Nordwind mit durchdringendem Blick abwartend in die Augen.

Nun griff Musa der Nordwind in seine Innentasche und zog einen glänzenden, samtenen Geldbeutel hervor. Dass dieser prall gefüllt war, erfreute Abdülvahap Bey, ein glückliches Lächeln erhellte sein Gesicht und blieb dort haften. Und während Musa der Nordwind mit ihm gemeinsam lächelte, lockerte er die Schnur des Beutels, zählte fünf Goldstücke heraus und legte sie vor dem Direktor auf den Tisch.

Der Direktor rührte sich nicht, nur sein Lächeln gefror und machte einer bitteren, verhärmten, enttäuschten Miene Platz.

»Verehrter Abdülvahap Bey, sollte es nicht genügend sein?«, beeilte sich Musa der Nordwind zu fragen.

»Ich bitte Sie, verehrter Bruder mein, um Gottes willen, verehrter Bruder, nur, Sie wissen ja, wir gehören zu den zurückgesetzten, vom Unrecht heimgesuchten Personen. Der Grund unseres Kummers ist offensichtlich, der Staat hat schließlich dazu beigetragen, dass wir auf jeden Bissen kargen Brotes angewiesen sind.«

Musa der Nordwind holte seinen Geldbeutel wieder hervor, schaute den Direktor an, der überlegte, während Musa der Nordwind mit dem offenen Beutel in der Hand abwartete. Abdülvahap musterte abwechselnd Geldbeutel und Gesicht seines Gegenübers, streckte dann drei Finger aus, und im Nu glänzten vor ihm drei weitere Goldstücke auf der Tischplatte.

»Beyefendi, es geht schon auf Nachmittag, Sie müssen ja vor Hunger sterben. Oh, mein hirnloser Kopf, oh, oh! Es fehlt nicht viel, und wir bringen unseren teuren Gast noch um. So benimmt man sich doch nicht gegenüber einem Gast, so wertvoll wie Gold und Edelstein! Die Aufregung, mein Herr, die Aufregung …« Und während er sprach, schaute er immer wieder auf seine Uhr, die er aus der Westentasche gezogen hatte. Eine echte Longines an einer Uhrkette aus mehr als einer Hand voll Gold. »Bitte, machen wir uns doch auf den Weg ins Esslokal von Hadschi Stavros!« Er stand auf, hakte sich bei Musa dem Nordwind ein, und beide verließen das Zimmer und gingen gut gelaunt die Treppe hinunter.

»Nach dem Essen werden wir zum Grundbuchamt gehen. Geben Sie dem Beamten bitte nicht mehr als ein Goldstück! Selbstverständlich ist mir Ihr Geld genauso teuer wie mein eigenes. Ohne unser Wissen hat dieser Gauner von Grundbuchbeamter die ganze Welt ausgeplündert und ist dabei reicher geworden als Krösus. Für ihn reicht eine Lira, und Sie werden ihm das Geld in meinem Beisein geben. Sollte er eine Lira als zu gering erachten, gebe ich Ihnen ein Zeichen, und Sie legen eine zweite dazu, keine zwei! Den Grundbrief bekommen wir sofort, Zug um Zug.«

»Ich möchte auch einen Grundbrief für die mittlere Windmühle!«

»Bestehen Sie nicht darauf, das ist überhaupt nicht erforderlich, ich bitte Sie, Efendi! Nehmen Sie Ihren Grundbrief, denn ich werde die öffentliche Versteigerung der Immobilien bekannt geben. Diese Veröffentlichung wird natürlich niemand zu Gesicht bekommen … Und wenn der Tag der Versteigerung gekommen ist … Machen Sie sich also darüber keine Sorgen, das ist ein leichtes Spiel.« Arm in Arm betraten sie das Lokal.

Sie aßen in Eile und machten sich gleich nach dem Essen auf zum Grundbuchamt.

»Wie kamen Sie ausgerechnet auf die Ameiseninsel?«

»Durch die Erzählungen eines Freundes, der bei den Dardanellen verwundet worden war und im Krankenhaus der Insel gelegen hatte. Er konnte gar nicht aufhören zu schwärmen. Nach seiner Meinung sei die Insel ein Paradies, die Menschen Engel. Und da entschloss ich mich, nach Kriegsende meinen Lebensabend auf dieser Insel zu verbringen.«

»Augenblick mal, nicht so hastig, Ihro Wohlgeboren sind noch so jung. Sind Sie verheiratet?«

»Ich bin es nicht.«

»Nun, wie Sie sehen werden, gibt es außer Möwen keine Geschöpfe auf dieser Insel. Und sie gaben ihr den Namen Ameiseninsel. Griechisch Mirmingi, also Ameise. Doch auf der Insel keine Ameise, wie wir sagen. Und als sei sie verhext, will sich dort niemand niederlassen. Aber Bienen gibt es viele, ja, eigenartig, sehr viele … Sie haben also nie geheiratet?«

»Nein, nie geheiratet.«

»Selbstredend, Sie sind ja noch sehr jung. Aber sollte ein Mensch in diesem Alter sich wirklich auf diese öde Insel lebenslänglich selbst verbannen? Das ganze Gebiet quillt über von Einwanderern aus Rumelien, aus dem Kaukasus, aus Ostanatolien und dem Süden, aber niemand will auf die Inseln. Wen ich auch hinschickte, sogar ohne einen Silberling dafür zu nehmen, kam nach zwei Tagen fluchtartig zurück. Auch auf deiner Ameiseninsel habe ich nicht einen einzigen Diener Gottes unterbringen können. Wenn Wohlgeboren wünschen, kann ich noch ein ertragreiches Gut anbieten. Viel Geld brauchts da nicht. Der Bevölkerungsaustausch ist ja abgeschlossen, da kommen keine mehr. Diese Landwirtschaft kann ich Ihnen für einige Goldstücke überlassen. Ich habe Unzählige in dieser Provinzstadt, ohne einen Silberling zu kassieren, zum Hauseigentümer gemacht und in diesen Dörfern Unzähligen Ackerland verschafft.«

»Ich werde auf der Ameiseninsel wohnen. Soll meinetwegen niemand kommen, ich wohne dort auch allein.«

»Geradeso wie Robinson.«

»Wie wer auch immer, ich werde auf dieser Insel wohnen.« Er dachte angestrengt nach, kam aber nicht darauf, wer dieser Heide namens Robinson sein konnte. Jedenfalls musste es jemand sein, der ganz allein auf einer Insel lebte. So wie Abdülvahap Bey diesen Namen ausgesprochen hatte, musste es sich um eine sehr namhafte Person handeln, da war sich Musa der Nordwind sicher.

»Machen Sie sich dennoch keine Sorgen, innerhalb weniger Monate werden wir vielleicht ein paar Leute hinüberschicken. Sie wissen ja, allein beim Wort Insel schlottern unseren Landsleuten schon die Knie.«

»Mir schlottern sie auch«, lag es Musa dem Nordwind auf der Zunge, doch er verkniff sich diesen Satz und sagte: »Ich liebe die Einsamkeit.«

Der Grundbuchbeamte begrüßte sie mit überschäumender Freude, bat sie, es sich in den Sesseln neben seinem Schreibtisch bequem zu machen, zog sich einen Stuhl heran, nahm ihnen gegenüber Platz und fragte nach ihrem Befinden.

»Was trinken Sie, bitte?«

»Einen Kaffee ohne Zucker.«

»Einen Kaffee ohne Zucker«, antwortete auch Abdülvahap Bey.

Bis die Kaffees hereingebracht wurden, sprachen sie über die Lage der Nation. Ja, diese Sachzwänge, da geht es nicht anders … Schließlich hat das Land gerade einen Krieg hinter sich, es ist erschöpft und hat tiefe Wunden davongetragen … Die Republik ist ja noch so jung … Doch unter der Führung Mustafa Kemal Paschas wird dieses Volk auf den Spuren moderner Zivilisationen einen weiten Weg zurücklegen, sie in sehr kurzer Zeit einholen, am Kragen packen und nicht mehr lockerlassen …

Abdülvahaps Erstaunen nahm kein Ende. Wieso redete dieser Possenreißer Talip denn jetzt mit gespaltener Zunge? Waren sie allein oder mit Freunden, dann schimpfte er doch, was das Zeug hielt, auf die Republik und diesen Bolschewisten Mustafa Kemal. Er musterte Talip vom Scheitel bis zur Sohle. Mit den zusammengedrückten Beinen, den Händen auf seinen Knien und dem gesenkten Kopf schien er zu einem Denkmal der Unterwürfigkeit erstarrt zu sein. Etwas musste dahinter stecken! Und es musste mit diesem Musa eine Bewandtnis haben. Denn dieser Hund von Talip würde nicht einmal vor dem Erzengel so strammstehen. Konnte so ein Gentleman, so ein gut aussehender, höflicher, rücksichtsvoller Mann überhaupt Musa der Nordwind heißen? Das war doch ein Deckname! Und solche Decknamen benutzen nur die Ranghöchsten der Kemalistischen Nationalen Streitkräfte.

Der Kaffee wurde hereingebracht, wortlos tranken sie ihn aus den dargereichten Mokkatässchen.

»Wir haben eine Bitte an Sie, eine dringende Angelegenheit des Beyefendi!«