Das Lied der Tausend Stiere - Yaşar Kemal - E-Book

Das Lied der Tausend Stiere E-Book

Yasar Kemal

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Beschreibung

Die türkischen Nomaden vom Stamm der Karaçullu ziehen seit Jahrhunderten aus den Bergen hinunter in die Ebene, um sich ein Winterquartier zu suchen. Aber wo sie einst mit Hunderten von Zelten, glänzend und bewundert in ihrem Reichtum, die Ebene überschwemmten, erstrecken sich jetzt Reisfelder und Baumwollplantagen bis an den Horizont. Wo sie einst ihre Herden weideten, bebauen jetzt sesshafte Bauern den Boden, dröhnen Lastwagen auf asphaltierten Straßen. Mit Steinhagel und Flintensalven werden sie empfangen. Großgrundbesitzer, korrupte Dorfpolizisten, doppelzüngige Agas pressen ihnen täglich neue Tribute ab, bis sie schließlich nichts mehr zu verkaufen haben als ihre kostbaren Teppiche, den jahrhundertealten Schmuck ihrer Frauen und schließlich ihren letzten Besitz - ihre Herden.

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Über dieses Buch

Seit Jahrhunderten ziehen die türkischen Nomaden vom Stamm der Karaçullu aus den Bergen hinunter in die Ebene, um sich ein Winterquartier zu suchen. Aber wo sie einst mit Hunderten von Zelten, glänzend und bewundert in ihrem Reichtum, die Ebene überschwemmten, werden sie jetzt von Polizei und Großgrundbesitzern mit Steinhagel empfangen.

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Yaşar Kemal (1923-2015) wird der »Sänger und Chronist seines Landes« genannt. Er wuchs in einem Dorf Südanatoliens auf und lebte in Istanbul. 1997 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 2008 wurde er mit dem Türkischen Staatspreis geehrt.

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Yildirim Dağyeli ist Verleger und literarischer Übersetzer. Anfang der Achtzigerjahre gründete er in Berlin den auf türkische Literatur spezialisierten Dağyeli Verlag.

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Helga Dağyeli-Bohne (*1940) übersetzt seit Ende der Siebzigerjahre gemeinsam mit ihrem Mann literarische Texte aus dem Türkischen.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Yaşar Kemal

Das Lied der Tausend Stiere

Roman

Aus dem Türkischen von Helga Dağyeli-Bohne und Yildirim Dağyeli

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 6 Dokumente

Die türkische Originalausgabe erschien 1971 unter dem Titel Bin Boğalar Efsanesi in Istanbul.

Originaltitel: Bin Boğalar Efsanesi (1971)

© by Yaşar Kemal 1971

© by Unionsverlag, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30783-4

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Version vom 22.06.2022, 10:48h

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Inhaltsverzeichnis

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Inhaltsverzeichnis

DAS LIED DER TAUSEND STIERE

1 – Hinter dem Berg Aladag liegt ein lang gezogenes …2 – 1876 fand eine Schlacht statt zwischen den türkmenischen …3 – Diesen Frühling hatte der Karaçullu-Stamm auf dem Aladag …4 – Wie diesen Winter in der Çukurova verbringen und …5 – Früher, es ist schon lange her, war der …6 – Man schreibt das Jahr 1876, es ist Sommer …7 – Als sich die Nomaden allmählich in der Çukurova …8 – Der Herbstregen setzte ein. Der Donner grollte über …9 – Der Stamm musste schwere Prüfungen durchstehen. Wer kam …10 – Der kleine Kerem erwachte mitten in einem Flammenmeer …11 – Als der Zug der Nomaden den Ceyhan überquerte …12 – Wie viele Tage, wie viele Nächte hatten sie …13 – Von Yalnizagaç bis hinüber nach Anavarza nichts als …14 – Im Tal hoch auf dem Aladag, in der …15 – Schließlich fand Oktay Bey am Fuß der Festung …16 – Kerem hatte im Dorf Yalnizagaç Unterschlupf gefunden …17 – Meister Haydar und Osman erreichten Adana noch vor …18 – Halils Vater war tot, sein Großvater auch …19 – Verdreckt und gebrochen kam der Zug in Sariçam …20 – Das Ufer zu beiden Seiten des langen …21 – Regen fällt auf Adana herab. Ein heftiger …22 – Der Hemite-Berg steckt wie ein Dolch mitten im …23 – Züngelnde, vielfarbige Schatten, rote, grüne, blaue, orangefarbene …24 – Es war schon zehn oder fünfzehn Jahre her …25 – Auf dem höchsten Gipfel des Hemite-Berges stehen drei …26 – Für die meisten Menschen ist die Eule ein …27 – Von Khorassan sind wir gekommen, die hell glänzenden …28 – Männer von edler Abkunft sind immer so …29 – Dies ist die Nacht vom fünften auf den …

Mehr über dieses Buch

Über Yaşar Kemal

Günter Grass: Laudatio auf Yaşar Kemal

Yaşar Kemal: Über die Sprache

Yaşar Kemal: Die Natur, Universum der Mythen

Yaşar Kemal: Das Gefängnis – die Schule der türkischen Literatur

Yaşar Kemal: »Die Epen sind wie Kiesel auf dem Grund des Stromes«

Lucien Leitess: Vor seinen Büchern werden wir wieder zu Kindern

Über Yildirim Dağyeli

Über Helga Dağyeli-Bohne

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Jede Nacht weinen sie, die Nomaden auf diesem Friedhof.

Sie sind es leid, die riesigen Sterne als Herden zu sehen.

Sie klammern sich an die alten Tage … an die Zeit vor der Sesshaftigkeit.

Wie tief muss die Trauer sein, so an Vergangenem zu hängen, wie abgrundtief.

Melih Cevdet Anday

1

Hinter dem Berg Aladag liegt ein lang gezogenes, dicht bewaldetes Tal. Darin sprudeln Hunderte von kalten, klaren Quellen. Auf ihrem Grund liegen Kieselsteine, und sie sind ringsherum umwachsen von Poleiminze und Heide. Statt Wasser fließt Helligkeit aus den Quellen, aus den Rinnen dringt Licht. Schon seit alter Zeit liegt hier, hinter dem Berg Aladag, die Sommerweide der Türkmenen, der Nomaden vom Stamm der Aydinli. Seit ihnen die Çukurova als Winterquartier dient, ist das Tal des Berges Aladag ihre Sommerweide. Würde man die Nomaden aus ihrem Winterquartier oder ihrer Sommerweide vertreiben, so würden sie sterben. Der Nomade vom Aladag-Berg ist zäh wie das Gras, das auf einer Felsspitze wächst, seine Wurzeln in den harten Granit treibt und sich an ihm festklammert.

Meister Haydar der Eisenschmied hielt im Laufen inne. Er führte die rechte Hand an seinen langen, kupferroten Bart und packte ihn dicht unter dem Kinn. Die linke Hand folgte unwillkürlich. Meister Haydar machte noch einige Schritte, zögerte, dann stand er ganz still. Er blieb eine Weile unbeweglich. Er hob den Kopf und reckte den Hals, als sei ihm ein Geruch in die Nase gestiegen, schaute umher und versank wieder in Gedanken. Erst als seine Hände wie zwei riesige Schmiedehämmer herabfielen, bewegte er sich weiter. Er ging wieder schneller. Er trug eine nussbraune, weitgeschnittene Pluderhose aus grobem Wollstoff. Seine silberbestickte Weste war aus einem alten Filzüberwurf oder einer bordenbesetzten Jacke mit Schlitzärmeln umgeschneidert. Auf dem Kopf trug er eine goldene Kappe, die er eigenhändig aus Ziegenhaar gewoben hatte. Sie ließ ihn noch mächtiger erscheinen. Die buschigen Augenbrauen standen in Büscheln hervor, sie passten zu der breiten Stirn, der hohen goldenen Kappe und dem wallenden Kupferbart.

Eine Weile lief er sehr schnell, schwer atmend. Dann wurden seine Schritte wieder langsamer und kamen allmählich zum Stillstand. Er fasste sich wieder an den Bart. Ein quälender Gedanke drückte ihn nieder. Auf die purpurne Erde fiel sein Schatten. Auch er schien von einem quälenden Gedanken gebeugt. Aus einer hölzernen Rinne in der Nähe rauschte das Wasser auf die Felsen hinab und zerstäubte, noch bevor es den Boden erreichte. Seine Gedanken folgten dem fließenden, rauschenden Wasser, und vor seinen Augen zogen Welten vorüber.

»O großer Allah, o mächtiger Allah … Gewähre mir ein Winterquartier in der Çukurova! Gewähre mir eine Sommerweide auf dem Aladag-Berg! Früher hast du es immer getan. Was ist geschehen? Warum verweigerst du uns jetzt, was du uns immer gewährt hast? Höre, Hizir, auf deinem grauen Pferd, in deiner grünen Hose, ich flehe dich an, hilf uns. Heute Nacht werfe ich mich vor dir auf die Knie und flehe um deine Hilfe. Könnte ich nur in deine schillernden Augen sehen!«

Er war müde geworden. Er kletterte auf einen Felsen und lehnte sich an eine Föhre, die aus einer Felsspalte emporwuchs. Sie war so alt wie Haydar der Schmied. Der Stamm war geborsten und zerklüftet, die Zweige bogen sich und hingen nach unten.

»Ich werde ihn heute Nacht sehen! Es muss sein, es muss unbedingt sein! Ich werde zu ihm gehen und mich vor ihm zu Boden werfen. Es muss sein! Ich werde ihm das Schwert überreichen, das ich für die Sultane geschmiedet habe. Es muss sein!«

Er umklammerte wieder seinen Bart. In der Mittagssonne glänzten der Kupferbart und die buschigen Augenbrauen unter der goldenen Kappe. Seine moosgrünen Augen sprühten und erloschen und sprühten dann wieder.

»Höre«, sagte er, »o allmächtiger Allah, mein schöner, mein tapferer Allah, mein Freund, mein Löwe. Hast nicht du die Erde und den Himmel, die Geister und Kobolde, dich und mich erschaffen? So ist es, Bruder … Ich habe ihm schon gesagt, diesem verfluchten Stamm, dass ich in dieser Hidirellez-Nacht zu dir sprechen werde; es muss sein. Nein, ich habe ihnen nicht genau das gesagt, aber ich gab ihnen etwas Hoffnung. Als ob ich nichts Besseres zu tun hätte, als dich um ein Winterquartier in der Çukurova und eine Sommerweide am Aladag-Berg anzuflehen für diese Feiglinge, diese Verfluchten, Elenden. Als ob ich nichts Besseres zu tun hätte, als dein Herzchen, feiner als die Rose, zärtlicher als das Licht des Tages, zu kränken …«

Er richtete sein Gesicht zum Himmel empor und ließ seinen Blick in die Ferne schweifen, in die Tiefe, dorthin, wo eine weiße Wolke vorüberzog.

»Nun, sprich!« sagte er in energischem Ton. »Wirst du mir geben, was ich mir wünsche?« Dann, fast in einem Atemzug: »Nein, nein, natürlich wirst du es nicht tun, mein Löwe. Ich kenne dich. Du hast uns verlassen. Du hast den Himmel und die Sterne, die Wälder und die Ströme verlassen. Du kommst heutzutage nie mehr aus deinen Moscheen heraus. Du hast dir riesige, prächtige Städte erbaut. Du hast aus Eisen Vögel geformt, die durch den Himmel fliegen. Du hast Ungeheuer geschaffen, die brüllend die Erde verschlingen. Du hast Häuser übereinander getürmt und sieben Meere erschaffen. Wenn ich dich bitten würde, gib uns ein Winterquartier in der Çukurova und eine Sommerweide auf dem Aladag, dann würdest du nicht auf mich hören … Deshalb werde ich dich heute Nacht nicht mehr um ein Winterquartier anflehen. So wahr ich hier stehe – nichts kann mich dazu bringen, dich darum zu bitten. Lass den Stamm vor die Hunde gehen, es ist deine Schuld. Lass sie zugrunde gehen und umkommen. Es ist deine Schuld …«

Die Çukurova erschien vor seinen Augen. Eine Herbstnacht … Über der ganzen Ebene funkeln in der Dunkelheit die Sterne … Große Sterne aus Eisen, die donnernd über die Felder wirbeln, riesige Leuchtkäfer aus Eisen … Gezähmte Flüsse … Die Straßen mit ihren eisernen Pferden schnell wie der Blitz, einem Menschen wird schwindlig davon … Der Staub, die Hitze, der Schweiß, das Fieber, das Elend … Die seltsam ausgedörrten Männer. Die halb nackten, sonnenverbrannten Frauen … Diese Frauen vor allem … halb nackt …

Das Weiß seiner moosgrünen Augen schien zu wachsen.

Aus der Tiefe kam das Geräusch von Schritten. Ein Stein rollte in den Abgrund. Weitere Steine im Fallen mit sich reißend, stürzte er mit lautem Poltern in die Tiefe. Der frische, dampfende Duft von zerdrückten Blumen zog ihm in die Nase. Er war verstimmt: beinahe wäre er, auf seinem Felsen sitzend in wohlige Träume versunken, zurückgekehrt in längst vergangene Tage, wäre in die Çukurova gegangen, nach Adana, nach Mersin, und wieder den Mädchen mit ihren langen, sonnengebräunten Beinen begegnet. Beinahe wäre er noch weiter in die vergangenen Tage versunken, als die Gazellen frei durch die Çukurova streiften, so zahlreich wie die Schafe, in ganzen Herden.

Er sah in die Richtung, aus der die Schritte kamen, und ließ seinen Bart los. Es war sein Freund Müslüm, der mit schweren Schritten den Berg heraufstieg. Sein Haar, sein Bart, seine Hände, seine Augenbrauen, sein Schnurrbart, alles an ihm war ganz weiß. Er schwebte herauf wie ein Knäuel von Baumwollflocken.

»Bruder, Bruder! He, Neffe Haydar, ich suche dich schon den ganzen Morgen!«

Er drehte andauernd die Spindel in seiner Hand, während er heraufstieg.

Atemlos ließ er sich neben Meister Haydar nieder. Er zog seine Bauernschuhe aus, die aus einem Stück ungegerbter Ochsenhaut geschnitten, mit Riemen vernäht und um die Schenkel geschnürt waren … Kleine Schnecken saßen darin. Er schüttelte sie heraus und schnürte die Schuhe wieder fest. Er war ein winziger, kugelrunder Mann, dieser Müslüm.

Er sah Meister Haydar fest in die Augen und ließ seinen Blick nicht von ihm. Beider Augen blitzten, ihre Blicke durchbohrten sich.

»Du wirst es dieses Jahr für den Stamm tun, Haydar. Du hast dir schon genug für deinen Enkel gewünscht. Dieses Jahr wirst du, wenn Hizir und Elias sich treffen, uns, den Stamm, nicht vergessen. Wir sind am Ende, Haydar, erschöpft. Wir können nicht mehr … Wenn der große Allah uns jetzt nicht zu Hilfe kommt, sind wir verloren, Haydar!«

Meister Haydar griff an seinen Bart, stützte den Ellbogen auf die Knie und versank in Gedanken. Dann weiteten sich plötzlich seine moosgrünen Augen und blinzelten:

»Was hat das für einen Sinn, Müslüm?« fragte er. »Hat uns Allah nicht verlassen? Ist er nicht aus unseren Bergen geflohen und hinunter in die großen Städte gezogen? Auch wir müssen gehen, Müslüm. Wir müssen hinuntergehen, dahin, wo Allah jetzt ist.«

»O mein guter Neffe«, rief Müslüm, »dein Atem ist mächtig. Wenn du den großen Allah in der Hidirellez-Nacht um etwas bittest, wird er es dir gewähren. Er wird unseren Wunsch erfüllen. Nur musst du dir dieses Jahr für uns etwas wünschen, und nicht für deinen Enkel.«

Sie standen auf und gingen auf den Pfad zu. Meister Haydar schritt voran, und Müslüm folgte. Der Frühling hatte eben erst seine Augen geöffnet. Die Blumen waren noch kaum in Blüte, noch fast Knospen. Vögel und Bienen flogen in der milden Sonne schläfrig hin und her. Die Erde dehnte sich. Felsen, Bäume, Ströme, Insekten, das Rotwild, Füchse, Schakale, Schafe und Lämmer, alles streckte sich schlaftrunken im Morgennebel.

Es war jetzt drei Tage her, seit sich der Stamm in diesem Tal niedergelassen hatte. Ein Stamm von sechzig Zelten. Man nannte ihn den Karaçullu-Stamm. Der Stammesälteste war Meister Haydar der Eisenschmied. Schmied – aber was hatte ihm das bis heute genützt, und was würde es ihm künftig nützen? Eines Tages wird ihm das ganz bestimmt von Nutzen sein …

Diesen Winter hatten sie die Hölle durchgemacht in der Çukurova. Niemals, seit Anbeginn aller Zeiten, seit der Stamm das erste Mal in die Çukurova gezogen war, hatten sie einen so schrecklichen Winter erlebt, waren ihnen die Menschen in der Ebene so feindselig begegnet. Sie waren immer noch ganz benommen vom Schrecken.

Der Stamm war gealtert, heruntergekommen, verarmt, aber einige seiner Traditionen hatte er bewahrt. Sobald sie dieses Tal erreicht und ihre Zelte aufgeschlagen hatten, wurde auch das Versammlungszelt aufgebaut. Es war nicht lang gezogen wie die anderen Zelte. Versammlungszelte sind immer rund, und ihr kuppelähnlicher First ist mit Kelims und Filzläufern bedeckt. Über dem Eingang hängt ein Kelim mit ungewöhnlichen Mustern, und die inneren Wände sind ebenfalls umsäumt mit uralten, bestickten Kelims. Über den Fußboden laufen orangefarbene Filzläufer von einem Ende zum anderen. Rechts vom Eingang steht ein Steinherd voll glühender Asche. Die letzten dreißig Jahre wurde das Versammlungszelt immer auf dem gleichen Fleck errichtet.

In der Mitte des Lagerplatzes, am Fuß des Tales, war eine flache, weiße, marmorähnliche Platte, so groß wie drei Dreschtennen. Den ganzen Morgen hatten sie Filzläufer, Kelims, Betten und Kissen zusammengetragen und sie über dem weißen Stein ausgebreitet, der jetzt unter der lauen Sonne in einer Flut von Farben glänzte. Man hatte duftende Speisen in riesigen Kesseln zum Kochen aufgesetzt. Die älteren Frauen waren emsig damit beschäftigt, das Essen in große Kupferschüsseln zu schütten und die Kessel wieder nachzufüllen; im Rauch und Wasserdampf verschwanden und tauchten sie wieder auf. Alle waren guter Dinge und bereiteten sich auf das große Festmahl vor. Wenn nur Meister Haydar sich überreden ließe … ihre Freude wäre ungetrübt. Dann wäre das Fest ein doppeltes Fest.

»Bitte, Meister Haydar … Nur dieses eine Mal … Bitte, wünsche jetzt für uns, dieses Mal! Bist du nicht der Älteste des Stammes, der Vater von uns allen? Tu das für uns, dieses Jahr, nur dieses eine Jahr, und danach kannst du tun, was du willst. All die Jahre Allahs, wozu sind sie denn gut, Meister Haydar? Komm, Meister Haydar … Lieber Haydar … Schau, ein ganzer Stamm, Jung und Alt, jeder hängt an deinen Lippen. Komm, was sagst du, Meister?«

»Seid ihr verrückt? Woher wisst ihr denn, dass Allah alles erfüllt, was ich von ihm wünsche?«

»Er erfüllt dir jeden Wunsch.«

»Woher wisst ihr das, um Himmels willen?«

»Wir wissen es. Allah überhört nie deine Gebete.«

Der ganze Stamm hatte sich um ihn versammelt. Meister Haydar stand in ihrer Mitte und hatte mit beiden Händen seinen Bart gepackt, er quoll durch seine Finger und wallte ihm mit kupfernem Schimmer über die Brust.

»Hört auf, sage ich, ihr Hunde!« schrie er. »Hört auf damit! Ihr macht mich allen Menschen und auch Allah zum Gespött! Ihr Dummköpfe, ist Allah denn der Sohn meines Vaters?«

Die Zelte waren ausgebleicht und zerrissen, die Vordächer zerfetzt. Die Gesichter der Kinder waren blass, ihre Augen ohne Glanz. Niemals in seinem langen Leben hatte Meister Haydar solch einen Jammer, so viel Unglück gesehen wie im eben überstandenen Winter.

»Ach«, stöhnte er, »wenn es etwas gäbe, das ich tun könnte … Ach, wenn ich wirklich etwas …«

»Du kannst!« kam die Antwort von allen Seiten.

»Niemand darf heute Nacht schlafen. Niemand. Wenn nur ein einziger von euch einschläft, ist der Zauber gebrochen … Und sobald ich es sehe … falls ich es wirklich sehe …«

»Du wirst es sehen!« riefen sie alle mit einer Stimme, dass es aus dem tiefen Tal, von den Wäldern und Felsen des Aladag-Berges widerhallte.

»Also gut, falls ich es sehe, werde ich für euch wünschen. Jeder, der es dieses Jahr sieht, muss für den Stamm wünschen. Sind alle einverstanden?«

»Einverstanden!« riefen sie im Chor.

»Aber wenn jemand betrügen will und sich etwas anderes wünscht, ist alles verloren. Seid nicht selbstsüchtig! Wir sind in Not. Wenn wir dieses Jahr kein Stück Erde zum Überwintern finden, sind wir am Ende, endgültig.«

»Am Ende. Endgültig!« wiederholten sie im Chor.

Das Festmahl begann. Die Flötenspieler kamen. Sie saßen mit untergeschlagenen Beinen auf den orangefarbenen Filzläufern, mit aufgerichtetem Oberkörper, steif und stumm. Es waren hoch gewachsene Männer mit kupferner Haut und moosgrünen Augen. Aus einem unbekannten Land waren sie gekommen, von dort, wo die Sonne und der Mond wohnen. Jeder sah sie bewundernd, respektvoll und auch mit ein wenig Furcht an. Sie warteten, unbeweglich in den Boden verwurzelt, wie die Felsen neben ihnen. Sie warteten darauf, dass der Zauber wahr würde.

Das Festmahl begann. Man streute Blumen über die orangefarbenen Decken, zwischen die Fladenbrote. Duftendes Joghurt und Ayran … Auf großen Kupferplatten ganze Schafe und Ziegen, kleine Zicklein; Berge von leuchtend weißem Reis …

Man hatte das Gelöbnis vorgetragen, Hymnen und Loblieder zu Ehren des Propheten Abraham gesungen. Erst dann begann man mit dem Essen. Männer und Frauen, Alte und Junge, der ganze Stamm ließ sich zur Mahlzeit nieder. Fröhlichkeit rauschte durch das Tal, über die marmorweiße Platte, über die orangefarbenen Decken mit den aufgestickten Sonnenscheiben und Gänsefüßen.

Und dann stand ein Trommler, ein einziger Trommler auf. Er begann sich im Schlagen der Trommel zu drehen, hob sie hoch über den Kopf, um sich dann wieder niederzubeugen. Er wirbelte in rasender Geschwindigkeit im Kreis herum; sein Arm ging so schnell, dass er unsichtbar wurde, und entlockte der Trommel eine unglaubliche Vielfalt von Tönen: Beschwörung, Weinen, Lachen, Wut, Spott, Trotz, Aufruhr …

Plötzlich schwieg die Trommel. Der Trommler kniete sich hin zum Gebet. Er beugte sich zur Erde und küsste sie dreimal. Ein Nomade nach dem anderen stand vom Mahl auf und kniete neben dem Trommler nieder, um wie er dreimal die Erde zu küssen und zu beten; jeder einzelne, sogar die Kranken, die Krüppel und die Kinder.

Kurz vor Sonnenuntergang zündete man unterhalb des Festplatzes ein großes Feuer an. Der rötliche Schein überflutete den Grund und die Hänge des Tals. Der schwarze Wald wurde hell.

Dann setzten die Flötenspieler gleichzeitig ein. Sie spielten wie mit einer einzigen Stimme ferne, tausend Jahre alte Weisen. Allmählich entrückten sie die Menschen in eine andere Welt. Nach den Flötenspielern traten die Saz-Spieler in die Mitte. Sie spielten den Semah, ein altes, lang vergessenes religiöses Tanzlied. Niemand hätte mehr danach tanzen können, denn der führende Saz-Spieler war Koyun Dede, und der war über hundert Jahre alt. Sobald Meister Haydar die ersten Töne hörte, leuchteten seine Augen auf. Er erhob sich und drehte sich zur Musik. Eine lange Zeit tanzte er alleine, immer im Kreis, immer näher an die hoch aufgehäufte Asche heran, ein Berg von einem Mann. Der breite Bart bedeckte seine Brust und glitzerte im Feuerschein. Dann stand ein junges Mädchen auf, gertenschlank, mit brauner Haut, großen Augen und langem Haar, und gesellte sich zu ihm. Zusammen drehten sich Meister Haydar und das junge Mädchen immer weiter, wie in Trance. Die Trommel setzte wieder ein, und die Flötenspieler nahmen den Ton auf. Wer noch beim Mahl saß, erhob sich nun, allein oder zu zweit, und schloss sich dem Tanz an. Bald war der ganze Stamm von sieben bis siebzig auf den Beinen. Nun begann ein Reigen. Die Sonne ging unter. Der Trommler schlug pausenlos seine Trommel und umkreiste das Feuer wie ein reißender Strom. Farben, Lichter, der Wald, Ströme, Klänge, das Tal, Sterne und Menschen drehten sich, ergriffen von einem leidenschaftlichen Taumel.

Von Zeit zu Zeit hielt alles inne. Stille trat ein, und die Menge warf sich nieder vor dem Feuer und vor dem alten Koyun Dede, der dicht neben dem glühenden Aschenhaufen saß. Am späten Abend endete der Tanz. Koyun Dede kletterte auf einen Felsen. Er stimmte das Gelöbnis an: »Allah, Allah, Allah … O Selman der Reine! O Salomon der Mächtige! Verdammt seist du, Mervan! Kommt uns zu Hilfe, ihr Zwölf Imams! Erhört unsere Gebete, reinigt unsere Herzen!«

Die Menge wiederholte aus einem Munde: »Erhört unsere Gebete, reinigt unsere Herzen!«

»Möge unserem Gebet Gunst gewährt werden!«

Das Tal widerhallte: »Gunst gewährt werden …«

»Möge der Segen der Zwölf Imams und Selmans des Reinen immer über uns sein!«

»Über uns sein …«

»O Allah, o Mohammed, o Ali!«

»O Ali …«

»Die Zwölf Imams wurden zu Licht!«

»Zu Licht …«

Die Menge wurde von Leidenschaft ergriffen. Das Echo ihrer Rufe hallte zum Himmel empor.

»O Sultan Hatai, der durch die Lüfte entschwand!«

»Durch die Lüfte entschwand …«

»Um des göttlichen Mysteriums willen, vergib uns!«

»Möge deine Kraft uns schützen! Mögen sich unsere Lästerungen in Glaube verwandeln! Mögen uns die Zwölf Imams zu Hilfe kommen! Mögen wir immer auf ihrem Weg wandeln und ihnen ewiglich ins leuchtende Angesicht blicken! O rettendes Licht der Wahrheit! O rettendes Licht der Wahrheit! Amen! …«

Die Felsen warfen es zurück: »Licht der Wahrheit! Amen …«

Koyun Dede kletterte vom Felsen und ging auf die Menge zu. Er sprach zu ihr mit heiserer Stimme: »Diese Welt ist reich an Schätzen … Bäume und Vögel und Erde und all die Wohlgerüche und der Segen des Herrn … Die Erde schenkt mit vollen Händen … Sie gibt tausendfach, millionenfach … Ein Wunder, der Mensch kann es nicht verstehen … Die Ströme, die Sterne … Und alles nur für den Menschen erschaffen. Heute Nacht werdet ihr euer Herz rein machen … Wenn ihr für einen unter uns Verachtung in eurem Innern hegt, so wisset, dass kein Mensch gering geschätzt werden darf. Wenn ihr von jemandem Böses denkt, so wisset, dass der Mensch noch nicht geboren ist, von dem ihr Böses denken dürft. Das Böse lebt nicht auf dieser Welt. Wir sind es, die es erfunden haben. Es gibt nur Güte auf dieser Welt, zweierlei Güte. Nehmt einen Stab aus Licht in die Hand, einen sehr langen Stab. Das eine Ende wird sehr hell leuchten und das andere etwas weniger hell. Das ist der einzige Unterschied zwischen Gut und Böse, merkt euch das so. Mervan war ursprünglich nicht böse, wir haben ihn dazu gemacht. Seine Schuld ist unsere. Heute Nacht müsst ihr euer Herz rein halten bis zum Morgengrauen. O rettendes Licht der Wahrheit, Bruder! … O Licht der Freundschaft …«

Meister Haydar ging auf ihn zu, umarmte ihn und küsste ihn auf die Schulter. Koyun Dede lachte: »Auch du musst dein Herz reinigen, Heiliger«, sagte er. »Diese Nacht ist deine Nacht. Du wirst heute Nacht diesen Stamm retten.«

»Du sagst das auch, Dede? Ich … den Stamm retten?« Meister Haydar war überrascht.

Koyun Dede ergriff seine Hand. »An welchem Wasser wirst du warten, mein Sultan?«

»Ich werde oben im Alagöz warten.«

»Mein Segen ist mit dir!« sagte Koyun Dede, und sie trennten sich. Die Nomaden zerstreuten sich, sie gingen mit leisen Schritten in die Wälder, zu den Quellen, den Bächen und Felsen.

Es ist die Nacht, die den fünften und sechsten Mai verbindet. In dieser Nacht werden sich Elias, der Schutzheilige der Meere, und Hizir, der Schutzheilige des Festlandes, treffen. Seit Anbeginn aller Zeiten ist es immer so gewesen in dieser Nacht, einmal im Jahr. Sollte es ihnen in einem Jahr einmal misslingen, wären die Meere nicht mehr Meere und das Land nicht mehr Land. Die Meere wären ohne Wellen, ohne Licht, ohne Fische, ohne Farben und würden austrocknen. Auf dem Land würden keine Blumen blühen, keine Vögel und Bienen würden mehr fliegen, der Weizen würde nicht sprießen, die Bäche nicht mehr fließen, Regen nicht fallen, und Frauen, Stuten, Wölfinnen, Insekten, alles, was da fleucht und kreucht, Vögel, alle Geschöpfe würden unfruchtbar. Wenn sie sich nicht treffen, die beiden … dann werden Hizir und Elias zu Vorboten des Jüngsten Gerichts.

Jedes Jahr treffen sich Hizir und Elias in einem anderen Teil der Welt. Wo sie sich finden, bricht der Frühling in jenem Jahr mit nie gekanntem Glanz hervor. Die Blüten sind noch üppiger, noch reicher, um vieles größer als in anderen Jahren. Die Bienen sind fetter, leuchtender. Die Milch der Kühe und Schafe fließt reichlicher und nahrhafter. Der Himmel ist klarer, von einem ganz anderen Blau. Die Sterne funkeln heller. Die Halme können kaum das Korn tragen, die Bäume beugen sich unter der Last der Blüten und Früchte. Die Menschen sind in diesem Jahr gesünder, sie werden nicht krank. Niemand stirbt in diesem Jahr, niemand, nicht einmal ein Vogel, eine Ameise, eine Biene, ein Schmetterling.

In dem Augenblick, wo Hizir und Elias aufeinander zugehen, tauchen zwei Sterne auf, einer im Morgenland, der andere im Abendland, und gleiten auf den Treffpunkt zu. Und wenn Hizir und Elias sich die Hand reichen, vereinigen sie sich und werden zu einem einzigen Stern. Er gießt sein Licht über die zwei Heiligen. Genau in dem Augenblick, wo Hizir und Elias sich die Hand reichen und die zwei Sterne verschmelzen, steht die Welt still. Die fließenden Ströme erstarren, als ob sie eingefroren wären. Die Winde hören zu wehen auf, die Meere sind spiegelglatt, kein Blatt rührt sich. Das Blut in den Adern stockt. Es fliegen keine Vögel, und die Flügel der Bienen beben nicht mehr. Alles steht still. Nichts regt sich, gar nichts. Es fallen keine Sternschnuppen, und das Licht fließt nicht mehr. Die Welt stirbt für einen Augenblick. Dann erwacht alles aufs Neue, herrlicher als zuvor.

Aus diesem Grunde bleiben die Menschen in dieser Nacht bis zum Morgen wach. Sie versammeln sich an hochgelegenen Orten, auf Dächern, Minaretten, Hügelkuppen oder Berggipfeln, um auf diese Weise einen Blick auf die zwei sich vereinigenden Sterne zu werfen. Andere ziehen es vor, neben einer Quelle, einem Brunnen, einem

Bach zu warten. Die ganze Nacht hindurch halten sie ihren Blick auf das Wasser gerichtet.

Denn wer die Vereinigung der Sterne sieht, dem wird erfüllt, was er sich in diesem Augenblick wünscht, was auch immer es ist. Man erzählt, dass einst ein Bauer namens Hüseyin der Knecht auf die Sterne wartete und plötzlich sah, wie sie durch den Himmel aufeinander zutrieben und in einer einzigen großen Flamme ineinander aufgingen. Hüseyin der Knecht war fürchterlich aufgeregt und konnte sich nicht mehr an seinen Wunsch erinnern. Er zitterte an allen Gliedern. »O Allah…« Er konnte nur noch stammeln. »O Allah, o Hizir, o Elias! …« Die Zeit lief ab. Er musste sich schnell etwas wünschen. Ihm fiel nichts ein. »O Allah, o Hizir, o Elias! … Tragt diesen Hügel, auf dem ich stehe, auf die andere Seite des Flusses! …« Dann erinnerte er sich an seinen richtigen Wunsch, doch es war zu spät. So schlief Hüseyin der Knecht auf dem Hügel ein. Und wisst ihr, was er sehen musste, als er die Augen öffnete? Er befand sich auf dem anderen Ufer des Flusses, zusammen mit dem Hügel.

Meister Haydar ging das Tal hinauf zur Alagöz-Quelle, die am Fuß eines roten Feuerstein-Felsens sprudelte. Er breitete seinen Überwurf aus und setzte sich. Sein zwölfjähriger Enkel Kerem war bei ihm. Er griff nach Kerems Hand und zog ihn zu sich herunter.

Die Quelle hatte einen kleinen Teich gebildet, der die Höhlungen des Felsens ausfüllte. Unter dem Licht der Sterne, in der matten Klarheit der Nacht, leuchteten die Kiesel auf dem Grund des Teiches. Winzige Kräuselwellen zogen Kreise über die Oberfläche und liefen am Rande des Teiches aus. Die grob gehauene Röhre aus Fichtenholz, am Ausfluss der Quelle befestigt, war von Moos überwuchert. Darunter hatte sich ein dickes Bett aus Poleiminze gebildet. Der hochaufragende rote Fels, das Wasser, die Nacht, die Sterne, die Erde – alles war durchtränkt vom Duft der Poleiminze. Aus der Tiefe, als ob es aus dem roten Felsen selbst emporkäme, tönte ein Murmeln. Auch der Wald flüsterte von ferne mit dunkler Stimme. Der Duft der Fichten, der vielerlei Blumen, des eben erst sich aufrichtenden Grases vermischte sich, und der laue Wind trug einen würzigen, feinen, kühlen Lufthauch heran.

»Großvater, schau!« rief Kerem begeistert vor Freude. »Schau, schau ins Wasser! Wie die Fische schillern, wie schnell sie schwimmen. Eins, zwei, drei … Drei Fische! Wie drei Lichter!«

Die Forellen leuchteten am einen Ende des Teiches auf, schnellten flink zum anderen hinüber und verschwanden in der Höhle unter dem roten Felsen.

Der alte Mann hatte lange geschwiegen, in Gedanken versunken. Schließlich hob er den Kopf.

»Kerem«, sagte er mit seiner sanftesten Stimme, »Großvaters Liebling. Dich habe ich heute Nacht absichtlich mitgenommen. Hör zu, mein Liebling, diese Nacht ist die wichtigste des ganzen Jahres. Heute Nacht kann viel geschehen. Heute Nacht treffen sich Hizir und Elias. Du weißt, mein Kleiner, beide sind Heilige, die bei den Unsterblichen wohnen. Wenn sie sich nicht einmal im Jahr treffen, in der heutigen Nacht, würde aller Reichtum und alles Leben aus dieser Welt verschwinden. Verstehst du, mein Kind?«

»Ich verstehe«, antwortete Kerem. »Außerdem weiß ich, was die Hidirellez-Nacht ist. Vom letzten Jahr und auch aus den Jahren vorher …«

»Dann hör mir zu, Großvaters Liebling. Siehst du das Wasser aus dieser Quelle fließen? Es wird plötzlich stillstehen, im Fallen erstarren. Und oben in der Höhe werden zwei Sterne wie strahlende Sonnen sich treffen. Wenn sie verschmelzen, wird ein Lichtstrahl wie ein Blitz auf uns niederfallen. Hör zu, Großvaters Liebling, du musst das Wasser beobachten, ohne dabei einzuschlafen, ja ohne dabei auch nur mit dem Auge zu blinzeln. Und ich, ich werde die Sterne beobachten.«

»Jawohl, Großvater. Ich werde die ganze Nacht kein Auge zutun.«

»Und dann, mein kleiner Kerem, mein Kind, wenn du siehst, dass diese gurgelnde Quelle wie zu Eis erstarrt, dann wünschst du dir etwas. Dann macht Hizir deinen Wunsch wahr. Was immer du willst, was immer du dir in diesem Augenblick wünschst, wenn das Wasser aufhört zu fließen, es wird dein sein. Nun sage mir, Großvaters Liebling, was wirst du dir wünschen?«

Kerem stützte sein Kinn genau wie sein Großvater und dachte nach. »Ich weiß nicht, Großvater«, sagte er schließlich. »Ich weiß es wirklich nicht. Was soll ich mir wünschen, sag es mir, Großvater?«

»Mein lieber Kerem«, sagte Meister Haydar, »du wirst in deinem Leben noch viele Quellen und Sterne sehen können. Du wirst noch viele Wünsche äußern. So bete dieses Jahr zu Hizir, sobald du siehst, dass das Wasser erstarrt, sobald du es wirklich sieLst. O Hizir, wirst du sagen, gib uns ein Winterquartier in der Çukurova und eine Sommerweide auf dem Aladag. Wirst du das tun?«

»Sicher, Großvater. Aber werde ich sehen, wie das Wasser erstarrt und die Sterne sich treffen?«

»Es ist nicht jedem gegeben, mein Kind. Nur Menschen ohne Sünde, nur Tugendhafte können es sehen. Den Bösen, die grausam sind zu Menschen, Vögeln und Bienen, erscheinen Hizir und Elias niemals. Dir werden sie sich zeigen, mein Kind. Und mir vielleicht auch … Darum vertraut mir der Stamm. Sie glauben, ich sei ohne Sünde, ein Heiliger. Ich bin kein Heiliger, aber ich habe in meinem Leben wenig gesündigt und nie einem Geschöpf etwas zuleide getan. Dreimal habe ich gesehen, wie sich die Sterne gefunden haben, und dreimal hat Bruder Hizir meinen Wunsch erfüllt.«

Kerem sagte kein Wort mehr. Er starrte auf die schäumende Röhre und auf das Wasser, das sich mit weißer Gischt auf die Kiesel ergoss. O du meine Güte, o du meine Güte, dachte er ständig bei sich. Was soll ich tun?

Es verging eine Weile.

»Warum sprichst du nicht, mein kleiner Falke?« sagte Meister Haydar schließlich. »Nun, mein Falke?«

Nachdenklich ruhten Kerems Augen auf dem Teich und auf den Fischen. Wenn diese Fische aus dem Rohr auf die Kiesel fallen, werden sie sterben? So fragte er sich. Wer weiß, vielleicht macht es ihnen gar nichts. Sonst gäbe es ja drunten im Strom keine Fische, oder etwa nicht? Kerem glaubte, diese Quelle sei der Ursprung der Fische, so wie sie der Ursprung des Baches war.

Ich will keine Sommerweide und kein Winterquartier, dachte er. Was soll ich mich um Land kümmern? Ich brauche es nicht. Falls ich sehe, wie das Wasser erstarrt, wünsche ich mir einen jungen Falken. Hizir wird ihn mir schenken, und ich werde ihn aufziehen. Ich werde ihn lehren, wie ein Pfeil in den Himmel zu schießen, wie ein Pfeil! Er wird Vögel fangen, Rebhühner, Tauben, Wiedehopfe, Stare und Wildenten, und sie mir bringen. Auch Hasen, wenn ich es will. Aber nein, es ist eine Sünde, einem Hasen ein Leid anzutun. Und auch dem Uhu, dem blinden Uhu …! Der Falke ist ein kleiner Vogel mit grünlichen Federn, aber hart und schwer wie ein Stein, und sein Schnabel ist lang und stählern.

»Woran denkst du, Kerem?«

Kerem schrak auf. Er murmelte etwas Unverständliches vor sich hin.

»Was ist, mein Kerem?« fragte Meister Haydar. »Ist etwas nicht in Ordnung?«

»Lieber Großvater«, stieß Kerem unvermittelt hervor, »ich werde niemals, niemals das Erstarren des Wassers und das Verschmelzen der Sterne sehen können. Nein, niemals, niemals!«

»Warum, Kerem, mein Junge, mein Falke?«

»Weil …«, stotterte Kerem. »Weil, Großvater, weil ich …«

Er begann fast zu weinen bei dem Gedanken, diese goldene Gelegenheit zu verlieren, den jungen Falken zu erhalten, nach dem er sich schon jahrelang gesehnt hatte. Hätte er nur nie getan, was er getan hatte … Er hatte sich zuerst vom Großvater einen jungen Falken gewünscht. Sein Großvater versprach, einen zu fangen, aber er tat es nie. Dann bat Kerem den Vater, den älteren Bruder und auch den Jägermeister des Stammes, Kamil den Kahlen, und den Flötenspieler Musa den Kleinen. Sie alle versprachen, ihm seinen Falken zu besorgen, aber sie hatten ihr Versprechen nicht gehalten. Da war Kemal, ein Junge von einem andern Stamm, dessen Nase sich immer schälte und dem die blonden Haare wie Igelstacheln nach oben standen. Und dieser Kemal hatte einen Falken. Sein Großvater hatte, obwohl er hundertfünfzehn Jahre alt war, ihm einen gefangen und war dabei die steilen Felsklippen emporgeklettert. Am Fuß von Kemals Falken hing eine winzige Glocke, nicht größer als eine Kichererbse. Und Kemal trug am rechten Handgelenk ein Lederarmband. Darauf setzte sich der Falke. Er schwang sich in die Luft, in den weiten Himmel und kam immer wieder zurück, kreiste über Kemal und ließ sich auf seinem Arm nieder. Kemal rief nach ihm wie nach einem Menschen. Wo immer der Falke sein mochte, weit oben im Himmel, beim Klang von Kemals Stimme stieß er herab. Dann hatte Kemal noch einen Trick. Er brachte es fertig, beim Gehen den Falken über seinem Kopf fliegen zu lassen. Wohin er auch ging, der Falke begleitete ihn überall und kreiste in Mannshöhe über ihm. Das war wunderbar, ganz wunderbar … Ach! Ich hätte es nicht tun sollen … Ach!

»Warum seufzt du, mein Junge, mein kleiner Löwe?« sagte Meister Haydar. »Ich würde mein Leben geben, um dich glücklich zu machen.«

»Es ist nichts«, sagte Kerem.

»Aber sag es mir doch, mein Kind.«

Plötzlich sagte Kerem sehr laut, er schrie fast: »Ich werde nie sehen, wie sich die Sterne treffen und das Wasser erstarrt, Großvater! Nie! Mit dir hier oben zu warten ist vergeblich! Vergeblich!«

»Aber warum, mein Herzenskind?«

»Es wird nicht gehen.«

»Warum nicht, mein Kind?«

Kerem brachte es nicht über sich, es zu gestehen. »Sag mir den Grund. Vielleicht irrst du dich.«

Kerem schwieg immer noch. Plötzlich sprang ein großer Fisch aus dem Wasser, mitten im Teich, und fiel mit einem Aufklatschen zurück. Während er zum Grund sank, glänzte sein silbriger Bauch im Licht der Sterne. Der Anblick fesselte das Kind.

»Großvater!« sagte er geistesabwesend. »Ich habe einmal ein Schwalbennest zerstört. Ich tötete die drei jungen Schwalben, band eine Schnur um den Fuß der Schwalbenmutter und ließ sie drei Tage lang so fliegen. Dann starb sie auch. Wie soll ich also die Sterne sehen können? Wie soll ich sehen können, ob das Wasser erstarrt?«

»Natürlich kannst du das«, rief Meister Haydar bestürzt.

»Aber du hast doch gesagt, dass diejenigen, die eine Sünde begangen haben, es niemals sehen können. Eine Schwalbe töten, ist das keine Sünde?«

»Doch!« gab Meister Haydar zu. »Es ist eine Sünde, eine sehr große sogar. Aber … Vielleicht hat Allah es in seinem großen Buch nicht als Sünde vermerkt. Hast du hinterher gesagt, Allah, o Allah, vergib mir meine Sünde?«

»Nein.«

»Oh, das ist etwas anderes. Ja, etwas ganz anderes.«

Die beiden dachten nach. Ein Vogelschwarm ließ sich in einer riesigen Platane vor ihnen nieder. Dann noch einer … Eine Schar Vögel nach der anderen glitt durch die Dunkelheit auf den Baum zu, bis seine Äste sich unter ihrem Gewicht neigten.

Nach einiger Zeit sprach Meister Haydar:

»Hör zu, Großvaters Liebling, wenn man es sich genau überlegt, so gibt es auf dieser Welt kein einziges menschliches Wesen ohne Sünde. Sogar Hizir, auf den wir jetzt alle warten, hat gesündigt, der Heilige, ohne den die Erde nicht wäre, wie sie ist. Ohne Hizir gäbe es keinen Frühling, die Mütter würden nicht gebären. Alles auf der Welt, die Steine, die Erde, Wölfe und Insekten, Schlangen und Tausendfüßler, die Fische im Wasser, die Menschen und Ameisen auf der Erde, die Sterne am Himmel – alles würde schlafen. Die ganze Welt wäre versunken in tiefen Schlaf. Denn Hizir ist das Blut dieser Welt. Er ist das Blatt am Baum, die Blume, der Duft. Er ist das Licht, er ist die Wärme der Welt. Und doch muss auch er gesündigt haben, selbst wenn er nur eine Ameise beim Gehen zertreten oder ein Insekt ohne sein Wissen getötet hätte. Deshalb zählt eine Kindersünde vielleicht nicht wirklich als Sünde, mein Kleiner, Großvaters Liebling. Jetzt gibst du acht und hältst dich wach. Und nimm deine Augen nicht vom Wasser, das aus dieser Röhre kommt. Lass dich nicht ablenken. Falls deine Gedanken eine Minute, ja nur eine Sekunde lang wandern, und du träumst in dem Augenblick, den sie sich für ihr Zusammentreffen ausgesucht haben, dann ist alles vorbei. Höre auf die Quelle, und sobald das Gurgeln aufhört … Schau, die Vögel in diesem Baum, wie sie aufgeregt sind und zwitschern, dieser Lärm, den sie machen. Sie werden auf einen Schlag schweigen. Und dann … Aber nein, halte dich nicht an die Vögel, sie könnten einschlafen … lass deine Augen nicht von der Quelle und höre auf ihr Gurgeln.«

»Jawohl«, sagte Kerem.

Da das Töten einer Schwalbe nicht als Sünde zählte, würde er vielleicht sehen, wie sich die Sterne vereinten, das Wasser stillstand, erstarrte. Er war sehr glücklich. Morgen in aller Frühe würde er in die Felsen klettern und den jungen Falken mit seinen eigenen Händen fangen. Aber waren die jungen Falken schon ausgeschlüpft? Aber das war ja unwichtig. Hizir würde schon dafür sorgen, dass sie ausgeschlüpft waren. War er denn schließlich nicht verpflichtet, dafür zu sorgen, dass die Wünsche in Erfüllung gingen? Hat mir das nicht der Großvater gesagt?

Es lag ihm auf der Zungenspitze. Großvater, hätte er beinahe gefragt, kann Hizir mir einen Falken geben, der noch nicht ausgeschlüpft ist? Oder wird er warten, bis die Jungen aus dem Ei schlüpfen? Aber er hielt rechtzeitig inne. Sein Großvater hätte erraten, dass er sich statt einem Winterquartier in der Çukurova und Sommerweiden auf dem Aladag einen Falken wünschte – die Hölle würde ausbrechen. Nein, geschimpft hätte er nicht, aber er hätte kein Wort mehr mit ihm gesprochen. Er war ein Mann, der grollte, oft grollte …

»Ich werde kein Auge zutun, Großvater. Ich werde die Quelle beobachten, ohne ein einziges Mal zu blinzeln. Ich werde auf das gurgelnde Wasser hören. Und du, Großvater, du darfst die Sterne nicht aus den Augen lassen.«

»Nein, ich werde sie nicht aus den Augen lassen«, versicherte Meister Haydar.

»Du rufst mich, wenn du siehst, wie sich die Sterne vereinen, nicht wahr?«

»Natürlich, Großvaters Liebling. So etwas kann man gar nicht verheimlichen. Der Anblick dieser beiden Sterne, wenn sie aufeinander treffen, ist etwas Wunderbares. Man fühlt sich in diesem Augenblick wie ein anderer Mensch, als ob man das Paradies betreten hätte. Licht strahlt durch deinen ganzen Körper, und du zitterst vor Freude. Diesen Augenblick kann man nie vergessen, sein ganzes Leben lang nicht. Das ganze Leben lang bist du wie berauscht, wenn du dich an diesen Augenblick erinnerst. Ja, wie könnte ich dir das nicht zeigen, mein Kerem.«

»Großvater!«

»Was ist, Kerem?« fragte Meister Haydar.

Ich werde ihn um einen Falken bitten und nicht um Land – fast hätte Kerem es ausgesprochen. Aber dann ließ er es doch.

»Nichts«, sagte er. »Meine Augen folgen dem Lauf des fließenden Wassers, und meine Ohren hören auf sein Geräusch.«

Drunten im Lager war alles ruhig. Nur die Geräusche der Natur erfüllten die Nacht. Ceren war das einzige Mädchen unter drei Brüdern. Sie war hoch gewachsen, braun gebrannt und hatte große haselnussfarbene Augen; immer trug sie die alte traditionelle Tracht der Türkmenen. Sie saß an der Taşbuyduran-Quelle, die mitten in einer steilen Wand blauer Felsen entsprang und zwischen den Felsen einen Teich bildete, so tief wie ein Brunnen. Von dort ergoss sich das Wasser auf ein flaches Stück Land, das mit Poleiminze bewachsen war. Ceren hatte sich in eine Mulde zwischen zwei Felsen gesetzt. Sie träumte vor sich hin und ließ ihre Gedanken schweifen. Ihre Augen ruhten auf der Röhre. Das Wasser, das aus der Röhre fiel, hatte den großen, mächtigen Felsen ausgehöhlt und schäumte nach allen Seiten. Letztes Jahr und das Jahr davor hatte sie in der Hidirellez-Nacht auch hier gewartet, hier am gleichen Ort neben der Taşbuyduran-Quelle, zusammen mit Pembe, die auch jetzt an ihrer Seite saß. Aber sie hatte nie das Glück gehabt, das Treffen der Sterne und das Erstarren des Wassers zu sehen. Weil ich zu viel gesündigt habe, hatte sie sich immer gesagt. Dennoch hatte sie die ganze Nacht kein Auge zugetan. Denn falls sie doch das Treffen der Sterne, das plötzliche Erstarren des Wassers sehen könnte, würde sie sich wünschen, Halil wieder zu sehen, und sei es auch nur ein einziges Mal.

»Lass mich das Wunder heute Nacht sehen, Allah!« betete sie. »Nur dieses eine Mal! Du vergibst dir doch nichts dabei!« Die Augen auf einen großen, funkelnden Stern im Süden gerichtet, flehte sie: »Du prächtiger Stern, lass mich Zeuge sein, wenn du dich mit deinem Gefährten triffst. Nur dieses eine Mal. Dann kann ich Hizir bitten, mir meinen Halil zurückzugeben.«

Der Stamm hatte beschlossen, dass jeder, der die Sterne sich vereinigen oder das Wasser erstarren sah, um Land in der Çukurova und Weiden auf dem Aladag bitten solle. Auf dem ganzen Weg bis zur Quelle hatte Ceren einen Kampf in ihrem Herzen ausgefochten. »Was soll ich mich um Land kümmern. Ich will meinen Halil. Und wenn ich dieses Glück habe, ein einziges Mal in meinem Leben, kann ich es nicht für eine Hand voll Erde vergeben. Es hat keinen Sinn, mich selbst zu belügen!«

Ein langer, schlanker Windhund mit goldfarbenem Fell lag zu ihren Füßen. Dieser Windhund gehörte Halil. Als Halil fortging, kam der Windhund zu Cerens Zelt, blieb dort stehen und ließ sich nicht vertreiben. Er hatte sorgenvolle, traurige Augen wie ein Mensch, der viel durchlitten hat. Er konnte lachen wie ein menschliches Wesen, er empfand Sehnsucht und schöpfte wieder Hoffnung, langweilte sich, und in der Nacht weinte er still vor sich hin, ganz wie ein Mensch.

»Bitte, Allah, lass mich diesen Augenblick erleben. Lass mich Halil wieder sehen, nur einmal, sei es auch nur von Weitem. Nur einmal! Selbst wenn es zum letzten Mal in meinem Leben sein sollte.«

Das Wasser plätscherte über die blauen Felsen. Im Sternenlicht war die Nacht so klar wie der Tag. War die Sonne noch nicht untergegangen? Das ganze Jahr hindurch, an jedem einzelnen Tag, hatte Ceren mit der Hoffnung gelebt, dass Halil wiederkommen würde. Und mit welch brennender Ungeduld hatte sie auf die Hidirellez-Nacht gewartet! So viel Wunder waren schon geschehen in dieser Nacht, wo Hizir Elias trifft, so viel Hoffnungen waren wahr geworden. Man musste nur die Sterne sehen, man musste nur, während man nach ihnen Ausschau hielt, frei von jedem schlechten Gedanken sein.

Umgeben von den Wassern und den Lichtern, am Fuße des hochragenden Berges, der bald sich verdunkelte, dann wieder leuchtete und noch mächtiger schien, als er war, und einen starken Duft ausströmte, überkam sie in ihrer Einsamkeit ein brennendes Verlangen. Ein Fieber ergriff sie vom Scheitel bis zur Sohle, sie war wie von Sinnen. Diese rasende Sehnsucht nach Halil erschreckte sie, und sie zitterte. Ihr Herz schlug wie wild. Ihr ganzer Körper fieberte, brannte wie Feuer, spannte und streckte sich. Sie dachte an Halil. Ihr Fleisch glühte.

»Pembe«, rief sie plötzlich, »das Fieber verbrennt mich!«

Sie stand auf und ging zwischen den Felsen hin und her.

»Ich brenne, ich brenne …«

Hastig warf sie ihre Kleider ab. Ihr Körper glänzte im Sternenlicht, voller Frische, wohlgestaltet, fruchtbar. Sie sprang in den Teich. Das Wasser war kalt. Pembe zog sich auch aus und stieg nach ihr in den Teich. Ceren blieb lang im Wasser. Hier musste sie nicht befürchten, den Augenblick zu verpassen. So würde sie es jedenfalls spüren, wenn die Quelle um sie herum erstarrte.

Als sie herauskam, fühlte sie sich befreit und rein. Frisch wie ein neugeborenes Kind. Sie würde das Treffen der Sterne sehen. Sie würde sich wünschen, Halil wieder zu sehen.

Halil wusste nichts von all dem. All die Jahre hatte sie es nicht gewagt, ihm ins Gesicht zu sehen oder ihm Auge in Auge gegenüberzutreten. Bei seinem Anblick bebte ihr ganzer Körper vor Erregung, und sie fürchtete, ihre Selbstbeherrschung zu verlieren. Sie hatte Angst, vor Entzücken zu sterben, wenn einmal ihre Blicke sich treffen würden.

Halil wusste von nichts. Und selbst wenn er es gewusst hätte, würde es ihn kümmern? Halil war so schön. Man hätte sein Gesicht hundert Jahre lang anstarren können und hätte sich immer noch nicht daran satt gesehen. »Nur einmal, Allah, lass mich ihn wenigstens einmal aus der Ferne sehen, und dann bin ich bereit zu sterben.«

»Auch ich bin bereit zu sterben«, sagte Pembe. »Das ist auch mein Wunsch. Halil ist so schön wie Joseph, Jakobs Sohn. Stimmt es etwa nicht, Ceren?«

Ceren seufzte tief.

Sterne glitten in endloser Bahn über den Himmel. Einige fielen herab, streiften den Aladag und tauchten seinen Gipfel in Licht. Jedes Mal, wenn eine Sternschnuppe vorbeizog, zitterte ihr Herz, und sie folgte ihr mit den Augen. Und wenn der Stern verschwand, überkam sie eine Welle der Verzweiflung.

Plötzlich tauchte von weit her ein riesiger Stern auf und versprühte Funken. Cerens Herz schlug bis zum Hals. Jetzt blau, dann orangefarben, immer heller zog der Stern wirbelnd und funkelnd von einem Himmelspol zum anderen. Dann drängte sich von Osten her ein ganzer Sternenhaufen nach vorne, und dann noch einer … Jeder Stern eine Lichtquelle … Der Horizont leuchtete … Ceren stockte der Puls. Sie folgte einmal diesem, einmal jenem Stern. Im Licht erglänzte das Wasser. Die Taşbuyduran-Quelle inmitten der Felsen kochte über, schäumte, war übersät mit Funken. Auch der Himmel war jetzt übersät mit Massen von Sternfeuern, Tausenden, die in alle Richtungen schossen und davonjagten. Sie überschwemmten den Teich, überfluteten den Wald, den Berg.

»Ich will Halil!«

Über den ganzen Himmel glitten und tanzten die Sterne. Alles drehte sich um Ceren. Vor ihren Augen explodierten Lichter, toste das Wasser und barsten die Felsen.

»Ich will Halil!«

Die Ameisen, die Vögel, die Insekten, die Bäume, der Sand, das ganze Universum war jetzt eine vorwärts schießende, schleudernde Masse von Sternen. Alle Blumen, alle Augen der Menschen …

»Ich will Halil!«

Müslüms Rücken war vom Alter gebeugt. Seine Hände zitterten. Er hatte alle Zähne verloren. Aber in seinem zahnlosen Mund waren vereinzelt wieder Zahnstümpfe nachgewachsen, die dritten Zähne. Er saß allein an der Sazlik-Quelle und betrachtete das funkelnde Wasser. Er hatte großen Hunger. Seit dem frühen Abend hatte er schon fünfmal seine rituellen Waschungen vollzogen.

»Meine Stunde hat geschlagen, ihr Heiligen, ihr Schönen, sie geht zu Ende«, murmelte er unablässig vor sich hin. »Ich weiß es nur zu gut. All meine Freunde sind in den letzten zwanzig Jahren gestorben. So wie wir gekommen, müssen wir wieder gehen, sagt das Sprichwort. Diese Quelle, die Sterne dort, jene Platane sogar sind besser dran als wir. O großer Hizir, o allmächtiger Allah, euch habt ihr unsterblich gemacht, warum nicht mich, uns, uns alle? Was haben wir getan? Heute noch auf den Beinen, morgen unter dem Boden. Hundert Jahre habe ich gelebt, aber so schnell ist alles vorübergegangen, wie ein Blinzeln des Auges. So schnell ist's gegangen, wie ein Augenzwinkern, wie Rauch im Wind. Jetzt lebe ich, in diesem Augenblick … Mach mich wieder jung wie Selman den Reinen. O Allah, mach mich unsterblich wie Hizir. Heute ist der Tag, heute oder nie. Ein Leben, es ist nur der Atem einer Sekunde, es ist wie das Wasser, das aus dieser Quelle fließt. Es wird erstarren, einen Augenblick lang. Ich werde zum Himmel sehen, und zwei Sterne werden sich treffen. Oh, ein ganzes Leben wiegt nicht mehr als dieser Augenblick …«

Es war einmal ein Arzt namens Lokman. Er wurde ein Heiliger, Unsterblicher aus eigener Kraft. Sechzig Jahre lang durchstreifte er die Welt, drehte jeden Stein, durchforschte jeden Berg und jedes Tal. Er sprach mit den Blumen, den Pflanzen, den Gräsern, und sie offenbarten ihm ihre Kräfte. Und er schrieb alles, was die Blumen ihm in ihrer Sprache sagten, in sein Buch. Jede Blume enthält ein Heilmittel gegen Krankheit, und Lokman fand für jede Krankheit das Mittel. Nur das Kraut der Unsterblichkeit konnte er nicht finden, aber unablässig suchte er weiter. Und eines Tages … Eines Tages erfuhr er, dass die Blume des ewigen Lebens, der Trank gegen den Tod, das Kraut der Unsterblichkeit in einem der Täler des Aladag zu finden war. So kam er hierher und machte den Aladag zu seiner Wohnung. Er sprach mit jedem Grashalm und jeder Blume, mit jeder Quelle und jedem Bach, mit jedem Insekt, mit den Wölfen, den Vögeln, den Ameisen. Er fragte den wehenden Wind, den heraufdämmernden Tag, das fließende Licht, den fallenden Regen. Am Ende fand er das Mittel gegen den Tod …

»Heute Nacht werde ich sehen, wie die Sterne sich treffen, das Wasser im Fließen erstarrt, der Vogel im Flug stockt, der Regen im Fallen einhält, das Licht in seiner Bahn stillsteht. Und ich werde sagen, o Hizir, gib mir das Mittel, das Lokman entdeckt hat! Und dann soll er versuchen, es mir nicht zu geben! Wehe, wenn er versucht, sich aus der Schlinge zu ziehen! Dann werde ich … Ja, dann werde ich ihn behandeln, wie er es verdient. Es wird ihm leid tun, dass er einst aus dem Schoß seiner Mutter kroch. Er wird den Tag beklagen, an dem er zum Heiligen wurde. Und er wird die nächsten zweiundsiebzigtausend Jahre lang bitter bereuen, nicht sterben zu können.«

Bruder Müslüm, dreißig Jahre schon wartest du in der Hidirellez-Nacht und spähst nach den Sternen und Quellen … Ich kann, ich will nicht davon sprechen. Ich will mich nicht beklagen. Ich bereue sie nicht, all meine Mühen.

Auf den Bergen, unter den Sternen und am Ufer der Gewässer warte ich …

Die Blumen sprechen nicht zu jedem. Die Blume des Lebens spricht zu niemandem, nicht einmal zu Hizir. Auch nicht zu Taşbaşoglu, dem Heiligen der Heiligen. Nur einmal sprach sie, zu Lokman, diese Blume, die den Saft des ewigen Lebens in sich trägt. Lokman ging zu ihr hin und atmete ihren Duft. Plötzlich sprühten Lichter vor seinen Augen, der Frühling erblühte in tausendfältiger Fülle, die Welt wurde eine andere. Er taumelte vor Freude, verlor das Bewusstsein. Er tauchte in einen Traum der Glückseligkeit und wurde unsterblich. Im Augenblick, bevor er das Bewusstsein verlor, schien ihm die Welt so süß, oh, so süß, dass er auf die Knie fiel und zu Allah betete. O Allah, sagte er, lass mich den Duft dieser Blume noch einmal atmen, und ich will auf die Unsterblichkeit verzichten. Denn es ist so: atme einmal den Duft dieser Blume ein, und du wirst unsterblich, aber atme ihn ein zweites Mal, und du wirst wieder sterblich. Lokman wusste das sehr wohl, aber er konnte die Empfindung der Glückseligkeit nicht vergessen, die die Blume ihm geschenkt hatte.

Diese Blume ist eine Riesenblume mit leuchtenden Blättern, golden wie die Sonne, jedes Blatt so lang wie drei Pappeln. Wer in ihrem Schatten steht, wird hundert Jahre alt, und wer ihren Duft atmet, wird nie sterben. Am Fuß der Blume, sagt man, plätschert eine Quelle, und wer von ihrem Wasser trinkt, wird auf der Stelle von allen Krankheiten geheilt.

Hier ist sie, diese Blume, sagte sich Müslüm, hier irgendwo in diesem Tal hinter dem Berg Aladag. Aber unsere Augen können sie nicht sehen …

Wenn sie hoffen könnten, sie einmal zu sehen, würden alle Menschen des Erdkreises hierher kommen und ihr Quartier bis zu ihrem Tod aufschlagen. Gott behüte uns davor!

»O mächtiger Hizir, du hast den Schatten der Blume über mich gebreitet, du hast mir die Gunst geschenkt, hundert Jahre zu leben. Lass mich auch den Duft dieser Blume atmen. Der Tod ist Allahs Wille, ich weiß es wohl, aber ich fürchte mich. Ich fürchte den Tod, ich fürchte mich, ich will nicht sterben … Ich will nicht sterben!«

Ich will nicht sterben! Das Tal widerhallte von Müslüms Stimme. Das Echo seiner Worte sprang von einem Felsen zum anderen, verlor allmählich seine Kraft und verstummte.

»Hörst du mich nicht? Ich will nicht sterben. Ich will nicht verschwinden, nichts mehr sein. Nichts! Wie ein Unkraut, ein Insekt. Niemand wird wissen, dass ich auf dieser Welt gelebt habe. Und selbst wenn man es wüsste, was würde es mir nützen? Ich werde ausgelöscht sein, als ob ich nie gelebt hätte. Ich will nicht sterben!«

Der Wasserlauf, neben dem Müslüm seinen Standort ausgesucht hatte, kam aus dem Innern eines riesigen Baumes hervor. Die Platane hatte einen Stamm, der so dick war, dass nicht einmal fünf Männer ihn hätten umfassen können. Das Bett einer Quelle dahinter hatte man verlegt, so dass das Wasser jetzt durch ein in den Stamm gebohrtes Loch in die Röhre floss.

»Sieh mich an, großer Hizir, hier warte ich neben dieser seltsamen Quelle, und ich habe dir mein Herz geöffnet, ich habe dir gesagt, dass ich nicht sterben will.«

Er stand auf, die Kniegelenke krachten. Sein Rücken schmerzte, und die Hände und Füße waren steif.

»Ich will die Unsterblichkeit, ja, aber auch die Jugend. Was nützt es mir, so weiterzuleben?«

Er fühlte sich, als ob dies sein letzter Tag auf Erden sei. Er legte sich auf den Rücken, die Augen auf die Sterne gerichtet, und legte eine Hand unter die Röhre. Aber sogleich spürte er, wie sie im Wasser eisig kalt wurde. Er zog sie zurück und legte seine ganze Kraft in seine Augen und Ohren.

»Ihr verdammten Sterne, ich werde euch vereint sehen! Ich werde zuschauen, wenn ihr euch paart, wie Bienen. Ich werde euch sehen …«

Einmal hatte er einen ganzen Sommer drunten in der Çukurova verbracht und war an der Hitze und den Moskitos fast zugrunde gegangen. Dort hatte er diese harten, goldgepanzerten Käfer gesehen, wie sie aufeinander kletterten, sich paarten, eine schillernde Masse, deren Panzer mit tausend winzigen Funken übersät waren und grünlich, rot, schwarz, purpurn, gelb, silbern und golden glänzten … Insekten sterben nicht wirklich, auch Blumen und Gräser nicht. Insekten, Blumen, Gräser fügen sich aneinander in einer langen Kette, ohne Unterbrechung gehen sie eins aus dem andern hervor, bleiben unsterblich bis zum Jüngsten Tag. Die Blumen bilden eine Kette ohne Ende …

»Das ist wahr, eine lange, unendliche Kette … Sie schlafen ein und wachen jedes Frühjahr wieder auf. Sie sterben nie.«

Aber die Menschen sterben. Sie sterben, weil jeder einzelne Mensch einzigartig ist. Er wird allein geboren und stirbt allein. Nicht wie die Insekten, die gemeinsam geboren werden, massenhaft, bis an den Jüngsten Tag, und niemals sterben.

»Nur eine Kreatur auf der ganzen Welt stirbt. Nur ein Lebewesen ist sterblich, und das ist der Mensch. Der Mensch! Der Mensch!«

»Der Mensch!« widerhallte sein Schrei im ganzen Tal.

Welch eine Art Blume kann das wohl sein, diese Blume, die den Menschen unsterblich macht? Die jeden unsterblich macht, der ihren Duft atmet? Und doch ganz unsichtbar ist, sogar für Heilige? Oder gibt es sie gar nicht …? Aber nein, das kann nicht sein! Wie könnte sonst Lokman die Jahrhunderte hindurch weiterleben? Wenn es eine solche Blume nicht gibt, wie könnten Hizir und Elias leben, auf die jetzt die ganze Welt wartet? Nein, nein, es muss sie geben …

Seine Augen bemerkten einen Stern. Er glitt in einer gewundenen Bahn über den Himmel und traf hie und da einen anderen Stern.

»Vielleicht ist es dieser?«

Die Äste über ihm verdeckten einen Teil des Himmels. Er wechselte seinen Platz und legte sich wieder auf den Rücken.

»Dies ist meine letzte Gelegenheit, heute Nacht muss ich alles sehen, die Sterne, die Blume der Unsterblichkeit. Wie lange kann ein Mensch, wenn er hundert ist, noch leben … Ich spüre schon den grausigen Atem des Todes in meinem Nacken, kalt wie eine Schlange. Diesen grausigen Atem! Ich will nicht sterben.«

Er seufzte, ohne die Sterne aus den Augen zu lassen. Du bist meine letzte Hoffnung, allmächtiger Hizir, wiederholte er. Grenzenlose Verzweiflung ergriff ihn. Die Welt um ihn wurde schwarz wie Pech, die wimmelnden, funkelnden Sterne erloschen. Müslüm glaubte zu ersticken. Aber plötzlich schöpfte er wieder Hoffnung. Die Sterne wirbelten wieder über den Himmel, in wildem Aufruhr, und Müslüm fiel in eine grenzenlose Entzückung, als habe er schon den Duft der Unsterblichkeitsblume geatmet.

Yeter die Jungfrau wartete auf Yunus, der jetzt seit sechzehn Jahren fort war. Sie hatten sich verlobt, und dann war Yunus in die Fremde gegangen, um das Geld für den Brautpreis zu verdienen. Er war niemals zurückgekehrt, und nie hatte man wieder von ihm gehört.