Das Unsterblichkeitskraut - Yaşar Kemal - E-Book

Das Unsterblichkeitskraut E-Book

Yasar Kemal

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Beschreibung

Dieses Jahr ist alles anders geworden beim Zug der Bauern aus den Taurus-Bergen auf die Baumwollfelder der Çukurova. Die steinalte Meryemce musste im verlassenen Dorf zurückbleiben. Tasbasoglu, der Dorfheilige des letzten Winters, hat vor seinem Verschwinden einen Fluch über den Amtmann gesprochen, und seither richtet keiner mehr ein einziges Wort an Sefer, weder dessen Frau noch die Kinder. Da kehrt Tasbasoglu zurück – krank, erschöpft und kraftlos. Die Bauern weisen ihn ab, seine Familie weigert sich, ihn aufzunehmen: Nein, das kann er nicht sein, der Mann, den sie zu ihrem Heiligen gemacht haben. Ungestraft gießt der Amtmann seinen Spott über dem Wehrlosen aus, bis der beschließt, sich zu töten, um die Verehrung des Dorfes wiederzugewinnen.

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Seitenzahl: 663

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Über dieses Buch

Wieder sind die Bauern aus den Taurus-Bergen auf die Baumwollfelder der Çukurova gezogen. Aber dieses Jahr ist alles anders geworden. Tasbasoglu, der Dorfheilige des letzten Winters, hat vor seinem Verschwinden einen Fluch über den Amtmann gesprochen. Als er krank, erschöpft und kraftlos zurückkehrt, wendet sich das Dorf gegen ihn.

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Yaşar Kemal (1923-2015) wird der »Sänger und Chronist seines Landes« genannt. Er wuchs in einem Dorf Südanatoliens auf und lebte in Istanbul. 1997 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 2008 wurde er mit dem Türkischen Staatspreis geehrt.

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Cornelius Bischoff (1928-2018) verbrachte seine Jugendjahre in der Türkei und studierte Jura in Istanbul und in Hamburg. Seit 1978 ist er als literarischer Übersetzer tätig und schreibt Drehbücher.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Yaşar Kemal

Das Unsterblichkeitskraut

Roman

Aus dem Türkischen von Cornelius Bischoff

Die Anatolische Trilogie III

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 6 Dokumente

Die Originalausgabe erschien 1968 unter dem Titel Ölmez Otu im Verlag Ant Yayinlari, Istanbul.

Originaltitel: Ölmez Otu (1968)

© by Yaşar Kemal 1968

© by Unionsverlag, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Mehmet Güler, Unter dem Traumbaum, Öl auf Papier, 1983

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30797-1

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Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)

Version vom 22.06.2022, 04:41h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

Impressum

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Inhaltsverzeichnis

DAS UNSTERBLICHKEITSKRAUT

1 – Wie Memidiks Zorn von Tag zu Tag wächst …2 – Wie Halil der Alte auf der Suche nach …3 – Wie die Einwohner des Dorfes Yalak in die …4 – Halil der Alte hockt im Baumwollfeld und wartet …5 – Meryemce schläft ein und bleibt allein im menschenleeren …6 – Memidik schleppt den Toten hierhin, dorthin, von einem …7 – Hasan schneidet im Tal der Kirschen Schösslinge von …8 – Die Bauern von Yalak pflücken Baumwolle in einem …9 – Eine sternbesäte, stickige, feuchtheiße Nacht ohne Schlaf und …10 – Memidik will das Gesicht des Toten sehen …11 – Memidik befindet sich in einem sonderbaren Zustand der …12 – Das Baumwollfeld, auf dem sie pflückten, war sehr …13 – Fünfzehn Gendarmen, ein Gendarmerieoberleutnant, sechs Polizisten und die …14 – Ali der Lange ist in einer verzweifelten Lage …15 – Ununterbrochen erzählen die Dörfler Geschichten darüber, wie Meryemce …16 – Tief und unheilbar verletzt denkt Amtmann Sefer voller …17 – Das Unbehagen wuchs, die Stimmung wurde immer gedrückter …18 – Halil der Alte denkt ununterbrochen darüber nach …19 – Meryemce ist in Yalak ganz allein. Im Dorf …20 – Memidik kann den Pfahl in seinem Fleisch …21 – Seit jenem Tag kommt Halil der Alte bei …22 – Dass Ali der Lange nachts aufstand und an …23 – Memidik ist auf dem Weg zur Kreisstadt …24 – Ömer ist unterwegs. Er hat Savrungözü schon weit …25 – Es ist sehr heiß. Noch nie war es …26 – Ohne anzuhalten läuft Memidik durch den Regen …27 – Noch bevor der Morgen graut, versammeln sie sich …28 – Schon seit geraumer Zeit saust Ahmet der Umnachtete …29 – Sein Körper war klitschnass. Die Beine wollten nicht …30 – Die Kinder haben einen riesigen alten Adler gefangen …31 – Zeliha ist wie verhext. Sie kann Memidiks Gebaren …32 – Die Fatmaca, der kleine Hasan und Memidik schlafen …33 – Meryemce machen ihre Angst und die Sterne zu …34 – Memidiks Wut staut sich auf. Sie wird unerträglich …35 – Nach Sonnenuntergang kommt Memidik mit einem Sack voll …36 – Taşbaşoğlus Leidensweg geht Memidik sehr nahe. Außerdem hat …37 – Amtmann Sefer meint, dass nach den Prügeln vom …38 – Seit dem Tag, an dem Halil der Alte …39 – Meryemce befallen Angst und Überdruss. Sie hört weder …40 – Die Dörfler waren sehr stolz. Mit der ersten …41 – Memidik ist Zorn vom Scheitel bis zum Zehennagel …42 – Sie ziehen auf ein anderes Feld. Auch dieses …43 – Dass Taşbaşoğlu so von ihnen gegangen war …44 – Seit Tagen sind Ömer und Meryemce beisammen …45 – Ein unerwartetes Ereignis verwirrt die Dörfler und versetzt …46 – Der große Adler zog drei Kreise am Himmel …47 – Außer den Feldern Muttalip Beys ernteten die Dörfler …

Mehr über dieses Buch

Über Yaşar Kemal

Günter Grass: Laudatio auf Yaşar Kemal

Yaşar Kemal: Über die Sprache

Yaşar Kemal: Die Natur, Universum der Mythen

Yaşar Kemal: Das Gefängnis – die Schule der türkischen Literatur

Yaşar Kemal: »Die Epen sind wie Kiesel auf dem Grund des Stromes«

Lucien Leitess: Vor seinen Büchern werden wir wieder zu Kindern

Über Cornelius Bischoff

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Zum Thema Türkei

1

Wie Memidiks Zorn von Tag zu Tag wächst und schließlich unerträglich wird.

Memidik zog blitzschnell sein Messer aus der Scheide; die Klinge, rank wie das Blatt einer Weide, blitzte im Mondlicht und zog einen weiten, bläulich glitzernden Bogen. Sein Körper spannte sich bis ins Knochenmark, bereit, wie ein Falke auf die Beute zu stürzen. Memidik sprang – und blieb dann zitternd auf ausgestreckten, steifen Beinen stehen. Seine Glieder schienen sich vom Scheitel bis zur Sohle in Bleiklumpen zu verwandeln, so schwer.

Die Nacht war mondhell. In silbernem Glanz schienen Bäume, Gräser, Bodenwellen und Hügel zu schwanken, sich zu dehnen, länger zu werden. Fahles Licht füllte Bäche und Schluchten, warf die Schatten des Anavarza-Felsens auf die Wasser des Ceyhan, die silbern, träge und still durch die endlos schimmernde Ebene dahinflossen, lautlos in die Schatten der Felsen tauchten und nach einer Weile hinter ihnen wieder in glänzenden Windungen dahinströmten.

Die Schritte, unter denen die Kiesel am Bache knirschten, kamen immer näher, und je näher sie kamen, desto mehr straffte sich Memidik. Das Geräusch rollender Steine dauerte an, wollte nicht aufhören, hallte wider im Mondlicht. Eine Weile schienen die Schritte von weit her aus der Tiefe zu kommen, dann wieder waren sie ganz in der Nähe; zum Greifen nahe. Die Schritte verhielten, und eine unheimliche Stille breitete sich aus. In der Ferne raschelte trockenes Laub unter dem Gewicht einer Schleiereule, die sich von Zweig zu Zweig schwang. Plötzlich tauchte der Schatten auf, gewaltig und Achtung gebietend. Wie der Blitz hechtete Memidik hinter den nächsten Busch.

Der Schatten bewegte sich gemächlich schwankend vorwärts, wurde immer länger, breiter, mächtiger, fiel wieder in sich zusammen, blähte sich auf, schnellte empor, stürzte, erhob sich, dehnte sich, streckte sich lang über die Erde, bäumte sich plötzlich und sprang wie der leibhaftige Zorn auf Memidik zu. Je näher er kam, desto mehr löste sich Memidiks Spannung, entkrampfte sich sein Körper.

Angst kroch in ihm hoch, ganz langsam, wie auflaufendes Wasser. Arme und Beine versagten ihm den Dienst. Das Messer, seit Einbruch der Nacht fest umklammert in seiner Faust, fiel zu Boden. Die Hand war taub geworden, das Blut darin stockte. Jetzt begann die Haut zu brennen und zu kribbeln. Er bückte sich und tastete in den Stoppeln nach seinem Messer, bis er es gefunden hatte. Als das Mondlicht auf die Klinge fiel, blitzte sie blau schimmernd ganz kurz auf. Memidiks Hände flatterten so heftig, als wollten sie davonfliegen. Dann begann der ganze Körper zu zittern. Der Schatten kam immer näher und ging an ihm vorbei. Memidik sah nur zwei lange Beine, die groß und weit geschmeidig ausschritten. Große, schwarze Beine bewegten sich fort, kamen zurück, schwankten und bauten sich wie eine schwarze Wand vor ihm auf. Memidik konnte sich nicht mehr aufrecht halten, seine Knie wurden weich, ganz langsam glitt er neben dem Busch zu Boden.

»Zur Hölle mit dir, Messer!«, fluchte er in sich hinein, »zur Hölle mit dir, Messer … Zur Hölle mit dir, Angst! Auch diesmal hat es nicht geklappt.«

Erst als der Schatten sich längst entfernt hatte, konnte Memidik sich wieder fangen.

So spielte es sich immer ab. Jedesmal musste er sich damit abfinden, dass Hände und Beine, ja sein ganzer Körper ihm den Gehorsam verweigerten. Und somit konnte Memidik Sefer nicht töten; einzig und allein aus diesem Grund.

Ein verschneiter Wintertag fiel ihm ein. Er war von der Jagd heimgekehrt und wartete unter dem Maulbeerbaum vor Sefers Haustür. Wartete und wartete, die Handflächen brannten, so spannte sich die Haut. Doch als Sefer endlich herauskam, wurde er wieder schwach. Auch damals begann er zu schwitzen, bis schließlich sein ganzer Körper in Schweiß gebadet war.

Er kauerte im Gestrüpp und zitterte immer noch. Zittert und umklammert mit aller Kraft den Schaft seines Messers. »Diese Nacht muss ich den da töten. Diese Nacht, diese Nacht … In dieser Nacht wird Schluss gemacht … Wenn der Mann nicht stirbt, gibt es für mich keine Erlösung.« Er spürt ein Ziehen in seinen Fußsohlen, in seinen Hoden und Knien. Ihm wird übel, und er würgt.

Die Prügel damals gingen ihm nicht aus dem Kopf. Nicht einen Augenblick. Wegen Taşbaşoğlu hatten sie ihn geschlagen, wegen des Heiligen mit den sieben Lichtkugeln groß wie Pappeln im Gefolge, der die Nächte in Tage verwandelte, dessen Antlitz so rein war wie klares Wasser und der verschwand, um in den Kreis der Vierzig Glückseligen einzugehen.

Sefers Gefolgsmann, der ungeschlachte Ömer, hatte ihn geprügelt. So schlimm, dass Memidik Blut pisste und drei Monate lang das Bett nicht verlassen konnte. Kann man einen Menschen denn so mörderisch schlagen? Sogar das Ungeheuer Ömer wäre nicht so weit gegangen, wenn dahinter nicht Sefer gesteckt hätte, Taşbaşoğlu Todfeind.

Die Nachbarn hatten sich um sein Krankenlager geschart. »Das übersteht er nicht, das bringt Memidik um«, sagten sie, »gottverdammter Sefer!« Seine Mutter weinte nur noch.

Memidik ist nicht gestorben. Er ist nicht gestorben, aber seitdem ist er auch nicht mehr derselbe. Nachdem er das Bett verlassen hatte, konnte er keinen Schritt mehr ins Dorf tun und niemandem ins Gesicht sehen. Er trieb sich nur noch in den Bergen, den Schluchten und in der Steppe herum. Zum Glück war er Jäger, stellte dort dem Wild nach und hatte nicht das Bedürfnis, zwischen Menschen zu sein. Vor Scham konnte er nicht einmal seiner Mutter in die Augen schauen. »Solange Sefer nicht tot ist, kann ich mich davon nicht frei machen. Ich muss ihn töten, damit ich mich wieder zwischen Menschen bewegen, ihnen ins Gesicht sehen kann.« Tagelang schliff er sein Messer, dessen Klinge rank war wie ein Weidenblatt. Schliff es, bis es bei der geringsten Berührung ein Haar zerschnitt.

Viele Nächte hindurch wartete er im hohen Schnee vor Sefers Tür. Das Blut in seiner Handfläche stockte, und das mit Perlmutt eingelegte Messer vereiste in seiner Faust. Wie oft traf er in jenen Winternächten auf Sefer, standen sie sich Aug in Aug gegenüber. Doch jedesmal zitterte Memidik, war er wie gelähmt, glitt das Messer aus seiner Hand und fiel in den Schnee. Er konnte Sefer nichts tun. Und der Zorn in ihm wurde immer wilder.

»In so einem Winter, solcher Kälte, solchem Frost wird ein Mensch ja vom Warten wie gelähmt«, sagte er schließlich, »aber an dem Tag, an dem wir in die Ebene hinunterziehen, werde ich ihn dort auf der Erde der Çukurova niederstrecken; bei meinem Leben!« Er war ganz sicher, dass in der Çukurova seine Knie nicht weich werden würden.

Sie wurden es doch. Memidik stieß an eine riesige Wand ohne Ende, er stand am Rand der Verzweiflung. »Ich muss mich selbst töten«, sagte er, »ich werde mich töten.« Und wenn seine Glieder ihm im Augenblick der Selbsttötung auch den Dienst versagten?

Er schlug die Richtung ein, in die der Schatten verschwunden war. Nach zweihundert, höchstens dreihundert Schritt war er mitten in einem Gestrüpp Stechginster. Die Dornen schrammten seine Beine, rissen seine Pluderhosen an. Von irgendwoher kam der herbe Geruch der Scheindahlie; der Duft von Minze vermengte sich mit dem Moder aus den Sümpfen, es roch nach brandigen Stoppelfeldern und nach Wegerich. Gerüche, Nacht, Mondschein: alles troff vor Nässe.

Plötzlich, wie ein Blitzschlag, durchfuhr ein Schauer Memidiks Körper. Erschrocken verharrt er eine Weile. Als er weitergeht und den Geruch trockenen Getreides einatmet, kommt er langsam wieder zu sich, kehrt die Spannkraft in seinen Körper zurück.

Als er bei den Maulbeerbäumen anlangte, hatte er sich völlig in der Gewalt, war sein Körper wieder prall und straff. Memidik folgte dem schmalen Pfad bis zum Bach und erklomm einen Hügel. Auf dessen Rückseite lag ein alter Friedhof. Er durchquerte ihn mit geschlossenen Augen. Als er aufblickte, war er wieder am Bach. Die weite Fläche, bedeckt mit weißen Kieseln, musste die Furt sein. Das Wasser war bestimmt nicht tiefer als bis zu den Knöcheln, denn die Fische, die in Schwärmen flussaufwärts zogen, schienen mit ihren schillernden Bäuchen aus dem Wasser herauszuschnellen.

Der Mann kauerte an der Furt auf einem Stein und hatte die Füße ins Wasser getaucht. Sein Rücken war Memidik zugewandt. Was hatte er nur für breite Schultern! Wie die Schultern eines Riesen. »Bürgermeister Sefer ist doch nicht so massig«, sagte sich Memidik, »wer weiß, warum, im Mondlicht sieht es so aus. In der Dunkelheit wachsen die Menschen vier-, ja fünffach. Vielleicht bin auch ich jetzt zehnmal größer.« Diesen Satz flüsterte er immer wieder vor sich hin, bis er sein Selbstvertrauen wiedergefunden hatte.

Dicht neben dem Schatten stand eine Ulme mit ausgehöhltem Stamm. Auf Zehenspitzen glitt er hinter den Baum. Er umklammerte den Griff seines Messers; doch als er sich auf den Schatten stürzen will, verlassen ihn wieder die Kräfte; es schüttelt ihn wie im Fieber, und er sinkt zu Boden.

Vor dem Schatten schnellte ein großer beschuppter Fisch in drei Sätzen über das Wasser. Sein Bauch schimmerte silbern im Mondlicht. Der Schatten hob den Kopf. Dann warf er einen Kieselstein in die Richtung, in die der Fisch gesprungen war.

Memidiks Wut wurde immer größer. Er verfluchte sich. Ach, wenn ihm jetzt Arme und Beine doch nur gehorchten, wenn ihm doch nur nicht so kalt wäre, dass er zitterte! Könnte er doch jetzt hin und jenem das Messer bis ins Heft in den Rücken stoßen, genau über dem Herzen … Sein Blut würde in das Wasser fließen und es rot färben.

Der Schatten rührte sich nicht mehr. Jetzt auf Zehenspitzen näher gehen … Ganz leise …

»Oh, Mutter, wehe mir!« Der Schrei kommt vom Schatten dort und stürmt kurz darauf von allen Seiten auf Memidik ein. Mit aller Kraft versucht er, hinter dem Gebüsch auf die Beine zu kommen, aber es gelingt ihm nicht. Er kriecht zum Wasser hinunter und versucht zu trinken. Seine Glieder zittern so heftig, dass er das bisschen Wasser in der hohlen Hand über seinen Kragen schüttet. Es gelingt ihm nicht einmal, seine Lippen zu benetzen. Als er den Kopf hebt und nach links späht, ist der Mann, der eben noch dort saß, verschwunden. Von einem Augenblick zum andern nicht mehr da. Ist der Kerl ein Geist – oder ein Teufel? Doch kaum dass der Mann verschwunden war, fing Memidik sich wieder. Das Zittern legte sich. Er sprang auf die Beine und rannte los. Wenn Sefer ihm jetzt, in diesem Augenblick, in die Hände fiele, würde er seinen dreckigen, niederträchtigen Körper mit unzähligen Stößen durchlöchern. Er rannte am Bachufer entlang, dass die Kieselsteine unter seinen Füßen nur so stoben; aber niemand war zu sehen. »Ach, wenn ich ihn jetzt erwischte … Jetzt, in diesem Augenblick!« Weder würden seine Hände zittern noch seine Knie weich werden.

Seine Fußsohlen schmerzten, die Zehen brannten wie Feuer. Als Ömer ihn verprügelte, war er ohnmächtig geworden … Sefer hielt ihm daraufhin sein flammendes Feuerzeug an die Zehen. Was hatte er da für einen Satz gemacht, trotz seiner Ohnmacht … Fast wäre er an die Stalldecke gesprungen. Es ist genau ein Jahr her, seit dem Tag, an dem Sefer mich getötet hat, überlegte er. »Nein, Sefer tötete mich vor einem Jahr und drei Monaten«, sprach er laut vor sich hin, »ein Jahr und drei Monate; auf den Tag. Da hat er mich getötet; getötet!« Schmerzen durchzuckten seinen Körper wie an jenem Tag. Jedesmal, wenn er an den Tag dachte, an dem er geprügelt, an dem er getötet wurde, war das so. Er blieb stehen, krümmte sich, konnte nicht weiter, drückte beide Hände gegen die Leisten, legte sich hin, rieb und knetete und war eine Zeitlang wie von Sinnen.

Als er wieder zu sich kam, wehte eine schwache Brise, und der Mond war hinter den Wolken verschwunden. Schilfrohr raschelte irgendwo. Memidik stand auf, machte kehrt und lief hinunter zum Wasser. »Sefer hat mich getötet … Und ich werde ihn auch, ich auch, ich werde ihn auch …« Als er die Furt erreichte, blieb er wie angewurzelt stehen. Der Schatten war dort, an der alten Stelle; die Füße wieder im Wasser, stand er so da. Zwischen ihm und Sefer keine fünfzig Meter. »Los!«, sagte er sich. »Sefer ist mit seinen Gedanken in einer anderen Welt, er rührt sich nicht. Jetzt oder nie!« Bei diesen Worten überkam Memidik wieder diese Schwäche in den Gliedern; er sackte zusammen. Sefer sah sich nicht um. Ein großer Fisch sprang vor ihm dreimal aus dem Wasser, sein silberner Bauch blitzte im Mondlicht. Sefer erhob sich, streckte die Arme aus, reckte sich; seine Knochen knackten. Dann ging er beinahe über Memidik hinweg. Als Sefer fast über ihm war, wollte Memidik mit letzter Kraft aufstehen und sein Messer in diesen Mann hineinstoßen. Aber er kam nicht auf die Beine. Sefer ging weiter und verschwand hinter den Myrten.

»Verdammter Leib!«, fluchte Memidik. »Was ist mit dir nur los? Kerl, ich besorge es deiner Mutter und deinem Weib. Ist denn so was möglich? Nur zu, tu, was du willst, brich zusammen oder nicht, ich werde Sefer töten!« Er schimpfte noch, da kam Sefer zurück, hockte sich an seinen alten Platz und warf wieder mit Kieseln nach den springenden Fischen. Je länger Memidik den Schatten beobachtete, um so massiger wurden dessen Umrisse, und je riesiger sie wurden; desto mehr wuchs in Memidik die Angst. »Dieser Sefer hat etwas Geheimnisvolles, etwas, das nicht mit rechten Dingen zugeht. Was kann ich also dafür, wenn er nicht zu packen ist? Wie Wasser … Wie der Teufel … Wie ein Kobold. Ich töte ihn eben nicht. Was solls, ich töte ihn nicht, basta!«

Da ist was dran. Hat man denn je erlebt, dass einer getötet wird, nur weil er ein bisschen geprügelt und Knochen gebrochen hat? Ein Leben für eine Tracht Prügel … Ist das nicht zu viel?

»Aber ich kann immer noch keinem einzigen Menschen ins Gesicht sehen. Wenn mich die Leute anschauen, will ich in Grund und Boden versinken. Mich in Zilhas Nähe wagen und ihr mein Herz öffnen? Ich kann ihr ja nicht einmal in die Augen schauen. Und ich sehe keinen Ausweg.

Ich schaffe es nicht, weil meine Kraft nicht reicht. Oh, Gott, wie soll das enden? Mein Körper versagt; und dann diese Angst.«

»Es ist keine Angst! Es ist keine Angst!«, hört er eine Stimme rufen. Er horcht. Die Stimme verstummt.

Sie standen sich gegenüber. Die Entfernung zwischen ihnen ist aufgehoben, sie verharren Aug in Aug, hören das Wasser plätschern. Der Lärm eines Treckers in der Ferne hallt durch die Nacht, die Scheinwerferkegel eines Autos züngeln über den Anavarza-Felsen. Eine Zeitlang standen die beiden in grellem Licht, waren beide geblendet. Sie sahen sich nicht, sahen weder das dahinströmende Wasser noch das Schilfrohr und auch nicht die Platanen. Wie eine schwarze Wolke flog über ihnen ein Schwarm Vögel durch die Lichtkegel. Memidik schüttelte das Fieber. Es stieg und stieg. Vom Zittern ist sein Körper wie zerschlagen.

Der Mond ging unter. Die Erde, als atme sie, seufzte tief und zornig; sie bebte, dehnte sich und schwankte. Memidiks Körper brannte.

Sefer, in der Dunkelheit noch gewachsen, stand auf. Er reckte sich. Das Knacken seiner Knochen war zu hören. Dabei streckte er seine Arme in die Dunkelheit wie ein Adler seine mächtigen Schwingen. Als er die Flügel herunterzog, machte er einen riesigen Schritt gegen Memidik. Memidik konnte sich nicht rühren, konnte nicht fliehen und blieb so zwischen Sefers Beinen liegen.

Die Äste der Platane waren wie das Dunkel so groß gewachsen. Sie bedeckten Memidik und den Himmel. Der Fisch im Wasser schnellte dreimal an die Oberfläche. Dreimal schoß ein Blitz zum Himmel auf.

Sefer stand über Memidik und wurde immer größer. Dann entfernte er sich. Von weit her kam eine Stimme: »Hischt, hischt! Bruder Memidik! Hischt, hischt! Bist dus? Was suchst du hier? Sprich doch mit mir! Niemand will mit mir sprechen. Sprich du! Taşbaşoğlu hat das Gespräch mit mir verboten. Kein Geschöpf spricht mit mir. Nicht einmal Wolf und Vogel. Taşbaşoğlu ist ja gar kein Heiliger … Wäre er ein Heiliger, könnte doch der eisige Bora ihn nicht töten, wäre er doch nicht erfroren. Taşbaşoğlu ist tot. Tot!«

Augenblicklich hörte Memidik auf zu zittern, war er mit einem Sprung auf den Beinen; wie ein Falke, so schnell. Er umklammerte das Heft seines Messers, dass die Adern seiner Hand hervorquollen. »Taşbaşoğlu ist nicht tot!«, schrie er mit aller Kraft. »Und das ist kein Traum, das ist die Wahrheit. Kein Traum! Kein Traum! Er ist nicht gestorben. Ich habe ihn gesehen. Er ging dahin, hinter ihm so groß wie sieben Berge sieben Kugeln aus Licht. Sie strahlten in seinem Gefolge, und ich sah, wie er lächelte.«

Sefers Stimme war leise, weich, als streichelte sie Memidik voller Liebe: »Er ist tot, mein Kleiner; tot. Die Lichter sind tot und Taşbaşoğlu auch … Glaub du mir und sprich mit mir! Er ist tot. Lichter sterben, die Erde stirbt, die Gewässer … Und auch die Heiligen.«

Plötzlich, wie eine schwarze Wand, reckte sich vor ihm, größer noch als Sefer, ein Schatten auf. Seine Arme streckten sich in die Nacht wie die Flügel eines mächtigen Adlers. Nacht, Flügel, Äste, Licht und Schatten verschwammen ineinander. Memidik fand keine Zeit zu weichen oder zu fallen. Das Messer in seiner Hand schoss hervor, blitzte auf und zog einen weiten roten Bogen, der schlanker war als eine Flamme, durch das Dunkel. Der schmale, scharfe Stahl drang in das weiche Fleisch, das regungslos auf der Erde lag; immer und immer wieder. Von der Klinge und von Memidiks Händen troff bis zum Morgengrauen Tropfen für Tropfen Blut auf die Erde. Der sandige Boden sog es auf.

2

Wie Halil der Alte auf der Suche nach seinen Dörflern durch die Baumwollfelder zieht.

Als die Bauern aus dem Dorf Incecik zur Baumwollernte hinunter in die Ebene zogen, setzten sie Halil den Alten auf ein Pferd. Das Tier war alt und mager, aber immerhin, es brachte Halil den Alten bis in die Çukurova. Sie hatten dem Pferd auch noch einen Tscherkessensattel aufgelegt. Auch der war alt, das Leder abgewetzt, und die Verzierungen waren lange schon abgefallen, aber er war immer noch daunenweich.

Halil der Alte ritt kerzengerade an der Spitze des Zuges. Die Peitsche in seiner Hand war auch schon alt, und wie die Berittenen aus alten Zeiten stützte er sie auf sein linkes Knie. Stolzgeschwellt strömte er über vor Freude. »Sieh, so sind Männer, die diesen Namen verdienen, und so sehen brave Menschen aus: Wie diese Dörfler aus Incecik. Nicht wie jene Niederträchtigen, bei denen ich lebte und die meinen Wert nicht würdigten. Denen ich ausgeliefert war, wie dieser Hure von Meryemce, dieser auf sieben Erdteilen Verrufenen, diesem rotznäsigen, niederträchtigen Sefer und diesem Trottel Taşbaşoğlu. Nie wieder kehre ich in mein Dorf zurück, bei Gott! Nie wieder werde ich diesen Hunden ins Gesicht sehen, Gott bewahre mich … Bewahre mich tausendmal!«

Jetzt, hoch zu Ross, an der Spitze des Zuges, hätte ihn von seinen Dörflern wenigstens Meryemce sehen müssen. Wenn sie doch auf dem Weg hinunter in die Çukurova an irgendeiner Kreuzung auf die Leute aus seinem Dorf stoßen würden. Das wäre schön! Groß wie Tassen würden sich Meryemces Augen weiten. Wer weiß, vielleicht … In freudiger Erwartung gab er dem Pferd die Peitsche.

Sie erreichten die Çukurova, ohne dass Halil der Alte diese Hoffnung auch nur eine Minute aufgegeben hatte und ohne auf die anderen Dörfler zu stoßen. Der Grauschimmel, der Tscherkessensattel, die Peitsche, auch dass er sich kerzengerade wie ein Schössling auf dem Pferderücken gehalten hatte, alles, aber auch alles umsonst …

Die große Farm des Agas lag in der Gegend von Kösreli. Hier pflückten die Dörfler aus Incecik die Baumwolle immer zuerst. Früher waren es die Ländereien von Yüreğir. Die Baumwollfelder quollen über. Groß wie eine Faust drang der Bausch aus jeder geplatzten Kapsel. Die Çukurova war so weiß, als hätte es geschneit.

Halil der Alte blickte über die Ebene. »Freund, diese Welt hat sich eigenartig verändert«, sagte er, »findest du nicht auch, Cabbar? Wenn in unserer Jugendzeit so viele Kapseln so riesig aufgebrochen wären und die Çukurova von einem Ende zum anderen so weiß, wir hätten am Tag hundert Kilo gepflückt.«

»Das ist der Fortschritt«, antwortete Cabbar. »Auch der Mensch der Çukurova ist gewachsen. Früher war jeder von denen nicht größer als ein Däumling, stimmts?« »Sogar in meinem jetzigen Zustand schaffe ich zwanzig Kilo«, frohlockte Halil der Alte. »Ich auch«, sagte Cabbar. Nachdem Halil der Alte über den Langen Bach aus dem Dorf geflüchtet war, verschnaufte er erst, als er Incecik erreicht hatte. Wie er den Langen Bach überquert und ohne zu erfrieren, im Dunkel der Nacht, hin und her gestoßen vom Bora, das Dorf Incecik und dann noch die Tür seines Freundes Cabbar gefunden hatte? Er kann sich an nichts, an rein gar nichts erinnern. Nur Cabbars lachendes Gesicht fällt ihm ein, der sich mit einem dampfenden Glas Tee in der Hand über ihn beugt, als er die Augen aufschlägt. »Was war mit mir, Cabbar?«

»Was war mit dir, Halil?«

»Wie lange bin ich schon hier?«

»Na, so zehn, fünfzehn Tage.«

Gleich am selben Tag war er aufgestanden. Und am selben Tag hatte sich das ganze Dorf Incecik um ihn versammelt. Und Halil der Alte begann zu erzählen: »Die Dörfler dort sind verrückt geworden. Von sieben bis siebzig alle verrückt. Adil ist verrückt, Taşbaşoğlu ist verrückt und auch Bürgermeister Sefer. Und Meryemce gebärdet sich erst recht wie tollwütig. Solltet ihr in Kürze hören, dass sie sich gegenseitig aufgefressen, umgebracht, ausgerottet haben, solltet ihr über kurz oder lang erfahren, dass in dem Dorf keine Fliege übriggeblieben und alles leer und verlassen ist, so wundert euch überhaupt nicht.«

Jeden Tag erfand er eine andere witzige Geschichte über das Dorf, und die aus Incecik platzten vor Lachen. Aber je lächerlicher er das Dorf auch machte, seine Wut gegen Yalak stieg, wurde wilder von Tag zu Tag. Das Wort »Yalak« allein genügte, ja, es war mehr als genug, um Halil den Alten stundenlang zum Reden zu bringen. Und jeder Wortschwall endete mit der Feststellung: »Was Taşbaşoğlu sagte, wird geschehen. Auf jenes Dorf werden Schlangen regnen, riesengroße Schlangen; und jeden Bewohner Yalaks wird eine riesengroße Schlange verschlucken. Auch Meryemce und Taşbaşoğlu auch.«

Die in Incecik löcherten ihn immer wieder mit ihren Fragen, doch es gelang ihnen nicht, den Grund seiner grenzenlosen Feindseligkeit und seiner Wut herauszufinden. »Wer weiß, was diese hergelaufenen Leute von Yalak dem armen Alten angetan haben, dass er in so einem Zustand ist und dass er, den Tod vor Augen, den eisigen Bora nicht scheute. Wer weiß?«, sagten sie und ließen es damit bewenden.

Halil der Alte schlug sein Lager am Kamin auf und machte keinen Schritt vor Cabbars Haus. Immer wieder sah er ängstlich zur Tür, schreckte zusammen oder sprang auf. »Diese Yalaker, diese Niederträchtigen, diese Pharaonen werden mich töten«, rief er, und keine Ecke war klein genug, ihn zu verbergen. In den letzten Tagen fand er auch keinen Schlaf, und einmal in der Woche verabschiedete er sich von jedem Einwohner Inceciks: »Ich kam zu euch. Kam hierher, wo Yoghurt und Milch im Überfluss und wo der Honig fließt. Kam in dieses Dorf, das schöne violette Felsen umgeben, bedeckt von Kiefern und dunklen Tannen, wo die Menschen liebenswürdig sind, Freundschaft pflegen und Streit meiden. Hier dachte ich, meine Haut zu retten; aber es ist mir nicht gelungen. Cabbar ist mein Freund, ist mir wie ein Bruder, und es gab keinen besseren, wenn es galt, Pferde zu stehlen. Keinen besseren als ihn und mich. Seht, ich kam und suchte in seinem Hause Unterschlupf und konnte mich doch nicht retten. Konnte mein süßes Leben nicht aus den Klauen der Yalaker befreien. Erlasst mir die Sühne, falls ich gegen euch gefehlt habe; wenn nicht heute, dann werden sie mich morgen töten. Ihr kennt sie nicht, diese Ungeheuer. Ich führte sie zu spät auf die Baumwollfelder. Sie gaben mir nämlich kein Pferd. Wie sollte ich denn in meinem Alter zu Fuß bis in die Çukurova laufen, nicht wahr? Ich brachte sie dafür zu spät in die Ebene. Als sie dort ankamen, hatten die aus den Nachbardörfern die guten Felder längst untereinander aufgeteilt; und sie konnten sich die Handflächen lecken. Nicht einmal ein Kilo Baumwolle pflückten sie zusammen. Sie suchten mich, wollten mich töten, wollten mich in Stücke reißen. Ich flüchtete ins Dorf und versteckte mich hinter dem Verschlag der Vorratskammer. Und da findet mich doch der rotznäsige Hadschi, der mein Sohn sein will? Er findet mich, und kaum hat er mich gefunden, gibt er im ganzen Dorf bekannt, dass sein Vater im Dorfe sei und sich in der Vorratskammer verstecke. Und die Dörfler rotten sich um mich zusammen, Kind und Kegel, Frau und Knecht … Und hast du nicht gesehen, zogen sie mich aus. Ich war splitternackt. Und was erblicke ich? Mitten im Dorf haben sie einen Scheiterhaufen, hoch wie das Getreide auf dem Dreschplatz, angezündet. So nackt wie ich war, wollten sie mich ins Feuer werfen. Mit Allah! brülle ich, reiße mich los und laufe davon. Das ganze Dorf Yalak, mit Meryemce, der Hure der sieben Erdteile, an der Spitze, war hinter mir her. Doch sie konnten mich nicht einholen. Ich rannte schnurstracks in meine Höhle und verkroch mich. Dann kam ich hierher. Versteckt mich, versteckt mich …«

So verging der Winter; und auch die Dörfler von Incecik begannen Halil des Alten Ängste zu durchleben. Auch sie verfielen dem Wahn, dass eines Nachts Tausende von Männern das Dorf überfallen, zuerst Halil den Alten und dann sie selbst abschlachten würden. Der Sommer ging vorbei, jedermann lebte in Angst, die Angst wurde immer größer. Viele machten sich über Halil des Alten Ängste und über ihre eigenen lustig. Doch einmal in ihrem Innersten eingenistet, konnten sie diese damit auch nicht verscheuchen.

Eine Woche bevor die Baumwollkapseln aufbrachen, zogen sie zu Tal. Als sie die Çukurova erreichten, war die Ebene ein einziges makelloses Weiß unter leichtem Dunst, der wie ein heller Schleier darüber lag.

In der Nacht ihrer Ankunft schlief Halil der Alte wohl seit einem Jahr wieder zum ersten Mal tief, ohne aufzuschrecken. Als er erwachte, begann der Morgen gerade zu grauen. Jeden Augenblick musste die Sonne aufgehen. Die Dörfler hatten am Feldrand mit ihrer Arbeit begonnen, ihre Hände bewegten sich wie Maschinen so schnell. Kaum hatte Halil der Alte die Augen aufgeschlagen, und ohne sein Gesicht zu waschen und auszutreten … Dabei hätte er sich so gerne so richtig entleert … Dort zum Ufer hinuntergehen, sich am Bach hinhocken, den Duft der Tamarisken einatmen und so richtig nach Lust und Laune abprotzen … Eine Stunde, zwei Stunden sitzen bleiben, dabei die betäubenden Blätter der Tamariske kauen … Jedes Jahr am Tag seiner Ankunft in der Çukurova hielt er es so. Zum ersten Mal brach er mit seinem Brauch, ging hin und reihte sich in die Kolonne der Baumwollpflücker ein, ohne sich entleert zu haben.

So geschickt seine Hände waren, wenn es galt, die am festesten geschnürten Fußfesseln zu lockern und die Pferde loszubinden, so geschickt waren sie auch beim Pflücken der Baumwolle. Der größte Haufen am Mittag war der von Halil dem Alten. Jedermann schaute immer wieder voller Bewunderung zu ihm herüber.

»In diesem Alter diese Schnelligkeit!«

»In diesem Alter diese Kraft!«

»Ja, ja, alte Erde!«

Und Halil der Alte pflückte drei Tage lang, ununterbrochen, ja er nahm sich nicht einmal die Zeit, so nach Herzenslust auf die Erde der Çukurova zu scheißen.

In der Nacht des dritten Tages schlich er von seinem Lager am Bach hinter die Baumwollhaufen und blieb dort eine Weile liegen. Dann stand er auf und packte seine Baumwolle auf die seines Freundes Cabbar. Er machte einige Schritte rückwärts, betrachtete den Haufen, der jetzt doppelt so hoch geworden war, drehte sich um und ging. Seine Füße versanken bis zu den Knöcheln im kühlen Staub, der den Weg, den er jetzt einschlug, bedeckte. Ein trauriges Lied kam ihm immer wieder in den Sinn; eine seltsame Leere ergriff ihn, er kam sich verlassen vor, verwaist. Als der Morgen dämmerte, schnürte es ihm die Kehle zu wie eine Faust. Tränen kullerten ganz kurz nur über seine Wangen. Er lächelte in sich hinein: »Du bist ja schlimmer geworden als ein Weib, Großer Halil, schlimmer als ein Weib.«

Im nahen Feld pflückten Dörfler, denen man an der Kleidung ansah, dass sie aus dem Taurus gekommen waren. Er bog vom Weg ab. Es war heiß, er schwitzte, und auch die Tagelöhner waren in Schweiß gebadet. Als er ihnen einen Gruß zurief, richteten sie sich auf und blickten zu ihm herüber. Dann bückten sie sich nieder und arbeiteten weiter. Halil, wieder sich selbst überlassen, näherte sich einem älteren Pflücker. »Bruder«, sagte er, »ich muss dich etwas fragen.« Der Mann richtete sich auf: »Nun, Freund, dann frag!« Halil der Alte lächelte. Doch plötzlich erstarb das Lächeln; sein Gesicht bekam einen Zug von Bitterkeit, hellte sich aber gleich wieder auf, und lächelte glücklich und zufrieden. »Hast du schon einmal vom Dorf Yalak gehört? Mich nennt man dort Halil den Alten. Ich suche meine Dörfler. Weißt du, wo sie Baumwolle pflücken? Kam dir etwas zu Ohren?«

»Du bist Halil der Alte?«, fragte der Mann etwas erstaunt, aber auch mit einem Anflug von Bewunderung. »Jener Große Halil, der auch die unentwirrbaren Knoten von Fesseln an Pferdehufen lockern kann, der die schwersten Tore zertrümmert, der die Hengste der Schahs und Sultane und selbst die Reittiere des großen Räubers Köroğlu entführte?«

Dass der Mann ihn so beschrieb, schmeichelte Halil dem Alten. Gleichzeitig schnürte es ihm die Kehle zu. Ihm war zum Weinen zumute, und er schluckte. »Ich bin es«, konnte er nur hervorbringen. Noch ein Wort, und er hätte losgeheult. Er drehte sich um und eilte mit großen Schritten davon. Der alte Mann und die übrigen Baumwollpflücker, die sich wieder aufgerichtet hatten, verfolgten seine Flucht, bis er aus dem Feld herausgelaufen war. Als er den Weg erreichte, lief er immer noch; lief und weinte. »Großer Halil, Adler der Berge, soweit musste es also mit dir kommen. Oh, grausame Welt, Gott verdamme dich!« Jammernd setzte er seinen Weg fort, als ihm ein junger Mann entgegenkam, das Hemd weit geöffnet über der schwarz behaarten Brust, mit dunklem, krausem Bart, großen Augen, grimmiger Miene, braungebrannt, kräftig und mit einem Körper, der vor Gesundheit strotzte. Halil der Alte beneidete ihn, der daherkam, als stampfe er die Erde, die unter seinen Schritten bebte, während seine Füße den Staub in alle vier Himmelsrichtungen wirbelten.

»Ja, ja, Großer Halil, so warst du auch einmal, lang ist es her«, murmelte Halil der Alte, »wie ein Adler warst du, und heute dreht sich keiner nach dir um. Ja, du bist für sie nicht einmal Manns genug, den Tod aus ihrer Hand auf dich zu nehmen. Ich werde es niederbrennen, werde dieses Dorf niederbrennen; und dann werden wir ja sehen, ob sie mich für voll nehmen. Wir werden ja sehen!«

Der Wanderer kam näher. Halil der Alte wich ihm aus bis an den Wegrand. Als der Mann an ihm vorbeiging, rief er: »Halt an, Bruder!«

Der andere blieb stehen. Er war von hohem Wuchs. Sein Gesicht strahlte Selbstsicherheit aus. Die rechte Spitze seines Schnurrbarts hing tiefer als die linke, fast bis zum Kinn. Das war Halil dem Alten gleich aufgefallen. Auch die schwarze Locke, die sich auf seiner Stirn kringelte. Sie gab dem stolzen, harten, grimmigen Gesicht einen Hauch von kindlicher Einfalt.

Halil des Alten Herz klopfte. Er riss sich zusammen: »Gott segne dich, Wanderer, dass du stehengeblieben bist …« Der Gesichtsausdruck des Mannes wurde weicher. Er atmete einige Male tief durch; seine Stirn war schweißbedeckt.

»Wo pflücken die Leute aus Yalak Baumwolle? Ich bin Halil der Alte aus diesem Dorf.«

Das Gesicht des Mannes wurde so streng wie vorher: »Ich habe noch nie etwas von dem Dorf Yalak gehört, woher soll ich also wissen, wo seine Einwohner Baumwolle pflücken!« Er machte eine Handbewegung, als wolle er Fliegen verscheuchen.

»Hast du auch noch nie den Namen von Halil dem Alten vernommen, der die Pferde der Schahs und Sultane, der Agas und Beys, ja sogar des Recken Köroğlu entwendet; dem keine Tür standhält, und vor dem keine Fußfessel sicher ist?« Flehentlich sah Halil dem Mann in die Augen, die sehr grün waren und feindlich blickten.

Der Fremde war einen Augenblick verblüfft, fing sich aber schnell und lächelte. Lächelte breit und herzlich. »Nie gehört«, sagte er. »Ich habe auch noch nie einen Pferdedieb gesehen. Und Fußfesseln kenne ich auch nicht.« Er machte wieder diese wegwerfende Handbewegung, als verscheuche er Fliegen, und ging weiter. Seine Hand war pechschwarz ölverschmiert. Auch das war Halil dem Alten nicht entgangen.

»Sieh dir den an!«, sagte er laut. »Sieh dir den an, den Lügner da, der in seiner ganzen Länge fallen möge! Sieh dir seine öligen, dreckigen Hände an. Er will weder vom Dorf Yalak noch vom Großen Halil je gehört, noch Fußfesseln je gesehen haben. Sieh dir den an, diesen Esel! "Wie kannst du nur mit so einem Verstand in dieser Welt herumlaufen? Streunender Köter! Kein Wunder, dass du ölverschmiert und allein auf der Landstraße bist … Mit diesem Verstand wirst du noch lange verdreckt und einsam herumstrolchen, mit diesem Unwissen noch lange verlassen auf der Straße liegen. Hä, hä! Hände und Gesicht ölverdreckt, kennt nicht einmal das Dorf Yalak. Und vom Großen Halil hat er auch noch nichts gehört. Mann, entweder hast du keinen Verstand, oder du bist ein Esel. Nun, dann musst du eben auf der Landstraße herumlungern. In der Çukurova, Gesicht und Hände voller Schmiere. Und ganz allein …« So haderte Halil der Alte mit dem Mann, bis dieser weit weg war und er ihn aus den Augen verlor. Er schimpfte so heftig, dass ihm der Schaum vor den Mund trat.

Da kam ein Wagen aus der Richtung, wo der Mann verschwunden war. Im Wagen saß ein Jüngling um die Sechzehn, in der Hand eine Traube, von der er Beere für Beere in den Mund schob. »Spring, Onkel! Los, steig auf!«, rief er Halil zu, als er in seiner Höhe war. Mit der Gewandtheit eines Jugendlichen sprang Halil der Alte auf den Wagen. ›Ein braunes und ein graues Pferd‹, ging es ihm durch den Kopf, ›Fuchs und Grauschimmel im Gespann bringen Glück! Na, du spinnst ganz schön‹, dachte er dann und fügte nach einer Weile hinzu: ›Vielleicht stimmt es ja doch; wir wissen schließlich nicht, was es auf dieser Welt gibt und was nicht, und wir wissen auch nicht, was uns Glück bringt oder nicht.‹

Der Jüngling hielt ihm eine Traube hin. Halil der Alte nahm sie und musterte seinen Nachbarn. Dieser verhielt von Zeit zu Zeit, blickte um sich und schob sich jedesmal eine einzelne Weinbeere in den Mund. Halil der Alte machte es genauso wie er.

»Woher kommst du, wohin gehst du, Onkel?«, fragte der Jüngling. Ihm zu antworten: Ich bin der Große Halil und suche die Dörfler aus Yalak, brachte Halil der Alte nicht über sich. Diesen Jüngling hatte er auf Anhieb ins Herz geschlossen, und er wollte jede Missstimmung zwischen sich und ihm vermeiden. Der Bursche hatte so strahlende Augen, voller Freude und Hoffnung. Große, strahlende Augen. In seinem Gesicht leuchtete wohlige Zuneigung. Ohren und Schirmmütze waren staubbedeckt, die Haare fielen ihm in die Stirn, sie waren von der Sonne gebleicht, dass sie fast rot waren.

Wie ein Orkan wuchs in Halil der Zorn. Einen einzigen wie diesen Jüngling in seinem Dorf, und sein Leben wäre niemals in Gefahr. »Ich bin auf der Flucht«, sagte er, »Freund, sie werden mich töten. Sie werden mein Blut trinken und mir die Haut abziehen. Der Feind ist furchtbar, Freund, und ich, mein Freund, bin in Gefahr.« Und dann erzählte er in allen Einzelheiten, wie die Dörfler ihn splitternackt ausgezogen hatten, dass sie ihn ins Feuer werfen wollten und wie er im Dorf Incecik Zuflucht fand. Anschließend beschrieb er auch noch die Einwohner dort: »Es war Mitternacht … Fünf Männer, ungeschlacht wie Hünen, suchen mich. Fünf dunkle Gestalten kommen auf mich zu, Gestalten, dass Gott erbarm. Der eine sagt: ›Lasst ihn laufen, er ist alt und sucht Schutz in unserem Dorf.‹ Daraufhin der andere: ›Wir haben den Dörflern von Yalak unser Wort gegeben; und weil wir es versprochen haben, müssen wir ihn töten.‹ Ich verkroch mich sofort im nächsten Tamariskenbusch. Sie kamen näher, schauten herum, wo ich eben noch war, und fanden niemanden. Ich glitt von einem Gestrüpp zum anderen; als der Morgen kam, hatte ich mich bis zur Landstraße geschlichen. Seitdem war ich unterwegs, bis du mit deinem Wagen daherkamst. Gute Menschen wie du werden nie zu Boden gehen, denn unser Vater, der Prophet Elias, ist immer auf der Seite der Gütigen. Und wenn der sich einmal für einen wie dich entschieden hat, kannst du sicher sein, dass er dir hilft. Und wenn du mich fragst, woran man das erkennt; nun, es hat sich gefügt, dass eines deiner Pferde braun ist und das andere grau. Das bedeutet Glück.«

»Und wohin willst du jetzt, Onkel?«, fragte der Jüngling.

Halil der Alte stutzte und dachte nach. Dann lachte er lauthals und glücklich. »Ich suche einen Ort, an dem es keinen Tod gibt, wohin der Tod nicht kommen kann«, seufzte er, und sein Gesichtsausdruck veränderte sich im selben Augenblick. Es bekam einen schmerzhaften Zug, einen Ausdruck von Trauer. Seine Hände und seine Lippen begannen zu zittern.

»Wohin der Tod nicht kommen kann?«, wiederholte der Jüngling. Er überlegte eine Weile; dann gab er es auf und fragte: »Wo ist denn dieser Ort, wohin der Tod nicht kommen kann, he?«

Halil des Alten Miene hellte sich wieder auf: »Wenn ichs nur wüsste, ich würde mich sofort auf den Weg machen«, antwortete er und lachte.

Sie aßen beide ihre Weintrauben auf.

Halil der Alte war im Zwiespalt. Sollte er den Jüngling nach seinen Leuten aus Yalak fragen? Während er noch schwankte und mit sich rang, sah er in der Ferne eine Gruppe Tagelöhner, die Baumwolle pflückte. Mit einem Satz sprang er vom Wagen und rief: »Ich gehe zu den Dörflern dort hinüber. Vielleicht ist das der Ort, wohin der Tod nicht kommen kann.«

Der Jüngling griff in den Korb neben ihm, nahm eine große Traube und reichte sie Halil dem Alten. »Nimm!«, sagte er. »Du bist zu mager. Wenn du so weitermachst, kann der Tod sehr schnell schon zu dir kommen.«

Halil der Alte machte kehrt und nahm die Weintrauben. »Geh in Frieden und mit Gesundheit, mein Sohn!«, sagte er. »Und möge kein Stein deinem Fuß im Wege sein, solange du lebst. Ich küsse deine Augen!« Dann ging er mit schnellen Schritten zum Baumwollfeld.

3

Wie die Einwohner des Dorfes Yalak in die Çukurova hinunterziehen.

Ballen flammend roten Dornengestrüpps, die Torkelnden Disteln, waren von der Ebene heraufgeweht und zwischen die Häuser gerollt, wo sie sich in den Gassen auftürmten.

Das Dorf Yalak war in Aufbruchstimmung und machte sich für den Zug in die Çukurova bereit. Von sieben bis siebzig waren die Dörfler in Aufruhr; lärmten, polterten, hasteten hin und her … Im Dorf war die Hölle los. Jedes Jahr, wenn es in die Ebene zur Baumwollernte geht, ist in den Dörfern die Hölle los.

Nur einer im Dorf nimmt an diesem Rummel nicht teil, bleibt ferner Zuschauer dieses Trubels: Ali der Lange. Er macht keinen Finger krumm, rennt nicht hierhin und dorthin, ist weder aufgeregt noch sonst aus der Ruhe zu bringen. Wie ein Schlafwandler schlendert er durchs Dorf. Niemandem fällt sein Zustand auf; jeder ist ja mit sich selbst beschäftigt und sieht über seine Nasenspitze nicht hinaus … .

Ökkeş der Bergwolf bemerkte diese Veränderung in des Langen Verhalten zuerst. Nach einem Stoßgebet stellte er ihn zur Rede: »Was ist mit dir los, Ali?«, fragte er. »Morgen früh vor Tagesanbruch macht sich das Dorf auf den Weg, und du stehst da mit verschränkten Armen herum. Oder gehst du in diesem Jahr nicht in die Çukurova hinunter? Du weißt, dass Adil einem die Augen auskratzt, die Hose vom Hintern und das letzte Hemd, ja die Haut vom Leibe zieht. Er reißt uns die Dächer über den Köpfen ein.«

Es dauerte nicht lange, da war es in aller Munde: Ali der Lange zieht dieses Jahr nicht in die Ebene. Jeder suchte eine Erklärung. Zuerst hielten sie es für eine List, dachten an böse Absichten. Ali musste schließlich einen Grund haben. Irgendetwas musste ja für ihn dabei herausspringen. Sein Verbleiben im Dorf musste ihm bestimmt mehr einbringen als die Arbeit in den Baumwollfeldern. Aber wie? Und woher? Sie überlegten hin und her, fanden aber weder eine naheliegende noch eine weit hergeholte Erklärung.

Nur einer kam auf den Gedanken, der nicht von der Hand zu weisen war: Der Lange und Taşbaşoğlu mochten sich doch sehr. Folglich blieb Ali der Lange dieses Jahr im verlassenen Dorf zurück, um auf Taşbaşoğlu, unseren Herrn, zu warten.

»Wenn wir Dörfler in die Çukurova ziehen, wird Taşbaşoğlu, unser Herr, ins Dorf kommen und Ali dem Langen Reichtum und Segen bringen.«

»Ali erwartet ihn. Warum sollte er nicht; schließlich hat er einen großen Heiligen zum Blutsbruder. Taşbaşoğlu, unser Herr, würde eher seine Mutter, seinen Vater und sein Weib vergessen als seinen Bruder Ali den Langen.«

»Des Heiligen Tugend ist, dass er den Freund nicht vergisst.«

»Soll er doch auf Taşbaşoğlu warten. Soll Taşbaşoğlu doch ins Dorf kommen. Soll er doch kommen und Segen und Reichtum, Glück und Gesundheit bringen. Soll er doch kommen, unser Herr!«

Ali sprach mit niemandem, und niemand stellte an ihn noch Fragen.

Noch bevor der Morgen graute, erhob sich im Dorf mit ohrenbetäubendem Lärm ein wüstes Durcheinander. So laut, dass es durch die Steppe hallte. Dieser. Krach dauerte in voller Stärke eine Weile an – und war plötzlich wie abgeschnitten. Dann war vereinzelt vom unteren Bach nur noch blechernes Geklapper zu hören, das sich immer weiter entfernte.

Ali horchte hinaus, bis auch das letzte Geräusch verhallt war. Alles versank in endlos atemloser Stille. Er verließ das Bett und ging nach draußen. Der Mondschein war hell wie das Tageslicht. Kristallrot schimmerten zwischen den Häusern Haufen Torkelnder Disteln. Der Morgenwind trieb sie hin und her. Ali betrachtete den Weg: ein weißes Band, das wie ein schmales, glänzendes Wasser zum Fuß des Abhangs schlängelte. Dort, wo der schroffe Hügel seinen Schatten über den Weg warf, senkte sich gemächlich eine Staubwolke nieder, die der lange Zug der Dörfler aufgewirbelt hatte. Der Morgenwind streifte sanft Alis Gesicht. Ihm war, als käme er jetzt erst zu sich. Er hockte sich auf einen Stein nieder und nahm den Kopf zwischen die Hände. So blieb er sitzen, bis der Tag anbrach.

Elif hatte sich bis zum Morgengrauen nicht von der Stelle gerührt. Sie lag im Bett und horchte mit zusammengebissenen Zähnen auf Meryemces Ächzen und Wimmern. Als sie jetzt hinausging und ihren Mann erblickte, wie er dort gebeugt auf dem Stein hockte, ging sie zu ihm und stieß ihn an: »Ali, Ali, steh auf!«

Ali nahm die Hände vom Kopf und drehte sich zu seiner Frau um: »Was sagst du, Elif?«, fragte er, und seine Stimme hallte eigenartig hohl in der Stille des Morgens.

»Deine Mutter wimmerte bis in den Tag hinein. ›Mein armer Junge‹, hörte ich sie immer wieder stöhnen, ›meinetwegen konnte er seine Schulden nicht bezahlen, hat er sich vor aller Welt mit Schande bedeckt. Und meinetwegen kann er in diesem Jahr nicht zur Baumwollernte in die

Çukurova hinunter. Meinetwegen werden seine Kinder Hunger haben und nackt sein. Das beste wäre, ich brächte mich um!‹ Deine Mutter ist eine Frau von Ehre. Sie bringt es fertig und tötet sich. Was meinst du, he, Ali?«

»Ich weiß nicht«, antwortete Ali.

»Wenn wir nicht in die Çukurova ziehen, wird sich deine Mutter töten.«

Kurz darauf, gestützt auf ihren Stock, kam Meryemce heraus, und die beiden brachen das Gespräch ab. Meryemces Gesicht war aufgeblüht wie eine Blume, und sie wirkte frisch und jugendlich wie vor fünfundzwanzig Jahren. In ihren Augen leuchtete die Freude, und ihr Körper hatte sich gestrafft. Meryemce stand aufrecht da. Ihren Stock, so schien es, hielt sie nur aus Gewohnheit; als sei er völlig überflüssig.

Sie ging zu Ali und stellte sich vor ihn hin. »Mein Ali«, sagte sie, »mein Sohn, den Gott behüten möge, schau her! Schau mich an! Wie findest du mich? Steht deine Mutter nicht gereckt da wie eine Gazelle?«

Ali wusste nicht, wie ihm geschah. War diese hoch aufgerichtete Frau, schlank wie ein Reh, rank wie eine Braut, wirklich seine Mutter? War sie es? Immer wieder rieb er seine Augen, wollte ihnen nicht glauben. Er wusste vor Freude nicht, was er tun sollte. Zuerst stotterte er ein bisschen, brachte nicht über die Lippen, was er sagen wollte. Doch dann sprudelte es aus ihm heraus: »Wie eine Gazelle bist du, wie eine Gazelle … Ich kann es nicht fassen. Hast du Wasser aus dem Jungbrunnen getrunken, Mutter? Wie der Grauschimmel des Köroğlu? Du bist wie eine Gazelle, Mutter, kerzengrade.«

Meryemce ging leichtfüßig im Hof von einem Ende zum anderen, lief, sprang und hüpfte. »Ali, mein Kind, was hast du denn gedacht? Ja, so ist sie, deine Mutter. Ich kann so bis in die Çukurova gehen, und wenn es sein muss weiter bis ans Mittelmeer. Bleibe also meinetwegen nicht im Dorf. Ich werde dir nicht zur Last werden und dir keine Kopfschmerzen bereiten. Vergiss, was im letzten Jahr geschah. Es geht doch nicht an, dass ein Mann nicht in die

Çukurova zieht, dass einer hierbleibt, während sich das ganze Dorf auf den Weg macht. Sieh doch, sieh deine Mutter an!« Sie warf auch den Stock weg und lief noch einmal hin und her. »Danket Gott und sagt unberufen! Wie Eisen bin ich; wie reiner Stahl. Seht, meine lieben Kinder, die Gott beschützen möge, seht mich an!«

Sie geriet außer Atem, war kurz davor, zusammenzubrechen und fühlte sich sterbenselend; aber Meryemce riss sich zusammen, besiegte ihr Alter und ihre Schwäche. Sie bot ihre letzte Kraft auf. Niemand sollte etwas merken. »Ihr habt es gesehen … Habt gesehen … So werde ich … Genauso … Werde ich in die Ebene hinunterziehen, flink wie das Pferd eines Speerkämpfers. Voriges Jahr wurde ich dir zur Last, mein schönes Kind, mein Recke. Doch es war nicht mein Alter; mein Zorn gegen diesen Unhold, den Gott verdammen möge, war der Grund. In diesem Jahr wirst du mit mir keine Schwierigkeiten haben …« Sie schwankte, schnappte nach Luft, konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten … Wie ein Blasebalg hob und senkte sich ihre Brust. »Dir … Zur Last … Schau … Schau … Speer … Çukurova …« Sie machte noch einige Schritte, dann knickten ihre Knie ein. Noch im Fall stützte Meryemce sich mit den Händen am Boden ab, kam wieder hoch und eilte ins Haus. Halb ohnmächtig ließ sie sich auf ihr Lager fallen.

Ali konnte es nicht ertragen. »Mutter!«, schrie er auf. »Mutter, quäl dich nicht. Dass ich hierbleibe, ist nicht deinetwegen. Ich lege die Hand auf das Buch, ich schwöre beim Leben meiner Kinder, dass es nicht deinetwegen ist …« Er ging zu ihr, beugte sich ganz dicht über sie, und als vertraue er ihr ein großes Geheimnis an, flüsterte er ihr ins Ohr: »Hab Geduld, Mutter, ein wenig nur! Es hat einen besonderen Grund, warte ab!« Dann sah er argwöhnisch um sich und hielt seinen Mund ganz dicht an Meryemces Ohr. »Hör mir gut zu, Mutter!«, raunte er. »Hör mir gut zu und verrate unser Geheimnis keinem Menschen, niemandem, weder Wolf noch Vogel, noch Ameise!«

Meryemces Gekeuche legte sich, ihre Erregung ließ nach; die tiefen Kerben in ihrem Gesicht begannen sich zu glätten, ihre matten, trüben Augen bekamen wieder Glanz, und ganz allmählich stieg ein rosiger Schimmer in ihre Wangen. Sie war nur noch Neugier.

»Ich warte auf Taşbaşoğlu«, sagte Ali. »Ich sitze hier und halte Ausschau nach unserem Heiligen. Es könnte ja sein, dass ihn sein Weg hier vorbeiführt und er unser Elend sieht. Vielleicht bekommt er Mitleid und hilft. Und dann warte ich noch auf unseren Freund Ahmet den Umnachteten.«

Meryemce stemmte sich mit beiden Ellenbogen hoch und sah Ali dem Langen fest in die Augen. Wie der leibhaftige Zorn schaute sie ihren Sohn eine Weile an. Plötzlich brüllte sie: »Hör mal, hör mal, meinst du denn, du könntest mich reinlegen? Mich?« Dann schwieg sie und fiel entkräftet auf ihr Lager zurück. Sie atmete einige Mal tief ein und stöhnte: »Ach, ach! Taşbaşoğlu ist doch nur ein Menschenkind wie du und ich. Und wer weiß, wo Ahmet der Umnachtete, mein Kleiner, mein Augapfel, meine Gazelle, ist.«

»Auf ihn warte ich doch, Mutter! Auf ihn …«

Meryemce lächelte insgeheim und mit leichtem Spott. Doch Ali bemerkte es, und er verspürte im Innern einen unerklärlichen Schmerz. Er schämte sich und konnte seiner Mutter nicht mehr in die Augen sehen.

Meryemce hatte nichts von alledem geschluckt. Ali musste zu einer anderen List greifen. Er stand auf, ging einige Mal hin und her, legte die Hände auf den Rücken, reckte sich wippend, kicherte erst einmal vor sich hin und begann lauthals zu lachen: »Ha, ha!«

Meryemce sah seinem kindlichen Treiben zu. »Mutter!«, rief er und hob die Hand. »Ha, ha! Weißt du, warum ich nicht in die Çukurova gehe und hierbleibe? Nun rate mal!« Dann schwieg er, machte wieder einige Schritte und begann von Neuem: »Los, rate mal! Rate, warum ich mich nicht auf den Weg gemacht habe. Rate …« Er ging hinaus, kehrte zurück und fragte: »Nun? Rate!« Mit freudigen Augen, als wüsste er um die letzten Geheimnisse, stand er vor seiner Mutter und sah sie an. Dann erhob er seine Stimme: »In diesem Jahr gibt es in der Çukurova keine Baumwolle. Schädlinge fraßen die ganze Ernte auf. Die Ebene ist völlig ausgetrocknet, alle Wasserläufe sind versiegt. Und brauchtest du für deine Heilkräuter nur ein einziges grünes Blatt, du fändest es nicht in der Çukurova. Ich weiß es, und jeder Bauer weiß es. Sie wissen es und gehen trotzdem. Sag, sollen wir deswegen auch gehen? Sollen wir wie diese Bauerntölpel auch hingehen und uns quälen? Du wirst sehen, schon bald, wenn nicht diese Woche, dann in der nächsten, werden sie alle wieder hier sein; erschöpft und elend. Sag, sollen wir auch gehen? Hingehen und mit leeren Händen und geschwollenen Füßen, erschöpft und elend wieder zurückkommen? Sag!«

Meryemce stützte sich wieder auf ihre Ellenbogen: »Lass uns gehen, Kind«, sagte sie, »jaaa, lass uns gehen. Auch in der Not ist der Treff aller zur Hochzeit ein Fest. Und wenn die Baumwolle nicht wächst, der Reis nicht sprießt, die Gewässer versiegen und alles zu Asche verdorrt, die Çukurova ist und bleibt die Çukurova, die Ebene voller Segen und Überfluss. Aus diesem Grund darf man nicht zurückbleiben, muss man dort hinunterziehen, darf man die Tage nicht verstreichen lassen und der Zeit keine Gelegenheit geben, dass sie sich gegen einen wende.«

»Und ich gehe nicht!«, brüllte Ali, so laut er konnte. »Ich bin nicht so verrückt wie diese blöden Dörfler. Ich bin nicht verrückt, bin nicht verrückt, bin nicht verrückt!

Nichts als dürre Öde ist Çukurovas Erde in diesem Jahr; verdorrtes, graues, knochentrockenes Land. Und davon haben wir auch hier mehr als genug.«

Meryemce ließ sich wieder rücklings auf ihr Lager fallen. »Man muss gehen«, wimmerte sie, »man darf den Brauch nicht brechen. Auch wenn es verbrannte Erde ist und am Ende des Weges der Tod wartet, wir müssen hin.«

Wie leblos ließ Ali seine Arme hängen. »Oh, Mutter, oh«, stöhnte er, »oh …« Er rannte aus dem Haus und schlug die Richtung zu den verkarsteten Hängen ein. Die Beine wollten ihm nicht gehorchen, und er schwankte, als er den Bach entlangging. Kreischend schwärmten Vögel über ihn hinweg. Er blieb stehen und sah ihnen zu, wie sie sich hoben und senkten, gleich Wellen von einem Ufer zum anderen, bis sie seinen Augen entschwunden waren. Und so torkelten auch rote Distelballen auf und ab von einer Richtung in die andere. Hinter dem Hügel fiel steil eine Senke, eine Quelle floss am Hang zu Tal. Dort, wo sie entsprang, stand ein alter, blattloser Baum. Niemand wusste, was es für einer war, denn seit es ihn gab, war er kahl und verkrüppelt. Ali wollte zur Quelle. Er überquerte eine hennafarbene Bodenwelle und stieg in eine tiefblaue Schlucht hinunter. Gelbe Blumen mit roten Dornen wuchsen überall verstreut auf der blaufarbenen Erde. Nachdem er eine schroffe Felswand hochgeklettert war, gelangte er zur Quelle. Mit dem Rücken gegen den kahlen Baum gelehnt, setzte er sich hin. Er schloss die Augen. Die Erde, grau und tiefblau, rot und grün; mit ihren schroffen Felsen, Blumen, torkelnden Disteln, den Vögeln und weißen Wolken drehte sich in seinem Kopf, die Einöde um ihn hallte in seinen Ohren. Am liebsten wäre er aus ihr ausgebrochen, weggelaufen, ohne zurückzublicken, hätte er Haus und Hof, Meryemce und die Kinder, Vögel und plätschernde Quellen, diese heulende Steppe samt torkelnden Disteln und Wolfshöhlen hinter sich gelassen.