Der Sturm der Gazellen - Yaşar Kemal - E-Book

Der Sturm der Gazellen E-Book

Yasar Kemal

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Beschreibung

Die paradiesische Insel in der Ägäis war menschenleer, nachdem die griechischen Bewohner nach dem Ersten Weltkrieg vertrieben wurden. Nach und nach stranden hier ihre neuen Bewohner, eine bunte Schar aus allen Winkeln des alten Osmanischen Reiches. Griechen, Türken, Kurden, Armenier, Jesiden, ob Christ, Alevit, Muslim oder Atheist – jeder hat tausend Geschichten zu erzählen und ebenso viele Geheimnisse zu verschweigen, jeder ist gezeichnet von Abenteuern, Heimsuchungen und Albträumen. Sie alle versuchen, heimisch zu werden auf diesem Flecken Land, während in ganz Anatolien noch Millionen auf der Flucht sind. »Genozid und Ökozid – dies sind die beiden großen Katastrophen unseres Jahrhunderts. Diese Tragödien sind Teil meines Lebens und Werkes.« Yaşar Kemal

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Seitenzahl: 754

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Über dieses Buch

Nach dem Ersten Weltkrieg strandet eine bunte Schar Menschen aus allen Winkeln des alten Osmanischen Reiches auf einer Insel in der Ägäis. Sie alle versuchen, heimisch zu werden auf diesem Flecken Land, während in ganz Anatolien noch Millionen auf der Flucht sind. Ein ergreifender, lebenskluger Roman über die großen Katastrophen unseres Jahrhunderts.

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Yaşar Kemal (1923-2015) wird der »Sänger und Chronist seines Landes« genannt. Er wuchs in einem Dorf Südanatoliens auf und lebte in Istanbul. 1997 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 2008 wurde er mit dem Türkischen Staatspreis geehrt.

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Cornelius Bischoff (1928-2018) verbrachte seine Jugendjahre in der Türkei und studierte Jura in Istanbul und in Hamburg. Seit 1978 ist er als literarischer Übersetzer tätig und schreibt Drehbücher.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Yaşar Kemal

Der Sturm der Gazellen

Roman

Aus dem Türkischen von Cornelius Bischoff

Die Insel-Romane II

E-Book-Ausgabe

Mit einem Bonus-Dokument im Anhang

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 7 Dokumente

Die Originalausgabe erschien 2002 unter dem Titel Karıncanın Su İçtiği bei Adam Yayınları, Istanbul.

Originaltitel: Karincanin Su Içtigi (2002)

© by Yaşar Kemal 2002

© by Unionsverlag, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Dimitris Varos

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30787-2

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

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Version vom 22.06.2022, 06:16h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

Impressum

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Inhaltsverzeichnis

DER STURM DER GAZELLEN

1 – Das Boot kam sehr langsam aus dem nächtlichen …2 – »War es denn nicht dieser Mann?«, fragte Lena …3 – Kapitän Kadris Kutter hatte längsseits angelegt und festgemacht …4 – Das Heer war geschlagen, neunzigtausend Soldaten blieben im …5 – Tierarzt Cemil ging von Bord. Musa der Nordwind …6 – Sind die andern hinausgefahren, setzt sich Veli jeden …7 – Hüsmen brachte den bulgarischen Dienstrevolver mit über hundert …8 – Hadschi Remzi Kavlakzade verließ sein am Anleger vertäutes …9 – Musa der Nordwind stand auf, nahm Rasiermesser …Worterklärungen

Mehr über dieses Buch

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Über Yaşar Kemal

Günter Grass: Laudatio auf Yaşar Kemal

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Yaşar Kemal: Das Gefängnis – die Schule der türkischen Literatur

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Über Cornelius Bischoff

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1

Das Boot kam sehr langsam aus dem nächtlichen Dunkel, das Wasser lag spiegelglatt. Am Himmel barsten dicht hintereinander Sternschnuppen und zogen ihre sprühende Lichtspur ins Meer. Fast gleichzeitig schälte sich verschwommen eine Insel aus dem dunstigen Nebel. Der Mann im Boot ließ behutsam die Ruder sinken, verharrte und schaute sich erschöpft nach allen Seiten um. Drei Fische sprangen kurz nacheinander, alle drei mit rosafarbenem Glanz. Aus drei Richtungen kamen drei Vogelschreie, dann färbte sich der Meeresspiegel violett.

Der Mann reckte sich und griff wieder in die Riemen. Das Meer wurde noch heller. Der Mann tauchte ins Licht ein und aus. Der Gipfel des Berges vor ihm schien sich auch aufzuhellen. Ein fadendünner Strich blitzte auf und verschwand, und verwundert ließ der Mann die Ruder wieder sinken. Das Rot eines in voller Blüte stehenden Granatapfelgartens auf der Inselzunge schien auf den Grund des Meeres getaucht zu sein. Wieder sprangen drei Fische aus dem Wasser, leuchteten in roter Linie auf und verschwanden. Der Morgenwind brachte weiche, salzige Meeresluft von den Ufern herüber, vermischt mit dem Geruch von Blumen, Gras, Thymian und Salbei.

Wie herrenlos trieb das Boot zum Ufer, erst als der Bug die Klippe rammte, kam der Mann wieder zu sich und stand auf. Das Boot schlingerte leicht. Stahlblau schimmerndes Meer, gegenüber der jetzt dunkelviolette Berg, hinter seinem Gipfel ein Stück der kupferfarbenen Sonne, fernab, im diesigen Schatten, ein sich wiegender, im Meer gespiegelter mächtiger Baum, schräg dahinter am Ufer aufgereihte, im Morgendämmer auftauchende, wieder verschwindende, mal wachsende, mal schrumpfende, von Nebelschleiern verhangene Häuser, im Hintergrund, nur verschwommen sichtbar, ein Hügel.

Eine leichte, auflandige Strömung schob das Boot weiter, hin und wieder drehte es sich um sich selbst. Eine kleine Welle nur, und der Mann wäre vom aufgeschaukelten Boot ins Meer gefallen. Er schien in einem Traum gefangen. Vor seinen Augen ein blendendes Lichtergewirr und dazwischen wie zum Meeresgrund ein- und auftauchende Granatapfelblüten. Funkelnde Fische spielten im Wasser. Die Welt hellte sich auf, tauchte zurück ins Dunkel, färbte sich blau. Ganz nah schnellten drei stahlblau schimmernde Fische hintereinander aus dem Wasser. Eine leichte Brise kam auf, der Meeresspiegel riffelte sich.

Traumverloren setzte sich der Mann wieder an die Riemen und ruderte das Boot mit kräftigen Schlägen auf den Sandstrand. Dann stieg er die Böschung hoch und schlenderte in den Granatbaumgarten. Hier fühlte er sich zu Hause. Bienen waren auf die Blüten niedergegangen, ihr Summen war überall. Beim Anblick der im Licht lärmenden Bienen kam er wieder zu sich. Er musste sich hinlegen, sonst würde er vor Erschöpfung zusammenbrechen. Drei Pirole flogen dicht über seinen Kopf hinweg. Er hatte sie nicht kommen sehen, hatte nur den Luftzug ihrer Flügel im Nacken gespürt. Ihr unvergleichlich funkelndes, jedes Menschen Innerstes aufhellendes Gelb verscheuchte auch den letzten Rest seiner Ängste. Er machte noch einen Schritt, dann ging er in die Knie, kippte zur Seite, schob, schon ausgestreckt, den drückenden Revolver von seiner Hüfte nach vorne und war auch schon eingeschlafen.

Es war noch vor Tagesanbruch gewesen, als Vasili das Boot da draußen entdeckte. Er sah das langsame Auf und Ab der Ruderblätter, die im diesigen Blau verschwanden und nach einer Weile verschwommen wieder auftauchten. Vasili füllte die Teekanne am Brunnen und setzte sie aufs zur Glut niedergebrannte Feuer.

Zuerst kam Lena aus dem Haus, nach ihr Musa der Nordwind, der Vasili beim Näherkommen prüfend ansah. »Mit dir ist irgendetwas«, sagte er.

»Im Morgendämmer habe ich ein Boot gesehen. Es kam landauf in unsere Richtung. Dann verschwand es aus meinem Blickfeld. Vielleicht auch im Nebel.«

Tauchten die Ruder so langsam ein und aus, weil der Mann zu Tode erschöpft war, so als fielen ihm die Arme ab und die Augen zu? Er musste doch auf der Insel gelandet sein, wo denn sonst? Vasili trank seinen Tee in einem Zug aus, stand auf und ging zu seiner Mühle. Er stieg ins zweite Stockwerk und setzte sich ans Fenster. Er verließ die Mühle, schlenderte zur Höhle, machte kehrt, ohne hineinzugehen, und stieg über die Böschung zu seinen Granatapfelbäumen. Die Blüten wogten Rot in Rot, und ihr Schimmer strömte mit dem Glitzern tausender summender Bienenflügel über das stahlblau funkelnde Meer. Eine lila Schlange mit kleinen weißen Punkten glitt durch einen langen Zug Ameisen und verschwand unter einem Busch. Vasili umkreiste suchend den Busch, trat ängstlich gegen das Buschwerk, die Schlange ließ sich nicht blicken. Er schob das Gesträuch auseinander, linste durchs Blattwerk, die Schlange war verschwunden. Er stieg hinunter ans Ufer. Am Fuße des steilen Hangs war der Strand drei bis fünf, stellenweise auch fünfundzwanzig Klafter breit. Grübelnd stapfte er durch den Sand. Ja, es musste dieser Mann sein, kein anderer würde heimlich kommen! Aber in welcher Bucht hatte er sein Boot versteckt? Vasilis Unruhe wuchs und schlug um in Wut. Am Hang entdeckte er in die Erde gegrabene Stufen und darunter Fußspuren, die bis zur Inselzunge führten. Sein Herz machte einen Freudensprung, und kaum war er um die Landzunge herum, entdeckte er das Boot, rief lauthals: »Da ist es«, machte kehrt und rannte den Strand entlang zurück. Als er den rötlich gesprenkelten Felsen emporstieg, fiel ihm eine Blume auf. Ihr bläuliches Violett schimmerte hell. Im Schlachtgetümmel in einem grasbewachsenen Graben bei den Dardanellen hatte er zum ersten Mal so eine Blume gesehen. Ganz plötzlich war eine Granate eingeschlagen, so nah, dass Himmel und Erde bebten. Schreie und Stöhnen überall, ein Wirbel von abgerissenen Armen, Beinen, Köpfen und Rümpfen. Tiefe Finsternis hüllte alles ein, nur die Blume stand in grellem Licht, ihr Blau weitete sich immer mehr, und als er die Augen aufschlug, sah er, wie sich von seinen Schultern rinnendes Blut mit dem bläulichen, lilafarbenen Schimmer vermischte.

»Gefunden«, sagte Vasili, »ich habe ihn gefunden. Sein Boot lag hochgezogen auf dem Strand. Er ist es.«

»Woher willst du wissen, dass es dieser Mann ist?«

»Warum kommt er denn heimlich auf diese Insel? Ich hab ihn doch gesehen, er ruderte genauso verhalten wie du damals.«

»Er ist es«, sagte Lena. »Ich hatte es im Gefühl, dass der Mann diese Tage kommt, und geträumt habe ich es auch. Dann träumte ich noch, der heilige Tanasi sei geflohen und hierher unterwegs.« Musa der Nordwind lächelte bitter. Sie bewaffneten sich und machten sich nach dem Mann auf die Suche. »Wenn er ein bisschen Verstand hat, versteckt er sich nicht in seinem Granatapfelgarten«, meinte Musa der Nordwind und versank in Gedanken.

Sie erklommen den Hügel. Von hier oben ließen sie ihre Augen über die ganze Insel schweifen.

»Zur Höhle?«

»Da habe ich schon nachgesehen«, winkte Vasili ab.

Schließlich schlugen sie doch den Weg zu den Granatapfelbäumen ein. Sie vermieden jedes Geräusch, schlichen geduckt von Baum zu Baum. Im Garten war kein Vogel zu hören. In tausend glitzernden Farben schimmerten die Flügel der schwirrenden Hornissen. Die lilafarbene Schlange mit den Punkten kam hinter einem alten Granatapfelbaum hervorgekrochen und schlängelte sich gemächlich zum Steilhang. Auf der Wiese schien sie kurz zu verharren, hob leicht ihren Kopf und blinzelte zu ihnen herüber.

Wie angewurzelt blieben die beiden kurz darauf stehen. Seitlich zusammengerollt lag der Mann da, hatte die Beine an den Bauch gezogen und schlief. Sein Kopf ruhte auf seinem rechten Arm, und mit dem linken hatte er ihn abgedeckt.

Vasili hatte schon den Revolver gezogen.

»Was soll das denn, Vasili?« Nordwinds Flüstern klang spöttisch.

»Das ist bestimmt dieser Mann!«

»Hast du schon mal einen Schlafenden getötet, Vasili?«

Verstört verneinte Vasili.

»Dann steck deinen Revolver wieder ein! Wir setzen uns da vorne unter den Granatapfelbaum und warten, bis der Mann aufwacht.«

Sie hockten sich unter den Baum und lehnten ihre Rücken an den Stamm. Eine ganze Weile hielten sie schweigend die Köpfe gesenkt. Dann fragte Nordwind: »Sind Fische im Quellwasser?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Vasili und überlegte. »Diese Frage habe ich mir beim Betrachten des Wasserlaufs noch nie gestellt.«

»Und was ist mit der Rauen Insel? Wollen wir hin?«

»Ein Paradies. Viele Ölbäume wachsen dort. Breit wie Platanen. Wenn du sie auch noch pfropfst, gibt jeder Baum über fünfhundert Kilo Oliven. Und das Flachland ist ziemlich groß.«

»Und wie viel Ziegen gibt es? Ich weiß, die blauen Ziegen des heiligen Hizir dürfen nicht geschlachtet, ihr Fleisch nicht gegessen werden. Wie ist es aber mit ihrer Milch?«

»Keine Ahnung. Danach müssen wir einen Popen oder einen Hodscha fragen.«

»Ihre Milch darf bestimmt getrunken werden«, meinte Nordwind, »warum auch nicht?«

Schnaubend drehte sich der Mann auf die andere Seite und wimmerte eigenartig. Wer in Schwierigkeiten steckt, wimmert im Schlaf immer so, dachte Nordwind und starrte auf den Mann, in dessen langem, blondem Schnauzbart sich Laub verfangen hatte.

Die lila Schlange mit den weißen Punkten kam hinter den Felsen hervor, hob den Kopf, züngelte, schlängelte sich dann zu dem Schlafenden, kroch von seinen Füßen zu seinem Kopf, richtete sich auf, streckte die rote Zunge hervor, schien am Ohr des Mannes zu riechen. Vasili griff einen Stein und schnellte auf.

Nordwind packte ihn am Fuß. »Setz dich«, flüsterte er, »sie wird nicht zustoßen. Einen schlafenden Menschen beißt nicht einmal eine Schlange.«

Die Schlange umkreiste den Mann, verharrte manchmal, hob den Kopf, stieß die gespaltene rote Zunge hervor, zischte, bewegte eine Weile den erhobenen Kopf nicht, ließ ihn dann wie entspannt sinken und schlängelte weiter.

»Vermehren sich denn die Ziegen dieses Hizir gar nicht?«

»Und wie sie sich vermehren. Sie bekommen wunderschöne Lämmer mit hellem, bläulichem, gekräuseltem Fell. Vielleicht sterben sie vor Hunger, oder sie werfen von selbst weniger Lämmer. Denn auf der Insel gibt es weder Wolf noch andere Raubtiere.«

»Aber bestimmt Adler. In unserer Gegend greifen sich Adler auch Lämmer.«

»Adler mitten im Meer? Woher denn? Aber auf dem Meeresgrund wimmelt es von Fischkuttern und Schiffen voller Ziegenkadaver. Ihre Mannschaften wussten nicht, dass es die Ziegen des heiligen Hizir sind. Im Vorbeifahren entdecken sie die Tiere, die von den Felsen herüberäugen, ankern am Strand, fangen diese als Wundermittel gepriesenen Ziegen und lichten wieder die Anker. Doch schon wenn sie das erste Tier schlachten, lässt der Heilige der Meere die Stürme los, spaltet das Meer und zieht den Kahn auf den Grund. Wer auch immer sich an den Ziegen des Heiligen vergreift, versinkt im Meer.«

»Und was wird aus den eingefangenen, lebenden Ziegen?«

»Die kommen davon. Wo immer sie der Heilige auch findet, er bringt sie zurück auf die Raue Insel. Gott bewahre jeden seiner Diener, der sich an diesen Ziegen vergreift!«

»Ich habs«, rief Nordwind, »der Heilige schächtet und isst sie selbst. Es heißt ja, ihr Fleisch sei sehr schmackhaft.«

»Essen Heilige denn?«

»Sie essen«, antwortete Nordwind. »Sie sind ja keine Engel, sondern Menschen. Und Menschen essen Ziegen und sind verrückt nach dem Fleisch dieser blauen.«

Die Schlange war zurückgekrochen, hatte ihren Kopf auf das Bein des Mannes gelegt und war eingeschlafen.

»Schau, bald liegt er in der Sonne, davon wird er aufwachen und sich bewegen. Die Schlange wird zustoßen und ihn töten.«

»Sie stößt nicht zu.«

»Doch, sie stößt zu.«

»Woher willst du das wissen? Bist du ein Schlangenbeschwörer?«

»In dieser Gegend gibt es viele dieser Schlangen, und ihr Biss ist tödlich.«

Sie machten einige Schritte. Aber als habe der Schlafende sie in seinen Bann gezogen, kamen sie wieder zu ihm zurück. Der Kopf der Schlange hing jetzt vom Bein des Mannes herunter, ihr leuchtendes Lila färbte das Rund, der Mann schlief mit ruhigen Atemzügen.

»Er wacht auch von der Sonne nicht auf«, wunderte sich Vasili. »Wie einträchtig er doch mit der Schlange Körper an Körper schläft.«

Sie machten sich auf den Heimweg. Lena empfing sie mit besorgter, brüchiger Stimme: »Wo wart ihr denn so lange, was habt ihr nur getrieben?«

»Wir haben eine Schlange beobachtet«, antwortete Nordwind.

»Um Gottes willen, mein Junge! Auf dieser Insel sind viele Schlangen. Wenn der Sommer kommt, wimmeln sie nur so. Besonders die mit den weißen Punkten. Wehe, wenn sie zustoßen! Sie haben hier schon viele Menschen und auch Kinder getötet. Nun setzt euch, und ich bringe euch das Essen!«

Mit dem Kopf im Nacken schnupperte Nordwind, die Nasenflügel wie Nüstern gebläht. »Oh, dieser Duft! Woher hast du das Fleisch?«

»Vasili brachte mir gestern drei Vögel.«

»Drei Pirole«, ergänzte Vasili.

Sie aßen mit großem Appetit. Danach ging Nordwind hinauf in sein Zimmer, legte sich aufs Bett und starrte nachdenklich an die Decke … Der Emir hatte Recht, als er sagte: Und verkriechst du dich auch in ein Schlangenloch oder unter die Flügel eines Vogels, sie werden dich finden. Ob Vasili dahintergekommen ist? Der ist doch gewitzt wie ein Dschinn. Kaum hatte er den Mann entdeckt, blitzte es in seinen Augen auf. Was tun? Vielleicht ist es doch nur ein Fremder und keiner von den Männern des Scheichs! Aber warum dann diese heimliche Landung? Und wie konnte er die Insel nur finden? Wer weiß, wie lange der Arme schon auf der Suche war. Ein Krieger eben. Von Kindesbeinen an werden sie dazu erzogen. Zuerst werden sie jahrelang zu Schützen ausgebildet, dann wird ihnen das Spurenlesen beigebracht, die Menschenkenntnis, das Untertauchen, das Leben in großen Städten. Und wie in Arabien, Anatolien und sonst wo in der Welt Gleichgesinnte aufgespürt und Kontakte zu ihnen geknüpft werden. Nach einem Attentat fliehen sie nicht. Sie bleiben bei ihrem Opfer und warten. Es ist im Osten Tradition, dass der Blutschuldige bei seinem Opfer ausharrt und entweder in Stücke gerissen den Hunden vorgeworfen wird oder im Kerker landet. Und dieser da ist einer von denen. Es war hoffnungslos. Auch ihn zu töten, brachte nichts, nachdem sie die Insel einmal entdeckt hatten.

Wirre Träume verfolgen ihn. Er tötet den Mann, versinkt bis auf den Grund der Finsternis … Dann ist der Mann ein Vagabund, die Finsternis hellt sich auf, dann stürzt er wieder ins Dunkel … Jahrtausende werden nach seinem Tod vergehen, er wird zu Staub zerfallen, und wenn es etwas wie die Ewigkeit gibt oder gar etwas über die Ewigkeit Hinausgehendes … Dieser junge Mann hat ihn entdeckt, und er wird sterben oder töten. Und sterben will ein Mensch ja nicht! Aber ist töten nicht auch wie sterben?

An seiner Hüfte hatte sich die orange schimmernde Katze zusammengerollt und schlief.

Er wird mich töten, sagte er sich, und plötzlich zitterte er. Nein, die Ewigkeit war unerreichbar … Fast verlor er den Verstand, auch die Ewigkeit entschwand, fern, immer ferner …

Liegt die Wurzel allen Wahnsinns, aller Grausamkeiten des Menschen in seiner Todesangst, in seiner Furcht vor dem Nichts? Was hatte Vasili gesagt: »Wegen dieser Todesangst bin ich aus der Klosterschule geflohen«, hatte er gesagt. »Da drinnen regnet von allen Seiten der Tod und die Finsternis auf den Menschen herab, lähmt ihn, und dass jemand, der so eine Angst vor dem Tode hat, auf den Tod wartet, ist eine Lüge.«

Lena kam herein, und erst jetzt wurde ihm bewusst, wie laut die schlafende Katze schnurrte.

»Steh auf, mein Kleiner!«, sagte Lena. »Der Mann ist gekommen. Der Mann, auf den du gewartet hast.«

»Dieser Mann, also«, lächelte Nordwind. »Und was soll ich jetzt tun?«

»Ihn töten. Töte ihn sofort! Ausgehobene Gräber haben wir genug. Sie waren für Schiffsladungen von Schwerverletzten bestimmt, die an Land gebracht wurden. Tag für Tag starben viele. Töte ihn, mein Junge, bevor er dich tötet!«

»Vielleicht ist er es gar nicht, Mutter.«

»Woher willst du wissen, dass ers nicht ist? An seiner Hüfte hängt ein, na, so großer Revolver. Und seine Augen sind wie Schlangenaugen. Blau moiriert, wie deine Türken sagen. Blau moiriert bringt Unglück.« Sie angelte sich den Revolver, der unter dem Kissen lag, und drückte ihn Nordwind in die Hand. Dabei entging ihr nicht, dass seine Hand zitterte. »Töte ihn gleich jetzt, wenn du hinuntergehst! Sonst tötet er dich. Wenn du es nicht kannst, Vasili kann es. Er hat in den Dardanellen viele getötet. Er ist es gewohnt.« Diese Worte hatte Lena auf Griechisch gesagt.

»Und wenn er auch Griechisch versteht?«

»Ach, nimm mich nicht auf den Arm, Nordwindchen!«

Gefolgt von der Katze, ging Nordwind die Treppe hinunter. Lena blieb auf dem Treppenabsatz stehen. Sie hatte schon so viel Blut und Tod erlebt, dass sie diesen Anblick nicht mehr ertragen konnte. Mit gespitzten Ohren wartete sie auf die Schüsse. Ach, er musste es tun! Schließlich war dieser ihm auf den Fersen. Und was, wenn er es nicht war? Wäre es dann nicht schade um diesen Jungen? Hatte er nicht auch eine Mutter, einen Vater? Aber Nordwind wird ihn schon durchschauen. Schließlich ist er schlau wie ein Dschinn …

Nordwind musterte den blonden Mann, der unter der Platane auf der Pritsche saß. Seine Haut war braun wie die aller Wüstenbewohner.

Als der Mann Nordwind gewahrte, erhob er sich. Auch Vasili stand auf.

»Sei willkommen!«

»Ich danke dir.«

»Vasili, unser Gast saß auf der harten Pritsche, haben wir kein Kissen?«

Vasili ging zurück zum Haus, wo Lena schon am Fuß der Treppe wartete.

»Ist er es, Vasili?«

»Er ist es.«

»Und was habt ihr nun getan?«

»Als seis ein Sohn seines Vaters, hätte er ihn fast umarmt und geküsst.«

»Der Mann ist nicht bei Trost. Töte du den Fremden! Sofort!«

»Er will es nicht. Bring du uns dreien Kaffee!«

»Euch dreien? Ihr Schwachköpfe!«

Mit den Kissen unterm Arm auf dem Weg zum Strand, hörte er hinter sich noch immer Lenas Grollen. Sie schien vor Wut zu platzen. Und als sie kurz darauf die Mokkatassen auf silbernem Tablett brachte, würdigte sie keinen der Männer auch nur eines Blickes und setzte sich anschließend auf die Pritsche unter der nächsten Platane. Wie gebannt starrte sie auf die Furcht erregenden, dem Tod trotzenden Augen jenes Mannes. Mal verdunkelten sie sich, mal blickten sie verschämt, mal funkensprühend vor Zorn, dann wieder gedankenverloren, weich und voller Bewunderung für Nordwind, um sich dann in die flammenden Augen eines rasenden Tigers, eines Drachen zu verwandeln.

»Willkommen, Reisender, woher des Weges und wohin? Nenne mir deinen geschätzten Namen!«

»Ich komme aus der Ferne und werde in die Ferne zurückkehren. Mein Name ist Kerim. In dieser Gegend ist ein Vetter von mir verschollen. Ich weiß, dass er fahnenflüchtig war und dass er sich dort drüben in die Berge schlug.«

»Hast du schon eine Spur von ihm?«

»In etwa … Lebt außer euch dreien noch jemand auf dieser Insel?«

»Oh ja«, lachte Nordwind und zeigte auf die Katze, die auf der nächsten Pritsche mit einem grünen Käfer spielte. »Der da. Abbas heißt er.«

Als der Name Abbas fiel, entspannten sich die Gesichtszüge des Mannes, seine Augen leuchteten, und er murmelte: »Gefunden, gefunden.« Doch er hatte diese Worte so unterdrückt ausgesprochen, dass niemand sie verstehen konnte. Er nahm die Katze auf den Arm, betrachtete sie gedankenverloren und schien seine Umwelt nicht mehr zu beachten. Er hörte den anderen nicht mehr zu und murmelte nur: »Gefunden …«, nichts weiter.

Die Tafel wurde gedeckt, der gebutterte Pilaw duftete. Sie luden Kerim ein mitzuessen, doch abwesend hockte er mit einem Stück Brot in der Hand nur so da.

Tuckernd näherte sich Kapitän Kadris Kutter dem Anleger, Melek Hanum sprang vom Deck auf den Steg und kam zu ihnen herüber.

»Setz dich zu uns, Melek Hanum!«, riefen sie und erhoben sich.

Melek Hanum zeigte auf den in sich versunkenen Fremden: »Und wer ist er?«

»Er ist jener Mann«, antwortete Lena.

»Ich bin Kerim«, sagte der Mann und erhob sich mit der Katze Abbas, die er noch immer im Arm hielt. »Kann dieser Kutter mich in die Stadt bringen?«

Nordwind nahm ihm die Katze ab, setzte sie auf die Erde, hakte sich bei Kerim ein und ging mit ihm zum Anleger, wo sich Kapitän Kadri an seinem Motor zu schaffen machte. Als er die beiden sah, richtete er sich auf.

»Du wirst Kerim Bey aufs Festland bringen! Wenn er es wünscht, begleite ihn auch in die Stadt!«, rief Nordwind. Dann umarmten sich die beiden. »Und nimm Kerim Beys Boot in Schlepp!«

2

»War es denn nicht dieser Mann?«, fragte Lena. »Nach meiner Meinung sah er ihm ähnlich.«

Vasili nickte. »Ganz genau wie Nordwind. Wie aus dem Gesicht geschnitten.«

»Und warum habt ihr ihn nicht getötet?«

»Tötet man einen schlafenden Menschen? Nur Schlangen verschlingen im Nest schlafende Jungvögel.«

»Nicht einmal Schlangen tun so etwas«, murmelte Musa der Nordwind. Er schien weit weg zu sein und mutterseelenallein. Mit hängenden Schultern schaute er wie im Traum aufs Meer hinaus, wo Kapitän Kadris Kutter hinter Nebelschwaden verschwunden war.

Unter der Rinne eines der Häuser schwirrten aufgeregt zwitschernde Schwalben, die drei beachteten sie nicht, dachten nur an diesen Mann. Als er über das Fallreep an Deck des Kutters gestiegen war, war er mit verwirrter Miene gestolpert. Eigenartig, der Mann, dachten alle drei. Was ist wohl aus meinem Dorf geworden?, fragte sich Musa der Nordwind. Ob die Araber alle mit Kind und Kegel in die Wüste verschleppt oder in irgendeiner Schlucht umgebracht haben? Der Mann auf dem Kutter weiß es bestimmt. Warum hatte er ihn nicht zu fragen gewagt? Wir waren Tölpel, Vasili! Dieser Mann wird zurückkommen, vielleicht mit zehn Bewaffneten, und uns erschießen. Er weiß jetzt ja, wo wir sind.

Lenas Lippen waren ununterbrochen in Bewegung, wie im Gebet. Vielleicht war er es doch nicht, dachte sie. Nordwind hätte den Mann sicher getötet, wenn er es gewesen wäre. Bei den Beuteln voller Patronen, den vielen langläufigen Flinten, den vielen Revolvern und Handschars in seinem Haus! Gewiss, das hätte er getan …

Lächelnd stand Nordwind auf. »Begießen wir den Garten! Seit drei Tagen haben die Tomaten, die Auberginen und der Paprika kein Wasser mehr gesehen. Was grübelst du, Vasili, sind im Schwarzen Meer deine Frachter gesunken?«

»Nein, sie schwimmen noch. Los, begießen wir das Gemüse!« Vasili hatte schon den großen Eimer in die Zisterne getaucht. »Das Becken ist so groß und so voll, das Wasser reicht für drei Dörfer«, rief er, als er den großen Zinkeimer hochgezogen hatte und zum Garten hinters Haus schleppte.

Sie begossen das Gemüse, bis es dunkel wurde und auch die letzte Handbreit Erde durchtränkt war.

Als sie zurückkamen, hatte Lena schon längst das Essen gekocht, und ein betörender Duft hing in der Luft. Sie wuschen sich die Hände und ihre verschwitzten Gesichter und trockneten sich mit einem frischen Badetuch ab, das an einem Ast der Platane hing. Erschöpft legten sie sich schlafen, kaum dass sie gegessen hatten.

Bis zum Morgen stampften Flammen speiende Drachen über Nordwind hinweg, schnappten mit roten Zungen nach ihm, wollten ihn verschlingen. Er schwang sich auf einen Drachenrücken und durchmaß mit ihm die Wüste. Brüste lagen im Wüstensand, der Drache verhielt, Adler stürzten herab, krallten sich die Brüste, stiegen auf und ließen das Blut auf die Wüste regnen. Ein Adler mit graublauen Augen verwandelt sich in einen Menschen, wird wieder zu einem Adler, schnappt sich eine der zitternden Brüste und fliegt Blut verströmend in den Himmel hinein. Ein lila Vogel mit goldenen Flügeln und rubinroten Augen kommt von fernen Bergen geflogen, spannt seine Flügel über die im Wüstensand blutenden Brüste, lässt keinen der Adler in seine Nähe. Die Adler kommen in Haufen, bedecken bald die ganze Wüste, kreisen dicht an dicht über den goldenen Flügeln. Blut strömt aus den Brüsten in ihren Fängen, Nordwind ist über und über mit Blut bedeckt. Er schreit auf, schreit drei Mal. Und jedes Mal springt Lena aus dem Bett und eilt in Nordwinds Zimmer, ruft: »Was ist mit dir, mein Sohn? Wer weiß, was du uns bisher verschwiegen hast, was dir zugestoßen ist, was deine schönen Augen sehen mussten! Auch Vasili schreit im Schlaf. Das wusste schon die ganze Insel. Als er vom Krieg heimkehrte, sprach er mit keinem Menschen. Er unterhielt sich nur mit den Bäumen, den Vögeln, der Erde, dem Meer, setzte sich auf einen Stein und starrte übers Wasser, bis es dunkel wurde, manchmal sogar noch in stockdunkler Nacht. Vasili ist zum sehnsüchtigen Liebhaber des Krieges geworden, tuschelten die Leute.«

In jener Nacht wälzte Nordwind sich bis zum Morgen in seinem Bett, er schrie, und Lena tat kein Auge zu.

Erst bei Tagesanbruch schreckte Nordwind hoch und sah, dass die Lampe brannte. »Mutter«, rief er, »ich habe die Lampe nicht gelöscht, was ist passiert?«

»Nichts, mein Sohn.«

»Hat es geregnet?«, fragte er und griff nach seinem Amulett.

»Es hat nicht geregnet«, sagte Lena bedauernd.

»Auch nichts Blutrotes?«

»Es hat nicht geregnet.«

Er zog sich an, ging ins Bad, rasierte sich in wenigen Minuten mit dem Messer, erfrischte sein Gesicht mit Kölnischwasser, das nach Limone duftete. Aber Nordwinds Gesicht war blass, seine Lippen bläulich angelaufen.

Die Sonne schien, die See lag so ruhig und glatt, dass Ameisen das Wasser hätten trinken können. Kiesel und hintereinander herflitzende Fische glänzten im strahlenden Licht, die ganze Welt war schimmernde Helle. »Angeln und Köder liegen bereit«, rief Vasili. »Köderfische fangen wir auf unserer Fahrt um die Insel.«

Sie bestiegen das Boot und warfen den Motor an. Noch bevor sie um die Insel herum waren, hatten sie schon vier sehr lange Hornhechte mit lila Rücken gefangen. Vasili schnitt sie auf, legte sie auf die Vorplicht, beköderte damit dann die Angelhaken und ließ sie mit kurzem Schwung ins Wasser gleiten. Die restlichen Köder reichte er Nordwind und drosselte dann den Motor. Schon bald zog Nordwind seine Angel schnell aus dem Wasser; am Haken hing ein großer, im Sonnenlicht schimmernder Blaufisch. Noch während er begeistert den zappelnden Fisch betrachtete, hatte auch Vasili einen Fisch angehakt, der mit blau glänzendem Rücken in der Sonne wirbelte.

Im Frühling und im Frühsommer duften auf dem Grill die Blaufische wie das Meer im Lenz. Dann ist jedem, als wehe der linde Frühlingswind durch sein Inneres, als leuchte die Helle der See ihm ins Herz hinein, und er verspürt diesen Duft in allen Fasern seines Körpers. Es musste da unten ganze Schwärme von Blaufischen geben. Im Nu waren sie vor der Rauen Insel.

»Wir sind ja vor der Unseligen Insel«, rief Vasili überrascht. »Schau, die blauen Ziegen des heiligen Hizir, wie sie in Reihe von den Felsen auf uns herunteräugen. Sie fliehen die Menschen nicht.«

Nordwind war begeistert. »Wie schön sie doch sind. Wie blau ihr langhaariges Fell funkelt. Warum sollten sie vor uns fliehen? Sie wissen ja nicht, was für Raubtiere Menschen sind, die sich sogar gegenseitig den Garaus machen.«

Vasili lachte. »Wie gut, dass der heilige Hizir die Schiffe derer versenkt, die ihm seine Ziegen stehlen. Nur ihre Milch darf man trinken. Die heilt alle Leiden, sagt man. Da war einmal ein Onkel Dimitri, der soll hundertzwanzig Jahre gelebt haben. Er ruderte mit seinem Boot hierher, molk die Ziegen, füllte ihre Milch in Fässchen aus Tannenholz und nährte sich fast davon. Bis an sein Lebensende fuhr er täglich fischen, verkaufte den Fang, trank Ziegenmilch und aß Maisbrot. Fing er hin und wieder einen Grundel, aß er auch den. An seinem hundertzwanzigsten Geburtstag rutschte er da oben beim Melken der Ziegen aus, rollte über die Felswand in die Tiefe und starb. Fischer sahen beim Vorbeifahren, dass die Ziegen sich in der Ebene versammelt hatten, mitten unter ihnen lag ausgestreckt Onkel Dimitri mit offenem Mund. Oh weh!, riefen die Fischer, das hat er nun davon. Neunundneunzig Jahre hat Hizir ertragen, dass Onkel Dimitri ihm die Ziegenmilch stiehlt; schließlich wurde es ihm zu viel, und er stieß ihn in die Tiefe. Die Ziegen aber waren traurig, sie alle kamen die Felsen herunter und scharten sich andächtig um ihn. Denn Onkel Dimitri war ihnen von allen anderen Geschöpfen das vertrauteste. Nicht einmal Möwen kommen auf diese Insel, bauen hier keine Nester, legen hier keine Eier und kreisen hier auch nicht.«

Sie setzten das Boot auf den Strand und zogen es über den Sand bis zu den Ölbäumen. Es war Mittag geworden, Vasili zog sein Messer hervor, das scharf war wie eine Rasierklinge, schabte, reinigte und schnitt nur so viele Fische auf, wie sie für eine Mahlzeit benötigten. Nordwind zündete einige trockene Ölzweige an, und die Flammen schossen aus dem Holz empor.

Nach einer Weile legten sie die Fische auf die dünne Schicht Asche, die den Gluthaufen bedeckte, und der duftende Rauch zog über die kleine Ebene der Insel. Als Nordwind den Kopf hob, entdeckte er eine Herde Ziegen, die aufgereiht von den Felsen herunterstarrten. So viele Ziegen hat Hizir, Gott möge ihn segnen! Kein Wunder, dass sie sich so vermehren, wenn er wegen einer einzigen zehn Fischkutter versenkt und wegen eines Löffels Milch einen Hundertzwanzigjährigen die Felsen hinunterstürzt, ohne mit der Wimper zu zucken! Gut, dass noch eine Handbreit ebenen Landstrichs übrig geblieben ist, wo wir rasten und essen können.

Schweigend verzehrten sie die Fische, aßen Brot dazu und tranken vom Quellwasser, das sich in einer Mulde am Fuße der Felsen staute.

»Oooch«, stöhnte Vasili genüsslich, »so köstlich habe ich noch nie gegessen. Ich dufte durch und durch nach See, habe die See getrunken, die See gegessen, bin von Kopf bis Fuß zum Meer geworden. So kann einem werden, wenn er im Frühjahr Blaufisch isst.« Sie wuschen sich die Hände, die nicht nach Fisch, sondern nach Meer rochen, mit Sand und spülten sie mit Meerwasser ab.

Danach schritten sie das ganze Flachland ab. Am andern Ende der Insel war der Meeresgrund mit roten, grünen und ziegelfarbenen Kieseln bedeckt, über denen glitzerndes Sonnenlicht lag.

»Immer wieder brachte Onkel Dimitri einige Freunde mit. Hier stehen genau einundsiebzig Olivenbäume, sagte er ihnen. Und wie viel Kiepen Oliven gibt jeder Baum, wenn ihr ihn veredelt? Vier Kiepen! Rechnet es selbst aus! Wie lange reicht das Geld, wenn ihr die Oliven verkauft? Drei Jahre! Und dazu noch die Milch der Ziegen von Hizir. – Doch sein Leben lang gelang es Onkel Dimitri nie, einen von ihnen zu überreden, sich auf dieser Insel niederzulassen. So blieb es bei seiner Sehnsucht. Und bevor er noch ›Begrabt mich auf dieser Insel!‹ sagen konnte, raffte ihn der Tod dahin, mit dem er gar nicht rechnete. Immerhin, er starb wenigstens auf seiner Insel. Es war ein Fehler, dass wir ihn nicht auf seiner Insel begraben haben.«

»Komm, lass uns auch einmal diese Bäume zählen!«, sagte Nordwind. Zählend gingen sie durch den Olivenhain. »Hundertundein Baum. Dein Onkel Dimitri konnte wohl nicht zählen. Jetzt lass uns auch noch die Strecke abmessen!« Bedächtigen Schrittes durchmaßen sie Länge und Breite des Flachlands, kramten Bleistift und Papier hervor und rechneten. Die Ebene maß elf Morgen. »Oh, diese Tölpel! Warum sind sie nicht hergezogen? Auf fünf Morgen baust du Weinstöcke für einen guten Tropfen an, auf zweieinhalb Morgen Mais und auf einen Morgen Gemüse. Und nebenbei Honig- und Wassermelonen.«

»Und zwanzig Bienenkörbe«, ergänzte Vasili. »Wenn die Insel auch nicht genügend Blüten für sie hergibt, sie fliegen sehr schnell, und das Festland ist nicht weit. Prall mit Honig im Bauch kommen sie abends wieder zurück. Du solltest die Insel im Frühling erleben: Blüte an Blüte, und jede wie eine vielblättrige Rose.«

»Und es wimmelt hier von Fischen«, sagte Nordwind. »Denn die Fischgründe sind abgelegen. Außerdem können sie andere Fischer daran hindern, hier ihre Netze auszuwerfen.«

»Und die Ziegenmilch! Einen besseren Käse als den aus Ziegenmilch gibt es nicht und nirgendwo. Und die Butter! Wer sich hier niederlässt, wird reich und kann sich zwei Häuser mit je zwei Stockwerken bauen lassen. Zu beiden Seiten der Quelle.«

»Wer sich hier niederlässt, baut sich das Haus selbst, damit niemand von dieser Insel erfährt.«

»Und pflanzt zur Seeseite Reihen von Silberpappeln, damit das Haus nicht zu sehen ist.«

Die Unselige Insel war schön und fruchtbar, und der heilige Hizir hatte sie unter seine Fittiche genommen. Er würde auch für das Glück der hier Heiratenden Sorge tragen. Und auch für das Glück der hier Geborenen.

Bis Mitternacht schürten sie das Feuer und gaben sich unglaublichen Zukunftsträumen über das Leben derjenigen hin, die sich auf dieser Insel niederlassen würden.

»Und wenn sie sich verstecken wollen, wird sie hier niemand finden.«

»Niemand, niemals«, bestätigte Vasili. »Eine abgelegene Insel im weiten Meer, wer kommt schon darauf!«

Mitternacht war längst vorüber, als sie die Feuerstelle verließen. Sie schoben das Boot ins Wasser. Meeresleuchten hatte die Insel eingekreist, tauchte die Klippen in funkelndes Licht. Der Himmel war von Sternen übersät, spiegelte sich bis auf den Meeresgrund.

»Mutter Lena kommt um vor Sorge.«

Vasili nickte. »Was wird aus ihr, wohin geht sie, wenn wir auf See bleiben sollten?«

»Kann sie denn nicht zurück nach Griechenland?«

»Sie würde eher sterben. Bis zum letzten Atemzug wird sie hier auf ihre Söhne warten.«

»Glaubt sie denn an ihre Rückkehr?«

»Etwas anderes kann sie gar nicht denken. Du kannst Lena nicht von der Insel wegbringen. Sie würde sich töten.«

»Und Melek Hanum? Und Kapitän Kadri?«

»Die würden keinen Tag länger bleiben, wenn wir weg sind.«

Sie schwiegen. Nichts rührte sich auf dem Wasser. Vasili saß an der Pinne, beide Männer hingen ihren Gedanken nach, hatten sich in ihre Träume von der Unseligen Insel versenkt.

Das Meer hatte sich in einen goldenen Strom verwandelt, bei der kleinsten Bewegung leuchtete es auf. Und diese Sterne! Den beiden war, als glitten sie über sie hinweg. Und unentwegt zogen vor ihren Augen gleich messerscharfen Strichen Sternschnuppen vorbei.

Lena stand ganz vorne auf dem Anleger.

»Hast du noch nicht geschlafen, Mutter?«

Stumm drehte sie sich um und ging.

»Sie ist wütend«, raunte Vasili. »Eine Zeit lang wird sie mit uns kein Wort wechseln.«

»Ich versöhne sie schon«, entgegnete Nordwind.

»Das wird schwer.«

»Morgen wirst dus schon sehen.«

Auch die Katze hatte auf dem Steg gewartet. Sie merkten es erst, als das Tier kläglich miaute. Vasili lief hin, nahm es auf den Arm und streichelte es. »Du denkst wohl auch, wir hätten dich vergessen?« Er griff sich die Hornhechtstücke von der Plicht, warf sie ins Gras und setzte die Katze ab. Gierig stürzte sie sich aufs Fressen, schnappte sich ein großes Stück und verschwand damit hinter der Platane. »Freund Abbas haben wir schon mal versöhnt«, rief Vasili. Sie holten den Fang aus dem Bottich, brachten die Fische ins Haus und waren im Nu in ihren Betten verschwunden.

Kurz vor Tagesanbruch weckte sie ungewöhnlicher Lärm, alle drei sprangen aus ihren Betten und liefen an die Fenster. Drei Kutter hatten nebeneinander festgemacht, eine Menge Menschen standen auf dem Anleger, andere drängten übers Fallreep. Jung und Alt mit Kind und Kegel, aufgeregte, verwirrte, verängstigte Menschen, die mit Radau und Gezeter ihre Angst zu verbergen suchten.

Nachdem alle von Bord waren, führte ein Mann mit Krawatte sie zu den Platanen. »Setzt euch!«, rief er, und die Kinder stürmten die Pritschen.

»Schaut euch um, das ist sie, die Ameiseninsel!«, sagte der Mann mit Krawatte. »Hier werdet ihr wohnen, Vater Staat hat dieses Land für euch vorgesehen. Ein paradiesisches Plätzchen. Im ganzen Marmarameer findet ihr keine schönere Insel. Auch nicht im Schwarzen Meer. Das Wasser brodelt hier nur so von Fischen.«

Lena vorweg, neben ihr Melek Hanum, hinter ihnen Nordwind, Vasili und Kapitän Kadri kamen herbei und blieben am Brunnen stehen.

»Dort ist er, Nordwind Beyefendi, daneben sein Freund Vasili Efendi und Kapitän Kadri, Eigner des schönsten Kutters dieser Meere, bei ihm seine verehrte Mutter Melek Hanum und die einzigartige Mutter aller Inselbewohner, Mutter Lena. Ihre vier Söhne sind Mustafa Kemal Paschas Waffenbrüder und deswegen bei ihm in Ankara. Auf dieser Insel erlaubte man niemandem, zu bleiben, nicht einmal Tanasi. Auch ihn schickten sie nach Griechenland. Aber Mutter Lena rührten sie nicht an. Und Vasili Efendi ist ein Held, der in den Dardanellen und bei Dumlupinar gekämpft hat. Außerdem ist er Istanbuler, die ja nicht ausgewiesen werden dürfen, und auch noch Waffenbruder des mit dem Freiheitsorden am roten Band ausgezeichneten Hauptmanns Musa der Nordwind Beyefendi, der seinen Beinamen während der Grabenkämpfe gegen die Griechen erhielt.« Er drehte sich um und zeigte auf Musa den Nordwind. »Noch während der Kämpfe gegen unsere Feinde fand der Herr Hauptmann Gefallen an der Ameiseninsel und kaufte für gutes Gold hier ein Haus und eine Mühle.« Er zeigte mit seiner Rechten auf das Haus und fügte hinzu: »Dort steht das schöne Haus unseres verehrten Hauptmanns.«

Die Männer standen da mit fahlen Gesichtern und tiefen Falten in den Augenwinkeln. Männer, die unter sengender Sonne arbeiten, haben solche Krähenfüße, dachte Musa der Nordwind, da ist keine Hoffnung. Sie werden so schnell wieder verschwinden, wie sie gekommen sind.

Musa der Nordwind rang seinen Lippen ein verzagtes »Willkommen!« ab, doch keiner der Ankömmlinge nahm Notiz von ihm. Er übersah es und fuhr mit weicher, warmer Stimme fort: »Diese Insel ist groß. Sie ist schön und nah am Festland. Seht ihr die Bucht? Von dort bis auf den Hügel erstrecken sich Olivenbäume. Jeder Baum gibt fünf Okka Oliven her. Die Insel ist ein Stück Paradies. Ich hatte mich in sie verliebt, als ich sie zum ersten Mal sah, und trotz meines Alters hat sie mich gefangen genommen. Sie reicht für uns alle, sogar noch für die doppelte Anzahl von uns. Auch die Häuser sind sehr schön, nicht einmal in den Küstenstädten gibt es so schöne. Und weiter hinten stehen auch noch welche. Sie gehörten den Pfeffersäcken, die nach Amerika ausgewandert sind. Ich hatte nicht genügend Geld, um eins zu kaufen. Euch aber werden sie umsonst angeboten. Die Entscheidung liegt bei euch.«

Nordwind sah, dass niemand zuhörte. Jeder war mit sich selbst beschäftigt. Ihre Gesichter blickten zerquält, alle machten einen zerschlagenen Eindruck, sogar die Bärte der Männer waren ungepflegt. Fast alle trugen knallrote Bauchbinden und rote Feze, manche mit Troddeln. Ein weißbärtiger, hoch gewachsener Mann trat hervor, steckte eine Hand in seine Bauchbinde und sagte: »Wir wollten nicht herkommen, sie haben uns mit Gewalt hergebracht.«

»Aber in der ganzen Türkei findet ihr keinen schöneren Ort.«

»Wir sind Tabakpflanzer«, erklärte der alte Mann. »Wir wollten nicht herkommen, sie haben uns gezwungen. Alles, was wir hatten, ist dort geblieben.«

»Kapitän Kadri kann euch ja die Insel zeigen.«

»Sehr freundlich, aber nicht nötig. Wir sind Tabakpflanzer, auf dieser Erde gedeiht kein Tabak, und was anderes können wir nicht.«

Ein anderer mit roter Leibbinde und zerknittertem schwarzem Schalwar, dunkelhäutig, schmalgesichtig, mit starrem Blick und in sich gekehrt, rappelte sich auf, kam mit langsamen Schritten zu Musa dem Nordwind, stampfte plötzlich wütend mit dem rechten Fuß auf und brüllte: »Ihr habt unsere Herdfeuer gelöscht, das Leben aus unseren Häusern verbannt, uns alle betrogen! Niemand hat uns gefragt, ob wir in die Türkei wollen. Und hier sind wir, liegen wie Fische auf dem Trockenen, habt ihr verstanden, meine Glaubensbrüder! Los, zurück auf die Kutter!«

Sie waren Tabakpflanzer gewesen. Der Krieg war zu Ende, Tabak brachte wieder Geld, und sie besaßen guten, fruchtbaren Boden, auf dem auch Oliven-, Granatäpfel-, Feigen- und Maulbeerbäume standen. Eines guten Tages war eine Kommission gekommen, hatte ihr Hab und Gut geschätzt und ihnen ein Papier gegeben. Niemand durfte danach etwas verkaufen, und wenn, dann nur noch zu Spottpreisen. Sie warteten monatelang, es geschah nichts, man hatte sie wohl vergessen. Doch dann kamen eines Tages Bewaffnete. Raue Männer. »Ab gehts!«, brüllten sie. Verwirrt machten sich die Dörfler nach einigen Tagen auf den Weg. Alt und Jung mit Kind und Kegel versammelte sich müde und erschöpft auf einem Kai, ein Gewimmel wie auf dem Jahrmarkt. Zu tausenden warteten sie in Wind und Regen auf Dampfer aus der Türkei. Obwohl der Rote Halbmond Garküchen und Krankenstationen auf den Kais eingerichtet hatte, konnten sie Todesfälle nicht verhindern. Alte und Kinder starben an Malaria und Lungenentzündung. Nach langem Warten kamen endlich schrottreife Dampfer in den Hafen, um sie an Bord zu nehmen.

Mit Schlägen und Tritten wurden die sich sträubenden Menschen an Bord dieser jetzt schon mit Schlagseite am Kai vertäuten Seelenverkäufer getrieben.

Nach tagelanger Überfahrt erreichten sie schließlich die Häfen an der anatolischen Küste. Bei strömendem Regen hatte es unterwegs noch weitere Todesfälle gegeben. Von hier aus wurden sie übers anatolische Land verteilt. Manche in schneebedeckte Bergdörfer, andere in fieberverseuchte Ebenen, andere auch in niedergebrannte, von ihren griechischstämmigen Einwohnern verlassene Dörfer. Hier war der Boden ertragreich. Die Handwerker unter den Ankömmlingen verzichteten auf jede Hilfe und flüchteten in die Städte. Viele der ausgewiesenen Küstenbewohner Griechenlands wurden in die anatolische Steppe geschickt, die aus den griechischen Bergdörfern dagegen ins sumpfige Flachland des Südens und Südostens. Sie kamen um vor Hitze oder starben reihenweise an Malaria. Wer sich an das Klima gewöhnte, blieb, die anderen wanderten weiter, bis sie eine ihnen genehme Gegend entdeckten und sich dort niederließen. Die Türkei hatte einen Krieg hinter sich, es fehlte an allem. Das arme Volk Anatoliens half den Migranten, so gut es konnte.

»Los, zurück auf die Kutter!«

Diese Insel war schon der siebte Ort auf ihrer Suche. Sie waren aus Mittelanatolien hergekommen und hatten noch kein annehmbares Stückchen Land gefunden. Jetzt waren ihre Mittel erschöpft. Manche Dörfler nahmen sie in ihre Häuser auf und gaben ihnen zu essen, was sie sich selbst vom Mund abgespart hatten. Manche schrien aber auch: »Wir haben genug von euch!«, und verjagten sie zu Pferde oder mit Hunden, sobald sie ihrer auch nur ansichtig wurden.

In Anatolien, wo der Krieg das Unterste zuoberst gekehrt hatte, herrschte in vielen Gegenden noch immer heilloses Durcheinander. Hafer warf man vor die Hunde, Knochen vor die Pferde, wie es hieß. Die Migranten waren verzweifelt.

Dem Regierungsbeamten Üzeyir Khan blutete das Herz. Tscherkessen, Tschetschenen und andere Kaukasier hatten auch seit ewigen Zeiten Vertreibungen erlebt, waren vom Kaukasus in die anatolischen Steppen und arabischen Wüsten gewandert, in den Irak, nach SaudiArabien, Jordanien und weiter bis Ägypten gezogen. Und erst im Balkankrieg, im Ersten Weltkrieg, ganz zu schweigen vom Freiheitskrieg! Da wimmelte es in Anatolien von Vertriebenen aus dem Balkan, aus dem Kaukasus und aus dem Osten des Landes, und das arme Anatolien wurde noch ärmer.

Mit Tränen in den Augen wehklagte Üzeyir Khan in einem fort und half diesen Obdachlosen, wo er nur konnte.

Diejenigen, die in den für sie bestimmten Siedlungsgebieten keine angemessene Bleibe gefunden hatten, drängten sich in den Straßen, auf den Plätzen der Stadt und zogen nach einigen Tagen weiter.

Der Landrat, der Finanzdirektor und die Honoratioren des Ortes taten unter Üzeyir Khans Führung für die ausgemergelten und erschöpften Aussiedler, was in ihrer Macht stand. Den Kranken besorgten sie Ärzte und Medikamente, den Hungernden Essen und steckten ihnen, soweit sie konnten, einige Kuruş zu. Die Küstenfischer brachten Ladungen von Fisch in die Kleinstadt, die Bauern schleppten Mehl, Graupen und Fett herbei, leer stehende griechische Grundschulen wurden in Schlafsäle verwandelt und mit all den Kelims, Teppichen und Matratzen ausgestattet, welche ausgewiesene Griechen ihren türkischen Freunden hinterlassen hatten. Große Kessel wurden aufgestellt, sodass die Obdachlosen wenigstens einige Tage warm essen und ihre erschöpften Körper ausstrecken konnten.

Der Finanzdirektor Abdülvahap Bey krempelte die Ärmel hoch, zog mit der Flüchtlingskommission von Dorf zu Dorf, von Hof zu Hof, über Berg und Insel, fand für viele eine angemessene Bleibe und siedelte sie an.

»Das Leid seiner Mitmenschen kennt, wer selbst gelitten hat«, sagte Üzeyir Khan. »Diese drei Kriege haben uns das Rückgrat gebrochen, haben unsere Welt aus den Angeln gehoben und den Menschen zum Tier gemacht. Und dennoch müssen wir uns ein bisschen Menschlichkeit bewahren …« Er schluckte, als drücke eine Faust seine Kehle zu, und seine blauen Augen wurden feucht.

Von Flüchtlingen überfüllte Kutter mit Kind und Kegel, Alt und Jung, krank und gesund, liefen wieder und wieder die Inseln an. Manche flüchteten gleich wieder an Bord, nachdem sie sich ein bisschen umgesehen hatten, andere durchstreiften einen Tag lang das Gelände, schauten in die Häuser, in die Läden, in die Villen der Pfeffersäcke auf der Landzunge am Ende der Insel, versammelten sich dann unter den Platanen, diskutierten, manche wollten bleiben, andere nicht, schließlich bestiegen sie alle wieder die Kutter und fuhren weiter. Ein Paradies, aber was konnte man da schon anpflanzen? Keine Ziegen, keine Schafe, keine Pferde ließen sich hier halten. Wovon die früheren Einwohner wohl gelebt haben mochten, dass sie sich diese prächtigen Häuser bauen konnten? Und hier musste man vom Fischfang etwas verstehen und außerdem Boote, Netze und Angeln haben! Für wie viele reichten denn diese paar Weinberge, diese Olivenbäume im Tal, diese Bienenkörbe und Obstbäume? Und sobald man sich ansiedelt, gibt es von der Regierung ja auch keine Hilfe mehr … Kratz dir den Kopf, wenn du noch Fingernägel hast! Weh dem, der in diesem Land allein bleibt und nur auf sich selbst angewiesen ist!

Ein verlassenes, gebrandschatztes Dorf in den Bergen, dieses von keiner Pflugschar gebrochene dürre Flachland, die endlosen Ruinenfelder und diese verstreuten Inselchen sind die einzige Hoffnung der Flüchtlinge. Die großen, mit Äckern umgebenen Dörfer und die Städtchen sind schon längst überlaufen, wurden längst von Neusiedlern in Beschlag genommen. Und wer sich in fieberverseuchten, ausgetrockneten oder von Schneestürmen heimgesuchten Gegenden niedergelassen hatte, war schon wieder aufgebrochen und irrte wieder verzweifelt umher …

Ganz plötzlich versiegte der Strom der Aussiedler. Einige wenige, die nicht sogleich wieder abgereist waren, hockten untätig herum, konnten nicht einmal fischen, starrten von morgens bis abends unter den Platanen hervor aufs Meer und warteten auf ein Boot. Melek Hanum saß bei ihnen, zeigte auf den fernen Berg und begann zu erzählen: »Den Berg da drüben nennen wir Gänseberg mit tausendundeiner Quelle. Dort soll es ein blondes Mädchen geben, das mit allen Gänsen, Vögeln und Hirschen im Gefolge umherzieht. Dieser Berg ist meine Heimat. Und sein Vater«, sie zeigte auf Kapitän Kadri, »der in Frieden ruhen möge, kam als Ziegenhirte in unser Dorf, und ich entbrannte zu ihm in heimlicher Liebe. Auch er verliebte sich in mich, und wir flüchteten. Im Bergland, müsst ihr wissen, ziehen die Nomaden auf die Hochebenen. Sein Vater war ein sehr guter Hirte und verdingte sich bei einem Aga der Jürüken, der viele Ziegen und Schafe besaß. Meine Brüder aber suchten uns in den Bergen mit den tausend Quellen. Sie wollten uns töten, weil wir gemeinsam geflüchtet waren. Bis an die Zähne bewaffnet, durchkämmten drei junge Burschen jeden Winkel, doch die Jürüken warnten uns, und wir flüchteten in die Provinzstadt in den Schutz der Regierung, denn dort waren Gendarmen stationiert. Und sein Vater, also der Vater von Kapitän Kadri, heuerte bei dem Mann an, der uns diesen Kutter gab. Sie fischten viel in jenem Jahr und verdienten viel Geld. Wir bauten uns ein Haus in der Stadt und pflanzten im Garten Orangenbäume. In jenem Jahr kam auch Kapitän Kadri zur Welt. Kaum trugen die Bäume Früchte, aß er jede Orange auf, die goldgelb herabgefallen war, und er gedieh prächtig. Weder ich noch sein Vater aßen auch nur eine dieser wertvollen Orangen. Später brachte sein Vater den Jungen auf einen Kutter, und der Eigner heuerte ihn als Schiffsjungen an. Das war sein Glück. Unsere Orangenbäume gaben immer reichlicher Frucht. Wir verkauften viel, und jetzt aßen wir auch viel. Dann begann der Krieg. Berghohe Schiffe kamen von jenseits des Meeres in die Dardanellen. Jeder Mann, den sie einfangen konnten, wurde eingezogen. Ich beschwor seinen Vater: Geh nicht zu den Soldaten, wer hingeht, kommt nicht zurück! Komm, flüchten wir in meine Berge mit den tausend Quellen, wo es nach Poleiminze duftet! Wir haben nun einen Sohn bekommen, und du weißt, dass die Sippe der entführten Braut das Brautpaar nicht tötet, wenn es mit einem neugeborenen Sohn zurückkommt; im Gegenteil, sie feiert vor Freude ein großes Fest. Außerdem habe ich große Sehnsucht nach ihnen. Aber sein Vater hörte nicht auf mich. Im Morgengrauen holten sie ihn und brachten ihn fort. Ich folgte ihnen und sah, dass die Moschee voll war von Männern seines Alters. Mütter weinten, Bräute fielen in Ohnmacht. Ich habe nicht geweint, stand nur so da, und sein Vater schaute mich beschämt an, ließ dann den Kopf hängen, ohne noch einmal aufzublicken. Am nächsten Morgen zogen sie schon sehr früh aus, um die Kriegsschiffe zu versenken. Von denen regnete es Feuer auf sie herab. Der Soldat Hasan der Hinkende kam als Einziger zurück. Er war Meisterringer gewesen. Jetzt war er nur noch ein Häufchen Elend. Ich fragte ihn, was geschehen sei. Frag lieber nicht, antwortete er. Der Deine lag im nächsten Schützengraben. Granaten gingen auf uns nieder, es regnete Erde und Blut vom Himmel. Als der Rauch sich verzog, hatte ich keine Beine mehr. Dann wurde alles dunkel. Als ich bei den Ärzten wieder zu mir kam, fragte ich sie, was mit mir geschehen sei. Ja, Erde, Staub und Blut, Erde Staub und Blut, und den Berg da drüben nennen wir den Berg mit den tausend Quellen …«

Tag für Tag hockte Melek Hanum mit den Wartenden unter den Platanen. Die See blieb leer, kein Boot, kein Segel. Melek Hanum heftete ihre Augen auf den Gänseberg und begann von diesem zu erzählen. Von seinem Marmor, vom Mahlstrom Hasanboğuldu, Märchen und Legenden, vom Frühlingsfest der Aleviten, ihren rituellen Tänzen zu hunderten: Mädchen und Burschen in weißen Gewändern, mit ausgebreiteten Armen so schnell kreisend, dass es schien, sie flögen davon. Sechzig, siebzig, ja hundert langstielige Lauten, gemeinsam gespielt von den Alten. Und im Tanz wurden die Menschen so lebensfroh, als seien sie im Paradies gewesen und hätten sich dort von allem gereinigt, sie fühlten sich wie neugeboren.

Zweimal die Woche fuhr Kapitän Kadri zum Festland, um einzukaufen. Wenn er nicht zuhörte, erzählte seine Mutter nicht so begeistert, und ihre Stimme konnte die Zuhörer nicht in ihren Bann schlagen.

Kaum dass die Gipfel des Gänsebergs sich aufhellten, begann Melek Hanum schon zu erzählen. »Dort drüben, der Berg«, begann sie. »Es ist der Gänseberg«, unterbrach Vasili. »Wir Griechen nennen ihn Berg Ida. Die Götter sollen dort wohnen.«

»Geschwätz!«, schrie Melek Hanum mit hochrotem Kopf. »Ich kenne alle Dörfer und alle tausend Quellen dieser Berge. Etwas wie Götter gibt es dort nicht. Auch keinen ihrer Kristallpaläste. Ihr seid verrückte Kerle, ihr Griechen. Auch das Blonde Mädchen gibt es dort nicht. Es ruht seit langem in Frieden, erzählt man. Auch keine Gänse und Hirsche. Nur die Stätte des heiligen Blonden Mädchens ist erhalten geblieben, eingefasst von wenigen Steinen. Dort soll sich das Mädchen ausgeruht haben, wenn es müde war. Aber Adler gibt es viele. Rötliche und kupferfarbene. Früher soll es bei den tausend Quellen viele Götter gegeben haben. Doch haben Götter überhaupt eine Heimat, einen festen Wohnsitz? Wohin sollen sie denn verschwinden? Sind sie gestorben? Können jene, die du Götter nennst, überhaupt sterben? Sei still! Verrückter Kerl!« Sie stand auf und stemmte die Hände in die Hüften. »Ihr habt wie Vasili den Verstand verloren, wenn ihr meint, dass diese Insel aufleben wird, nur weil einige Barfüßige herkommen. Dann geht doch gleich los und holt die Götter von jenem Berg, dazu das Blonde Mädchen samt Wolf und Vogel! Auf mit euch Schlafmützen!«, schrie sie noch schriller. »Fische und Arbeit warten! Vor lauter Grützpilaw blähen sich ja schon unsere Bäuche.«

Sie ging zu Nordwind und nahm seine Hand. Zu ihm war sie immer nachsichtig. »Steh auf, Bruder, lass dich nicht anstecken! Wir sind hier zu fünft. Das reicht für diese Insel, und wenns sein muss, auch für den Berg da drüben, den mit den tausend Quellen.« Nordwind stand lachend auf: »Ja, wir sind mehr als genug.«

Sie nahm auch Lena bei der Hand und zog sie hoch: »Kluge, schöne Lena, wir dürfen nicht wie diese Verrückten aufs menschenleere Meer starren. Wir brauchen sie nicht. Und wenn sie herkommen, werden sie unsere Oliven, unsere Weintrauben, unser üppiges Gemüse, unsere rosafarbenen, melonengroßen Granatäpfel und unsere Feigen, aus deren Ärschen Honig träufelt, wegputzen und uns nichts übrig lassen. Die werden sogar die Granatäpfel aus meinem eingezäunten Garten klauen.« Sie hakte sich bei Lena ein, und die beiden machten sich auf zum Olivenhain.

»Los, Vasili, mach das Boot klar!«, rief Nordwind. »Und du, Kapitän Kadri, komm auch zum Fischen! Wir lassen wirklich alles schleifen. Eigentlich gut, dass niemand kommt. Denn in diesen Zeiten wird jeder versuchen, seine Sorgen auf uns abzuladen.«

Während er so redete, hatte Vasili den Anker schon gelichtet, den Motor angeworfen, das Boot längsseits angelegt, und sie sprangen über den Dollbord. Vasili nahm Kurs auf eine Klippe in Nähe der Rauen Insel. Dort wimmelte es von Fischen. Sie angelten bis zum Abend.

»Einträgliches Gewerbe, das Fischen«, sagte Nordwind.

»Oho, Bruder, von hier schickten wir den Fisch geräuchert sogar nach Amerika. Auch mild gesalzene Oliven, rosarote Granatäpfel und Fischrogen. Aus Italien, England und Frankreich kamen Stoffe, aus Schweden Bootsmotoren. Die Läden hier flossen über. Die teuersten Hemden und Schuhe wurden hier verkauft. Die Leute kamen aus Istanbul, Izmir, Aleppo, Bagdad und Damaskus. Die Eigentümer der Häuser auf der Inselzunge hatten Schiffe und Niederlassungen in Istanbul, Athen und in Amerika. Doch noch bevor der Krieg begann, rochen die Pfeffersäcke ihn schon, stiegen auf ihre Schiffe und fuhren davon, ohne einen Blick zurück. Als wären sie hier nicht geboren und aufgewachsen, als hätten sie hier nicht den Honig und den Milchrahm geschleckt. Und diese barfüßigen Umsiedler rümpfen die Nase über unsere Insel. Das geht mir am meisten gegen den Strich.«

»Mir auch. Aber bald wird die Insel voll werden. Kann ein Platz, den der Herrgott mit so viel Liebe geschaffen hat, denn leer bleiben? Bald kommen sie, hungrige, kranke, wahnsinnige, durch tausend Feuer, tausend Tode gegangene Flüchtlinge. Wir werden uns nach den heutigen Tagen noch zurücksehnen. Anatolien bebt noch, das ganze Land ist auf Wanderschaft. Frauen, deren Männer, Kinder, deren Mütter und Väter umgekommen sind, Eltern, die ihre Kinder verloren haben, verbrannte Häuser, verbrannte Dörfer, verbrannte Städte; mit tausenden Hirtenhunden ohne Herden ist Anatolien unterwegs. Keine Angst, hier wird es bald so voll werden, dass die zu spät Gekommenen keinen Platz mehr finden und die Insel traurig wieder verlassen müssen!«

»Warum haben wir dann, auf dem Anleger hockend, tagelang gewartet?«

»Aus Neugier, was für Menschen da wohl kommen werden, ob Dschinnen oder Feen, deswegen haben wir gewartet. Die Menschenkinder warten immer auf etwas.«

Sie schütteten den Fang in zwei Eimer, sprangen vom Boot und zogen es auf den Kieselstrand. Kapitän Kadri wuchtete die beiden Eimer über den Dollbord, zündete die Lampe an und begann die Fische zu säubern.

Sie salzten die Fische, und ein starker Geruch von brutzelndem Fett zog über die Insel. Im Licht der Glut aßen sie etwas abseits von der Feuerstelle, wuschen sich anschließend am Brunnen, gingen zurück ins Haus und legten sich sofort schlafen.

Von nun an saßen sie nicht mehr auf dem Anleger und hielten Ausschau nach einem Kutter, einem Segler der Pfeffersäcke oder einem aus fernem Nebel auftauchenden Dampfer. Einzig Melek kam unter dem Vorwand, ihre Fischer zu verabschieden, mit zum Anleger, setzte sich, nachdem das Boot hinter der Inselspitze verschwunden war, auf eine der Pritschen unter den Platanen und heftete ihre Augen auf den Gänseberg mit den tausend Quellen. Nach einer Weile gesellte sich auch Lena zu ihr und schaute mit zusammengekniffenen Augen in dieselbe Richtung. Hatten sie genug, standen sie auf und gingen zusammen zu den Felsen hoch.

Am Fuße der Felsen steigen Quellen hervor. Ihr Bett ist meistens mit weißen Kieseln bedeckt. Wasserläufer gleiten drüber hinweg, die Glitzer des Wassers widerspiegeln sich an den Felswänden. Kniehoch wächst am Quellenrand blau blühende Poleiminze mit Schwindel erregendem Duft, der eindringt in die Haut des Menschen, sich einnistet in Felsen, Bäumen, Gräser und Pflanzen, in die Erde, ins Wasser, in die vom Wasser trinkenden Vögel, am Wasser entlang gleitende Schlangen, zum Wasser fliegende Wespen, Bienen und Hornissen. Und deswegen duftet der Honig in dieser Gegend nach Minze.

»Ach, die blutroten Äpfel am Gänseberg, die rotbraunen Hirsche und Rehe, ach!«

Im Westen sank die Sonne langsam zum Meer herab, und die beiden erhoben sich. Lena neigte sich an Melek Hanums Ohr und dämpfte ihre Stimme: »Ich werde dir etwas zeigen, aber du wirst es niemandem verraten, ja?«

»Ich verrate es niemandem«, versprach Melek Hanum.

»Komm«, sagte Lena kaum hörbar, »leg dich bäuchlings neben mich!« Sie hatte sich schon lang gelegt, und vor ihr barst ein beglückendes Blau, dem ein berückender Duft entströmte. Zögerlich stand Melek Hanum neben ihr, aber auch ein bisschen belustigt über das Verhalten dieser doch schon betagten Frau. »Leg dich schnell zu mir, ich führe dich ins Paradies! Jetzt, sofort. Komm!« Ihre Stimme klang so gebieterisch, dass Melek Hanum sich, wenn auch etwas verschämt, auf der Stelle neben ihr ausstreckte. »So, nun schau und riech!«