Töte die Schlange - Yaşar Kemal - E-Book

Töte die Schlange E-Book

Yasar Kemal

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Beschreibung

Ein Mann wird vom Geliebten seiner jungen Frau erschossen. Der büßt mit dem Leben, aber die Mutter des Getöteten gibt sich damit nicht zufrieden. Für sie ist die Schwiegertochter die eigentlich Schuldige, nach dem Gesetz der Blutrache soll sie sterben. Doch keiner bringt es übers Herz, der schönen, freundlichen Esme ein Leid anzutun. Sogar den gedungenen Mördern beginnt bei ihrem Anblick das Gewehr in der Hand zu zittern. Da verfällt die Großmutter auf einen schrecklichen Plan: Ihr Enkel soll das Todesurteil an seiner geliebten Mutter vollstrecken. Dieser Roman beruht auf einer Begebenheit, die sich in den Fünfzigerjahren in Anatolien zugetragen hat. Yasar Kemal macht sie zum Stoff einer menschlichen Tragödie, welche die verborgensten Instinkte ans Licht bringt.

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Seitenzahl: 188

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Über dieses Buch

Ein Mann wird vom Geliebten seiner jungen Frau erschossen. Der büßt mit dem Leben, aber für die Mutter des Getöteten ist die Schwiegertochter die eigentlich Schuldige, nach dem Gesetz der Blutrache soll sie sterben. Weil keiner im Dorf es übers Herz bringt, der schönen Esme ein Leid anzutun, verfällt die Großmutter auf einen schrecklichen Plan.

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Yaşar Kemal (1923-2015) wird der »Sänger und Chronist seines Landes« genannt. Er wuchs in einem Dorf Südanatoliens auf und lebte in Istanbul. 1997 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 2008 wurde er mit dem Türkischen Staatspreis geehrt.

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Cornelius Bischoff (1928-2018) verbrachte seine Jugendjahre in der Türkei und studierte Jura in Istanbul und in Hamburg. Seit 1978 ist er als literarischer Übersetzer tätig und schreibt Drehbücher.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

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Yaşar Kemal

Töte die Schlange

Roman

Aus dem Türkischen von Cornelius Bischoff

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 6 Dokumente

Die Originalausgabe erschien 1976 unter dem Titel Yilani Öldürseler.

Originaltitel: Yilani Öldürseler (1976)

© by Yaşar Kemal 1976

© by Unionsverlag, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30799-5

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

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Version vom 22.06.2022, 09:36h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

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Inhaltsverzeichnis

TÖTE DIE SCHLANGE

Als es geschah, war Hasan sechs oder sieben …Zuerst war da draußen ein Knacken zu hören …Ich lernte Hasan im Gefängnis kennen. Sie brachten …Die Trauer über den Tod seines Vaters dauerte …Abbas war Esme gefolgt. Und nach seiner Flucht …Die rote Zunge über den Lefzen, kam ein …Im Dorf war es danach wieder eine Zeitlang …Auf den Simsen über den Haustüren hocken dicht …Ali kam und blieb dort unter der Trauerweide …Deine Mutter ist eine Schönheit dieser Welt …Vor einigen Monaten hat Hasan mich ausfindig gemacht …

Mehr über dieses Buch

Über Yaşar Kemal

Günter Grass: Laudatio auf Yaşar Kemal

Yaşar Kemal: Über die Sprache

Yaşar Kemal: Die Natur, Universum der Mythen

Yaşar Kemal: Das Gefängnis – die Schule der türkischen Literatur

Yaşar Kemal: »Die Epen sind wie Kiesel auf dem Grund des Stromes«

Lucien Leitess: Vor seinen Büchern werden wir wieder zu Kindern

Über Cornelius Bischoff

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Als es geschah, war Hasan sechs oder sieben Jahre alt.

Über den Felsen von Anavarza kreisen die Adler Flügel an Flügel. Ganz in Weiß strecken die Affodillen ihre Blüten zur Sonne. In der Ferne segelt eine Wolke, ihr Schatten huscht über den Sumpf, gleitet weiter über Dumlu hinweg. Auf den Blütenblättern der Affodillen schimmern schwarze, blaue, gefleckte Wespen und honiggelbe Bienen. Dunkelblaue Disteln sprießen im Geröll. Wie ein Rebhuhn gleitet Hasan über die Felsen. Unter ihm, nach Osten, die tiefe Schlucht. Ihm schwindelt. Bis zu den Adlerhorsten ist er den Steilhang hinuntergeklettert und hat weder Eier noch Jungvögel entdecken können. Aufgescheucht fliegen die Adler zwischen den mauerglatten Felswänden, fächern die Luft mit den Schlägen ihrer riesigen Flügel. Die Frühlingssonne hat das Gestein erhitzt. In den Spalten blaues Wolfsmilchgewächs, gelber Safran, violette Veilchen. Der Thymian trieb die ersten Blüten, unter der Sonne wehte ihr schwerer Duft in Wellen herüber.

Hasans letzte Hoffnung war das Nest am Fuße der Wand. Dorthin zu klettern war jedes Mal schwer gewesen. Einmal war er am Felsen hängen geblieben und hatte sich nur mit Mühe und Not retten können. Seither war er nie wieder dort hinunter geklettert. Hätte er sich damals nicht an die Wurzel des wilden Feigenbaums geklammert oder hätte diese nachgegeben, es wäre mit ihm aus gewesen. Der Abgrund ist bestimmt zehn Minarette tief. In Stücke hätte es ihn gerissen, noch bevor er unten aufgeschlagen wäre.

Um ihn ein Wirbel von Gerüchen. Wenn es in der Frühlingssonne so durcheinander roch, wenn Hasan den einen Geruch vom andern nicht mehr unterscheiden konnte, dann dachte er, dass dies der Geruch der Felsen sei, der Felsen des Anavarza. Denn auch die Bienen, die Eidechsen, die Küken der Rebhühner, die Nester, die Brut der Adler, die Klapperschlangen und Hornvipern rochen so, ja, sogar die Menschen des Anavarza hatten den Geruch dieser Felsen an sich, einen eigenartigen, honigsüßen, betäubenden Duft in der Frühlingssonne. Im Anavarza riecht auch der Regen anders, er riecht nach nassem Fels. Und auch die Wolken riechen, aber wieder ganz anders.

Hasan vergisst diesen Geruch der Felsen nie. Und auch nicht jene Nacht, ihre Finsternis und den Geruch von Pulver in diesem Dunkel … Pulver riecht tags auf der Erde anders als nachts in den Felsen … Die Nacht roch nach Pulver. Von sehr weit hallte das Pfeifen der Kugeln herüber, djiv, djiv, djiv … Ihr Echo hallte durch die Nacht, djiiiv …

Die Felsen des Anavarza, das ist für ihn dieses Echo, dieses Pfeifen der Kugeln, dieser Geruch. Am Himmel des Anavarza kreisen blutige Adler. Hasan erinnert sich genau. Diese Nacht ist seine schrecklichste Erinnerung. Dieses Pfeifen der Kugeln, ihr Echo und dieses Kreisen der Adler im Morgengrauen.

An jenem Morgen war er nicht zur Arbeit gegangen. Es war sehr heiß. Im Dorf hatten sich alle zu den Feldern aufgemacht, nur Hasan nicht. Er war bedrückt, wusste nicht, was mit sich anfangen. Seine Mutter konnte er nicht einmal anschauen. Neun Jahre war er alt. Jedenfalls sagten das die anderen, woher sollte er es auch wissen. Wenn sich an solchen Morgen seine Blicke mit denen der Mutter kreuzten, konnte er aus der Haut fahren.

An solchen Morgen, noch bevor der Tag graute, gab seine Mutter ihm aus dem Bottich das erste Kügelchen Butter, an dem noch die Rahmbläschen hingen. Hasan strich es auf das ofenwarme Fladenbrot, ging zu den Bäumen weit draußen, hockte sich nieder und aß es auf. Er mochte weder das Gesicht noch den Gang seiner Mutter sehen. Seit Langem schon schaute er sie nicht mehr an.

An solchen Morgen war es jedes Mal, aber auch jedes Mal dasselbe. Voller Unruhe und ratlos irrte er im Dorf herum, konnte sich hinterher an nichts mehr erinnern. Das wertvolle, mit Perlmutt eingelegte Gewehr hatten sie ihm schon geschenkt, als er sieben Jahre alt war. Seitdem schoss er auf alles, was sich bewegte: Vögel, Ziegen, Adler, Rebhühner, Schakale, Menschen… Ja, sogar auf Menschen schoss Hasan… Er hatte drei Onkel. Und alle drei ließen ihn gewähren. Das ganze Dorf war versippt, es war ein ganz kleines Dorf. Vor kurzem noch waren seine Einwohner Nomaden, dann wurden sie hier sesshaft. Als sein Onkel und sein Vater so alt waren wie er, trieben sie die Schafe in großen Herden über die Berge der Tausend Stiere. Sie waren Hirten, und ihre großen schwarzen Zelte ruhten auf sieben Pfeilern. Bei jeder Gelegenheit rühmen sie sich noch heute dieser Zelte mit den sieben Pfeilern …

Im Obstgarten, unter den Granatapfelbäumen, hatte er sein Butterbrot aufgegessen und war rundum satt geworden. Er griff nach seinem Gewehr, stellte es aber wieder hin. In den ersten Sonnenstrahlen leuchtete das Perlmutt blau, verlöschte, blitzte wieder auf. Die Hände seitwärts aufgestützt, den Kopf zur rechten Schulter geneigt, betrachtete er regungslos eine Zeitlang die Waffe. Sie leuchtete wieder auf und verlosch. Seine Mutter ging im Hof auf und ab. Wie schön sie doch war. So jung noch, sah aus wie ein Mädchen. Sein Vater war sehr alt gewesen, mit weißem Haar und Bart. Hasan erinnert sich so genau, als sähe er ihn leibhaftig vor sich … Die Mutter hatte langes Haar, lang bis zur Hüfte. Jedermann sagte es, seine Mutter war die schönste Frau der Çukurova, vielleicht die schönste der ganzen Welt. Es gab keinen Burschen in dieser großen Ebene, der sie nicht freien wollte. Doch sie wies alle ab. Sie wollte sich von ihrem Sohn, ihrem einzigen Hasan nicht trennen. Denn würde sie einem der Brautwerber folgen, müsste Hasan hier bleiben. Seine Onkel würden ihn nicht mit der Mutter ziehen lassen. Und seine Mutter verließ ihn nicht, nur um wieder eines Mannes Frau zu werden. Täte sie es und zöge in ein anderes Dorf, sie sähe ihren Hasan nie mehr wieder, nie mehr.

Niedriger als sonst, mit silbernem Schimmer, floss der Ceyhan. In den Senken war Hasan hinter den Eisvögeln her; von morgens bis abends, von abends bis morgens lauerte er vor den Fluglöchern ihrer Nisthöhlen. Er hatte sich feinmaschige Netze besorgt und sie vor die Eingänge der Schlupflöcher gespannt, die die Vögel wie Schlangen in die Böschungen getrieben hatten. In diesen Netzen verfingen sie sich, wenn sie herauskamen. Hasan steckte diese blauen, tiefblauen Vögel in Kalebassen, die er zu Käfigen zurechtgeschnitten hatte. Immer wieder nahm er sie sich vor, konnte sich an ihrem blauen Gefieder nicht satt sehen. So ein Blau gab es kein zweites Mal. Betrachtete Hasan diese Eisvögel, die man auch Regenvögel nannte, versank er in einen blauen Traum. Das Blau dehnte sich weiter und weiter aus, wurde grenzenlos, strömte bis durch sein Inneres, sodass er ganz benommen war.

Schwalben lassen sich nicht fangen, und seit es dieses Dorf gibt, ist Hasan der einzige, dem solches gelingt. Bevor er nicht jeden Tag fünf bis zehn von ihnen gefangen hat, lässt er nicht locker. Dann bindet er sie an einen Faden und lässt sie so an sich gefesselt fliegen. Wenn es Abend wird, gibt er sie – aber nicht immer – frei, und sie segeln mitsamt dem Faden in den Himmel hinein.

In einer Höhle des Anavarza zog Hasan auch junge Adler groß. Jeden Morgen machte er sich auf den Weg und kam erst nach Einbruch der Dunkelheit, wenn man die Hand nicht vor den Augen sehen konnte und die Dorfstraßen völlig verwaist waren, nach Hause zurück. Das perlmuttverzierte Gewehr trug er in der Hand. Davon trennte er sich nie.

Hasan war die Plage der Bienen, der Schlangen, der Vögel und was sonst noch in den Hängen des Anavarza kreucht und fleucht.

Und aus dem Dorf davonlaufen wollte er schon immer. Mindestens zweimal die Woche zog er von dannen, bis zu den nächsten Dörfern, aber dann, wer weiß warum, vielleicht aus Angst, kam er wieder zurück. Einmal hatte er sich mit einem Hirten angefreundet, war mit ihm bis Farsag oberhalb von Kozan gezogen und dann doch wieder umgekehrt. Was sollte er tun? Wie sich verhalten? Nur eines war ihm klar: Im Dorf durfte er nicht bleiben. Oder seine Mutter musste gehen. Seine Mutter, ja, die Mutter müsste fortziehen. Jedermann war ihr Feind. Bei so viel Feindschaft muss ein Mensch ja ersticken. Auch er spürte diesen Hass, auch ihm war dann, als könne er in diesem Dorf nicht mehr atmen. Für nichts auf der Welt ist eine so feindliche Umgebung zu ertragen. Die Großmutter, die Tanten und Onkel, die Frauen seiner Onkel und deren Verwandte, niemand redete mit seiner Mutter. Was hält sie also noch in diesem Dorf? Wo sie auch noch so schön ist, so schön wie keine zweite auf der Welt … Es schmeichelte ihm, dass die Mutter nur seinetwegen im Dorf ausharrte. Doch war er immer verwirrt, wenn er ihr gegenüberstand. Es hieß auch, sein jüngster Onkel bewerbe sich um sie, aber die Mutter weigerte sich hartnäckig. Sie wollte ihn nicht haben.

Hasan verspürte eine unsägliche Unruhe. Und deswegen war er hinter den Vögeln und Käfern her. Wie ein Ertrinkender einen rettenden Zweig, suchte er die Nähe von Lebewesen. Niemandem konnte er sagen, was in ihm vorging, und brächte man ihn um, er könnte es nicht. Sie hatten ihn umzingelt, belagert von allen Seiten. Er konnte tun, was er wollte, sich hinwenden, wohin er wollte, konnte seinen Kopf gegen die Mauern schlagen, diesen eisernen Ring aufzubrechen wollte ihm nicht gelingen.

Jeden Tag fliehen, jeden Tag Höhlen, Adler, Käfer, Schlangen, jeden Tag, aber auch jeden. Er hatte auch keine Spielgefährten. Entweder floh er vor ihnen, oder aber die Kinder mieden ihn. Da gab es noch Salih, aber Salih war einer, der überhaupt nicht sprach. Umso besser, soll er doch. Dafür redete Hasan auf ihn ein, redete und redete, blies dem Jungen die Ohren voll.

Wie gut, wenn der Mensch einen Freund hat, der nicht spricht und ihm zuhört, ohne seiner überdrüssig zu werden.

Ohne den treuen Salih und ohne diese Begeisterung beim Anblick der blauen Eisvögel, der hoch oben kreisenden Adler und der Klapperschlangen im Gestein, ohne das würde Hasan sterben.

Zuerst war da draußen ein Knacken zu hören. Der Vater horchte, hielt eine Weile den Löffel in der Schwebe und sah seine Frau an. Sie beugte den Kopf über den Tisch. Hasan beobachtete die beiden. Vaters Hand bewegte sich wieder, seine Kiefer mahlten. Das Knacken kam immer näher und hörte plötzlich auf. Es war Nacht, Vater, Mutter und Sohn saßen am Boden vor der niedrigen Holzplatte und aßen. Es gab Yoghurtsuppe, gebratenes Huhn und Grützpilaw, auf dem das Fett glänzte. Hasan kann den Duft des Grützpilaws an jenem Tag nie vergessen.

Am Fenster blitzte es auf, verlosch, blitzte auf, verlosch, blitzte auf … Das Krachen hörte Hasan erst danach, kam es ihm vor. Als die Schüsse knallten, ging alles völlig durcheinander. Die gedeckte Tischplatte, die Mutter, der Vater, alles war in Rauch gehüllt … Hasan hörte den Schrei seines Vaters. Auch die Mutter schrie einmal auf, dann war es still. Als der Rauch abgezogen war und Hasan wieder zu sich kam, dröhnten Schüsse vom Anavarza herüber, djiv, djiv, djiv … hallte lang gezogen das Echo. Und aus dem Dorf kamen dumpfe grollende Geräusche. Er sah das Blut. Mit dem Gesicht nach unten war sein Vater über den Tisch zusammengesackt, seine Haare hingen in der Reisschüssel. Blut schoss aus seinem Körper wie aus einem Springbrunnen.

Hasan kann sich nur an die schwarzen, verstörten Augen des Mannes erinnern, der hereinkam, seine Mutter bei der Hand packte und durch die Rauchschwaden nach draußen zog. Er selbst konnte sich nicht von der Stelle rühren. Die Augen auf seinen Vater geheftet, starrte er auf das Blut, das rann und rann. Von den Felsen des Anavarza hallten Schüsse und dumpfes Geheul. Dann, ganz plötzlich, war das Haus voll schreiender, jammernder Frauen und Männer. Und erst als er seine Großmutter weinen sah, begriff er, dass sein Vater tot war. Und noch etwas versuchte er zu begreifen: dass alles hier wegen der Mutter geschah. Bis zum Morgengrauen blieb er zusammengekrümmt in einer Zimmerecke liegen. Er konnte nicht einschlafen. Zum ersten Mal in seinem Leben schlief er nicht, lernte er die Schlaflosigkeit kennen. Menschen kommen und gehen, weinen und schreien, irgendwo peitschen Schüsse, hallt dumpfes Dröhnen, eine Flamme streckt sich, zieht sich zusammen …, blitzt wieder auf.

Im Osten graute kaum der Tag, als sie einen Toten herbeischleppten und auf den Marktplatz warfen. Seine Augen, weit geöffnet, blickten auch in der Starre des Todes noch so verstört wie in der vergangenen Nacht. Hasan kannte diesen Toten. Abbas war der Name des Mannes. Er stammte aus dem Dorf von Hasans Mutter. Hin und wieder war er Gast im Haus gewesen, hatte Hasan viele Geschenke gebracht. Jedes Mal, wenn er kam, ein schönes Geschenk. Jetzt lag er mitten auf dem Dorfplatz in seinem Blut. Hasan sah die grünen Fliegen zuerst. Wieso hatte er diese grünen Fliegen denn noch nie gesehen? Sie krabbelten auf dem Blut des Toten, seltsam, lautlos, giftgrün, grell wie die Schneide eines Messers. Geschärfte Klingen jagen Hasan jedes Mal einen Schrecken ein. Er konnte die Schneide eines Rasiermessers nicht anschauen, so übel wurde ihm dabei. Scharfe Klingen? Uuuiii!

Dann brachten sie seine Mutter auf den Platz. Seine Onkel prügelten pausenlos auf sie ein. Ihr Gesicht war überall aufgeplatzt, ihr weißes Kopftuch, ihre Haare waren blutgetränkt, und auch ihr Kleid hing in blutigen Fetzen. Die Dörfler, ob Frau, Mann oder Kind, jeder, der in ihre Nähe kam, schlug auf seine Mutter ein und bespuckte sie. Hasan sah das einige Augenblicke lang, dann – er weiß selbst nicht, wie es geschah – stürzte er sich auf sie, die seine Mutter prügelten. Erst später erzählten sie ihm, dass er seinen Onkel in die Hand gebissen, bis auf die Knochen seine Zähne ins Fleisch geschlagen habe. Sie erzählten ihm auch später, er habe wie ein Wahnsinniger ununterbrochen auf jeden eingeschlagen, der seine Mutter schlug, auf jeden gespuckt, der seine Mutter bespuckte. Sein ältester Onkel habe ihn dann mit einem Fußtritt zu Boden gestreckt. Und auch das hatte man ihm später erzählt: Daraufhin sei seine zusammengekrümmte Mutter wie ein Pfeil emporgeschnellt, habe sich schützend über ihren Sohn geworfen und zum ersten Mal seit dem Vorabend den Mund aufgemacht und gerufen: »Rührt meinen Sohn nicht an!« Und aufrecht zur Menschenmenge gewandt: »Ich habe Halil nicht getötet, ich habe euren Bruder nicht getötet … Der dort hat ihn getötet, und seht, er ist auch tot.« Dabei habe sie auf den am Boden liegenden Abbas gezeigt, sei zu ihm gegangen, habe ihm in die offenen schwarzen Augen geschaut und »O weh, Abbas!« gerufen. »O weh, dass ich deinen Wert nicht wusste!« Dann sei sie, ohne sich umzublicken, ins Haus gegangen.

Im Dorf waren einige Häuser bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Bis zum frühen Morgen hatte das Feuer die Umgebung taghell erleuchtet, in seinem Schein waren sogar die Burgmauern auf dem Anavarza zu sehen, sagt man.

Dann kamen die Gendarmen. Ein Offizier, der dabei immerzu die Hacken seiner Stiefel zusammenschlug, gab Befehle. Und auch ein Doktor kam, zog unterm Maulbeerbaum einen weißen Kittel an. Der Doktor hatte trübe, kalte Augen. Und dort unterm Maulbeerbaum zogen sie auch Abbas’ Leichnam aus, der Doktor schnitt ihn in einer steinernen Wanne wie einen Hammel in Stücke und nähte ihn mit einer Ahle wieder zusammen. Hasan wurde speiübel.

Sein Onkel hatte die Mutter gepackt und wollte sie zu dem zerstückelten Toten zerren. Doch sie weigerte sich.

»Komm und sieh, du Hure, komm und sieh!« schrie er. »Komm und sieh dir die Leiche des Mannes an, durch den du meinen Bruder töten ließest … Komm, Hure, und sieh, wie dein Gespiele, dein Zuhälter aussieht, komm und sieh ihn dir an!« Er schleifte die Mutter über die Erde, durch den Staub. Die Gendarmen und ihr Hauptmann standen da und sahen zu. Die Mutter gab keinen Laut von sich, stemmte sich nur dagegen.

Mit Totenklagen und Trauergesängen begruben sie den Vater. Die Großmutter wurde bettlägerig. Doch vorher rief sie ihre drei Söhne zu sich.

»Der Mörder meines Sohnes ist nicht der Lump Abbas. Die Blutbefleckte ist Esme«, sagte sie. »Geht hin und rächt euer Blut! Vielleicht werde ich nicht mehr aufstehen können, aber wenn ihr das Blut meines Sohnes ungesühnt in der Erde versickern lasst, soll meine weiße Muttermilch in dieser und in der anderen Welt euch zum Fluche werden! Die Blutschuld hat Esme auf sich geladen!«

Ich lernte Hasan im Gefängnis kennen. Sie brachten ihn nachts. Die übrigen Gefangenen umringten ihn und riefen: »Es möge überstanden sein, überstanden und vergangen!« Hasan, mit zusammengebissenen Zähnen, brachte kein Wort über seine Lippen. Die Häftlinge wollten ihm Wasser, Suppe oder sonst etwas geben, doch er konnte weder sprechen noch den Mund auftun, um zu essen. Er hockte da, inmitten der anderen, und ließ plötzlich den Kopf auf die Brust sinken und schlief ein.

Hasan war fortgelaufen. Fortgelaufen und in die Felsen des Anavarza geflohen. Drei Tage und drei Nächte suchte das ganze Dorf vergebens nach ihm, bis ihn schließlich sein Hund verriet. Sie hatten das Tier bei den Anavarza-Felsen ausgesetzt, und es entdeckte seinen Herrn in einem alten römischen Sarkophag. Dorthinein hatte er sich nach seiner Flucht verkrochen, mit aller Kraft den Deckel so gut es ging wieder über die Wanne gerückt und sich drei Tage und Nächte nicht gerührt. Hätte sein Hund ihn nicht aufgestöbert, wer weiß, wie lange Hasan dort noch geblieben wäre.

Einer der Gendarmen gab ihm eine Ohrfeige, die Bauern aber musterten ihn mit Angst in den Augen. Auch als sie dann durch die Dörfer kamen, liefen Frauen, Kinder und Männer auf die Straßen und sahen ihn an. Betrachteten ihn wie ein seltsames Tier, starrten ihn an, als grauste ihnen vor einem heiligen, sonderbaren, fluchbeladenen, schrecklichen Geschöpf.