Eisenerde, Kupferhimmel - Yaşar Kemal - E-Book

Eisenerde, Kupferhimmel E-Book

Yasar Kemal

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Beschreibung

Der Winter ist über das anatolische Bergdorf hereingebrochen. Die Bauern, eine in Stolz, Liebe, Hass und Verzweiflung verkettete Schicksalsgemeinschaft, sind von der Außenwelt abgeschnitten. Mehr und mehr werden sie Gefangene ihrer Angst: Wann kommt Adil Effendi? Nach der elenden Baumwollernte des letzten Jahres konnten sie ihm die Schulden nicht zurückzahlen. Jetzt ist das Dorf vogelfrei. Wenn Adil Effendi kommt, darf er alles mitnehmen, das letzte Korn, das Vieh, sogar die Hosen der Frauen. Das wäre sein gutes Recht. In den endlosen Nächten entzünden sich die uralten Fantasien und Träume der Menschheit und werden Realität. Ob dieser Taşbasoğlu, der sich als einziger nicht beugen läßt, das Dorf retten kann?

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Seitenzahl: 711

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Über dieses Buch

Als der anatolische Winter das Dorf von der Außenwelt abschneidet und Not und Verzweiflung Einzug halten, wird ein uralten Stück Menschheitsgeschichte Realität. Einer, der sich nicht beugen lässt, wird zum Heiligen – bis die weltliche Macht nach ihm greift.

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Yaşar Kemal (1923-2015) wird der »Sänger und Chronist seines Landes« genannt. Er wuchs in einem Dorf Südanatoliens auf und lebte in Istanbul. 1997 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 2008 wurde er mit dem Türkischen Staatspreis geehrt.

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Cornelius Bischoff (1928-2018) verbrachte seine Jugendjahre in der Türkei und studierte Jura in Istanbul und in Hamburg. Seit 1978 ist er als literarischer Übersetzer tätig und schreibt Drehbücher.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Yaşar Kemal

Eisenerde, Kupferhimmel

Roman

Aus dem Türkischen von Cornelius Bischoff

Die Anatolische Trilogie II

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 6 Dokumente

Die Originalausgabe erschien 1963 unter dem Titel Yer Demir Gök Baskir im Verlag Remzi Kitabevi, Istanbul.

Anatolische Trilogie, Band 2

Originaltitel: Yer Demir Gök Baskir (1963)

© by Yaşar Kemal 1963

© by Unionsverlag, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Mehmet Güler

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30792-6

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Version vom 22.06.2022, 11:03h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

Impressum

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Inhaltsverzeichnis

EISENERDE, KUPFERHIMMEL

1 – Hasan vorweg, hinter ihm Ümmühan näherten sich still …2 – Sie saßen am Herdfeuer. Meryemce, den Rücken an …3 – Halil der Alte hatte jetzt sein Lager im …4 – Sefer Aga, mein Sefer, Gott segne dich« …5 – Die Hähne der Mitternacht krähten. Hüsne war noch …6 – Meryemce kam schon früh. Sie stellte sich vor …7 – Eine Welle der Freude schäumte plötzlich durch das …8 – Aus der Mauerecke huschte Hüsne wie ein Schatten …9 – Es war ein heller sonniger Morgen. Der Himmel …10 – Seit sie die Tiere in die Höhle getrieben …11 – Der Amtmann wollte den Zorn des Dorfes auf …12 – Schon drei Tage lang ließ der Amtmann den …13 – Meryemce kam im Laufschritt nach Hause. Diese Entwicklung …14 – Dieser Tag war des Kahlen Barden Tag …15 – Vor Tagesanbruch, noch bevor die Morgendämmerung ihre roten …16 – Ali der Lange saß seiner Mutter am Herdfeuer …17 – Der Bora der letzten Nacht hatte keine Spur …18 – So waren sie sitzen geblieben. Die Sonne war …19 – Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Velis Mutter …20 – Taşbaşoğlu schäumte vor Wut. Bei der Schlägerei war …21 – Hüsne sprang sofort aus dem Bett und tastete …22 – Der Orkan tobte mit solcher Macht über Erde …23 – Da gibt es keinen Zweifel, irgendetwas ist mit …24 – Amtmann Sefer hatte den Kopf voller Sorgen …25 – Murat der Barfüßige sprach, der Kahle Barde bestätigte …26 – Nur die Gesundheit ist besser als dieser Gedanke …27 – Lasst sehen, was der junge Tag bringt …28 – Heute Nacht, als die Hähne der Mitternacht krähten …29 – Der Sturm tobte. An diesem Morgen rührte sich …30 – Memidik machte sich auf, um auch dem Amtmann …31 – Über dem Feuer liegt eine Platte aus Eisenblech …32 – Genau vor drei Tagen hat sich vor Taşbaşoğlus …33 – Und so haben sie mich zugerichtet«, schloss Memidik …34 – Sie hatten sich ja entschieden, dass er die …35 – Ich will dein Sklave sein, mein Leben für …36 – Ah! Endlich frei! Er hatte nicht erwartet …37 – Meryemce lief durch das Dorf, ihre Röcke und …38 – Sefer war noch einmal davongekommen. Was war er …39 – Sefer zog brüllend durch das Dorf. Er beschimpfte …40 – Die Dörfler trieben es immer toller. Ob jemand …41 – Heute Nacht, sagte sich Taşbaşoğlu, heute Nacht werde …42 – Die Nacht war nicht so eisig, auch nicht …43 – Taşbaşoğlu kauerte in der Ruine. »Los Herr« …44 – Amtmann Sefer«, sagte der Hauptmann. »Ich weiß sehr …45 – Ein warmer Windstoß rauschte wie eine schwere Woge …46 – Die Schneemassen begannen zu schmelzen. In den Abflussrinnen …47 – Als sie eines Morgens die Augen aufschlugen …

Mehr über dieses Buch

Über Yaşar Kemal

Günter Grass: Laudatio auf Yaşar Kemal

Yaşar Kemal: Über die Sprache

Yaşar Kemal: Die Natur, Universum der Mythen

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Lucien Leitess: Vor seinen Büchern werden wir wieder zu Kindern

Über Cornelius Bischoff

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1

Hasan vorweg, hinter ihm Ümmühan näherten sich still und zögernd dem Eichenwald. Hasan mit gekrümmtem Rücken, vornübergebeugt, hatte die Hände über Kreuz in seinen Kragen gekrallt. Ümmühan starrte dauernd auf ihre Fußspitzen. Beide sprachen kein Wort. Sie waren ängstlich. Schon ein aufgescheuchter Vogel hätte ihnen den Schrecken in die Glieder gejagt. Ihre Augen waren zu Schlitzen verengt, sie waren auf der Hut.

Überall lag hoher Schnee. Er hatte Senken und Hügel eingeebnet, die Welt war ein einziges Weiß. Auf diesem Weiß nicht der kleinste Fleck, nicht die Spur eines Vogels, nicht einmal einer Fliege. Auch der Himmel war schneeweiß. Nur in der Ferne, im Süden, über den Wäldern des Taurus, leuchtete ein Blau, das in warmes Grün überging, wie ein schmaler, kristallener Schleier, den man über die unendliche weiße Weite gelegt hatte. Und da sind noch Hasan und Ümmühan. Beobachtete sie jemand aus der Ferne, würde er sie für zwei junge Schwalben halten, die, aus dem Nest gefallen, flügelschlagend durch den Schnee purzeln. Und auf diese weiße Welt scheint zu allem Überfluss die Sonne so hell, wie sie nur in der Çukurova-Ebene scheint, die Schneedecke glitzert so grell, dass man die Augen nicht offen halten kann.

Der verharschte Schnee knirscht unter ihren Schritten. Ümmühans Füße sind nackt, und Hasans Füße sind nackt. Sie sind rot vor Kälte. Den Kindern ist, als gingen sie auf glühendem Eisen. Daher ihre eigenartigen Verrenkungen. Und zum Eichenhain ist es noch weit.

Hasan drehte sich um: »Sieh mich an, Mädchen!«, sagte er grob.

»Was ist?«, fragte Ümmühan mit sehr weicher Stimme.

»Sowie wir im Wald an gekommen sind …« Dann schwieg Hasan. »Sowie wir im Wald angekommen sind?«, fragte Ümmühan.

»Ich werde es nicht sagen, habe es mir anders überlegt. Sowie wir im Wald sind … Das ist alles.«

»Dann sags eben nicht«, antwortete Ümmühan gleichgültig. »Was wird schon sein, wenn du es sagst?«

»Ein Dreck wird sein«, giftete Hasan. Ümmühan spürte, dass Hasan ernstlich Streit suchte, und schwieg.

»Ich sagte dir, dass ein Dreck sein wird. Hast du mich nicht verstanden?«

»Ich habs verstanden, Bruder. Dann sagst dus eben nicht, ich kanns nicht ändern.«

»Ich sage es nicht!«, schrie Hasan noch zänkischer. Dann neigte er sich wieder vornüber und ging noch schneller weiter. Ümmühan gab sich alle Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Doch bald wurde ihr Atem so schwer, dass sie fast zusammengebrochen und, wo sie gerade war, liegen geblieben wäre. Die Kräfte verließen sie, und sie fiel immer weiter zurück. Hasan aber änderte seine Gangart nicht im Geringsten und vergrößerte zusehends den Abstand. Und Ümmühan brachte es nicht über sich zu sagen: »Hasan, geh ein bisschen langsamer, ich kann dir nicht nach.« Sie wusste, was auf sie zukam, wenn sie Hasan aus den Augen verlieren würde. Ümmühan begann, hinter ihm herzulaufen. Sie holte etwas auf, doch dann fiel sie ermattet wieder zurück.

Nachts knirscht er mit den Zähnen, schreckt aus dem Schlaf hoch und schreit. Dann macht er den ganzen Tag den Mund nicht auf und verzieht mürrisch das Gesicht. Der Junge hat sich zu seinem Nachteil verändert. Kinder, die immer grübeln, nehmen ein schlimmes Ende. Sie werden von der Schwindsucht dahingerafft. Wenn ein Junge nichts anderes tut, als von morgens bis abends zu denken, ist er verloren. Früher trällerte Hasan ununterbrochen Lieder vor sich hin. Jetzt singt er überhaupt nicht mehr. Hasan ähnelt einem verdorrten Baum.

»Hasan, lieber Bruder, ich tu alles, was du willst, nun bleib doch ein bisschen stehen«, rief Ümmühan ängstlich hinter ihm her, aber so verhalten, dass Hasan sie nicht hörte. »Oh, mein armer Bruder, er löst sich auf und verschwindet.«

Nach einer Weile drehte Hasan sich um und schaute zurück. Ümmühan war nicht zu sehen. Sie wird in einer Senke sein, dachte er. Er biss die Zähne zusammen und wartete. Die Sonne begann zu sengen, und die Wärme kroch den Hals hinunter über seinen Rücken, wie eine Liebkosung. Hasan blinzelte und legte seine Hand schützend über die Augen. In der unendlichen Weite des Schnees war nicht der kleinste Fleck zu sehen.

»Ümmühan! Ümmühan!«, brüllte er. Seine Stimme hallte von den fernen Felswänden wider. »Wo steckst du, Ümmühan!«

Ümmühans dünne Stimme klang verloren in der weißen Schneewüste: »Ich komme!«

Hasan ging zurück in ihre Richtung. Als er einen Hügel erklommen hatte, verharrte er. Unter ihm, wie ein schwarzer Käfer, krabbelte Ümmühan den Weg entlang. »Komm schon, beeil dich, der Schnee soll dich holen.«

Ümmühan war schweißgebadet. Sie bot alle Kraft auf, die sie noch hatte. Ihr Atem ging schwer, als sie endlich bei ihm war.

»Was ist mit dir, Mädchen?«

»Ich kriege keine Luft mehr«, keuchte Ümmühan.

Hasan drehte sich um und ging so schnell wie vorhin weiter. »Bleib doch ein bisschen stehen, Bruder, mir bleibt der Atem weg!«

Hasan hielt an und wartete. Wie der leibhaftige Zorn stand er da im Schnee, und sein Schatten reichte nicht weiter als seine Fußspitze.

»Hätt ich das gewusst, ich hätte dich nicht mitgenommen«, sagte er, als sie endlich neben ihm stand. »Gehst du mit ’ner Hündin aus, steht das Unglück dir ins Haus.« Diese Worte sprach er mit tiefer Stimme. Dabei legte er bedächtig wie ein Erwachsener die Hand an sein Kinn, sodass er aussah wie der alte Zwerg aus dem Märchen: eine Handbreit groß mit einem sieben Handbreit langen Bart.

Dieses Gehabe hat Ümmühan schon immer gestört. Zum Verrücktwerden! Jedes Mal, wenn er sich als Erwachsener aufspielt, könnte sie vor Wut platzen. So tun als ob! Sonst ist er in Ordnung, aber das ist nicht zu ertragen. Sollte sie einen Streit anfangen? Was zu viel ist, ist zu viel! Ja, sie verspürte unbändige Lust, einen handfesten Streit vom Zaune zu brechen, aber dann würde er nie und nimmer erzählen, was er ihr nachher im Wald anvertrauen wollte … Oder sich umdrehen und einfach weggehen! Rotznäsiger, dreckiger Junge! Pisser! … Ja, er pisst noch ins Bett. Und sein Bett stinkt. Es lag ihr auf der Zunge: Pisser! Und dann die große Keilerei …

Hasan steht kerzengerade da, möchte vor Wut aufstampfen und fährt mit dem Daumen über die Schneide der Axt in seiner Hand. Er wusste, das macht Ümmühan rasend.

Und wieder gebärdete er sich wie ein Erwachsener. Bedächtig wie der Kahle Barde griff er sich ans Kinn und sagte: »Sei Ehrlosen und Dreisten kein Weggefährte, so teilst du auch nicht ihr Los.« Er hatte es so betont, dass – da war er sich sicher – Ümmühan den Streit beginnen würde, koste es, was es wolle. Doch eigenartig, von Ümmühan kam kein Mucks. Oder sie tat nur so, als habe sie keine Wut. Sie kann schon ein Aas sein, und was für eins!

»Gehe deinen Weg allein, hab mit Zänkern nichts gemein!«

Was denn? Wie kann diese Wildkatze so viele Beleidigungen ertragen? Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte sie das nicht geschluckt.

»Sind keine Männer und lügen sehr, tragen nur Röcke und denken nicht mehr.«

Das trifft sie tödlich, macht sie rasend … Er wartet ab, blickt ihr höhnisch in die Augen. Doch Ümmühan sagte wieder nichts. Ein Seufzer war alles.

»Huren haben keinen Glauben, können auch auf Gott nicht bauen.«

Und das? Sollte das auch nicht gewirkt haben?

Hasan sah, wie sich Ümmühans Augen mit Tränen füllten. Plötzlich tat ihm das Mädchen leid. Er bereute alles, was er gesagt hatte, ging zu ihr und ergriff ihre Hand. »Du bist doch meine schöne, liebe Schwester«, sagte er. »Diese Sprüche habe ich nicht zu dir gesagt … Damit habe ich dich doch nicht gemeint. Ich dacht mir, mal sehen, ob sie merkt, dass ich sie nicht gemeint habe. Deswegen habe ich das alles gesagt.«

Ümmühan freute sich: »Ich habe wohl gemerkt, dass du mich nicht gemeint hast. Kann ein Mensch seine Schwester Hure nennen?«

Hasans Mitleid schlug augenblicklich in Wut um. »Wenn jemand eine Schwester hat wie dich, nennt er sie auch Hure, oder schlimmer noch«, murmelte er in sich hinein. Plötzlich drehte er sich um: »Reicht es immer noch nicht? Du hast jetzt genug Luft geholt.« Dann ging er mit schnellen Schritten weiter. Ümmühan konnte wieder durchatmen. Außerdem brannte der Schnee unter ihren Füßen. Sie lief wieder hinter ihm her.

Sie waren schon geraume Zeit gegangen, als Hasan sich umschaute. Er war zornig. Seine ganze Wut würde er Ümmühan ins Gesicht kotzen. Lass sie nur etwas dichter herankommen. Diesmal wird es ihr bis zum Halse stehen. Die wird was erleben.

Ümmühan kam näher. Sie wusste, was ihr blühte. Ängstlich verlangsamte sie ihre Schritte. Und Hasan sah aus wie ein Habicht, bereit, sich auf seine Beute zu stürzen.

»Ümmühan!« Seine Stimme klang wie ein Messer. Doch dann stutze er. Sein Blick blieb auf Ümmühans Füßen haften. Sie zitterten und zuckten unter der Kruste von gefrorenem Schlamm und sahen aus wie der zerfurchte Rücken einer Eidechse. Außerdem waren sie feuerrot angelaufen.

Hasan wurde friedlich: »Los, geh schon, Mädchen. Wenn wir erst im Wald sind …« Seine Stimme war wie eine warme Hand, die zärtlich ihren ganzen Körper streichelte. Doch Ümmühan schaute ihn nicht einmal an. Und das brachte ihn wieder in Wut: »Wenn wir erst im Wald sind …« Genüsslich leckte er seine Lippen. »Wenn wir im Wald sind … Wenn wir dort ankommen … Das Erste, was ich tun werde …«

Ümmühan hatte es jetzt wirklich satt. Sie war kurz davor, in die Luft zu gehen; aber dann fiel ihr ein, wie niedergeschlagen er in den letzten Tagen war. Sie ging nicht auf ihn ein und schwieg. Hasan ließ nicht locker: »Wenn wir erst im Wald sind …«

Und wieder stieg die Wut in ihr hoch. Jetzt wird er es sagen, dachte sie. Er platzt, wenn er es nicht sagt.

Hasan machte einige Schritte und blieb dicht vor Ümmühan stehen: »Wenn wir erst im Wald sind …«

»Ich pfeif drauf!« Verschmitzt lächelte sie ihn an.

Und Hasan platzte vor Wut. »Du wirst sowieso eine Hure, wenn du groß bist.«

Da geschah etwas, was Hasan niemals erwartet hätte: Ümmühan baute sich vor ihm auf: »Wenn ich groß bin, werde ich eine Hure. Und was für eine … Eine Hure …Wie schön!«

Hasan traute seinen Ohren nicht. Zuerst war er ganz durcheinander. Dann wurde er wütend, und er war versucht, sie zu verhauen. Aber das würde sie dem Vater erzählen. Und mit dem war dieser Tage nicht zu spaßen. Besser, man hielt ihn sich vom Leibe. Er war grimmig und verschlossen, presste immer die Lippen aufeinander und machte ums Verrecken den Mund nicht auf.

»Mädchen«, sagte Hasan, »ich sollte dich unter meine Füße nehmen. Sei froh, dass wir bald im Wald sind. Und dann …« Er leckte seine Lippen.

Ümmühan platzte vor Neugier. Sie ergriff die Hand ihres Bruders. »Nun sag schon, Hasan, ich bitte dich, was geschieht, wenn wir im Wald sind?« Hasan schnalzte noch einmal mit den Lippen und lief auf den Wald zu.

»So, und ich komme nicht mit!«, rief sie hinter ihm her. »Entweder du wartest, oder ich kehre auf der Stelle um. Wenn du noch einen einzigen Schritt machst …!« Sie drehte sich um und ging den Weg zurück.

Hasan sah, wie Ümmühan davonstapfte. Allein in den Wald zu gehen und dort eine Weile bleiben, davor hatte er Angst. »Nun komm schon!«, rief er. »Los, komm!«

»Ich komme nicht. Ich gehe jetzt zu meinem Vater und erzähle ihm alles. Punkt für Punkt.«

»Geh bis zum Grund der Hölle! Mein Vater hat sowieso schlechte Laune. Und wenn du petzt, werde ich dich mit diesem Beil hier schlachten. Meine Mutter soll mein Weib sein, wenn ich es nicht tue. Komm sofort her!«

»Ich komme nicht!«

»Also gut, du hast es so gewollt. Wehe dir, wenn ich zu dir komme.«

»Ich komme nur, wenn du mir verrätst, was du im Wald vorhast.«

»Also gut, komm her, ich werde dir auch das erzählen.«

»Los, sag es!«, erwiderte Ümmühan und ging zu ihm.

Über ihnen, hingestreut wie pechschwarze Tupfer in der unendlichen weißen Öde, flog ein Schwarm Vögel dahin.

Hasans Herz krampfte sich zusammen. Er spürte da drinnen eine Beklemmung, die unbeschreiblich war. Nicht einmal die zusammengekniffenen Augen konnte er öffnen, um ein bisschen weiter zu sehen; wenigstens fünf Schritte. Wie einem Menschen, der an einem Sommertag in der Ebene aus dem Schlaf erwacht und dem plötzlich das Sonnenlicht in die Augen und über den ganzen Körper strömt, dass er sich unter der Last der gleißenden Sonne nicht rührt, am Boden liegen bleibt und sich weder aufrichten noch seine Augen öffnen kann … so erging es jetzt Hasan. Nur lag er nicht am Boden, hatte er die Augen auch nicht geschlossen; er hatte sie zusammengekniffen und stapfte voran, obwohl er nicht weiter als zwei Schritte sehen konnte. Nur manchmal, wenn er einen Augenblick verschnaufte, öffnete er kurz seine Augen, dann strömte das Sonnenlicht herein, dass er wie betäubt schlaftrunken taumelte und erschrocken weiterging.

Einen dieser blauen, schillernden Vögel … Na, die wie Schlangen Löcher in die Böschungen der Gewässer graben, tief in die Erde hinein, und dort, ganz unten, ihre Nester bauen. Und am Eingang ihres Stollens wächst immer eine Blume. Ein Gänseblümchen, eine Mohnblume, ein Bachnelkenwurz oder ein Oleander. Diese Vögel können einfach nicht ohne Blumen. Und einen von diesen Vögeln müsste man haben. Aber er lässt sich nicht fangen, dieser gottverdammte blaue Vogel. Allenfalls Halil der Alte, und nur er, wäre dazu fähig. Aber Halil ist in letzter Zeit sehr alt geworden. Sein Herd soll verlöschen und er zu Asche verbrennen, der Kerl! Als er in der Çukurova mitten in der Baumwollernte verschwand, dachte jeder, er wäre umgekommen. Und sein Sohn lässt auch noch für den Verstorbenen den Koran lesen. Nicht so Meryemce: »Der stirbt nicht«, behauptet sie stur, »der schlägt uns alle um Längen. Der und sterben? Niemals!«

Also Halil der Alte würde alles daransetzen und diesen schillernden, unterirdischen Vogel fangen. Der hat einen schwarzen, glänzenden, riesenlangen Schnabel. Und Halil heftet den Kopf dieses Vogels Kindern als Talisman an die Schultern. Wer so ein Amulett trägt, dem kann der böse Blick nichts, rein gar nichts anhaben. Der böse Zauber kann nicht einmal in seine Nähe kommen.

Hasan erinnert sich, auch an seiner Schulter hing zwischen einer blauen Perle und dem Knochen eines Schlangenschädels ein Vogelkopf mit einem langen Schnabel. Den hatte Halil der Alte der Meryemce geschenkt.

»Aber Meryemce!«, antworten die Dörfler. »Dein Herd möge verlöschen, er ist doch ein Mensch, also stirbt er.«

Aber das ficht doch eine Meryemce nicht an: »Man nannte ihn Halil den Alten. Er ist aus dem Geschlecht der Dämonen. Und der soll gestorben sein? Ein gottloser, ungläubiger, hartherziger, elender Kerl; ein Verdammter, den zu töten nach allen vier heiligen Büchern Pflicht ist. Der stirbt nicht, Nachbarn, der nicht.«

Einem Kind, dem der Kopf dieses Vogels an die Schulter geheftet wird, lacht das Glück. Es wird niemals Not leiden. So lautet ein weiser Spruch unserer Ahnen.

Die Ahnen … In der Höhle von Salincak fanden Kinder im vorigen Jahr einen Totenkopf. Er hatte keine Augen, keine Ohren, keine Haare. Aber wie schön waren doch seine Zähne. Quicklebendig. Als lächelte er. »Unsere Ahnen«, sagte eines der Kinder, »unsere toten Ahnen.«

Hasan schauderte. Er dachte über den Tod nach und sagte sich: Mein Kopf wird eines Tages aussehen wie dieser da, und er verspürte plötzlich eine schreckliche Leere und Hilflosigkeit. Aber dann fiel ihm ein, dass er ja ein Kind war und der Tod noch in weiter Ferne. Er würde zuerst ein Jüngling, dann ein Erwachsener und schließlich so alt wie Halil werden. Erst danach würde er sterben. Dieser Gedanke gab seinem Herzen ein wenig Trost, aber traurig blieb er trotzdem. Den Totenschädel konnte er lange Zeit nicht vergessen.

Dann entdeckte er doch noch einen Ausweg aus seiner Hoffnungslosigkeit. Was geschieht denn mit dem Menschen, wenn er stirbt? Sie begraben ihn, sein Körper zerfällt und wird von Würmern zerfressen. In seinen Augen wimmeln sie und fressen ihn auf, bis auf die Knochen. Dann kommt der Jüngste Tag, der Weltuntergang. Wie? Von den Sternen wird ein Sturmwind heranbrausen. Ein eisiger Orkan. Auf der Erde gibt es keine Menschen mehr. Alles ist verödet und leer. Der Sturm wird die Berge abtragen und die Flüsse zuschütten, dass du vom Osten aus, wo der Tag beginnt, ein Ei sehen könntest, das so weit im Westen liegt, wo der Tag sich neigt. Dann werden die Menschen wie die grünen Pilze daumenhoch aus der Erde schießen. Daumenhoch! Die Waage der Gerechtigkeit wird aufgestellt, und die Menschen, die schuldig sind, werden in die Hölle fahren und die ohne Schuld in den Himmel.

Hasan überlegt jetzt, wie die Menschen aus der Erde sprießen, und zerbricht sich den Kopf über Himmel und Hölle. Oft stellt er Meryemce Fragen über Fragen, wie man in den Himmel kommt. Und sie erzählt mit Liebe und Leidenschaft vom Paradies und von der Hölle.

Wie kann man nur für diesen Gottlosen den Koran lesen? Für diesen Heiden die Totenandacht halten? Einem nach allen vier Büchern Verdammten!

Ali der Lange legt seine Hand auf ihren Mund. »Beruhige dich, Mutter, bitte! Spricht man so über einen Verstorbenen? Tot ist tot, Mutter. Ein Verstorbener hat mit dieser Welt nichts mehr zu schaffen. Versündige dich nicht. Wie schlecht ein Verstorbener auch gewesen sein mag, er hat alles Böse hinter sich gelassen und ist davongegangen.«

»Halil der Alte stirbt nicht!«

Auf dem öden, versteppten Baumwollfeld ließ Halil des Alten Sohn die Andacht halten. Alle Dörfler gingen hin. Das Totengebet trug der Kahle Barde vor wie eines seiner Lieder. Der wehmütige Klang seiner Stimme brachte die Frauen zum Weinen. Vom ganzen Dorf war nur eine nicht gekommen: Meryemce. Sie hatte sich von den andern getrennt und sich jenseits des Feldes mit untergeschlagenen Beinen auf die warme Erde der Çukurova -Ebene gesetzt.

»Meine Ohren«, grollte sie, »meine Ohren sollen diese schöne Totenklage nicht hören, die für diesen nach allen vier heiligen Büchern todeswürdigen Abtrünnigen gesprochen wird. Wenn unser lieber Vater, der heilige Mohammed, hört, dass diese schöne Andacht für Halil den Alten gehalten wird, kommt er her. Er verlässt sein Grab, kommt hierher und nimmt ihnen das Totenlied von den Lippen … Nimmt es und geht.« Dann stand sie auf und ging ein Stück weiter. Aber die Stimme des Kahlen Barden verfolgte sie. Meryemce presste sich die Finger in die Ohren, dass es blutete. Sie schloss die Augen und lief stolpernd über das flache Land. Aber anstatt leiser zu werden, wurde die Stimme lauter, kam immer näher, anstatt sich zu entfernen.

Meryemce blieb stehen und warf sich zu Boden. »Mein Gott!«, stöhnte sie. »Allmächtiger Gott, rette mich! Hilf mir, und ich opfere dir einen prächtigen Hahn. Einem Ungläubigen werden in der Totenandacht die schönen Verse gesungen, die deinem Diener, deinem Botschafter, deinem Mohammed gewidmet sind. Halte doch die Zunge im Munde des Kahlen Barden fest. Reicht deine Kraft denn nicht für die Zunge des Kahlen, mein schöner Gott?«

Sie drückte einige Male ihren Kopf auf die Erde. Als sie sich aufrichtet, ist ihre schweißnasse Stirn staubverschmiert. »Mutter Erde, der Kahle Barde begeht eine große Sünde. Verwandle doch seine Zunge zu Holz. Er tut unserem schönen Gott Schlimmes an. Auch meinem Weißbärtigen Propheten mit dem lichten Antlitz. Sehr, sehr Schlimmes. Wie kannst du, Mutter Erde, diesen Dingen Obdach sein? Mutter Erde du, die jedes Wesen gewähren lässt, diesem widersetze dich. Bitte! Ich weiß, dein sind die guten wie auch die bösen Kinder. Wenn auch die Finger einer Hand alle verschieden sind, für dich sind sie alle gleich, ob sie kurz oder lang …«

Die Stimme kommt näher, immer näher … Meryemce steht auf. Die Finger in den Ohren, läuft sie weiter. Als sie das große Dickicht bei Karabucak erreicht, lässt sie die Hände fallen. Noch immer hört sie die Stimme, aber sie ist nicht mehr so laut. Wenn sie erst einmal durch das Gestrüpp hindurch ist und in die Senke hineinläuft … Da kommt die Stimme nicht hinunter. Ein Hoffnungsschimmer tut sich auf.

Sie steckt ihre Finger wieder in die Ohren. Ihr wird schwarz vor Augen, und in ihrem Kopf dröhnt es. Sie umgeht das Gestrüpp. Als sie unten in der Senke ist, zieht sie die Finger wieder heraus. Als hellte sich nach dunklem Regen der Tag wieder auf und erfüllte die Welt mit Licht, mit taufrischem Licht – genauso war es. Die Stimme schwieg.

Doch plötzlich kam ihr die Welt leer und verlassen vor. Wäre doch des Kahlen Barden Stimme nie verstummt. Ja, wenn man diese Andacht nicht für Halil den Alten hielte, diesen Ungläubigen, nach allen vier heiligen Büchern Verdammten, sondern für einen anderen Diener Gottes, dann hätte sie nach Herzenslust zugehört. Wie im Leben, ließ Halil sie auch im Tode nicht los. Meryemce bekam Mitleid mit sich selbst. Ihr Kopf dröhnte, sie kauerte sich auf die Erde. Diese Leere, diese Öde mochte sie gar nicht. Und nur deswegen fürchtete sie den Tod.

Ihr war, als höre sie eine dünne Stimme, wehmütig, wie leises Rufen, und das Geraune einer großen Menschenmenge. Diesmal verschloss sie ihre Ohren nicht. Sie stand auf und klatschte in die Hände. Dann schnippte sie mit den Fingern und schwang dabei die Hüften im Takt. Sie schaute um sich. Sollen sie doch sehen, dass ich heiter bin, murmelte sie. Sollen sie es doch ganz genau sehen. Schließlich hält man für einen Ungläubigen ja auch keine Totenfeier.

Gegen Mittag kehrte sie zurück ins Nomadenzelt. Unterwegs traf sie den Kahlen Barden. Der versuchte sie zu necken. Da warf sie ihm einen Blick zu, und er bereute tausendmal, dass er den Mund aufgemacht hatte.

Sie bahnte sich einen Weg durch die Menge. Mittendrin richtete sie sich kerzengerade auf und blieb dort stehen wie der leibhaftige Zorn. Ihre Halsadern schwollen. Die Dörfler, gespannt, was Meryemce wohl vorhatte, sahen sie erwartungsvoll an. Sie hob die rechte Hand wie zum Schlag. Doch als sie das Wort ergreifen wollte, zitterten ihre Beine, und sie ging in die Knie. Mit der Rechten trommelte sie auf die Erde: »Du meine schöne, leuchtende schwarze Erde, unser einzig Hab und Gut; an niemanden hier richte ich das Wort, sondern spreche nur zu dir. Es ist dringend geboten, diesen Menschen nicht ins Gesicht zu sehen, nicht einmal mit ihren Pferden und Hunden zu sprechen, geschweige ihre Kinder zu grüßen. Ich spreche zu dir, meine schöne Erde, meine kluge Erde, Vater und Mutter in eins: Diese Bauern sind alle vom Glauben abgefallen. Sie sind so abtrünnig, dass sie sich hier versammelt haben, um für einen nach allen vier Büchern todeswürdigen Gottlosen die Totenklage zu halten. Und damit wecken sie den Unmut dessen, der schön ist, wie auch sein Name: Seine Heiligkeit, unser Mohammed Efendi. Um keinen Preis würde ich bei diesen Dörflern bleiben, beugte nicht das Alter meinen Rücken. Hielte es mich sonst in diesem Dorf der Gottlosen? Ich spreche zu dir, meine Erde, meine Gebieterin, und an niemanden in diesem großen Dorf werde ich jemals wieder das Wort richten. Nie wieder, bis zu meinem Tode, werde ich jemandem aus diesem Dorfe gegenüber, und sei es auch nur eine Ameise, mein Schweigen brechen. Darum spreche ich zu dir, denn du sollst es hören: Halil der Alte ist nicht tot. Und sollte er sterben, gebührt diesem Ungläubigen keine Totenklage. Hast du es vernommen, Erde, mein Falke?«

Ali kam gelaufen und verschloss seiner Mutter den Mund. Meryemce kreischte auf.

»Diese Meryemce schäumt ja richtig vor Wut«, sagten die Bauern, »sie beschimpft das ganze Dorf.«

»Tollwut im Alter ist besonders schlimm. Auch früher …«

»Auch früher schon war sie jähzornig, aber jetzt ist es noch schlimmer geworden.«

Meryemce hat seitdem nie wieder mit einem der Dorfbewohner gesprochen, und sei es auch nur mit einer Ameise …

Wie stellt man es nur an, diesen schillernden Vogel zu fangen? Heftest du ihn an einen Baum, trägt dieser doppelte Frucht, wirfst du den Vogel auf ein Feld, beschert es dir fünfzehnfachen Erntesegen … Wenn die Agas in der Çukurova wüssten, dass es diesen Vogel gibt …

»Sobald wir im Wald sind …«

Ümmühan lächelte spöttisch. »Ja, ja, sobald wir im Wald sind.«

»Sag ich doch, sobald wir im Wald sind.« Hasan biss die Zähne zusammen.

Die Kinder begannen zu laufen. Weit hinter ihnen stieg aus allen Schornsteinen im eingeschneiten Dorf dünner Rauch in den leuchtend blauen Himmel und zog gemächlich schlängelnd gegen Osten.

Die felsigen Hänge über dem Wald reckten sich weit hinauf in den Taurus. Man musste ein Stückchen klettern, um die Grotten zu erreichen. Und dort, hinter den Felswänden, lag der Palast des Elfenkönigs. Es heißt, dahinter türmten sich zuerst noch viel mächtigere Felsen auf, aber noch niemand war dort hinaufgestiegen und hatte sie gesehen. Sogar die Räuber fürchteten sich, über diese Steilhänge hinwegzuklettern.

Eines Nachts war Halil der Alte vom Weg abgekommen und hatte sich hinter die Felsen verirrt … Und was erblickt er? Zur einen Seite zweitausend Sitarspieler und zweitausend mit Schalmeien zur anderen … und noch viele verschiedene Instrumente. Mädchen tanzen, und alles ist in Licht getaucht. Felsen, Gräser, Bäume, Himmel und Erde in hellem Schein. Hunderttausende Menschen drehen sich lichtumflutet in tausend verschiedenen Farben. Als sie Halil erblicken, entsteht ein Tumult. Ein hoch gewachsenes Mädchen geht zu ihm und bleibt vor ihm stehen. Ihr Lächeln, ihre Zähne, ihre Fingernägel und ihre Augen leuchten hell.

»Warum bist du hergekommen, Menschensohn?«, fragt das Mädchen.

»Ich habe mich verirrt«, stottert Halil.

»Wärst du kein Dieb, nähmen wir dich in unsere Mitte. Denn du bist sonst ein braver, aufrichtiger Mann, jedoch … Du bist ein Dieb.«

Halil der Alte will antworten, öffnet den Mund, bringt aber kein Wort über seine Lippen.

»Ich könnte dich mit einem Bann belegen, dir Arme und Beine in Stückchen brechen, Halil, aber mich dauert deine Jugend und dein Mut«, sagt das Mädchen. »Und jetzt schließe die Augen!«

Halil tat, wie ihm geheißen. Er weiß noch, dass er plötzlich hoch durch die Lüfte flog. An mehr kann er sich nicht erinnern.

»Öffne die Augen!«, hörte er da die Elfe sagen, und siehe da, er war mitten im Dorf. Für einen Augenblick standen alle Häuser in hellem Licht, als wäre ein Blitz niedergegangen. Er konnte alles ganz deutlich sehen. Nur das Mädchen, das ihn hergebracht hatte, war verschwunden …

Hasan sammelte sofort Zweige und Äste. Unter einem Vorsprung, der wie ein Dach hervorragte und sich am Fuße des Felsens zu einer Höhle verengte, lag kein Schnee. Der Boden war dort mit Erde und Geröll bedeckt. Hasan brach die Zweige in kleine Stücke und schichtete sie übereinander. Seit sie die Höhle betreten hatten, zitterte Ümmühan. Ob die Kälteschauer aufhörten, wenn sie in den Schnee und in die Sonne zurückginge?

Hasan presste den Reisighaufen noch einmal zusammen und zündete ein Streichholz an. Die Schachtel war nagelneu und bis an den Rand gefüllt. Woher hatte Hasan die Zündhölzer? Ümmühan wurde neugierig, wagte aber nicht zu fragen. Sie versuchte es mit einer List: »Du wolltest mir im Wald sagen, wo du die Streichhölzer gefunden hast, nicht wahr?«

»Nein!«, schrie Hasan wütend. »Aber wenn du so neugierig bist, will ich es dir sagen: Ich habe diese Streichhölzer nicht gestohlen. Ich habe sie im Schweiße meiner Stirn verdient. Und jetzt kannst du hingehen und es meinem Vater erzählen. Erzähls auch gleich meiner Mutter, damit sie mir meine Streichhölzer wegnimmt. Und dann hacke ich dir mit diesem Beil deinen verlausten Kopf ab.«

Ümmühan lachte: »Ich weiß, wo du die Streichhölzer gefunden hast.«

Hasan sprang auf: »Nun sags schon!«, schrie er. »Aber wenn es nicht stimmt, werde ich dich richtig schön verprügeln. Und zwar hier, auf der Stelle.«

Wie der Blitz schoss Ümmühan ein Gedanke durch den Kopf. »Hast du sie nicht gegen die Kirschblütenzweige eingetauscht?« Das hatte Hasan nicht erwartet. Oh, dieses Luder! Ein schlaues Mädchen, diese Ümmühan.

Lange Zeit herrschte Stille. Hasan zündete ein neues Streichholz und hielt es an das Reisig. Es fing sofort Feuer, und eine wohlige Wärme breitete sich aus.

»Wie du zitterst, meine arme Ümmühan.« Hasan beugte sich vor und ergriff ihre Hand. »Komm, setz dich hierher und wärme dich«, sagte er, und seine Stimme klang zärtlich. Ümmühan hockte sich hin, Hasan ging zu ihr und setzte sich daneben. Ihre Schultern berührten sich.

Auf der Felswand waren grüne Flecken, die nach unten immer breiter wurden. Am Boden lagen zwei weiße Federn dicht beieinander, und im Staub zeichneten sich viele Spuren ab. Hasan betrachtete sie eine Weile. Rebhühner … Erkennt man sofort. Kein Vogel dieser Größe hinterlässt solche Spuren. Das Rebhuhn hat einen gewichtigen Gang, und die Abdrücke sind tief; wie gestempelt. Adlerspuren sind groß wie Handteller. Fährten vom Schakal, vom Fuchs und vom Hasen … Der hinterlässt eine Spur, als wäre Baumwolle in den Staub gefallen.

Hasan hob den Kopf: »Weißt du, Ümmühan … Aber zuerst musst du schwören. Schwöre, dass du es niemandem sagen wirst, los!«

»Bei Gott, ich werde es niemandem sagen.«

»Wiederhole: Meine Mutter soll sterben, wenn ich es sage.«

Erschrocken zauderte Ümmühan einen Augenblick. Sie überlegte. »Meine Mutter soll sterben, wenn ich es jemandem sage!«

Hasan gab sich zufrieden. Sein Gesicht hellte sich auf, er freute sich. »Siehst du diese Zündhölzer? Davon habe ich noch neun Schachteln. Ich habe sie für die Kirschblütenzweige bekommen. Sie werden nie alle. Zehn Jahre, nein fünfzehn Jahre lang kann ich Feuer machen, wohin ich auch gehe, und sie werden immer noch nicht aufgebraucht sein.« Auch Ümmühan freute sich. »Sie werden nie alle. Sie reichen für zehn Jahre und auch für zwanzig.« In ihrer Stimme lag ein Hauch unterwürfiger Bewunderung. Hasan merkte es und fühlte sich geschmeichelt.

»Und wenn der Frühling kommt, und in den Sommermonaten … Sieh her!« Hasan zog eine Schleuder aus der Hosentasche. »Die habe ich auch noch bekommen. Damit werde ich dann Vögel schießen. Viele Vögel!«

»Ja, dann wirst du viele Vögel schießen. Sehr viele«, bestätigte Ümmühan. »Wir werden mit diesen Zündhölzern ein Feuer machen.«

»Ich werde die Vögel rupfen, salzen und braten.«

»Und dann setzen wir uns gemütlich hin und essen sie auf.«

Ihre Sehnsucht nach gebratenem Fleisch, fett, heiß und duftend, wurde immer größer. Ümmühan seufzte.

»Sowie der Frühling und die Sommermonate kommen, liebe, schöne Schwester.«

Die Liebe, die beide füreinander empfanden, wuchs und wuchs. Ümmühans Furcht war verflogen, und Hasans Zorn hatte sich gelegt. Doch Ümmühan ließ sich die Gunst der Stunde nicht entgehen: »Sobald wir in den Wald kommen … Wie war das noch, Hasan?«

Hasan legte seinen Zeigefinger auf die Lippen. »Pssst, schweig! Weißt du, ich habe so eine Angst … Dass er kommt. Ich sterbe vor Angst.«

Ümmühan sah ihn mit ihren großen schwarzen Augen an. Sie versuchte in seinem Gesicht etwas zu ergründen, doch sie erblickte nichts als nackte Angst.

»Auch ich habe so eine Angst«, sagte sie, »ich habe riesengroße Angst.«

»Und mein armer Vater weiß auch nicht mehr, was er tun soll; sogar er …«, fuhr Hasan fort.

»Und Mutter auch«, ergänzte Ümmühan.

»Nur Großmutter Meryemce fürchtet sich vor nichts, vor rein gar nichts!«

»Nein, sie fürchtet sich nie«, bestätigte Ümmühan stolz.

»Sie spricht mit niemandem im Dorf«, sagte Hasan, »aber ich weiß, sie spricht heimlich mit dir, nicht wahr? Stimmt es etwa nicht?«

»Bei Gott, nein!«, antwortete Ümmühan. »Sie spricht nie mit mir. Aber sie liebt mich. Ich sehe es an ihren Blicken.«

»Das hat nichts zu sagen. Wenn sie nicht wütend ist, schaut sie jeden so an.«

Ängstlich besorgt, ihn wieder zu verärgern, sagte Ümmühan zögernd: »Mich schaut sie aber immer so lieb an.«

Doch Hasan war nicht nach Streit. Er fühlte sich so wohl. »Mag sein«, seufzte er, »mag sein, dass sie dich immer mit liebevollen Augen ansieht. Aber sie hat keine Angst. Es schert sie nicht im Geringsten, ob er kommt oder nicht.«

»Und mir ist, als drückten zwei Hände mein Herz zusammen, fester und fester«, klagte Ümmühan.

»Wärmen wir uns erst einmal. Am Nachmittag schlagen wir Holz. Dann sind wir bei Sonnenuntergang zu Hause.« In Hasans Stimme klang so viel Wärme, wie Ümmühan sie noch nie bemerkt hatte, es war für sie völlig ungewohnt.

»Ich habe Angst vor dem Dorf.« Ümmühan biss sich auf die Lippen. »Es ist so anders jetzt … Als wären die Wölfe von den Bergen heruntergekommen.«

Hasan wurde wieder wütend: »Habe ich dir nicht gesagt, dass weit und breit keine Wölfe sind? Du …«

»Aber nein, Hasan, so habe ich es doch nicht gemeint.« Ümmühan beeilte sich, ihn zu beschwichtigen, sie fürchtete um diese wohlige Eintracht zwischen ihnen.

Hasan drehte ihr den Rücken zu. Seine Füße waren ganz gelb. Sie waren rissig, und das Gelb war ruß verschmiert. Er hatte einen sehr langen Hals. Und ein Gesicht, als wärs nur Haut und sonst nichts, als wärs nur Haut und Knochen. Schorf bedeckte seine dünnen Lippen. Sie waren bläulich angelaufen. Seine Zähne waren weiß und glänzten, und er hatte große schwarze Augen. Eine dünne Narbe zog sich wie eine Ader von der linken Schläfe hinunter bis zum Hals. Die Haare, von der Mutter stufenförmig geschnitten, standen in Büscheln wie geschorenes Ziegenfell. Hasans Finger waren unglaublich lang und dünn. Genauso waren seine Füße.

Die beiden sahen sich sehr ähnlich. Ihre schlanken Körper, ihre Hände, ihre Augen. Aber Ümmühans Lippen waren voll und rot. Das Mädchen hatte ein bleiches gelblich-weißes Gesicht, traurig und müde. Nur die Lippen leuchteten purpurrot und waren voller Leben. Wie eine Blume im dürren Steppengras des Herbstes.

»Wenn der Tag sich neigt, sind wir zu Hause. Wie schön …«

»Ja, wie schön«, antwortete Hasan und fuhr mit der Zunge über seine Lippen.

»Wenn dieser Mann doch endlich käme und wir es hinter uns hätten«, sagte Ümmühan.

»Ja, wenn er doch käme und erledigte, was immer er sich vorgenommen hat, dann wären wir es los …« Hasan rückte so dicht ans Feuer, als wolle er hineinkriechen.

Sie saßen sich gegenüber. Von Zeit zu Zeit schossen aus der Glut, rot und glänzend wie Glas, kleine Flammen, züngelten gleißend über die Zweige und fielen wieder in sich zusammen. Doch sie loderten immer wieder auf, jedes Mal in anderer Gestalt. Gespannt schauten die Kinder zu.

Reisigfeuer ist schon etwas Besonderes. Wenn auch nicht mit einem Schlag, so brennt es doch sehr schnell herunter. Wenn du so ein Feuer haben willst, musst du schon sehr viel Reisig bereithalten und immer wieder eine Handvoll davon ins Feuer werfen, sowie es zu verlöschen droht.

Die Flamme ähnelt der langen, gewellten Locke einer Fee. Plötzlich verändert sie sich, wickelt sich um sich selbst, legt sich auf die Asche nieder, und weg ist sie. Ein Rudel Wölfe … Das Leittier hat die Ohren gespitzt; es hält die Vorderläufe gestreckt und äugt mit hochgerecktem Kopf in die Weite. Hinter ihm ein zweiter Wolf mit gekrümmtem Rücken, die Schnauze schnüffelnd am Boden, und dann das Rudel ruhender, aufspringender, laufender, gegeneinander kämpfender Wölfe. Wie in einer Feldschlacht. Hoppla! Der Leitwolf ist verschwunden … Wo ist er hin? Eben noch hat er sich hinuntergebeugt. Da! Er fällt, springt wieder auf, spitzt die Lauscher, jagt in die Grotte, reckt sich nach den grünen Flecken an der Felswand, fährt mit der Zunge drüber hinweg, dann löst ihn ein leichter Windhauch auf; ein Windhauch wie leises Getuschel. Doch dann erhebt er sich wieder, der flammende Wolf, feuriger als zuvor, fährt unter das Rudel, einem kunterbunten Durcheinander von Wölfen … Ein Wald grünt aus der Glut, beginnt zu brennen, das Feuer frisst sich in Berge und Felsen, bis alles in Flammen steht.

Dann versinkt alles im Dunkel, wird von Rauch überzogen. Die flammenden Wölfe verschwinden, und wo eben noch der Wald brannte, streicht der Wind über die Öde.

Hasans Augen starren noch eine Weile in den Rauch, der aus dem niedergebrannten Feuer steigt. Es riecht gut. Feuchtes Reisig hat einen strengen Geruch, wenn es ins Feuer fällt. Er breitet sich sehr langsam aus, und wenn die Flammen verlöschen, riecht es nur noch nach Rauch. Ob Reisig von Kiefern, Eichen, Zedern, Mispelbäumen, Lärchen oder Disteln: Jeder Geruch ist anders. Hasan schob noch einen Armvoll Reisig in die Glut und legte zwei Distelstauden dazu. Rauch quoll auf. Die Schwaden zogen zu ihm herüber und brachten seine Augen zum Tränen. Ümmühan sah es, beugte sich vor und blies das Feuer an.

»Puste nicht!«, schrie Hasan mit erstickter Stimme.

»Ich dachte … Weil dir der Rauch in die Augen stieg. Lass mich noch zweimal Luft holen, und es brennt wieder.« Ümmühan war ganz verstört, doch dann packte sie die Wut: »Du machst mir vielleicht Spaß, Hasan! Nichts als Gebrüll. Was ist mit dir, he? Ich habe jetzt genug, Bruder.« Schmollend zog sie die Beine an und drehte sich zur Seite.

Die Zweige knisterten in der Glut, begannen zu rauchen und brannten plötzlich lichterloh. Eine schlanke Flamme züngelte steil empor, so hoch wie der Felsen. Eine Pappel! dachte Hasan. Aus einer leuchtenden Flamme wurde eine Pappel.

Er sprang auf und schaute über das Dorf hinweg ins endlose Land. Soweit das Auge reichte, dehnte sich weiß und glitzernd die Steppe in der hellen Sonne. Eine einzige Pappel, sehr hoch gewachsen, wiegte sich in der Leere der Ebene. Sie war in weiter Ferne, aber wenn es im Osten dämmerte, konnte man sie sehen. Im Morgenrot lag die eine Seite des Baumes immer in hellem Licht. Die Umrisse der Pappel verschwammen, je höher die Sonne stieg, bis sie dann im Dunst des gleißenden Mittags völlig verschwanden. Hasan gelang es nicht, durch den glitzernden, blendend weißen Schleier den Baum auszumachen.

Über der funkelnden Steppe schien feiner, bläulicher Rauch aufzusteigen. Wer wohl am anderen Ende dieser Welt inmitten einer unendlichen weißen Wüste noch ein Feuer angezündet hatte? Wald gab es dort auch nicht. Ob sich Elfen auch Feuer machen?

Die Flamme, die bis zur Spitze des Felsens emporgelodert war, fiel langsam in sich zusammen. Sie brach in der Mitte auseinander und flog davon, die Hälfte der Pappel verschwand, und jetzt breiteten sich die Flammen quirlend über das Reisig aus. Hunderttausend Ameisen … Je weiter sie auseinander laufen, desto glühender wird ihr kristallenes Rot. Und jeder Glitzer ist eine flammende Ameise. Wie viele es doch sind und wie sie wimmeln …

Er weiß nicht warum, aber die Ameisen ärgern ihn. Hasan wirft eine Handvoll Reisig ins Feuer und die Distelstauden hinterher …

Und plötzlich prescht ein riesiges Pferd mit verhängten Zügeln aus dem Feuer … Tief gebeugt über seinem Hals liegt der Reiter. »Ümmühan, sieh! Es galoppiert davon!«, schrie Hasan. Ümmühan schreckte hoch: »Oh, wie schön!«

Im Nu war das Pferd aus dem Feuer gesprungen und verschwunden. »Es ist fort«, seufzte Hasan. »Zum Teufel mit ihm, so eins habe ich noch nie gesehen. Mit einem Satz war es verschwunden. Kaum dass ich es sah, war es schon davongeflogen. Bei meiner Mutter, Mädchen, wie schön es doch war, ein Wunderschönes geflügeltes Pferd! Mit wehender Mähne. Und genau am Ende seines Schweifes riss die Flamme.«

»Schon wieder ein Flammenpferd?« Ümmühan lachte. »Wenn da eins war, warum habe ich es denn nicht gesehen?«

»Du kannst es nicht sehen«, sagte Hasan.

»Mach nur so weiter, und du verlierst noch den Verstand wie Ahmet der Umnachtete.«

»Dann werde ich eben wie er.« Hasan stieß mit dem Fuß das Geröll fort. »Was ist denn so schlimm an Ahmet dem Umnachteten?«

Ümmühan überlegte. »Aber er ist doch verrückt, nicht wahr?«

»Wer weiß, vielleicht ist er es«, antwortete Hasan, »aber mach dir keine Sorgen; wenn du dich nicht sperrst und wenn du genau hinschaust, kannst du auch sehen. Pferde, Vögel, Käfer, Berge, Steine, Menschen, Geister – davon gibt es besonders viele – und Elfen – davon gibt es noch mehr. All das kannst du sehen, und alles ist aus Flammen. Sogar Wasser. Ja, auch Wasser! Vater hat einmal einen Baumstumpf in den Kamin geschoben, der brannte ununterbrochen fünfzehn Tage. Und glaube mir, aus dem Wurzelholz sprudelten die Flammen wie klares Wasser und schlängelten sich durch eine weite Ebene. Wie die Flüsse in der Çukurova …«

»Ich weiß, ich weiß«, sagte Ümmühan, »ich weiß das alles schon ganz genau.«

»Du bist eben meine liebe, schöne Schwester.« Hasan beugte sich vor und ergriff ihre Hand. »Oder bist du es etwa nicht? Und du wirst es niemandem erzählen, nicht wahr? Dass ich flammende Pferde sehe, Ameisen und Feuervögel. Bei Gott, ich lüge nicht. Ich sehe sie ganz deutlich. Als wären sie lebendig. Aber sie sind aus Flammen. Warte, ich zeigs dir. Schau mal!« Er stand auf und warf noch ein bisschen Reisig und fünf Kardendisteln in das Feuer. »Jetzt mach die Augen auf und schau gut hin. Entweder springt ein Pferd heraus, oder eine Pappel wächst in die Höhe.«

»Ich habe schon so oft hingeschaut«, jammerte sie, »so oft schon, und dennoch hat es nichts genützt. Ich sah nur Flammen, die sich wie Schnüre umeinanderschlangen.«

Hasan stieß einen Schrei aus: »Mach deine Augen auf und sieh hin! Sieh doch? Da … Ein Windhund windet sich heraus. Und weg ist er.«

»Ich habe ihn nicht gesehen«, sagte Ümmühan traurig.

»Schade, es war ein so schöner Windhund, und wie schön er war. Wenn du ihn doch nur gesehen hättest …« Er setzte sich wieder neben Ümmühan, ergriff ihre Hand und sagte zärtlich: »Nimms dir nicht zu Herzen, eines Tages wirst du es auch sehen.«

Die Sonne neigte sich im Westen der Çukurova. Sie sprachen nicht mehr. Jeder hing seinen Gedanken nach. Hasan entdeckte keine flammenden Pferde und Vögel mehr. Beide dachten an dasselbe, und wenn sie nicht daran dachten, so spürten sie es doch unter ihrer Haut, bis ins Mark ihrer Knochen. Es war da, in jedem ihrer Atemzüge. Wer war er? Worum ging es? Um einen Friedhof in einer dunklen Nacht? Um einen Riesen? Einen Drachen? Würde die Erde beben? Ein Wolkenbruch alle Häuser wegschwemmen?

Oder war es der Sturm am Jüngsten Tag? … Weder Haus noch Dorf bleiben verschont. Nicht einmal die Berge. Vielleicht kommt jemand und schüttelt die Erde, als schwenke er eine Wiege? Wie sagte doch Großmutter Meryemce? Vor langer Zeit habe die Erde eine ganze Stadt verschluckt. Sie verschwand zwischen schneebedeckten Bergen. Die Menschen, die Läden, die Baumwollfelder, die Ameisen, die Flüsse, Seen und Berge, alles habe die Erde verschlungen. Als die Menschen hingingen, um nachzusehen, sei die Stadt nicht mehr dagewesen.

Wer ist es, der da kommen soll? Niemand wagte seinen Namen in den Mund zu nehmen, keiner will sich anmerken lassen, dass er sich fürchtet. Von Tag zu Tag wird diese Angst größer. Sogar die Hunde im Dorf bellen nicht mehr. Nicht einmal die gelbe Hündin von Durmuş. Den Kopf geduckt, blinzelt sie mit furchtsamen, fragenden Augen die Vorübergehenden an.

Hat der blaue Vogel ein Mal über seinen Augen, wie eine weiße Augenbraue? Sind seine Füße schwarz oder rot? Und seine Farbe? Grünlich-blau? Oder grün wie eine Wiese? Ist sein Blau leuchtender als das Blau des Himmels? Hat er einen sehr langen und schönen Schnabel? Wahrscheinlich kann man sich an seinem Schnabel nicht satt sehen. Dieser Vogel schillert in der Sonne, aber an Regentagen ist er von einem tiefen Blau.

Es war einmal vor langer Zeit ein Spurensucher mit Namen Veli der Wind. Er soll vor tausend Jahren gelebt haben. Der habe diesen Vogel so lieb gehabt, so lieb, dass er ihn vor sich hinsetzte und ununterbrochen, ohne einen Lidschlag, betrachtete. Und weil der Vogel an Regentagen noch schöner ist, nannte man ihn den Regenschauervogel.

Das Wasser fließt. Hasan hat die Mitte schon erreicht, fast reißt ihn die Strömung mit. Fische springen in die Höhe. Die Sonnenstrahlen scheinen bis auf den hellen Grund, der sie widerspiegelt wie die schneebedeckten Berghänge. Das Flussbett funkelt, die Schuppen der Fische schillern. Hasan rutscht aus, fällt längelang ins Wasser und gleitet über die großen, glatten Steine. Aber im Nu ist er wieder auf den Beinen.

Seine Augen sind grün, die Nase ist leicht aufwärts gebogen. Er steht da und guckt. Sein Blick ist geringschätzig, verächtlich. Der Enkel des Grundbesitzers. Er hat ein schneeweißes Gesicht. Hasan schaut ihn an, als sei er ein Wesen aus einer anderen Welt. Genauso sieht der Junge Hasan ins Gesicht. Hasan gäbe alles, um mit ihm zu sprechen. Seine schimmernden, aschblonden Haare sind sorgfältig gekämmt. Die Schuhe sind etwas staubig, aber sie glänzen immer noch. Er trägt gebügelte knielange Hosen. Sein Hemd ist fleckenlos, so weiß wie die Wolken. Um den Hals hat er etwas Rotes zu einem Knoten geschlungen. Hasan platzt vor Neugier. Wenn er doch mit ihm sprechen könnte, erfahren, was für ein Wesen dieser Junge ist. Auch der Junge betrachtet Hasan verwundert. Wie ein Ochse glotzt er ihn an. Aber er sagt kein Wort. Wenn er doch nur spräche, Hasan würde sofort antworten. Er würde ihm sogar einen von den Kirschzweigen schenken, wenn er wollte. Doch der Junge dreht sich um und geht. Bei jedem Schritt tritt er gegen die Erdschollen. Ist es nicht schade? Bei jedem seiner Fußtritte fallen mindestens zehn Baumwollkapseln zu Boden. Der Junge muss verrückt sein.

Die Augen von Ali dem Langen scheinen aus ihren Höhlen zu springen. Ein Schauer läuft über Hasans Körper. Was mag sich wohl über dem Haupt dieses Mannes zusammenballen? Über dem ganzen Dorf. Hasan zittert. Er wirft noch einen Armvoll Reisig ins Feuer.

Ümmühan riss ihn aus der Versunkenheit: »Die Sonne geht unter. Wenn wir vor Anbruch der Dunkelheit nicht im Hause sind, wird Mutter verrückt vor Angst.« Es wurde wirklich immer kälter. »Und wenn es dunkel wird, kommen die Wölfe …«

»Schweig!«, unterbrach Hasan sie. »Habe ich dir nicht verboten, in meiner Gegenwart von Wölfen zu reden?«

Wie Stacheln sträubten sich seine Haare.

»Was ist schon dabei, wenn ich von ihnen spreche?«, widersetzte sich Ümmühan.

»Sei still, oder ich bringe dich um!« Er warf noch eine Handvoll Reisig und zwei Kardenstauden ins Feuer. Dann ging er in der Grotte auf und ab. Seine Füße hinterließen tiefe Spuren in der Erde. Die Spuren von je fünf Zehen. Nachdem er eine Weile hin und her gegangen war und an den blauen Vogel gedacht hatte, setzte er sich wieder ans Feuer. »In mir ist so eine Angst, ich mag überhaupt nicht mehr ins Dorf zurück«, sagte er, und seine Stimme klang weinerlich, verschreckt. Wenn man tausend dieser Vögel finge … Das Fleisch dieser tausend Vögel äße und ihre Köpfe rings um das Dorf auf Stangen befestigte, dann könnte doch kein Unheil mehr ins Dorf kommen. Warum tun sie das nicht? Ach ja, tausend Wundervögel fangen ist keine Kleinigkeit …

Genau an der Stelle, wo er hingefallen war, hatte er, als er pitschnass aus dem Wasser stieg, an der Böschung drei Löcher gesehen. Und wie er genauer hinguckt – prrrt! fliegt doch aus einem der Löcher ein schillernder Regenvogel auf und davon.

»Ich will auch nicht«, sagte Ümmühan. »Wenn nur die Mutter nicht weinen würde … Und die Nacht nicht wäre.«

»Und wir keinen Hunger hätten«, ergänzte Hasan.

»Ja, ja«, bestätigte sie, »das wäre was, wenn wir nie Hunger bekämen.«

»Wenn es doch nur nicht diesen Magen gäbe«, meinte Hasan.

»Schau, Hasan, die Sonne! Sie geht gleich unter. Beeilen wir uns!«

Hasan sprang auf und verschwand zwischen den Eichen. »Nur die trockenen!«, rief Ümmühan. »Sie fangen gleich Feuer und brennen gut.« Hasan ging an eine große Eiche und schlug mit dem Beil tiefe Kerben in einen abgestorbenen Ast. Die Schläge hallten weit durch die Einöde.

Langsam senkte sich die Dämmerung über das Land, verlor der Schnee seinen Glanz, wurde es kälter. Eine schwarze Wolke zog von der Steppe herüber. Pechschwarz und drohend schob sie zornig den Schnee und die Weiße des Himmels vor sich her.

»Sammle schnell auf, was ich gehackt habe. Wir müssen uns auf den Weg machen. Es kommt!« Seine Angst da drinnen ist größer als je zuvor. Wahllos schlägt er das Beil ins Holz. Seine Füße brennen, und es wird immer kälter. »Beeile dich und schnüre dein Bündel. Binde auch meins zusammen. Mutter kommt um vor Sorgen!«

Die Dunkelheit in seinem Inneren wächst. Je näher die Zeit zur Heimkehr rückt, desto mehr vermeint er zu spüren, dass ein Unheil sich dem Dorf nähert.

Du Vogel mit dem schönen Schnabel … Auf jedem Eichenzweig einer. Und alle müssten sich jetzt aufschwingen … Bei jedem Beilhieb stieben kleine Eiskristalle von der Eiche. Der Wald, all seine Bäume, die Zweige, Stämme und Wurzeln, die ganze Erde, ein einziges erstarrtes Weiß.

Ümmühan sammelte hastig die abgehackten Äste, legte sie nebeneinander auf den Strick am Boden und schnürte alles zu einem festen Bündel. Dann raffte sie noch die dünnen Zweige zusammen, die beim Holzschlagen heruntergefallen waren. »Ich bin fertig, Hasan, es reicht!«

Hasan hielt plötzlich inne. Wie im Schlaf erwacht, ging er langsam und leicht schwankend zu seinem Bündel und stützte das Beil auf das Holz: »Hast dus auch fest zugebunden?«

»Hab ich. Ganz fest.«

»Warte einen Augenblick«, sagte Hasan misstrauisch, »und dreh dich nicht um! Kehr mir den Rücken zu. Und wenn du dich umdrehst, töte ich dich. Mit diesem Beil, und genau hier, mache ich Hackfleisch aus dir.«

Jedes Mal, wenn sie im Wald waren und sich auf den Heimweg machten, tat Hasan dasselbe. Wo ging er nur hin? Was trieb er? Das war sein Geheimnis. Wenn sie sich auch noch so fürchtete, sie schielte verstohlen zu ihm hinüber; doch Hasan war schon hinter dem Felsen verschwunden. Soll er sie doch in Stücke hauen oder bis an ihr Lebensende nicht mehr mit ihr sprechen; sie wäre nicht Ümmühan, wenn sie nicht jedes Mal hinter ihm herschaute. Trotzdem konnte sie sich nicht vom Fleck rühren, bis er zurückkam, konnte nicht anders, als wie festgenagelt dort ausharren. Und dabei platzte sie vor Neugier.

Hasan rannte. Er sprang über Steine und Stämme. Sein Herz hämmerte wie immer, wenn er dorthin lief. Ein Gefühl des Schreckens, des Misstrauens, der Angst erfasste seinen ganzen Körper; und dennoch verspürte er auch Freude.

Er überquerte den Platz, wo er das Feuer angezündet hatte, bog hinter einem Felsen ab, der wie eine Insel lang und steil in den Wald hineinragte, und blieb mit dem Rücken zur Felswand eine Zeit lang regungslos stehen. Dann beugte er sich nieder, und vorsichtig, als wäre es ein Heiligtum, richtete er einen großen, schweren Stein auf. Eine Weile starrte er in die Mulde darunter und betrachtete einige gelbe Kriechtiere, die wie Ameisen aussahen. Dann legte er den Stein in die Vertiefung zurück, so behutsam, als befürchtete er, dass er zerbrechen und sein Zauber zerstört werden könne.

»Darf ich mich jetzt umdrehen?«, rief Ümmühan, als Hasan zurückkehrte.

»Dreh dich um!«, antwortete er mit der zufriedenen Gleichgültigkeit desjenigen, der eine wichtige Angelegenheit bestens erledigt hat. Er lud das Holzbündel auf Ümmühans Rücken und warf das eigene über seine Schulter. Die Sonne war drauf und dran zu versinken. Vor Einbruch der Dunkelheit mussten sie im Dorf sein.

»Hasan!«

Er blieb stehen, und sie sahen sich an.

»Sei still!«, sagte Hasan und ging weiter.

»Und? Wolltest du es mir nicht im Wald erzählen? Du hast mich reingelegt«, quengelte Ümmühan.

»Sei still!«, wiederholte Hasan grob.

2

Sie saßen am Herdfeuer. Meryemce, den Rücken an die Wand gelehnt, hielt den Kopf gesenkt und rührte sich nicht. Ali, ihr gegenüber, blickte immer wieder auf und musterte seine Mutter, wie sie so dasaß, unbeweglich, als sei sie aus Stein, Es ging ihr schon viel besser, sie kam langsam zu sich, aber sie schwieg auch weiterhin verbissen. Ausgerechnet Meryemce, die vor dem Tod des Pferdes in einem fort geredet hatte und im Haus so viel Freude verbreitete, dass niemand merkte, wie die Zeit verging; die in Winternächten von so vielen Dingen erzählte, dass es kein Ende nahm. Woher hatte sie nur all diese schönen Geschichten? Wäre sie doch in diesen sorgenvollen Tagen wie früher … Aber nein, jetzt ist sie wie versteinert, ist wie eine Wand.

Wie viel Zeit wohl seit dem Abendgebet schon vergangen ist? Niemand spricht. Die Kinder sind in sich gekehrt, still, wie tot. Nur Elif findet manchmal zu ihrer guten Laune zurück, muntert die Anwesenden mit einigen Worten etwas auf, aber dann versinken alle wieder in tiefes Schweigen. Ali weiß nicht, was er tun, weiß nicht, was er sagen soll.

Das Geheule draußen in der Steppe zerrt an seinen Nerven. Wie viele Geschichten hätte ihnen Meryemce früher über die heulenden Wölfe in der Einöde erzählt! Die Ordnung der Welt war aus den Fugen. Auch im Dorf war nichts mehr wie früher. Als säßen sie alle auf glühendem Eisen. In diesem Jahr war viel Schnee gefallen. Es wird eine gute Ernte geben. Ja, aber …

Ali nahm einen letzten Anlauf: »Mutter, draußen heulen die Wölfe.«

Meryemce hörte ihn nicht einmal.