Salman - Yaşar Kemal - E-Book

Salman E-Book

Yasar Kemal

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Beschreibung

Ismail Aga liebt das Waisenkind Salman wie einen eigenen Sohn und Erben, bis ihm seine Frau einen Knaben gebärt: Mustafa. Nun schleicht sich die Schlange der Eifersucht ins Haus. Die Angst ergreift zuerst die Kinder, dann das ganze Dorf, und zuletzt ist sich niemand seines Lebens mehr sicher. Diese große Familiensaga schlägt den Bogen über ein ganzes Jahrhundert. Wie in keinem anderen Roman hat Kemal darin die Tragödie Anatoliens und seine persönlichen Erlebnisse verarbeitet. Er erzählt von den Wanderungen der Völker nach Krieg und Vertreibung, von Glück und Grausamkeit der Menschen, und in Passagen von lyrischer Reinheit erweckt er die Natur zum Leben.

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Seitenzahl: 818

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Über dieses Buch

Ismail Aga liebt das Waisenkind Salman wie einen eigenen Sohn und Erben, bis ihm seine Frau einen Knaben gebärt: Mustafa. Nun schleicht sich die Schlange der Eifersucht ins Haus. Wie in keinem anderen Roman hat Yaşar Kemal in dieser großen Familiensaga die Tragödie Anatoliens und persönliche Erlebnisse verarbeitet.

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Yaşar Kemal (1923-2015) wird der »Sänger und Chronist seines Landes« genannt. Er wuchs in einem Dorf Südanatoliens auf und lebte in Istanbul. 1997 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 2008 wurde er mit dem Türkischen Staatspreis geehrt.

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Cornelius Bischoff (1928-2018) verbrachte seine Jugendjahre in der Türkei und studierte Jura in Istanbul und in Hamburg. Seit 1978 ist er als literarischer Übersetzer tätig und schreibt Drehbücher.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

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Yaşar Kemal

Salman

Roman

Aus dem Türkischen von Cornelius Bischoff

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 6 Dokumente

Die Originalausgabe erschien 1980 unter dem Titel Yağmurcuk Kuşu- Kimsecik 1

Originaltitel: Yağmurcuk Kușu (1980)

© by Yaşar Kemal 1980

© by Unionsverlag, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Christoph Schütz

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30795-7

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Version vom 22.06.2022, 06:30h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

Impressum

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Inhaltsverzeichnis

SALMAN

1 – Mondlicht füllte randvoll die Senke, in der das …2 – Wenn weit draußen über dem Mittelmeer die aufgeblähten …3 – Der Van-See ist von Bergen umgeben. Er liegt …4 – Am nächsten Morgen brachten die Gendarmen sie in …5 – Mustafa wuchs heran, machte seine ersten Gehversuche und …6 – Im Frühling schäumt das Flusswasser trüb dahin …7 – Wer in die Çukurova geht, kehrt nie wieder« …8 – In den Dorfgassen wimmelte es jetzt von Küken …9 – Der Mond war aufgegangen, der Schatten der Bergfestung …10 – Salman drehte seine Runden im Dorf, ging von …

Mehr über dieses Buch

Über Yaşar Kemal

Günter Grass: Laudatio auf Yaşar Kemal

Yaşar Kemal: Über die Sprache

Yaşar Kemal: Die Natur, Universum der Mythen

Yaşar Kemal: Das Gefängnis – die Schule der türkischen Literatur

Yaşar Kemal: »Die Epen sind wie Kiesel auf dem Grund des Stromes«

Lucien Leitess: Vor seinen Büchern werden wir wieder zu Kindern

Über Cornelius Bischoff

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1

Mondlicht füllte randvoll die Senke, in der das Dorf lag. Salman stand regungslos in einer Ecke der niedrigen Hofmauer und sang kaum hörbar ein altes, seltsam anrührendes Volkslied. Die Dorfkinder waren wieder zu einem Versteckspiel hinausgelaufen, das in hellen Mondscheinnächten gespielt wurde. Sie teilten sich in zwei Gruppen, die eine musste sich an den unvermutetsten Plätzen verstecken, die andere sollte sie finden. Durch Kopf oder Adler wurde entschieden, wer zu welcher Gruppe gehörte. Die Münze warf jedes Mal Mustafa das Fohlen. So war es schon immer gewesen, das Vorrecht, die Münze zu werfen, gebührte Mustafa dem Fohlen! Salmans Umriss schien jetzt riesengroß, sein Schatten streckte sich langgedehnt über die staubige Erde des Vorhofs. Das geschulterte Gewehr war nur verschwommen auszumachen. Die spielenden Kinder warfen immer wieder einen bangen Blick in die Richtung von Salmans kerzengerader, übergroßer Schattengestalt, doch kaum hatten sie ihn ausgemacht, stahlen sie sich davon, bis er außer Sichtweite war.

Salmans Haare waren blond und standen ab wie Igelborsten, die man ihm in die Kopfhaut gesteckt hatte. Seine kleinen, fast in ihren Höhlen verschwindenden Augen blickten giftgrün und kalt. Sie schienen ins Leere zu starren, dennoch hatte man das Gefühl, sie seien überall. Seine Schweigsamkeit und dass er nie lachte, verschärfte die harten Züge seines sonnenverbrannten Gesichts mit der spitzen Nase, die immerfort bebte, so als habe ein Maskenbildner sie ihm gerade aufgeklebt. Salman hatte breite Schultern, war untersetzt und krummbeinig, und seine langen Arme schienen bis auf den Boden zu reichen. Es gab keinen triftigen Grund, dass die Kinder ihn fürchten mussten, ja nicht einmal wagten, von Weitem zu ihm hinüberzublicken. Die Deutsche Flinte an seiner Schulter war wie neu, Schaft und Kolben schimmerten im Mondlicht, und der Lauf glänzte, als beschiene ihn die Sonne. Wenn Salman am Tage nicht schlief, befasste er sich unablässig mit seinem Gewehr, reinigte Kolben, Schaft und Lauf, ölte sogar die Patronen mit verschiedenen duftenden Fetten, wischte und wienerte, legte das Gewehr in die Sonne, setzte sich davor und bewunderte es gedankenversunken, vergaß darüber Essen und Trinken. In solchen Augenblicken, traumverloren wie ein Schlafwandler, verklärten sich seine Züge, huschte ein glückliches Lächeln über sein Gesicht. Dann nahm er Gewehr und Patronen wieder aus der Sonne, putzte und fettete, ging zur sonnenbeschienenen Hecke gegenüber dem Konak und lehnte die Flinte gegen einen Kaktus. Und die bläulichen Blitze des funkelnden Metalls vermischten sich mit dem Glitzern der weißen Stacheln, den gelben, blauen, rosa und orangefarbenen Blüten der Hecke aus mannshohen Kakteen.

Salman trug mindestens sechs goldverzierte, voll bestückte Patronengurte. Vier davon kreuzweise über Schulter und Brust, die andern beiden um die Hüfte geschlungen. An manchen Tagen waren es wesentlich mehr, so dass er bis zum Hals in patronengefüllten Gurten eingewickelt schien. Dazu baumelte ein riesiger Feldstecher über seiner Brust, schlugen zwei locker umgeschnallte, nahezu gleich aussehende tscherkessische Handschare mit nielliertem Silberknauf gegen seine Hüften. Der elfenbeinerne Griff seines Revolvers, eines Nagant von, so sagt man, unschätzbarem Wert, war mit Gold eingelegt, er trug ihn offen über seiner Leistenbeuge und hielt seine Rechte so dicht an der Waffe, dass seine Finger zumindest den Knauf leicht berührten.

Salman zeigte ja selten seine Zähne, doch wenn er sie entblößte, leuchteten sie in zwei schneeweißen, geraden Reihen. Er gehörte zu den Menschen, deren Alter schwer auszumachen war, er wirkte wie zwanzig, konnte aber ebenso siebenundzwanzig oder dreißig sein. Die Enden seines roten Schnauzbarts hingen neben seinem Kinn herab wie die Grannenbüschel am Maiskolben; und Sommer wie Winter trug er, bis zu den Ohren heruntergezogen, eine Schirmmütze.

Und so stand er in einem Winkel des Vorhofs, rechts von der undurchdringlichen Wand aus mannshohen Kakteen, die sich bis zu den Felsen erstreckte, stand unbeweglich am Schattenrand des Granatapfelbaums, von dem niemand wusste, wie alt er schon war, und der seine Äste wie eine mächtige Platane streckte, und Salmans Schatten wuchs und schwankte, bewegte sich vor und zurück, tanzte wie losgelöst von Salman am Schattenrand der Kakteen.

Im Dunkel der Hütten aus Ried und Lehm, die sich bis zu den Wassern des Ceyhan erstreckten, glitten die Kinder lautlos das Dorf entlang und verharrten erst, als von Salmans Umriss nichts mehr zu sehen war. In manchen Nächten aber verfolgte sie Salmans Schatten so hartnäckig, dass sie ihre Beine in die Hände nahmen und zu den Feigenbäumen am anderen Ende des Dorfes liefen, auf den Platz neben dem Fels der Knäkenten am Ufer des Ceyhan und dort Verstecken spielten. In kalten, trostlosen Winternächten aber wurde nicht gespielt. Dann tummelte sich im Dorf nur der Nordwind, der scharf wie ein Schwert vom felsigen Hang des violetten Bergs herunterfegte. Ob Mondschein oder nicht, in diesen Winternächten lag das Dorf verlassen da, waren Katzen die einzigen Geschöpfe in den verödeten Gassen, durch die der Nordwind pfiff, dann gab es kein Lebenszeichen im Dorf außer dem fahlen Licht, das durch die handbreiten Fenster der Lehmhäuser und die Ritzen der Schilfhütten schimmerte, außer Salman, der, eingehüllt in einen Hirtenmantel, dicht bei den Kakteen unter dem Granatapfelbaum auf Ismail Agas Vorhof stand und dessen Schatten wuchs und wuchs. Jeder wusste, dass noch zwei weitere Männer Ismail Agas Haus bewachten, aber bisher hatte keiner im Dorf, nicht Kind, nicht Erwachsener, weder diese beiden Männer noch ihre Schatten im Hof ausmachen können. Dort stand allein Salman, dessen Umriss den ganzen Hof, ja, die ganze Nacht ausfüllte. Zwei Hirtenhunde, die er keines Blickes würdigte, lagen breit wie Pferde oft zu seinen Füßen, doch keiner hat bisher erlebt, dass sie auch nur den Kopf hoben, gar bellten, solange er sich nicht bewegte.

Mustafa zählte ab, sie waren genau neunzehn. »Ali der Barde ist über«, rief eines der Kinder.

»Dann spiele ich eben nicht mit«, sagte Ali der Barde und senkte den Kopf. »Ich kann das Spiel auch nicht, habe ja nie mitgespielt.« Ali der Barde war der älteste unter ihnen, er war über neun, aber nicht über zwölf. Mustafa, schlank und aufgeschossen, war sechs oder sieben, hatte große, schwarze Augen, die plötzlich aufblitzten, wenn er sich freute oder fürchtete. Er war der Einzige unter den Kindern, der Schuhe trug. »Los, aufteilen!« rief er.

Nach lautem Palaver, Gedränge und Geschubse hatten sie sich in zwei Gruppen geteilt. »Ich spiel nicht«, wiederholte Ali der Barde, und an seiner gepressten Stimme war zu erkennen, wie sehr er sich grämte, ausgeschlossen zu sein.

Memet der Vogel war wie immer in Mustafas Mannschaft.

»Warte ab«, wandte sich Mustafa an Ali den Barden, »lass mich erst einmal die Münze werfen, dann sehen wir weiter …« Er warf, und die Kinder beugten sich gespannt über die am Boden liegende Münze.

»Wir werden uns verstecken«, rief Mustafa, »und du, Ali, versteckst dich mit uns!«

Dann war da noch Zecke, fast erwachsen, dem bereits der Bartflaum spross. Er gehörte zu keiner Mannschaft, hielt sich jedoch, ob am Tage oder nachts, in der Nähe der Kinder auf und schaute wie verzaubert vor Glück ihren Spielen zu. Spielten sie Verstecken, saß er als eine Art Schiedsrichter auf dem großen, mit einer Inschrift versehenen, rechtwinkligen Marmorblock und rief Spielverderber zur Ordnung oder achtete darauf, dass niemand mogelte. Er nahm seine Aufgabe sehr ernst, und die Kinder verließen sich auf ihn. Jetzt stellte er neun Kinder mit den Gesichtern zum Heckenzaun der Scheune auf und würde sie erst losrennen lassen, wenn von den andern, die sich versteckten, kein Zipfel mehr zu sehen war.

Spielregel war, alle, die sich versteckt hielten, aufzustöbern. Manche Kinder jedoch verbargen sich so schlau, dass sie bis in die späte Nacht hinein nicht entdeckt wurden und das Spiel am nächsten Abend fortgesetzt werden musste. Waren schließlich alle »Versteckten« aufgespürt, gaben sie den »Findern« Geschenke: Taschentücher, Murmeln, Katapulte mit Vierkantgummi für die Vogeljagd, Steinschleudern aus Leder oder engmaschiger, bestickter Wolle, Vogelschlingen und viele andere Dinge mehr … Die »Gefundenen« gaben für die »Finder« auch Feste mit reichlichem Essen. Und wenn von den »Versteckten« mindestens drei über eine Woche unauffindbar blieben, mussten die erfolglosen Finder die anderen beschenken.

»In einer Reihe vor der Hecke aufstellen!« schrie Zecke.

»Die Reihe steht«, antwortete Yusuf die Raupe. Er war der Sohn von Hüseyin der Raupe, dem einzigen Einwanderer aus Thrazien in ihrem Dorf. Noch bevor Hüseyin die Raupe damals sein Umzugsgut abgesetzt und das Haus besichtigt hatte, war er den zu Hilfe eilenden Dörflern mit den Worten: »Hört zu, Freunde, damit ihrs wisst, mein Name ist Raupe!« entgegengegangen. »Ja, in meinem Land war ich weithin bekannt als Hüseyin die Raupe. Gibt es unter euch auch jemanden, der Raupe heißt?«

»So einen Mann gibt es hier nicht«, antworteten die Dörfler bedächtig, »du bist uns willkommen, Raupe!«

»Bringst Freude in unser Dorf, Raupe.«

»Es hat uns schon immer bedrückt, dass es bisher in unserem Dorf keinen Raupe gab …«

»Macht nichts, wenn wir bisher noch keinen Raupe hatten.«

»Jetzt ist ja einer zu uns gekommen.«

»Und ein Raupe in einem Dorf ist vollauf genug.«

»Sucht doch die ganze Çukurova ab, ob es auch nur in einem Dorf einen Raupe gibt …«

»Nicht einen!« brüllte Raupe vor Lachen. Dann wandte er sich an seine Frau und rief: »Hör mal, Frau, wenn es so ist, bring du doch die Sachen rein; wir sind in einem guten Ort gelandet, die Regierung wusste schon, wohin sie uns schickte. Ja, ein Raupe in einem Dorf ist vollauf genug … Ich will mit den Leuten erst einmal plaudern.«

Er zog seine Tabakdose, seine Zigarettenspitze und sein Feuerzeug aus seiner roten Bauchbinde hervor und hockte sich mit dem Rücken gegen den Röhrichtzaun hin. »Nun kommt schon her!« rief er und begann eine Zigarette zu drehen.

»Kommt nicht infrage«, beharrten die Dörfler, »die erste Zigarette kommt von uns!« Und von allen Seiten fielen gleich mehrere Zigaretten vor ihm auf den Boden, wurden ihm brennende Sturmfeuerzeuge entgegengestreckt. Sie hockten sich im Halbkreis um den Neuankömmling und begannen genüsslich zu rauchen.

»Wie gut, dass es in eurem Dorf nicht noch einen Raupe wie mich gibt. Es ist immer besser, der Einzige zu sein … Ich bin Schmied und bin auch Stellmachermeister. Gibt es hier jemanden, der Schmied und zugleich Stellmachermeister ist?«

»Nein«, antworteten sie.

»Frau, trag alles ins Haus. Hier gibt es weder einen Schmiedemeister noch einen Stellmachermeister. Das ist ja noch besser als ein zweiter Raupe.«

»Viel besser«, lachten die Dörfler.

»Pflügt ihr hier?«

»Wir pflügen hier«, sagten sie.

»Mit Pflug und auch mit Mehrscharpflügen?«

»Ja, damit pflügen wir.«

»Habt ihr auch Wagen?«

»Die haben wir auch.«

»Jedes Haus?«

»Jedes Haus.«

»Das ist ja noch viel besser. Frau, in diesem Dorf gibt es Wagen, und die Erde wird mit Pflügen und Mehrscharpflügen aufgebrochen.«

»Wie schön, wie schön, da kannst du dich ja freuen«, antwortete seine Frau.

»Alles klar!« sagte Zecke. »Sie haben sich versteckt.«

»Sollen sie doch«, rief Yusuf die Raupe und schnellte wie ein Pfeil davon, »ich werde sie gleich haben.«

Mustafa das Fohlen und Memet der Vogel waren zur Scheune von Poyraz dem Wilden gelaufen. Sie war umgeben von einer stachellosen Kakteenhecke. Zwischen den etwa zwei Meter hohen Stauden wuchsen Brombeersträucher, deren Ranken sich um die Kakteen herumschlangen. Darin versteckten sich Mustafa und Memet jedes Mal, und jedes Mal, als habe er sie eigenhändig dort hineingesetzt, kam Yusuf die Raupe und holte sie heraus.

»Mustafa«, flüsterte Memet der Vogel.

»Hmmm?« raunte dieser nur.

»Lass uns diesmal da nicht hineinkriechen. Raupe findet uns auf der Stelle. Sieh doch, wo sie überall suchen! Mistik den Kahlen haben sie schon, ich höre seine Stimme.«

»Den finden sie jedes Mal zuerst«, sagte Mustafa. »Der braucht das. Der würde sterben, wenn sie ihn nicht als Ersten finden.«

»Er würde sterben«, echote Vogel.

»Soll er doch krepieren!« erboste sich Mustafa.

»Wenn wir hier vor dem Felsen stehen bleiben und weiterquatschen, werden sie uns auch gleich haben«, meinte Vogel.

»Los, rein da«, sagte Mustafa, »unter die Brombeeren!«

»Nein, diesmal nicht«, weigerte sich Vogel.

Sie kauerten sich in die Spalte eines Felsblocks unterm Granatapfelbaum, aber hier waren sie auch nicht sicher.

»Gehen wir doch in den Schmalen Pass!«

»Dort wimmeln jetzt Schlangen«, meinte Mustafa.

»Eben! Und keinem wird einfallen, dort zu suchen, die kommen aus Angst nicht einmal in die Nähe. Auf in die Senke vom Schmalen Pass!«

»Wo es von Schlangen wimmelt? Sie werden uns beißen und töten.«

»Das werden sie nicht«, widersprach Vogel.

»Verstecken wir uns doch am Ufer unter der Böschung«, schlug Mustafa vor.

»Sie kommen, still!« sagte Vogel. »Hörst du ihre Schritte nicht?«

»Ich höre sie, sei still!«

Einige Kinder liefen dicht an ihnen vorbei. Mustafa und Vogel hatten sich so eng in die Spalte gezwängt, dass sie sich nicht mehr bewegen und fast nicht atmen konnten. Dann hörten sie Raupes Stimme aus der Richtung von Poyrazʼ Scheune: »Gleich hab ich den Mustafa. Vor lauter Angst versteckt er sich nirgendwo anders als unter diesen Brombeeren.«

»So wird es sein«, lachte Mustafa.

»Hab ichs nicht gesagt?« flüsterte Vogel. »Und hier werden sie uns auch finden, und dann sind wir geliefert. Jedes Mal sind sie es, die uns finden.«

»Nanu«, hörten sie Raupes Stimme. »Hier ist er ja gar nicht. Wo kann er sich denn sonst noch versteckt haben?«

»Irgendwo versteckt er sich schon«, tuschelte Mustafa spöttisch. Wolfsmilchkraut kitzelte seine Nase, und sein ganzes Gesicht juckte.

»Sie sind weitergegangen«, sagte Vogel, »wir müssen uns einen besseren Platz suchen.«

Mustafa keuchte: »Ich stecke hier fest und kann mich nicht einmal bewegen.«

»Ich auch nicht«, sagte Vogel. Sie hatten sich so tief in den Felsspalt gezwängt, dass sie trotz aller Mühe nicht herauskonnten. Die Erde unter ihnen roch nach Thymian, nach Wolfsmilch und sonndurchglühtem Felsgestein.

Sie mühten sich eine ganze Weile ab, um freizukommen.

»Ich habs geschafft, Mustafa«, rief Vogel endlich freudig erregt und tat einen tiefen Atemzug. »Fast wäre ich gestorben.«

»Dann zieh mich«, bat Mustafa. Vogel packte ihn an der Schulter und zog. »Oha, ich bin tot«, sagte Mustafa. Verschwitzt reckten sie sich.

»Sie werden uns finden«, sorgte sich Vogel. »Raupe ist eine Plage … Wir sollten für uns einen Platz finden, wo Raupe uns ums Verrecken nicht entdeckt.«

»Raupe hat einen Adler«, sagte Mustafa.

»Der hat alles, mein Junge«, nickte Vogel. »Sein Vater ist Stellmachermeister. Und die Wagen im Dorf sind alt und morsch, jeden Tag gehen zehn zu Bruch. Du hast ja auch alles. Hast sogar Pferde. Sogar Araber … Man sagt, dein Vater habe sie dir aus Aleppo mitgebracht.«

»Raupe hat einen riesengroßen Adler. Seine Flügel sind, na, so lang.«

»Sie kommen, rein in den Felsen!« flüsterte Vogel und rutschte seitwärts in die Felsspalte. Mustafa hatte sich gleichzeitig hineingezwängt, und die beiden quetschten sich in die Höhlung, so tief sie konnten, und hielten den Atem an. Diesmal war es Hidiroğlu, der die andern führte.

»Mann, dieser Mustafa versteckt sich doch sonst nie irgendwo anders«, maulte er, »wohin mag er nur sein?«

»Er kann gar nicht woanders hin«, antwortete Mistik der Kahle.

»Aber er hat Vogel dabei«, warf Schlauberger ein. »Weißt du, dass die beiden am selben Tag geboren sind, am selben Tag, als der Morgen graute und die Hähne krähten? Damals sollen beide Familien Nachbarn gewesen sein, noch bevor Mustafas Vater seinen Konak gebaut hatte. Ihre Stimmen sollen sich vermischt haben, die Stimmen von Fohlen und Vogel.«

»Der Vogel zwitscherte, das Fohlen wieherte«, sagte Mistik der Kahle.

»Beide sind Angsthasen«, meinte Schlauberger. »Und wie ich sie gleich finden werde! Und wenn sie sich in der Schlucht vom Schmalen Pass verstecken, ich finde sie!«

»Hohooo!« rief Mistik der Kahle. »Hohooo, mein Kleiner, dort wimmelt es von Schlangen.«

»Auch wenn sie sich in ein Schlangenloch verkriechen, finde ich sie.«

»Wir gehen in den Schmalen Pass hinein, und dann werden wir ja sehen, ob er uns findet«, flüsterte Memet der Vogel Mustafa dem Fohlen zu.

»Da wimmelt es von Schlangen.«

»Oder wir verstecken uns unter Memik Agas Maulbeerbaum, da soll Schlauberger uns erst mal finden, wenn er auch nur ein bisschen Mut hat.«

»Ohne mich«, sagte Mustafa.

»Die wagen es nicht einmal, einen Blick hineinzuwerfen«, spottete Vogel. »Aber wenn du mitmachst, dann zu euch, zu euren Feigenbäumen bei eurem Haus …«

»Dorthin schon gar nicht«, unterbrach ihn Mustafa.

»Aber dorthin wagen sie sich nie«, beharrte Vogel, »nicht an eine Stelle, von wo aus auch vielleicht Salmans Kopf zu sehen ist.«

»Würdest du denn so weit herangehen?«

»Wenn du dabei bist, würde ich.«

»Ich werde ihn finden, diesen Mustafa«, hörten sie Schlauberger schimpfen, der mit seinem Trupp abzog. »Nach ein paar Runden kommt er ja doch wieder her. Versteck dich hier und warte auf ihn, Kahler!«

»In Ordnung«, antwortete Mistik der Kahle.

»Meinetwegen auch zu den Feigenbäumen«, flüsterte Mustafa, »aber wird der Kahle hier auch warten?« Ächzend und prustend quälten sie sich wieder aus der Spalte. »Hab ich Seitenstiche«, stöhnte Mustafa, »und mein Arm blutet auch.«

»Und mein ganzer Körper tut weh, als habe man mich im Mörser zerstampft«, jammerte Vogel.

»Und wohin jetzt?«

»Zu eurem Hof, unter die Feigen, in Salmans Schatten. Der sieht uns bestimmt nicht.«

»Und ob der uns sieht«, schrie Mustafa entsetzt.

Den Schrei hatte Mistik der Kahle gehört. »Sie sind hier, Schlauberger«, brüllte er, »mach schnell! Sie sind hier, aber ich kann sie nicht sehen.«

Vogel hatte Mustafa bei der Hand gepackt und zog ihn von den Felsen weg zu den Hütten. Auf allen vieren krochen sie durch die Kakteenhecken, rissen sich die Haut blutig. Als sie schon im Schatten der Hütten waren, hörten sie noch immer den Kahlen brüllen. »Bei Gott, sie sind hier«, schrie er, »bei Gott, ich habe ihre Schatten gesehen, die beiden sind zum Schmalen Pass gelaufen, schneiden wir ihnen den Weg ab!« Und Schlauberger schrie: »Ich komme. Die wagen sich nicht in die Schlucht vom Schmalen Pass, auch nicht unter Memik Agas Maulbeerbaum in Salmans Nähe. Such du die Felsen ab und schau noch einmal unter die Brombeeren!«

Als sie die Köpfe hoben, war Salmans Schattengestalt dicht über ihnen. Keine fünfzig Meter entfernt ragte er wie ein Götze in den Nachthimmel. Das Mondlicht fiel funkelnd auf sein Gewehr, auf die goldverzierten Patronengurte und niellierten Griffe seiner Handschare. Er stand regungslos auf dem breiten, beschrifteten weißen Marmorblock.

»Halt«, flüsterte Mustafa, »halt an, Memet!« Seine Knie gaben nach, und er zitterte. Ganz plötzlich machten sie kehrt, rannten so schnell sie konnten und hielten erst an, als sie den Schmalen Pass erreicht hatten. Die dunkle Schlucht lag zu ihren Füßen, ein eigenartiger Geruch der blau, kristallen und grünlich schillernden Erde stieg ihnen von da unten in die Nasen.

»Gehen wir da runter«, sagte Vogel.

»Gehen wir«, nickte Mustafa.

Doch dann machten sie wieder kehrt, rannten im dunklen Schatten der Hütten und im Schutz der Kakteen zu Memik Agas Maulbeerbaum. Im Mondlicht war die verkohlte Seite des Baumes, der nur zur Hälfte Blätter trug, zu erkennen. Von den Bergen hörten sie die Schreie der Eulen und den lang gezogenen Pfiff eines anderen Vogels. Bebend und keuchend wie Pferde nach einem Rennen verhielten die beiden für einen Augenblick. Sogar jetzt flogen noch Adler um den schroffen Felsgipfel des Berges, schwebten wie Schatten durch die helle Mondnacht. Als die beiden dicht am Baum waren, machten sie wieder kehrt, rannten jetzt in Salmans Richtung, dessen Schatten sich bis zur Burgruine dehnte, umliefen ihn in großem Bogen und hasteten weiter zum Schmalen Pass. Die tiefe Senke war pechschwarz. Am Rande der Schlucht blieben sie stehen.

Hoch oben über dem Schmalen Pass kreisten mit blutigen Schnäbeln und rauschenden, blutigen Schwingen Adler, Geier, Bussarde und Sperber durcheinander, stürzten sich plötzlich mit angelegten Flügeln zu Hunderten in die Schlucht. Osman des Langen nackte Leiche lag da unten, seine Füße im Wasser, das Wasser rot … Die herabstürzenden Greife stiegen aufeinander, rissen sich Fleischstücke aus Osmans Leiche, stiegen wieder auf, während Hunderte andere in der Luft die Flügel anlegten, herunterstießen und sich ihrerseits über den Toten hermachten. Die Dörfler, Frauen, Männer, Kinder, Alte, Burschen und Mädchen, versuchten ihn mit Knüppeln und Gewehren vor den Adlern zu bewahren, Schüsse, krachendes Dynamit, Paukenschläge und Blechgetrommel hallten durch die Nacht. Doch Schwarm für Schwarm, Flügel an Flügel füllten die Vögel, ohne sich abschrecken zu lassen, immer wieder die Schlucht. Es fehlte nicht viel, und sie hätten sich auch auf die Lebenden gestürzt. Zwei riesige schwarze Adler waren flügelrauschend bereits auf die Menschenmenge herabgeschossen. Der Angriff der Greife dauerte keine Zigarettenlänge. Sie stürzten herab, flogen auf, stießen Schnabel an Schnabel, Flügel an Flügel in den Himmel, kamen blind vor Gier wieder und ließen in kurzer Zeit vom Toten nichts als weiße Knochen zurück. Dann schraubten sich die satten Adler gemächlich in den Himmel und begannen wieder, über dem felsigen Gipfel, über der Burg und der Schlucht zu kreisen. Doch eine Woche lang konnten die Dörfler Osmans Knochen nicht bergen, denn schwere, kahlköpfige, alte Geier mit langen Flügeln hockten von morgens bis abends am Rande der Schlucht im Kreis und hielten hartnäckig Wache. Die Jäger vom Dorf erschossen aus großer Entfernung viele von ihnen, und in der Schlucht häuften sich die Kadaver und begannen in der Hitze so zu stinken, dass man es sogar im Dorf nicht aushalten konnte; die Geier aber bewachten eine ganze Weile lang die Schlucht.

Am Himmel über der Schlucht kreisten Adler im Mondlicht. Die Schatten der majestätischen Burg und der schroffen Felsen dehnten sich bis an den Dorfrand, züngelten über die ersten Häuser und fielen auf den Fluss, der über die weithin flache Ebene zu fliegen schien. Die beiden Jungen waren wieder zum halbverkohlten Maulbeerbaum und zu Salman geeilt, dessen Umriss immer weiter wuchs. Mit trockenen Kehlen schlichen sie zitternd noch näher an Salman heran. Je dichter sie kamen, desto mehr wuchs sein Umriss, funkelten und blendeten die Goldfäden und das niellierte Silber an seinen Patronengurten.

»Gehn wir bis zur Ecke«, flüsterte Vogel in Mustafas Ohr. Kaum hatte Mustafa Vogels Ansinnen mitbekommen, schnellte er davon und Vogel hinter ihm her. Erst am Fuß des weiter nördlich gelegenen Felsens machten sie halt und knieten sich im Schatten des Gesteins nieder. Den Maulbeerbaum ließen sie nicht aus den Augen. Über ihnen kreisten die Adler um den violetten Felsgipfel, unter ihnen strömten die steigenden Wasser des Ceyhan in einem silbrig glänzenden Dunstschleier funkelnd dahin. Der schrille Ruf eines Vogels erscholl in kurzen Abständen, hallte wider von den weißen Mauern der Burg dort oben am Felshang.

Plötzlich sprangen sie auf die Beine. »Schau, Memet, er kommt!« schrie Mustafa auf. Ja, der Baum kam; kam immer näher.

In Windeseile trugen ihre Beine sie zur Schlucht. Tief unten wimmelten Geier, und die beiden rannten zurück zu den Hütten und linsten mit gestrecktem Hals zum Maulbeerbaum. Der halbverkohlte Baum musste zurückgegangen sein, er stand ganz artig an seinem angestammten Platz. Sie beruhigten sich ein bisschen.

»Schau, er bewegt sich wieder«, sagte Vogel.

»Du meine Fresse, er tuts, er bewegt sich«, rief Mustafa.

»Und gleich wird er brennen«, meinte Vogel, »das schauen wir uns an!«

»Bist du wahnsinnig!« schrie Mustafa und rannte davon.

Als sie bei Salman anlangten, blieben sie schwer atmend stehen. Ihre Herzen hämmerten bis zum Hals.

»Schau dir das an«, sagte Vogel, »wie er …«

»Ich weiß, das kenne ich schon«, unterbrach ihn Mustafa.

Salman hatte beide Handschare gezogen und trieb mit ihnen ein eigenartiges Spiel, ohne sich von der Stelle zu rühren. Den Handschar in der Linken hielt er steil aufgerichtet und ließ um ihn herum mit seiner Rechten die Klinge des anderen Handschars so blitzschnell kreisen, dass es schien, als sprühe sie Funken. Nach und nach wurde die kreisende Bewegung langsamer, Salman ließ die Waffe los und fing sie blitzschnell auf, bevor sie auf den Boden fiel.

Wie Ameisen krochen Millionen Funken den verkohlten Baum hinauf, bedeckten nach und nach den ganzen Stamm, verlöschten, sowie sie die Äste erreicht hatten und begannen von Neuem, den Stamm hinaufzugleiten.

»Schau hin, Memet, siehst du den Baum?« fragte Mustafa.

»Ich sehe ihn«, antwortete Memet.

»Funken krabbeln an ihm hoch, bedecken den ganzen Stamm.«

»Ich sehe, wie sie klettern«, antwortete Memet.

»Lass uns verschwinden!« bat Mustafa. Und sie rannten …

Als hätte sie ein Orkan überrascht, vergaßen sie alles andere, gaben sich in panischer Angst dem Grauen hin, rannten vom Baum zur Schlucht, von der Schlucht zu Salman, von Salman zum Baum, wirbelten aufgescheuchten Katzen gleich von Versteck zu Versteck, flüchteten vor Salman, vorm Baum, vor den Geiern und den Dschinnen in der Schlucht; sahen den Mondschein nicht, dachten nicht mehr ans Spiel, nicht an Schlaf, nicht ans Zuhause, weder an Vater noch Mutter; übermannt vom Wahn grenzenloser Angst, hetzten sie, Blut und Wasser schwitzend, mit schreckgeweiteten Augen im Kreis durch die Gegend …

Schüsse krachten in den Bergen, kamen immer näher, vermischten sich mit dem dumpfen Rollen herabstürzender Steine, hallten von einem Tal zum andern immer lauter durch die Nacht. In Unterzeug war das ganze Dorf schlaftrunken auf die Straße geeilt, versuchte zu begreifen, was da vor sich ging.

Briganten hätten Memik Agas Haus umstellt, hieß es, hätten es umstellt und drei bewaffnete Wächter gleich erschossen.

Es war erst kurz nach dem Abendgebet, als Memik Agas Haus von den Zalimoğlus umstellt wurde, und die meisten von denen, die schon im Bett lagen, waren noch nicht eingeschlafen.

»Komm heraus, Memik Aga«, brüllte Zalimoğlu, »heute ist der Tag. Mein Tag. Komm heraus! Komm heraus und lass uns Mann gegen Mann kämpfen. Verlass dich nicht auf die Gendarmen, ich habe an jedem Weg fünf Mann abgestellt. Nur über ihre Leichen kann ein Gendarm in dieses Dorf kommen.«

Von drinnen kam keine Antwort.

»Komm heraus, mit deinen Söhnen, deinen Brüdern und Männern. Kommt heraus und lasst uns hier draußen unsere Rechnung begleichen, am Fuße der Burg. Verkriech dich nicht in deinem Konak wie ein Weib. Und sollte dein Konak auch eine Festung sein, heute Nacht werde ich ihn zerstören, ihn niederbrennen. Komm heraus, Memik Aga!«

Bis Mitternacht hatte sich Zalimoğlu hinter dem hohen Steinblock mit der Inschrift und dem eingemeißelten Kopf einer Frau mit gerader Nase und Ringellocken verschanzt und bis er heiser wurde Memik Aga beschimpft und erniedrigt. Dann, ganz plötzlich nach Mitternacht, hallten Schluchten und Felshänge wider von peitschenden Schüssen und krachenden Handgranaten, dass die Erde bebte.

»Komm heraus, Memik Aga, ich lasse nicht locker.«

Kugeln hagelten auf den Steinblock, hinter dem Zalimoğlu in Deckung lag. Pferde wieherten, Kühe und Ochsen brüllten, Hunde bellten, Hähne krähten alle auf einmal, Menschen schrien, Kinder weinten, ein Durcheinander von Stimmen brach sich an den Felshängen, den Burgmauern und verwandelte die Nacht in das Chaos eines Weltuntergangs. Und über allem Lärm kreischte des unerbittlichen Zalimoğlus vor Wut bebende Stimme.

Auch vom Schiff am Fluss hallte Lärm herüber. Das so genannte Schiff war ein Floß an einem daumendicken Drahtseil, mit dem auch Gespanne, Autos, Trecker, ja Lastkraftwagen übergesetzt werden konnten. Jedenfalls hatte man es einmal mit einem alten, noch aus dem Krieg stammenden schrottreifen Fünftonner versucht, und das Floß war ohne zu kentern ans andere Ufer gelangt. Vielleicht versuchten jetzt Gendarmen überzusetzen und waren mit Zalimoğlus Männern aneinander geraten.

»Komm heraus, Memik Aga, du weißt, dass ich dich so oder so töten werde. Zwinge mich nicht, auch Unschuldigen Leid anzutun, denn wenn du nicht herauskommst, werde ich Feuer an deinen Konak legen und von sieben bis siebzig wird jeder im Haus bei lebendigem Leib verbrennen. Und morgen früh wird es heißen, der gottlose Zalimoğlu habe sogar Babys verbrannt; komm heraus, Memik Aga!«

Bis kurz vor Morgengrauen redete Zalimoğlu so weiter, flehte er Memik Aga sogar an. Der aber hüllte sich in Schweigen, antwortete den Angreifern mit einem Kugelhagel aus zehn, fünfzehn Gewehren durch Fenster und Türen.

»Ich zünde ihn jetzt an, deinen Konak, Memik Aga. Die ganze Nacht habe ich dich gebeten, herauszukommen, das ganze Dorf kann es bezeugen.«

Zuerst brannte es vorm Haupteingang, und als der Morgen graute, hatte das Feuer den ganzen Konak erfasst. Zalimoğlu lag mit dem Finger am Abzug hinter dem Steinblock und betrachtete den schönen, kalten Frauenkopf mit den weit geöffneten Augen, den gleich Schlangen ringelnden Haaren und der geraden Nase. Gott weiß, wer diese Frau einmal war, dachte er, nun ist sie tot und schon längst zu Staub zerfallen, nachdem sie vorher noch ihr Bildnis so lebendig hat in den Stein meißeln lassen, damit die Menschen auch weiterhin ihre Schönheit bewunderten. Aber die Erde hatte auch den Steinblock verschüttet, und niemand konnte sich mehr an die Frau erinnern. Und wozu soll ein Bildnis gut sein, wenn niemand weiß, wen es darstellt … Jetzt liegt sie da, mitten im Dorf zwischen Kuhfladen, starrt mit weit aufgerissenen Augen in die Welt, unbeeindruckt von Memik Agas Kugeln, die auf sie niederprasseln.

Laut schreiend war Mustafa aufgewacht und, ohne sich anzuziehen, nach Memik Agas Konak gerannt, wo er bis zum Morgengrauen hinter einem Steinblock, in den auch ein Frauenkopf eingemeißelt war, hockenblieb. Sein Vater und dessen Leute hatten sich mit gezogenen Waffen in ihrem Hof verschanzt und warteten ab. Nur seine Mutter war hinausgelaufen, rannte, ohne sich um die pfeifenden Kugeln zu kümmern, hierhin und dorthin und schrie in einem fort: »Mustafa, mein Mustafa, wo bist du?«

Bald danach kam auch Memet der Vogel herbei. Wo Mustafa war, musste er dabei sein! »Deine Mutter ist schon wieder hinter dir her«, meckerte er, »was ist das bloß für eine Mutter, Mann!«

»Soll sie doch suchen«, antwortete Mustafa aufgebracht, »sie tuts ja sowieso andauernd. Soll sie doch!«

»Soll sie doch«, kam das Echo von Vogel.

Mittlerweile brannte der Konak lichterloh. Durch Fenster und Türen, aus den Schornsteinen und den Fugen der Dachpfannen züngelten schon Flammen, doch der Schusswechsel hielt an.

Die Sonne war noch nicht aufgegangen. In gebührendem Abstand hatten sich die Dörfler zwischen den Felsen am gegenüberliegenden Hang versammelt und beobachteten schweigend, was da vor sich ging. Plötzlich sahen sie, wie Memik Aga, die Flinte in der Hand, aus der flammenverhüllten Tür torkelte und mit dem ausdruckslosen Blick eines Schlafwandlers benommen stehen blieb. Hinter ihm stürzten seine Söhne und seine Männer durch die Flammen ins Freie und blieben, auch sie wie Schlafwandler, blinzelnd neben ihm stehen. Zalimoğlu und seine Männer waren so überrascht, dass sie mit den Fingern am Abzug ratlos verharrten, während mitten auf dem Hof neun Mann wie in Trance von einer Seite zur anderen schwankten.

Es war Zalimoğlu, der sich zuerst fing und Memik Agas jüngsten Sohn, den Studenten Ismet, der sich um sich selbst drehte, mit einem Schuss niederstreckte, dann Hasan aus Ciğcik und Ali aufs Korn nahm und beide verwundete. Ali fiel schreiend zu Boden, schnellte aber sofort wieder auf die Beine und rannte durch die flammenspeiende Tür ins Haus zurück, kam gleich darauf noch einmal herausgeschossen, schaute um sich, lief durch die Flammen wieder ins Haus und stürzte auf der Stelle wieder ins Freie. Seine Jacke und Schirmmütze hatten Feuer gefangen. Und Memik Aga, der sich bisher nicht bewegt hatte, machte es ihm gleich, rannte im Kugelhagel wie ein Feueranbeter durch die brennende Tür ins Haus und wieder ins Freie, mit ihm die anderen Männer, und jedes Mal, wenn sie sich herausdrängten, fällte Zalimoğlu einen von ihnen. Die Getroffenen wälzten sich eine Weile schreiend am Boden, streckten sich dann und verstummten. Schließlich war nur noch Memik Aga übrig geblieben, der mit brennenden Kleidern immer wieder ins Haus rannte. Zalimoğlu feuerte auf ihn, schien aber nicht zu zielen. Am Ende bedeckten die Flammen Memik Agas ganzen Körper, er hob den Kopf, blickte mit leeren Augen um sich und verschwand im Haus. Zalimoğlu und die Dörfler warteten eine lange Zeit, doch Memik Aga kam nicht wieder.

Die Sonne ging auf, die Gipfel der Berge begannen zu leuchten, und silberner Glanz überzog den dahinströmenden Fluss. Erst als Memik Agas Konak, der Gästesaal und die anderen Gebäude im Hof bis auf die Grundmauern niedergebrannt waren, sammelte Zalimoğlu seine Leute um sich, wischte sich den Schweiß von der Stirn und verließ den Ort, ohne weder die Dörfler noch die Brandstätte auch nur eines einzigen weiteren Blickes gewürdigt zu haben. Erst jetzt liefen die Dörfler auf den Hof, kümmerten sich um die Toten und löschten das Feuer im kleinen, nicht völlig niedergebrannten Seitengebäude. Auch der Maulbeerbaum daneben, dessen Stamm der Araber, einer von Memik Agas Männern, umklammert hielt, hatte Feuer gefangen. Der Mann hatte die Rinde mit seinen Fingernägeln zerkratzt, und sie hatten große Mühe, ihn loszureißen, sonst wäre er mit dem Stamm zu Asche verbrannt.

Der halbverbrannte Maulbeerbaum war das Einzige, was von dem Hof später übrig blieb. Das Blut aus der klaffenden Bauchwunde des Arabers, der kurz danach starb, hatte den Stamm rot gefärbt.

Und jede Nacht, wenn die Adler um den felsigen Gipfel aus Feuerstein fliegen, beginnt der angekohlte Baum erneut zu bluten, rinnt das Blut in Strömen vom Stamm in die Erde. Eulen landen auf seinen Ästen, auch Geier, alt, kahlköpfig und verdreckt. Manchmal stöhnt der Baum bis in den Morgen, gibt Laute von sich wie ein Kleinkind, dem die Kehle durchgeschnitten wird.

Es war Mustafa, der als Erster entdeckt hatte, dass der Baum in Strömen Blut vergoß. Mit schreckgeweiteten Augen erzählte er es hinter vorgehaltener Hand den andern Kindern. Nächtelang beobachteten sie daraufhin gemeinsam den Baum, bis sie alle sahen, dass Blut aus ihm strömte, bis alle hörten, dass er mit seinen Blättern winselte wie ein verwundeter Wolf. Danach wurden auch die Frauen des Dorfes, nach ihnen die Alten und schließlich auch die Männer Zeugen dieses Wunders …

»Der Baum blutet«, sagte Mustafa.

»Hörst du, wie er wimmert?« fragte Memet der Vogel.

»Ich werde diesen Baum fällen«, flüsterte Mustafa zitternd.

»Dann verdorrt deine Hand, denn dieser Baum gehört zu den guten Wesen. Er ist ein Mensch«, entgegnete Memet der Vogel.

»Na und. Werden Menschen etwa nicht getötet?«

»Dann versuch doch mal, ihn abzusägen«, rief Memet der Vogel vorwurfsvoll.

»Das werde ich«, antwortete Mustafa.

Der Baum kam auf sie zu, und plötzlich stand Raupe vor ihrer Nase. »Stehen bleiben«, schrie er voller Freude, »ihr seid gefangen! Erledigt, jetzt haben wir euch alle!«

Mustafa und Memet waren in Schweiß gebadet; dass sie ja immer noch im Spiel waren, hatten sie völlig vergessen. Jetzt aber waren sie froh, dass Raupe sie gefunden hatte. »Morgen in aller Frühe lasse ich von meiner Mutter Mürbeteig mit Honig backen«, versprach Mustafa, »dazu bekommt jeder von euch eine Glasmurmel. Und wenn ihr wollt, kaufe ich im Laden auch noch Datteln und Dörrobstfladen für jeden.«

»Und von mir auch eine Glasmurmel für jeden«, sagte Vogel. »Diesmal habt ihr gewonnen.«

Über so viel Freigebigkeit war Yusuf die Raupe sehr angetan, auch wenn er es nicht begreifen konnte. Auch schien ihm, als hätten die beiden sich gar nicht versteckt, sondern seien immer nur gerannt, denn sie atmeten beide wie Blasebälge.

Die Kinder hatten sich allesamt vor der Moschee versammelt. Auch die Rinder des Dorfes lagen über den ganzen Platz verteilt und käuten wieder. Es roch durchdringend nach getrocknetem Dung und frischem Rinderkot.

Während Sieger und Besiegte freudig lärmend nach Hause liefen, zupfte Mustafa Memet am Ärmel und sagte: »Warte du noch ein bisschen, Memet!«

Memet wusste, worum Mustafa ihn bitten wollte, und es lief ihm eiskalt über den Rücken. »Ich fürchte mich wie alle andern, an eurem Haus vorbeizugehen, Mustafa«, sagte er. »Und alle Kinder fürchten diesen Salman … Geh du allein, es ist doch dein Zuhause.«

Mustafa senkte den Kopf. »Ich habe große Angst, Memet«, sagte er jetzt lauter, »ich sterbe vor Angst. Er wird niemand anderen, er wird mich töten.«

»Er wird auch mich töten und Raupe und Mistik den Kahlen und alle andern …« schrie Memet.

»Sei still, schrei nicht so, Memet, Bruder!« beschwor ihn Mustafa und verschloss ihm den Mund.

»Dieser Salman von den Männern deines Vaters«, flüsterte Memet der Vogel ängstlich, »der ist schlimmer noch als Zalimoğlu. Der wird jeden im Dorf umbringen, und er wird auch den Baum umsägen. Und er wird mich und meine Mutter und auch meinen Onkel töten. Ja, mich auch …«

»Mich wird er zuerst töten«, trumpfte Mustafa auf. Er hatte sich, mit dem Rücken gegen die Mauer der Moschee, hingehockt. Eine Weile sprachen sie nicht.

Als Erster ergriff Memet der Vogel wieder das Wort: »Ich komme mit dir. Mir bleibt ja nichts anderes übrig, als mitzukommen. Sonst tötet dich der Mann. Mich wird er ja auch töten, na ja … Aber ich komme nur bis zur Hofecke, nicht weiter.«

»Komm bis dorthin mit, das andere überlass mir. Aber du wirst dort warten, bis ich im Haus bin, ja? Salman kann dich dort nicht sehen.«

»Ich warte solange«, versprach Memet der Vogel. »Bück dich, wenn du an der Mauer entlanggehst!«

Eine Wolke kam und verdeckte, welch ein Glück, den Mond, und gebückt glitt Mustafa an der Mauer entlang. »Warte nicht länger«, flüsterte er, »Salman kann mich jetzt nicht sehen.« Dann kroch er auf allen vieren weiter.

Doch Memet der Vogel war ein Freund von bestem Schrot und Korn. Obwohl seine Zähne vor Angst aufeinander schlugen, wich er nicht, bis Mustafa die Tür geöffnet hatte und im Haus verschwunden war. Ein echter Freund ist nun mal so!

2

Wenn weit draußen über dem Mittelmeer die aufgeblähten weißen Wolken sich übereinander türmen und in den Himmel steigen, brist auch der Westwind auf. Ein frischer, feuchter, ein bisschen auch nach Meer riechender Wind. Er kommt erst am Nachmittag auf, sanft zuerst, wird dann immer schneller, fegt den Staub über die Landstraßen, schleudert ihn zu wirbelnden Staubsäulen hoch, die er vor sich her treibt und weiter zu den stellenweise schneebedeckten Binboğa-Bergen, den Bergen der Tausend Stiere, die in verschiedenfarbigen Gebirgsketten hintereinander liegen, dunkelviolett zuerst, dann in helles Lila übergehend, dahinter ein dunkelblaues Band, sich immer mehr aufhellend, bis die letzten Ketten sich wie ein schwebender Schleier im Blau des Himmels auflösen.

In der brütenden Hitze regte sich kein Lebewesen, Mensch und Tier hatten im Schatten Schutz gesucht. Mustafa saß im Zimmer und betrachtete gedankenversunken das glitzernde Bündel Sonnenstrahlen, das durchs Fenster kreisrund auf den alten Turkmenenkelim fiel.

Nach einer Weile riss der Junge sich vom Anblick des lichten Kreises, in dem die Sonne den Kelim in einen farbenprächtigen Paradiesgarten verwandelte, los, stand auf, hüpfte auf einem Bein ins Freie zum Balkon, wo er stehen blieb und zum Schwalbennest hinaufstarrte, bis ihm der Nacken schmerzte. Er hatte richtig gezählt, im Nest hockten fünf rosarote Schwälbchen mit großen, gelben Schnäbeln und hervorquellenden Augen. Kam ihre Mutter auch nur in die Nähe des Nestes, rissen alle fünf ihre Schnäbel sperrangelweit auf, streckten ihre Hälse zu unglaublicher Länge und legten los. Es gab vieles auf dieser Welt, worüber Mustafa sich wunderte, aber am meisten erstaunte ihn, dass so kleine Geschöpfe so einen Riesenlärm veranstalten konnten. Zuerst verbrachte er Stunden damit, die in tausenderlei Farben leuchtenden Muster der Kelims auf dem Fußboden und an den Wänden zu betrachten, verlor er sich in diesem Meer von Blüten und Blumen; hatte er sich daran sattgesehen, ging er ans Fenster und vertiefte sich in die blau, rot, gelb, grün glitzernden Funken der Lichtstrahlen, die auf die Kelims fielen, danach kam das Schwalbennest wieder an die Reihe. Mustafa musste über diese witzigen Geschöpfe immer wieder lachen. Über die Ankunft der Mutter freuten sie sich so sehr, spektakelten sie so laut, dass, angesteckt von ihrer Freude, Mustafa war, als wüchsen ihm Flügel und er flöge davon. Als eines Tages die Schwalbe sich wieder dem Nest näherte, ertappte er sich dabei, wie er genau wie die Jungvögel mit gestrecktem Hals auf sie wartete. Darüber lachte er so unbändig, dass er sich die Seiten halten musste, während er, den Kopf im Nacken, immer noch zum Nest hinaufschaute.

Der Grauschimmel teilte sich den Stall unter dem Konak mit sechs anderen Rassepferden. Und elf weitere standen im lang gestreckten Stall bei den Felsen. Mustafa spielte am liebsten in den Ställen bei den Pferden, aber er hatte Angst vor Salman, der seinerseits gern mit den Pferden spielte. Es gab drei Stuten in dem großen Pferdestall, unter ihnen ein sehr schönes rotbraunes Fohlen mit funkelndem Fell, das draußen in der Sonne sehr hell schimmerte, sich im Dämmer des Stalls dagegen in ein bräunliches Rot verwandelte.

Eines Tages hatte Mustafa beobachtet, wie Salman im Pferdestall hinter dem rotbraunen Stutfohlen stand und sich an seiner Kruppe zu schaffen machte. Er hatte gleich erfasst, was da vor sich ging, und war nicht einmal überrascht gewesen. Denn er hatte schon einmal gesehen, wie ein Hengst eine Stute bestieg, dabei Beine und die Kruppe bog, während sein ganzer Körper zitterte. Die Stute unter ihm hatte ganz klein ausgesehen und wie unbeteiligt breitbeinig dagestanden, als der Hengst seine großen Zähne in ihre Mähne grub. Kaum dass er die Stute gewahrt hatte, war er schon auf die Hinterhand gestiegen, hatte gewiehert und ausgeschlagen und war nicht mehr zu halten gewesen. Und als er über ihr war, hatte es eine ganze Weile gedauert, bis es ihm endlich gelungen war, sein Glied in sie hineinzuschieben; dann hatte sich seine Kruppe verkrampft, und er hatte zu zittern begonnen. Doch als er von ihr abließ, war er ganz ruhig und ließ die Ohren hängen. Auch Salman hatte hinter dem rotbraunen Stutfohlen geschwitzt. An seiner Kruppe klebend, lag er über ihm und keuchte. Und als er von dem Fohlen abließ, waren seine angsterfüllten Augen noch kleiner geworden, mit seinem steifen Glied in der Hand schaute er sich Hilfe suchend nach allen Seiten um. Dann zog er plötzlich seine Pluderhosen hoch, band sie zu und lief aus dem Stall. Mustafa hatte diesmal einen so großen Schrecken vor Salman bekommen, dass ihm die Knie zu zittern begannen und er beinah ohnmächtig geworden wäre. Da hatte es sich gut getroffen, dass im selben Augenblick der Stallmeister Süllü hereingekommen war, ein schlanker, runzeliger, großer Mann, die krummen Beine in Reithosen und blanken Stiefeln. Sein Kopf war wie der Kopf eines Greifs.

»Nanu, Salman?« hatte er gerufen, als er in der Stalltür auf Salman gestoßen war. »Dein Weg führt dich immer wieder in unseren Stall; solltest du zu einem schönäugigen Geschöpf in unglücklicher Liebe entbrannt sein?«

Salman antwortete nicht und wandte den Kopf ab.

Draußen herrschte gleißende Hitze, der Himmel war ganz weiß. Felsen, Häuser, Bäume, Fluss, Burg, Büsche, Gräser: Alles dampfte in Weiß. Fast war es, als wolle der Fluss, der träge durch die Ebene floss, sich in Dampf auflösen und davonfliegen.

Mustafas Vater, Ismail Aga, hatte die Zimmertür von innen abgeschlossen. Weil er nachts wenig schlief, machte er am Tage immer ein Schläfchen, wenn er nicht viel zu tun hatte. Doch auch dann lag sein Revolver griffbereit unter seiner Rechten, seine blitzblanke Deutsche Flinte gut verstaut unter dem Kopfkissen.

Er schlief schon sehr lange. Wenn er bloß aufwachte und sie zusammen hinauf zur Ringmauer der Burg in die Kühle der Felsen gehen könnten. Ungeduldig schlug Mustafa in der Diele mit den Füßen auf den Fußboden. Seine Mutter, die Frau und die Kinder seines Onkels, die Leibwächter Hasan und Hüseyin und sogar Salman waren im Nebenhaus. Es war kleiner und auch nicht mit so schönen Kelims ausgelegt. Ja, alle Fußböden hier waren mit Kelims ausgelegt, und in sämtlichen Zimmern standen ringsum an den Wänden Polsterbänke, auf denen auch Kelims lagen. Kelims in allen Farben und Formen. Von betörender Schönheit auch die Stickereien auf den längs der Wände aufgereihten, prallvollen Beuteln.

Mustafa erzählte niemandem, was Salman mit dem rotbraunen Stutfohlen getrieben hatte. Er hatte ein Gespür, dass man so etwas keinem weitererzählte.

Trotz seiner Angst, belauerte er Salman weiterhin. Ging Salman in den Stall, bezog Mustafa seinen Posten, drückte sein Auge an den Spalt im Röhrichtzaun und beobachtete ihn, bis er fertig war. Einmal war ihm, als habe Salman ihn entdeckt, und da wäre er vor Schreck fast gestorben. Eine lange Zeit wagte er nicht, seinen Platz hinter dem Röhricht zu verlassen, und während sein Herz dröhnend pochte, waren seine Glieder eiskalt und wie gelähmt. Salman würde ihn umbringen, wenn er ihn beim Zuschauen entdeckte. Nach diesem Vorfall schwor Mustafa sich, Salman nicht mehr nachzuspionieren. Eine Zeitlang hielt er sich an seinen Schwur, obwohl er zu zittern begann und vor Neugier fast krepierte, wenn er sah, dass Salman den Stall aufsuchte. War Mustafa etwa der Mann, der einen Schwur brach, den er sich selbst auferlegt hatte?

Es war an einem Nachmittag, als Salman sich nach allen Seiten vorsichtig umschaute, es zog ihn wieder in den Stall. Er betastete mit der Rechten immer wieder seine Hoden. Diese Bewegung versetzte auch Mustafa plötzlich in wilde Erregung, stürzte ihn in einen Traum genüsslicher Gier, sein ganzer Körper begann zu beben, sein Glied reckte sich und wurde steif. Um sich blickend ging Salman in den Stall, und wie von einer unbekannten Macht getrieben, zog es Mustafa zum Spalt im Röhrichtzaun. Sein Atem ging schwer, sein Körper war wie im Fieber, und sein Gesicht brannte. Er drückte sein Auge auf das Loch, Salman stand hinter dem Fohlen und war schon längst dabei. Das rotbraune Fohlen drückte ganz behutsam seine Kruppe gegen Salmans Leiste, wendete dann den Kopf und ließ seine traurigen Augen mit einem eigenartigen Ausdruck auf dem hinter ihm stehenden Mann ruhen, schaute wie ein Mensch, stumm, verständnisvoll. Wie schön es war, dem Fohlen und Salman zuzuschauen. Dem Fohlen musste dieses zärtliche Treiben auch sehr gefallen, denn es schaute sich immer wieder nach Salman um, reckte sich behaglich, und war das Treiben der beiden zu Ende, stellte es seine Beine ganz breit und strullte, dass es nur so rauschte. Und Salman bückte sich, dass es aussah, als schnuppere er an der Pisse. Wenn Mustafa groß ist, wird er es mit dem rotbraunen Fohlen auch so treiben wie Salman. Schließlich hat er ganz genau hingeschaut. Das steife Glied wie eine Stange in seiner Hand, schwirrten ihm gleichzeitig die unmöglichsten Gedanken durch den Kopf: Was Salman wohl mit dem Fohlen täte, wenn es von ihm ein Kind bekäme! Vielleicht würde das rotbraune Stutfohlen auch kein Fohlen, sondern ein Baby gebären, das Salman ähnlich sähe. Vielleicht würde es ja zur Hälfte als Pferd, zur Hälfte als Mensch auf die Welt kommen, was dann, ja, was täte Salman dann? Ein Baby mit Pferdekopf und Menschenkörper! Ob es auch wie ein Pferd wieherte, wenn es weinte? Und wenn es mit einem Menschenkopf und einem Pferdekörper geboren würde? Solche Pferde soll es früher sehr, sehr viele gegeben haben. Hatte Ferhat Hodscha das nicht dem Vater erzählt? Also hatten früher die Menschen genau wie Salman viele, viele Stutfohlen zu ihren Frauen gemacht. Jetzt war das rotbraune Fohlen Salmans Weib, und das wusste niemand außer Mustafa, ja, das Fohlen war schlicht und einfach Salmans Weib! Mustafa stellte sich vor, wie das Fohlen mit Menschenkopf und Pferdekörper größer wurde und er auf ihm ritt. Da musste er lachen, erschrak aber gleich bei diesem Gedanken, denn nie und nimmer würde Salman ihn auf seiner Tochter reiten lassen! Vielleicht würde wie Salman so hässlich auch seine Tochter werden, vielleicht aber würde Salman das Fohlen mit dem Menschenkopf schon bei der Geburt töten, bevor es jemandem auffiel. Ausgenommen Mustafa! Denn von nun an würde er die beiden keine Minute aus den Augen lassen und auf jeden Fall sehen, wenn die rotbraune Stute fohlte. Die Zeit der Niederkunft würde Mustafa auch an der Leibesfülle der Stute erkennen. Nein, nein, um sich vor der ganzen Welt nicht schämen zu müssen, würde Salman das Fohlenbaby töten. Nein, er kann es gar nicht töten, denn dann würde Mustafa dem Vater alles erzählen, mit allem Drum und Dran … Auch wenn Salman ihm androhte, ihn zu erwürgen, aus ihm Hackfleisch zu machen, Mustafa würde Krach schlagen, zur Regierung gehen, zur Gendarmerie, ja, zu Vaters Feind, dem großen Bey mit dem Automobil, und allen erzählen, Vater und Salman hätten gemeinsam … Denn er befürchtete, dass sein Vater zu Salman halten würde. Die beiden würden sich zusammentun, das Fohlenbaby töten, die Leiche in einen Sack stecken, in den Ceyhan werfen, und der Fluss würde die Leiche des armen Fohlens davontragen, den Fischen, diesen breitmäuligen, zwei Mann großen Welsen, zum Fraß. Sein Vater würde vielleicht, aber nur vielleicht, Mitleid haben mit dem Baby … Vielleicht würde er dieses klitzekleine rotbraune Fohlen mit dem Menschenkopf sogar lieb gewinnen … Vielleicht würde es auch nicht wie Salman aussehen, sondern als ein schönes Mädchen geboren werden, mit einem Gesicht wie die immer wieder verwundert hinter sich blickende rotbraune Stute, mit großen, traurigen Augen … Zuerst müsste er es dem Vater erzählen. Nein, nein, nicht seinem Vater, sondern Hasan und Hüseyin. Sie waren gutmütig, weichherzig, freundlich und trotz ihrer ausladenden, gezwirbelten Schnurrbärte gute Menschen. Hasan würde seine großen, schwarzen Augen weit aufreißen, seine faustgroßen Augen, die alles sahen, wie Feldstecher. Sicher hatte er auch gesehen, was Salman mit dem rotbraunen Fohlen im Stall machte, aber sagte es niemandem, so verschwiegen wie er war. Vielleicht aber hatte auch er Angst vor Salman. Ja, vor Salman hatte jedermann Angst.

Am schneeweißen Himmel pechschwarze Punkte: Pfeilschnell flitzten die Schwalben im Zickzack hin und her. Mustafa hing am Geländer in der Diele und wartete auf das wilde Gefiepe der Nestjungen, das sie bei der Ankunft ihrer Mutter veranstalteten. Wenn sie loslegten, wollte er auch schreien, vielleicht wachte dann sein Vater auf. Früher hatte der Vater ihn viel lieber als jetzt, schimpfte ihn nie aus, was immer er auch anstellte, sagte nur: »Mein Löwenjunge, mein kleiner Recke!«

Vielleicht würde er auch jetzt nicht schelten, trotzdem, Mustafa hatte Angst. In letzter Zeit machte ihm alles Angst. Sogar der kleine Pfirsichbaum, an dessen Zweigen genau elf rosa Blüten aufgehen würden, wenn er blühte. Und vor allem diese Glucke da, hinter der dreiundzwanzig Küken hermarschierten. Mustafa war von diesen gelbflaumigen Knäueln im staubigen Hof ja begeistert, aber vor ihrer Mutter, dieser Glucke, hatte er Angst. Sie war ein bedrohliches, stämmiges Huhn, das sich sogar auf die raublustigen Adler stürzte, die an ihre Brut wollten und, gescheucht von ihren wütenden Angriffen, in alle Himmelsrichtungen Reißaus nahmen. Der Vater nahm ihn auch nicht mehr auf die Schultern, sondern nur noch fest bei der Hand, wenn sie irgendwohin mussten. Früher, Mustafa erinnert sich genau, nahm er ihn sogar zu Pferde auf seine Schultern. Einmal waren sie bis zur großen Kreuzung so geritten. Seine Beine im Nacken des Vaters waren schon wie gelähmt, aber Mustafa hatte keinen Mucks von sich gegeben. An der Kreuzung schmerzten seine Beine schon so, dass er fast nicht gehen konnte, alle Glieder waren verkrampft, aber er hatte die Zähne zusammengebissen und geschwiegen, schon aus Angst, vom Vater nicht mehr auf die Schultern genommen zu werden. Sie waren auf dem Weg zu den Apfelsinengärten, die an der Kreuzung lagen. Dort waren sie Gast in einem schönen, schneeweiß gekalkten Konak. Ein blondes Mädchen war auch dort, mit blauen Augen, ihre Haare schimmerten wie das Licht des Tages; und eine Frau mit weißem Kopftuch, himmelblauen Augen und vielen Runzeln. Tausende gelbe Apfelsinen und Zitronen drängten durch das Grün der Bäume, und mitten im Garten lagen berghoch aufgehäufte Apfelsinen, und dort trafen sie einen weißbärtigen Mann, auch er mit tiefblauen Augen, Mustafa Aga den Kreter, Vaters Freund. Und überall dieser ihm so fremde, ganz andere, lebendige Duft der Orangengärten … Der Duft dieser Gärten erinnert ein bisschen an die Kiefernwälder mit ihren klaren, kieselweißen Quellen, vermischt mit dem Geruch der Poleiminze …

Durchs gefächerte Sonnenlicht, das durch die Fenster fiel, flog manchmal eine Hornisse, dann wieder eine gelbliche Honigbiene, hin und wieder aber auch wie sprühende Funken eine bunt schillernde Wespe. Als Mustafa, gelangweilt vom langen Warten auf die Schwalbe, wieder in die Diele zurückkehrte, sah er, wie eine dieser Wespen im Sonnenlicht ihre Kreise zog. Sie schien sehr wütend. Und Mustafa konnte sich an wütend flitzenden Wespen nicht sattsehen. Er ließ sich auf einen Kelim nieder und beobachtete, das Kinn in beide Hände gestützt, die Wespe, verlor sich dabei in Gedanken und vergaß seinen Vater. Die Wespe schoß vom Fenster auf den Kelim, vom Kelim an die Decke, wagte sich aber nicht aus der Lichtbahn heraus. Zum Fenster hinaus konnte sie auch nicht; außer sich vor Wut kreiste und flitzte sie hin und her, bläulicher Schimmer und tausenderlei kristallene Glitzer auf ihren Flügeln … Funkensprühend wurde sie immer schneller, war bald nicht mehr zu sehen, nur ihr immer schriller klingendes Sirren war zu hören, schlug plötzlich um in tiefes Gebrumm, und dann zog sie wieder ganz feine Linien aus Tausenden flimmernden Funken durch den breit gefächert einfallenden Sonnenstrahl, die sofort wieder verlöschten. Diese Linien gingen vom Blau über in Purpurrot, wurden violett, dehnten sich, zogen sich zusammen, fielen auf den Kelim und bildeten dort stahlblau und dunkelrot glitzernde Funkenknäuel. Mustafa riss die Augen ganz weit auf, dann veränderten sich die von der Wespe gezogenen Kreise, ihr Gesumm, die Funken und das Glitzern, er schloss die Augen, und die Wespe, ihre Flügel, die rötlich strömenden Glitzer sahen wieder ganz anders aus.

Für Mustafa war es der Himmel auf Erden, fiel eine Wespe in den Schacht von einfallendem Sonnenlicht. Draußen in der Sonne benahmen sich die Wespen ganz anders. Manchmal wartete er vergeblich, dass eine Wespe in das Strahlenbündel flog. Dafür gab es aber auch Tage, an denen gleich mehrere Wespen dort kreisten, sich ihr Gesumm, ihr Geglitzer vervielfältigte und sie auf dem Kelim Millionen dunkelblauer, purpurroter, orangefarbener Knäuel stählern blitzender, nadelspitzer Funken hinterließen. Und an manchen Tagen kam es vor, dass es einer Wespe von morgens bis abends nicht gelang, sich aus dem Strahlenschacht zu befreien, und je länger sie da drinnen wirbelte, desto wütender wurde sie, und je wütender sie wurde, desto rasender zog sie ihre Linien, desto mehr Funkenknäuel zeichnete sie auf die Muster des Kelims. Dann vergaß Mustafa vor Begeisterung sogar Essen und Trinken, flitzte er in einem himmlischen Traum mit der Wespe im Lichtstrom hin und her, Funken sprühend, das pochende Herz voll strahlender Freude. Und in solchen Augenblicken vergaß Mustafa seinen Vater und Salman, und den von Adlern verspeisten Osman, und die Schlucht, und Zalimoğlu, und den Maulbeerbaum, aus dessen Stamm wie Wasser aus der Quelle ununterbrochen Blut strömte. Kehrte Mustafa von den Wespen und den Kelims zurück auf diese Erde, fiel er in eine Hölle der Angst, des Schauders und Schreckens.

Die Stimme seines Vaters riss ihn aus den Träumen. Groß und breit stand er neben ihm und lächelte selbstsicher. Wenn auch jedermann meinte, sein Vater fürchte sich vor nichts – Mustafa wusste, dass auch dieser mächtige Mann große Angst hatte. Und jedes Mal wenn seinen Vater die Furcht packte, bohrte sich eine schreckliche Angst auch in Mustafas Herz. Ein Schatten huschte über Vaters Augen, Gesicht und Hände, wenn er sich ängstigte, und augenblicklich ließ dieser Schatten auch Mustafa erschauern. Es ist schon sehr lange her, da starb Mustafa fast vor Angst, als er auf Vaters Schultern den Grauschimmel ritt. Der Vater starb auch vor Angst, aber er ließ es sich nicht anmerken. Und auch dem Pferd unter ihnen zitterten die Beine, ob es ging oder galoppierte.

Mustafa wusste, wann und vor wem sich sein Vater fürchtete, auch wenn er nicht bei ihm war. Und wenn Mustafa erschrak, ängstigte sich auch sein Vater. Anfangs wollte Ismail Aga gar nicht glauben, dass der Maulbeerbaum blutete, niemand im Dorf glaubte es. Aber Mustafa hatte es gesehen! War es ein Traum, eine Vorstellung? Alle Kinder des Dorfes sahen dann, zu Tode erschrocken, gemeinsam mit Mustafa, wie der Baum platsch, platsch zu bluten begann. Danach die Frauen, zuallererst Mutter Hava und schließlich die alten Männer. Die jungen Burschen allerdings sahen nichts, obwohl sie den Baum nächtelang bis in den Morgen hinein beobachteten. Dennoch waren auch sie davon überzeugt.

Dass der Baum in Strömen blute, war auch dem hoch oben in den Bergen hausenden Räuber Zalimoğlu zu Ohren gekommen; darüber wild vor Wut, hatte er die Dörfler wissen lassen: »Und wenn meinetwegen alle Bäume Tag und Nacht bluten, dazu die Erde, die Steine, Felsen, Gewässer, Blumen und Gräser, so werde ich dennoch alle Memik Agas des Dorfes und der ganzen Welt samt Kind und Kegel zu Hackfleisch schnetzeln. Und jeden aus dem Geschlecht Memik Agas bis hin zum entferntesten Verwandten. Denn ich habe geschworen, alles Böse dieser Welt an den Wurzeln auszutrocknen!«