Salih der Träumer - Yaşar Kemal - E-Book

Salih der Träumer E-Book

Yasar Kemal

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Beschreibung

Ein aufregender Sommer für Salih, den Träumer und Taugenichts. Ganze Tage verbringt er am Meer, schaut dem Farbenspiel der Wellen zu und wartet darauf, dass die Fischkutter von Käptn Temel einfahren. Zu Hause interessiert sich niemand für ihn. Da findet Salih ein verletztes Möwenjunges, das seine Fürsorge braucht. Nur eins kann den gebrochenen Flügel retten und die Möwe wieder zum Fliegen bringen – die Salbe seiner Großmutter. Bloß: Salih und die Großmutter sind sich spinnefeind. Und so bleibt Salih nichts, als weiterzuträumen: vom blauen Lastwagen im Schaufenster des Wucherers Haci Nusret, vom unglücklichen Schlangenprinzen – und nicht zuletzt von der Rettung seiner geliebten Möwe. Eine bezaubernde Kindheitsgeschichte voller großer Hoffnungen, atemraubender Schrecken und tiefer Gefühle.

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Seitenzahl: 725

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Über dieses Buch

Ein aufregender Sommer für Salih, den Träumer und Taugenichts. Das verletzte Möwenjunge, das er am Strand gefunden hat, braucht seine ganze Fürsorge. Bloß: Wer kann ihm helfen? Vielleicht Käptn Temel? Oder doch seine garstige Großmutter? Eine bezaubernde Kindheitsgeschichte voller Hoffnungen, atemraubender Schrecken und tiefer Gefühle.

Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.

Yaşar Kemal (1923-2015) wird der »Sänger und Chronist seines Landes« genannt. Er wuchs in einem Dorf Südanatoliens auf und lebte in Istanbul. 1997 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 2008 wurde er mit dem Türkischen Staatspreis geehrt.

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Gerhard Meier (*1957) studierte Romanistik und Germanistik. Seit 1986 lebt er bei Lyon, wo er literarische Werke aus dem Französischen und aus dem Türkischen (Hasan Ali Toptas, Orhan Pamuk, Murat Uyurkulak) überträgt. 2014 wurde er mit dem Paul-Celan-Preis ausgezeichnet.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Hardcover, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Yaşar Kemal

Salih der Träumer

Roman

Aus dem Türkischen von Gerhard Meier

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 6 Dokumente

Die Originalausgabe erschien 1976 unter dem Titel Al Gözüm Seyreyle Salih bei Cem Yayinevi, Istanbul.

Die Übersetzung wurde gefördert von TEDA, einem Projekt des Ministeriums für Kultur und Tourismus der Republik Türkei.

Originaltitel: Al Gözüm Seyreyle Salih

© by Yaşar Kemal 1976

© by Unionsverlag, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Julydfg und Ijdema

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30794-0

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

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Version vom 05.06.2022, 17:43h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

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Inhaltsverzeichnis

SALIH DER TRÄUMER

1 – Salih lag schon lange wach. Beim ersten Hahnenschrei …2 – Im ganzen Ort roch es herrlich nach Meer …3 – Salih setzte sich auf einen Felsen und sah …4 – Salih suchte und suchte und fand schließlich einen …5 – Salihs Schwester freute sich, als sie ihren kleinen …6 – Von den Häusern des Ortes, die sich an …7 – Salih erwachte am nächsten Morgen sehr spät …8 – Die Läden waren alle entlang der Hauptstraße aufgereiht …9 – Am Ende der Welt glänzte es blau …10 – Sein Vater würde lieber sterben, als ihm Geld …11 – Die blaue Windhose über dem Meer drehte und …12 – Salih musste seine letzten Kräfte aufbieten, um überhaupt …13 – Käpt’n Temel, die anderen Kapitäne, die Fischer und …14 – Salih sah zwei Gestalten, die sich von Kumbaba …15 – Salih fand eine riesige Plastiktüte, mit der ging …16 – Salih stand schon seit Mittag an der Tür …17 – Die Möwe spazierte noch immer im Haus herum …18 – Käpt’n Temel ließ alles liegen und stehen …19 – Aus jenem fernen Garten ertönte klagender Vogelgesang …20 – Seit dem frühen Morgen saß Salih im Schatten …

Mehr über dieses Buch

Über Yaşar Kemal

Günter Grass: Laudatio auf Yaşar Kemal

Yaşar Kemal: Über die Sprache

Yaşar Kemal: Die Natur, Universum der Mythen

Yaşar Kemal: Das Gefängnis – die Schule der türkischen Literatur

Yaşar Kemal: »Die Epen sind wie Kiesel auf dem Grund des Stromes«

Lucien Leitess: Vor seinen Büchern werden wir wieder zu Kindern

Über Gerhard Meier

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1

Salih lag schon lange wach. Beim ersten Hahnenschrei sprang er aus dem Bett, klatschte sich Wasser ins Gesicht, und schon war er draußen. Alle im Haus schliefen noch. Traurig standen die Webstühle da, wie blutleere Leichen. Und doch hatte Salih auf dem Weg zum Meer das Klappern der Webstühle im Kopf, das Sausen der Schiffchen. Bald würden die Fischer, einer nach dem anderen, weit aufs Meer hinausfahren und, so empfand er es, dahinter verschwinden. Auch Käpt’n Temel würde mit seinem großen Kutter ablegen, der wie ein blauer Vogel aussah. So nannte Käpt’n Temel ihn auch zärtlich: mein blauer Vogel.

Als Salih am Kai anlangte, an seinem Beobachtungsposten in einer Felsenhöhle, fuhr auch schon der erste Kutter hinaus. Es gehörte Käpt’n Schwarzer Osman, einem Mann mit langem Hals, roten Wangen und einem Gesicht wie ein Raubvogel. Doch was war das für ein Kapitän, wenn kein Matrose es je bei ihm aushielt? Jeder fuhr nur einmal mit ihm aufs Meer hinaus und war dann heilfroh, wieder an Land zu sein. So hatte Käpt’n Schwarzer Osman nie mehr als zwei, drei Matrosen an Bord. Er war entsetzlich jähzornig. Immer und immer musste er recht haben, worum es auch ging. Jedes Geschöpf auf Erden schien ihm nur dazu da, ihn zu ärgern.

Im Winter und Frühling kamen vom Schwarzen Meer, vom Marmarameer und von den Dardanellen her viele Fischkutter in den Hafen, und es wimmelte am Kai vor Menschen.

Nach Käpt’n Schwarzer Osman fuhr die Tägliches Brot hinaus, ihr folgte die grüne Meeresrose. Nach und nach tuckerten auch die anderen Kutter los und zogen dabei lange Rauchschwaden hinter sich her.

Käpt’n Temel legte als Neunter ab, wie Salih aufmerksam zählte. Um den Hals hatte er wie stets ein rotes Taschentuch.

Allmählich wurde das Knattern der Motoren immer leiser, bis schließlich nichts mehr zu hören war. Nach einer Weile verschwanden die Kutter am Horizont, als kippten sie dort einfach weg. Das Meer lag wieder völlig leer da.

Von der Insel Diş flog ein Möwenschwarm auf, flatterte wie ein riesiges weißes Betttuch durch die Luft, bis er sich wieder auf die dunkle Insel herabsenkte und ihr hellen Glanz verlieh.

Salih starrte noch ein wenig auf das spiegelglatte Meer. Dann sah er den Möwen zu, die ihn aber auch bald langweilten, sodass er schwerfällig aufstand und den Strand entlang in Richtung Kumtepe schlenderte. Er trat dabei immer wieder auf vorzüngelnde Wellen, durch die der Sand adrig durchzogen war wie ein stark gemasertes Stück Holz. Geriffelte Muscheln standen daraus hervor, als habe der Strand eine Gänsehaut. Überall lagen Flaschen herum, Scherben, Holzstücke, Plastikbälle, Becher, Eimer, Kanister … Der Strand war mit Teer besudelt, auch die Insel war bis auf halber Höhe mit Teer bedeckt, und das ganze Meer roch danach.

Salih erblickte ein totes Kormoranjunges. Sein Leib steckte im Sand, während der kleine Kopf von den Wellen hin und her gespült wurde, als zuckte er noch. Salih sah sich an dem traurigen Anblick fest. Was war das, der Tod? Wie war er, und wo? Wie war das Vögelchen umgekommen, das sich wohl gestern noch im Meer getummelt hatte? Was war der Tod, wo kam er her? War er ein leibhaftiges Wesen?

Salih hob den toten Kormoran auf und kletterte damit mühsam auf einen Felsen. Dabei schürfte er sich die Knie und die linke Hand auf. Von oben schleuderte er den Vogel so weit wie möglich ins Meer hinaus. Der Kormoran traf auf eine große Welle, tauchte ein paar Mal unter und wieder auf, und trieb schließlich auf dem Meer dahin.

Schnell kletterte Salih wieder hinunter. Aus dem Ort hörte er von ferne Hammerschläge. Die Wellen schlugen bis an den Felsen heran, und Salih musste sich abstützen, um nicht zu Fall zu kommen. Da hielt er auf einmal inne. An einer ausgehöhlten Stelle sah er im flachen Wasser ein Möwenjunges mit den Flügeln schlagen. Klopfenden Herzens lief er darauf zu. Das Möwenjunge hatte den schwarzgelben Schnabel weit aufgesperrt und ließ die zerzausten Flügel ziellos flattern. Salih beugte sich zu dem Tier hinunter und nahm es auf die Hand. Einer der Flügel war gebrochen und die Federn daran stellenweise wie ausgerupft.

Salih barg die zitternde Möwe in seinem T-Shirt und sah ihr lang in die schönen Augen. Bis ihm kam, dass das Tier ja sterben konnte, während er es da tatenlos anstarrte.

Möwen fraßen Fische, also Möwenjunge wohl auch? Freudig durchzuckte es Salih. Und der gebrochene Flügel? Da musste wohl das Gleiche geschehen wie bei einem Menschen. Vielleicht aber auch nicht? Seine Großmutter war eine richtiggehende Plage, ein furchtbares Weib, böse auf ihn, böse auf jeden, böse auf die ganze Welt. Und natürlich auch auf jedes Tier, das da kreuchte und fleuchte. Doch obwohl sie am liebsten alles kurz und klein geschlagen und ausgerottet hätte, war sie auch imstande, heilende Salben zu mischen. Wäre mit Salben, die selbst Schusswunden in drei Tagen verheilen ließen, nicht auch der Flügel eines winzigen Vogels wieder gut geworden? Ihre Salben ließen jeden gesunden, das wussten alle im Ort, auf den Dörfern und die ganze Küste entlang. Selbst die Schmuggler und die Piraten auf dem Meer wussten, dass jene Salben sogar Tote wieder zum Leben erweckten. Wie aber sollte Salih der Großmutter dieses verletzte Vögelchen präsentieren? Er hatte sich so gefreut, es gefunden zu haben, und würde vor Freude vielleicht sogar verrückt werden, so herrlich anzuschauen waren diese Augen, die rauchgrauen Federn, die schneeweiße Brust.

Nun wurde Salih von großer Reue gepackt. Bereut hatte er schon zuvor, jetzt aber wurde die Reue unermesslich. Er hatte seiner Großmutter nämlich etwas Schlimmes angetan, etwas ganz, ganz Schlimmes. Nur gut, dass die alte Hexe daran nicht gestorben war. Oder vielmehr: Wäre sie doch gestorben! »Sollen sie doch sterben, solche Leute«, grummelte Salih. »Sollen sie sterben, anstatt jedermann Feind zu sein und in der Hölle zu leben.«

Immer wütender wurde Salih, und in Richtung Meer zischte er scharf: »Sterben sollen sie!« Aber so böse die Großmutter auch sein mochte, er hätte ihr das nicht antun dürfen, und getan hatte er es wohl nur, weil er noch ein Kind war. Sie aber hegte seither einen bitteren Groll auf ihn. Bestimmt war ihre Wut noch nicht verraucht. Vielleicht würde sie ihm eines Nachts die Gurgel umdrehen und ihn dann achtlos zu Boden werfen. Wenn sie so am Webstuhl saß, warf sie Salih Blicke zu wie vergiftete Kugeln; die gingen Salih durch und durch.

Das hatte er nun davon. Seinetwegen würde die arme Möwe sterben müssen. Hätte er seiner Großmutter das nicht angetan, so hätte sie ihm die Salbe vielleicht angerührt und vielleicht sogar mit eigener Hand den Flügel des armen Tiers damit bestrichen. Was heißt hier vielleicht, ganz sicher hätte sie das getan. Sie mochte jedem Tier grollen, dass es da gab, und sogar jeder harmlos blühenden Pflanze, doch war sie nun so alt, dass sie ihre Feindschaft manchmal vergaß, sodass ihr Gesicht plötzlich aufleuchtete wie das eines kleinen Babys, nur eben mit Runzeln darin wie Spinnweben. Und wenn Salih so einen Augenblick erwischt hätte, dann hätte er vielleicht die Salbe von ihr bekommen.

Weil sie auch allen immer nur Böses wollte! Er biss die Zähne zusammen. Ganz recht geschah ihr, was er getan hatte. Doch auszubaden hatte es der Vogel.

Es sei denn …

Gab es denn sonst niemanden, der so einen Flügel hätte heilen können? Eilig ging er die Bewohner des Ortes durch, einen nach dem anderen, aber verflucht und zugenäht, da war nun mal niemand außer seiner Großmutter. Menschen gab es genug, darunter auch sehr gute, doch mit einer Salbe einen Toten wieder zum Leben erwecken, das konnte einzig und allein das alte Weib mit dem Galgengesicht.

Manchmal mochte er die Frau sogar. Das konnte Salih sich aber nicht eingestehen. Es war ein Gefühl, das er gleich wieder beiseiteschob.

Er sah dem Vogel in die Augen, untersuchte eingehend den Flügel, und am liebsten hätte er das halb tote Tier, das ja doch nicht mehr zu retten war, einfach seinem Schicksal überlassen oder es von dem Felsen hinab ins Meer geschleudert wie den toten Kormoran, aber der Kormoran war eben tot gewesen, und dieses Dingelchen war noch lebendig, es konnte durchaus wieder gesund werden, vor allem, falls es die Salbe der Großmutter bekam, und so konnte er den Vogel nicht irgendwo liegen lassen.

»Ach, ich lass ihn einfach hier. Ich geh nicht hin zu der alten Hexe.«

»Du lässt ihn nicht hier liegen«, erwiderte er sich selbst.

»Tu ich doch.«

»Tust du nicht.«

Wer ihm aus der Ferne so zuhörte, hätte denken können, dass da zwei Leute, zwei Kinder, heftig miteinander stritten.

»Wer behauptet, ich könnte ihn nicht liegen lassen?«

»Du kannst es eben nicht.«

»Und ob! Was geht mich der Vogel an?«

»Du kannst es nicht!«

Salih streckte dem Jungen, der die Möwe liegen lassen wollte, die Zunge heraus und schnitt ihm Grimassen.

Auf die Wut des einen reagierte der andere mit Spott: »Du hast doch bloß Schiss vor deiner Großmutter!«

»Warum sollte ich?«

»Die erwürgt dich doch!«

Der Junge, der die Möwe nicht mitnehmen wollte, senkte beschämt den Kopf.

»Hm, vielleicht.«

»Und bloß deshalb willst du sie verrecken lassen. Aus lauter Angst.«

»Sie soll ja nicht verrecken, ich mach sie wieder gesund.«

»Das schaffst du nie.«

»Und wie ich das schaffe!«

»Ach was! Wenn du so toll wärst, wärst du längst von zu Hause abgehauen!«

Ihr Streit wurde so wild, dass sie schon die Fäuste schwangen. Was sie einander zuriefen, war kaum zu verstehen, war nur mehr der Radau zweier Jungen, die sich am Strand beschimpften wie die Rohrspatzen.

Wie Karagöz und Hacivat, dachte Salih schmunzelnd, die beiden Figuren aus dem Schattenspiel, die immer und ewig miteinander stritten. Aber wie kam es bloß, dass die beiden Jungen tatsächlich mit zwei verschiedenen Stimmen sprachen?

»Jetzt halt mal die Klappe«, rief Salih.

»Halt du die Klappe, du Feigling«, versetzte der andere. »Du hast vor deiner Großmutter Angst, und du hast Angst vor allem und jedem!«

»Dass ich nicht lache! Habe ich vielleicht Angst vor dem Meer? Ich traue mich nachts zum Leuchtturm und auf den Friedhof, ich klettere auf Bäume, und sogar vor Piraten …«

Salih merkte gar nicht, wie leise ihr Streit geworden war. In ihrer Wut und ihrem Überschwang redeten sie nur noch tonlos vor sich hin.

Von wegen Friedhof! Du machst dir jetzt schon vor Angst in die Hose. Der Vogel da wird sterben. Und deine Großmutter auch. Du meinst, die kümmert sich um ihn? Ach was! Krepieren soll sie. Und wenn ich ihr schöntue und ihr die Hand küsse? Das bringst du nicht über dich. Und außerdem kannst du ihr auch den Hintern küssen, und sie erwürgt dich doch irgendwann. Irgendwann, in der Nacht, mit ihren Fingern wie Schraubstöcke. Der Vogel da ist bald tot. Oder auch nicht. Gerade war er noch ganz lebendig. Er sieht einen an wie ein Mensch. Bahri … Die vielen Fliegen. Wie viele Schwäne haben sie erschlagen? Dabei kann man ihr Fleisch gar nicht essen. Das viele Blut. Da hattest du auch Angst. Bei so viel Blut. Vor Blut hat jeder Angst. Fast gestorben wärst du vor Angst. Jedes Kind stirbt vor Angst. Käpt’n Halim starb nicht vor Angst. Den hat sein Vater erschlagen. War sein Vater denn verrückt? Spinnst du jetzt? Der war doch nicht verrückt.

»Mensch, ich werde verrückt«, dachte Salih. »Ich streite hier mit mir selber!«

Unter lauter Selbstgesprächen kam er zu Hause an. Der Kopf der Möwe hing ihm über den rechten Arm herunter. Plötzlich zuckte das Tier. Kam es wieder zu sich, oder waren das Todeszuckungen? Die Möwe hob den Kopf, sie war also nicht tot.

Jetzt würde er es mit der Großmutter zu tun bekommen, der alten Schreckschraube …

Fünf, sechs Mal hatte er schon die Hand an der Tür, und immer wieder zog er sie zurück.

Da war gleich der andere Junge wieder da.

»Feigling! Feigling! So was Feiges wie dich gibts ja nicht noch mal! Traust dich nicht mal nach Hause, weil du Angst vor einem alten Weib hast!«

»Und ob ich mich traue. Wirst es gleich sehen.«

»Nichts werde ich sehen.«

»Ich geh jetzt einfach rein.«

»Musst sie halt anflehen, deine Großmutter. Der schöne Vogel!«

»Und wie schön! Wenn erst der Flügel wieder heil ist …«

»Los!«

Das »Los!« sagte Salih laut, und dadurch kam er wieder zu sich. Entschlossen machte er die Gartentür auf.

2

Im ganzen Ort roch es herrlich nach Meer. Kreischend flogen Scharen von Möwen wie Wolken über die roten Ziegeldächer hinweg auf den Gipfel des Berges zu.

Weiß, blassrot und grün waren die klobigen Häuser über dem Kliff aufgereiht wie auf einer Schnur. Ihre Schatten reichten manchmal, ganz selten, bis auf das glänzend blaue Meer hinab. Im Ort hieß es oft, sie hätten schon ein seltsames Meer vor der Tür; ständig wechsle es die Farbe. Mal sei es kupferrot, mal gelb, dann wieder grün, orange, milchweiß, aschgrau oder wolkenfarbig. Stets ein wenig in Dunst gehüllt, schwappte es vor sich hin.

Die Schmiede lag links von der Hauptstraße, auf der dem Meer zugewandten Seite. Aus Esse und Schornstein schlugen Tag und Nacht stahlblaue Funken heraus.

Meister Ismail machte sich in seiner Werkstatt zu schaffen. Ab und an fachte er mit dem Blasebalg das funkenfliegende Feuer wieder an. Sein Laden war voll mit Eisenrädern, blitzscharfen, ziselierten Äxten, Ketten und allerhand anderem Gerät. Da war der riesige, blitzblanke Amboss in der Mitte, die Hämmer in den verschiedensten Größen, die rot glühenden Eisenstücke, die davonspringenden Funken, die glühende Asche …

Meister Ismail war eine Ehrfurcht einflößende Erscheinung. So finster wie einst blickte er allerdings nicht mehr drein. Er mochte an die siebzig sein, vielleicht sogar achtzig, oder neunzig gar. Nun aber freute er sich wie ein Kind. Unter den buschigen weißen Augenbrauen leuchteten grasgrüne Augen hervor. Er bewegte sich schwerfällig, gemessen, doch Hände und Füße zuckten vor Freude, als wären Kastagnetten daran befestigt. Seine wuchernden weißen Haare verwuchsen mit dem nicht minder wuchernden schneeweißen Bart. Um sich vor Funkenflug zu schützen, trug er wie alle Schmiede eine Lederschürze, und selbst die, alt und abgewetzt, wie sie war, sah heute gut an ihm aus, genauso wie seine langfingrigen Hände. Wie faltig Nacken und Hals schon waren, fiel heute nicht auf. Der Meister summte ein anmutiges Lied, und das klang noch schöner als sonst, verzaubernd geradezu.

Seit wie vielen Jahren saß Salih nun schon vor dieser Schmiede und sah sie unentwegt an? Wie lange spielte er schon unter der riesigen Platane, deren Äste sich über die Hauptstraße wölbten und die Werkstatt des Meisters bedeckten? Aus den Vogelnestern in der Platane zwitscherte es überschäumend fröhlich heraus. Oft schon hatte Salih aus der Schmiede heraus Hammerschläge gehört, doch hatten sie je so schön geklungen wie jetzt?

Das Meer zog sich endlos hin, pur und rein.

Das Inselchen Ocakli schien gerade erst dem Wasser entquollen. Der quadratische Turm darauf wuchs empor wie ein Baum. Aus seinen vier Fenstern floss Licht aufs Meer herab.

Die gewöhnlich so mürrisch blickenden Fischer trugen heitere Mienen zur Schau. In ihren roten, grünen, violetten, weißen, gelben und ziegelfarbenen Netzen, die sie am Strand entlang ausgebreitet und zwischen Bäumen aufgespannt hatten, zappelten Tausende von silbrigen Fischen. Unter ihrer Last gebeugte Matrosen schafften ständig neue Körbe herbei und leerten sie auf die diversen Haufen am Kai. »Wunderbar! Das nenne ich einen Fang!«, riefen die sonst so wortkargen Fischer aus. Es war eben ein ganz besonderer Tag, ein Tag voller Licht.

Salih wusste gar nicht, wohin mit all seiner Freude.

Meister Ismail murmelte und summte sein Liedchen nur, aber das klang so reizend, dass man gebannt innehielt, sobald man es vernahm. Bis zu der großen Platane war es zu hören.

Dann ging Salih zum Ufer hinunter, zum Kai. Die Fischer hatten allesamt dicke orangefarbene Öljacken an, in denen sie sich nur schwerfällig bewegten. Die Netze waren nun über den gesamten Kai gebreitet. Die meisten waren ziegelrot, doch auch gelbe, blaue und orangefarbene waren darunter. Die dicht an dicht gereihten Kutter waren an schweren Eisenringen vertäut. Weit und flach lag das Meer da. Salih machte sich auf die Suche nach Käpt’n Temel mit seinem kurzen grauen Bart und dem kahlen glänzenden Kopf. Drei Kutter besaß Käpt’n Temel, alle drei waren blau gestrichen. Einer hellblau, einer mittelblau und einer dunkelblau. Alle drei hießen sie Käpt’n Temel. Käpt’n Temel eins, Käpt’n Temel zwei, Käpt’n Temel drei. Um jeden der Kutter lief ein grüner Streifen herum, und vorne am Bug prangte auf der rechten Seite jeweils ein fliegender Fisch mit langen Flügeln, in dunklem Violett. Der Kopf des fliegenden Fisches sah ein wenig aus wie der Kopf eines Menschen, eines Mädchens mit großen Augen. Die Masten der Boote waren sehr hoch.

Schließlich fand Salih Käpt’n Temel. Er lehnte mit ausgestreckten Beinen am Leuchtturm, die Mütze tief ins Gesicht gezogen, um sich vor der Sonne zu schützen. Salih hüpfte das Herz vor Freude. Hatte er doch gewusst, dass er ihn dort finden würde! Käpt’n Temel hatte einen faltigen Hals, und seine Hände waren von Flecken übersät. So wie Salih Hände und Gesicht von Meister Ismail kannte und auch sein Wesen und den Laden und alles, was sich darin befand, so genau wusste er auch über Käpt’n Temel Bescheid. Und so oft, wie Salih seit frühester Kindheit von morgens bis abends neben dem Geißblatt vor der Schmiede Meister Ismails gesessen und die Augen nicht von der glühenden Esse gewandt hatte, so oft hatte er auch hier, am Kai, auf das lichtdurchflutete Meer gestarrt, auf die eingeholten Netze, die zappelnden Fische, auf die müden Matrosen mit den salzverkrusteten Augen und auf Käpt’n Temel.

So wie Salih bei Meister Ismail jede einzelne Regung kannte, jede Freude und jede Wut, so kannte er auch Käpt’n Temel.

Salih hatte es nun wirklich satt. Seine Eltern warfen ihm vor, dass er immer nur herumlungere, und im ganzen Viertel mochte ihn keiner leiden. Niemand, kein Einziger. Weder die Eltern noch die Schwestern noch sonst jemand. Als ob er irgendeine schlimme Krankheit hätte und alle damit ansteckte. Sobald er im Viertel auftauchte, trafen ihn finstere, böse Blicke. Und deshalb hatte Salih … Ach, vielleicht wollte er ja nur, dass die Leute ihn so anschauten. In seinen Selbstgesprächen gab er das manchmal zu. Es kam schon vor, dass er angelächelt wurde, sobald er das Viertel nur betrat, und dann … Weiter kam er nicht, denn in Wirklichkeit mochten sie ihn überhaupt nicht und starrten ihn immer nur finster und schweigsam an …

Im ganzen Ort webten sie Stoffe, von morgens bis abends und von abends bis morgens; in allen Häusern ratterten Webstühle. Jeder verstand sich aufs Weben, von den kleinen Mädchen bis zu den alten Männern. Nur Salih webte nicht, und deshalb waren ihm alle böse. Die Kaffeehäuser waren voller Männer, aber denen war keiner böse. Alle hatten sich zusammengetan, um nur Salih allein böse zu sein. Und von jedem, den er traf, wurde er beschimpft und beleidigt. Fast mit Wonne dachte Salih daran. Was für ein Junge er denn sei? Ob man so was schon gesehen habe? So ein fauler Bengel solle sich am besten das Genick brechen. Statt Essen solle man ihm lieber Gift hinstellen! Fehlte bloß noch, dass die anderen Kinder es ihm nachtaten. Dann sei es nämlich um das Viertel geschehen, und um den ganzen Ort gleich mit. Verhungern würden sie alle, verhungern!

Und war nicht er es auch, der mit der Schleuder auf Vogeljagd ging? Und alle Nester leer räumte? Und den Fischern ihre Fische klaute und ihre Netze und überhaupt alles? Nichts war doch sicher vor ihm!

Salih wurde bald elf.

Er hatte ein feines Kinn und große blaue Augen, die immer weit offen standen, als würde er niemals blinzeln müssen. Er war groß gewachsen und eher dünn. Seine Finger waren außergewöhnlich lang. Er trug eine blaue Jeans, die ihm ab den Knien nur noch in Fetzen herabhing. An den Füßen hatte er nagelneue Gummischuhe mit dicker Sohle. Darüber tratschte man im ganzen Viertel. Einem schlafenden Touristen habe er sie von den Füßen weggestohlen, hieß es. Dabei hatte Salih sein ganzes Leben lang noch nichts gestohlen. Weder für seine Jeans noch für sein T-Shirt mit dem bärtigen Mann darauf oder für seinen Gürtel hatte er auch nur einen Kuruş ausgegeben, aber gestohlen hatte er dennoch nichts. Der Mann auf dem T-Shirt mit dem Bart und der Mütze sah ein wenig traurig drein, aber sehr freundlich. Auf seiner Mütze, direkt an der Stirn, prangte ein roter Stern. Lange nachdem Salih das T-Shirt von einer hübschen jungen Touristin geschenkt bekommen hatte, begann er sich zu fragen, wer der bärtige Mann darauf eigentlich sei. Da war es aber viel zu spät, denn das Mädchen war längst abgereist. Und wen er danach auch fragte, von keinem bekam er eine befriedigende Antwort. Der eine meinte dies, der andere jenes, aber etwas Rechtes kam nie dabei heraus. Wodurch Salih nur immer neugieriger wurde. Manchmal schwamm er zur Insel Ocakli hinüber, zog das T-Shirt aus, band es mit den Ärmeln an einen Olivenbaum und sah den traurigen Mann mit den schönen Augen lange an. Wer konnte das bloß sein? Warum hatte man sein Gesicht auf einem T-Shirt abgebildet? Vielleicht war er mit der Touristin verwandt, oder es war ihr Freund …

Dann band er das T-Shirt wieder ab, streifte es sich über den nackten Körper und ging zum Kai, wo die Fischer ihre Netze trockneten.

Käpt’n Temel streckte und reckte sich in der Sonne. Weiter vorn kauerten die Matrosen auf dem Zementboden und reparierten die Netze. Man sah gedrungene, orangefarbene Gestalten über Blaues, Rotes, Grünes, Weißes und Gelbes gebeugt; immer wieder stand einer auf und bückte sich gleich wieder hinunter. Ein Teil der Netze hing in den Bäumen wie Wolken über dem Meer.

Es leuchtete alles an jenem Tag. Die Kutter, die Netze, die Fische, die riesige Platane, die Wolken, das Meer. Käpt’n Temel, die Matrosen, Meister Ismail, die Eisenteile, die Hämmer, der Blasebalg. Der Ort roch nach Meer, nach Salz.

Salih war unentschlossen.

Lange kauerte er vor dem schlummernden Käpt’n Temel und sah ihm zu, wie er sich hin und wieder regte. Dieser Mann, der so wütend sein konnte und dann jedermann mit den übelsten Flüchen bedachte, lag nun da wie ein Kind und schlief. Bald würde er aufwachen und sich beim Anblick von Salih wahnsinnig freuen. »Na, Salih, komm mit, hauen wir ab von hier, rüber in die eine Bucht. Hast du deine Schleuder dabei, und Murmeln zum Verschießen? Und wo ist dein Vogelnetz? Komm, amüsieren wir uns!« Tja, das würde er wohl sagen.

Weit vorne stand ein orangefarbener Matrose leicht schwankend auf, und sein orangener Schatten fiel aufs Meer, das gleich selber ganz orange wurde. Der Matrose lief erregt auf sie zu und rief etwas. Da wachte Käpt’n Temel auf und streckte sich.

»Was ist denn los?«, fragte er verschlafen.

Der Matrose stotterte etwas. Käpt’n Temel stand auf, zog sich die Hose zurecht und sah sich um. Da erblickte er Salih. Er deutete ein Lächeln an, sagte aber nichts. Dann wandte er sich ab und ging davon. Von den Netzen her rief man ihm etwas zu.

Enttäuscht schlurfte Salih ihm nach.

Käpt’n Temel rief: »So was kommt schon mal vor. Räumt die Netze jetzt auf.« Und mit Blick auf Salih: »Bist ja wieder da, Matrose.«

»Ja«, erwiderte Salih unlustig und sah dabei zu Boden.

»Na, dann mach dich an die Arbeit.«

Darauf packte auch Salih mit an.

Bis zum Nachmittag waren sie damit beschäftigt, die Netze wieder in die Boote zu räumen. Im Fischkasten jedes Kutters schwammen noch munter Fische herum. Die Körbe waren randvoll mit glänzenden Rot- und Streifenbarben. Die Knurrhähne mit ihren großen hervorstehenden Augen wurden auf dem Bug der Kutter auf einen Haufen geworfen.

Wenn Käpt’n Temel gut gelaunt war, steckte er zwei großen Fischen die Finger in die Ohren und rief, vor lauter Freude fast zitternd: »Los, Salih, fang!«

Salih erwischte den ersten der beiden Fische in vollem Flug. Sogleich hatte er Fischgeruch am ganzen Körper und war mit Schuppen bedeckt.

»Da kommt noch einer, Salih!«

Auch den zweiten fing Salih genauso geschickt auf. Dass er einen Fisch hätte fallen lassen, war noch nie vorgekommen.

An solchen Fischtagen war Salih bester Dinge. Er reihte die Fische an einer Schnur auf, und trug er sie in der rechten Hand, dann bog er den Körper übertrieben nach links, und trug er sie links, so hatte er die Schlagseite rechts. Wenn er damit im Viertel ankam, musterten die Leute seine Ausbeute und starrten diesen nichtsnutzigen Salih neidisch und feindselig an.

Was, nichtsnutzig nannten sie ihn? Ausgerechnet ihn, Salih? Ach, diese widerwärtigen Menschen! Die Frauen und die Kinder rackerten sich zwölf Monate im Jahr an ihren dunklen, feuchten Webstühlen ab, während die Männer tagaus, tagein faul im Kaffeehaus hockten. Schwindsüchtig wurden sie an ihren Webstühlen und darbten vor sich hin … So war es doch!

Schnaufend und schimpfend lief Käpt’n Temel am Kai hin und her. Die rötlich grauen Haare auf seiner Brust hoben und senkten sich rhythmisch. Er ließ die Stiefel auf den Zement knallen und rief immer wütender umher. Schon schwollen ihm die Halsadern an.

Doch sobald sein Blick auf Salih fiel, der ihn unverwandt anblickte, verrauchte sein Zorn. Er lächelte Salih an, zwinkerte ihm zu, dann sprang er auf seinen Kutter, hob einen Knurrhahn auf und schleuderte ihn zu Salih hinüber. Salih war schon auf der Hut, und den Fisch, der da wie eine Flamme an ihn heranzüngelte, packte er geschickt an den Kiemen. Der Käpt’n ließ gleich noch einen folgen, und noch einen, und jeden erwischte Salih in der Luft. Aber von dem blauen Kutter aus schossen immer noch mehr rote Fischflammen herüber, sodass auf dem Kai bald ein ganzer Haufen von Knurrhähnen lag. Die glasigen Augen der Fische glänzten wie rote Spiegel, und von den roten Fischrücken blitzte es auf wie von stahlblauen Nadelspitzen.

Da kamen Katzen angeschlichen und bildeten um den roten Fischhaufen einen Kreis. Sie stellten ihre Schwänze auf und saßen von da an bewegungslos da. Es wurde Nacht, und es wurde wieder Tag, minaretthohe Wellen schlugen über sie hinweg, Tausende von Möwen stürzten vom Himmel herab und machten sich über den Fischhaufen her, doch die Katzen rührten sich nicht vom Fleck. Nur einmal ruckelten sie alle gemeinsam in freudiger Erwartung mit dem Schwanz, dann saßen sie wieder reglos da, mit Hunderten von immer wieder aufblitzenden Augen.

Aus der Luft kamen noch immer rote Knurrhähne auf den Fischhaufen zugeflogen. Dahinter stand vergnügt das Gesicht von Käpt’n Temel. Und noch weiter dahinter die mürrische Fratze der Großmutter. Die Katzen, die Möwen, die Großmutter … Wie herrlich ihre Salben immer dufteten, vor allem, wenn sie noch auf dem Feuer standen. Doch war sie eben jedermann böse. Und Salih, wenn sie den erwischte, dann würde sie kurzen Prozess mit ihm machen. Ach, wenn er ihr das doch nicht angetan hätte!

Käpt’n Temel schlief in der Sonne, und sein kräftiger Schnurrbart ging auf und nieder. Die Mütze war tief in die Stirn gezogen, der Hals voller Falten.

Auf die Insel Diş segelten die Möwen wieder herab wie ein in der Luft flatterndes Bettuch, mit dem sie die ganze Insel bedeckten, und gleich darauf schwärmten sie auch schon wieder los.

Käpt’n Temel drehte sich nach links und nach rechts, und seinen Lippen entfuhr ein »Pff«.

»Na, Käpt’n Salih, hast du deine Murmeln dabei? Hauen wir ab von hier.«

»Ja, hauen wir ab.«

»Und wohin?«

»Auf die verlassene Insel, auf die sich keiner traut.«

Wer weiß, was es dort alles gibt … Möwen, wie noch keiner sie gesehen hat, geflügelte Pferde, pferdgroße rote Ameisen, Meeresungeheuer, sprechende Fische, Pfirsichbäume, die das ganze Jahr über blühen, ja selbst dann noch, wenn über die Welt ein tosender Schneesturm fegt …

»Hauen wir ab, Käpt’n Temel.«

»Ja, hauen wir ab, Salih.«

»Käpt’n Temel, Käpt’n Temel … Wach auf, Käpt’n Temel. Schau doch, was ich dir mitgebracht habe, und hör dir an, was ich dir sagen will.«

Käpt’n Temel wird nicht wach. Ihn wiegen die Sonne und das Plätschern der Wellen, und im Traum sieht er schon den blühenden Pfirsichbaum. Der blüht immerfort, und kaum gehen die Blüten auf, da fallen sie auch schon wieder ab, violett, gelb, rot, grün, orange, weiß, rosa, blau. Schicht auf Schicht bilden sie einen bunten Reigen um den Baum herum. Salih watet bis zu den Knien in den Blüten. Knurrhähne mit roten Flossen, riesigen Zähnen und langen Stacheln fliegen in der Luft umher.

»Käpt’n Temel, Käpt’n Temel, ich bins, Salih, wach doch auf, ich bin extra zu dir gekommen. Weil keiner mir … Weil jeder immer gleich … Wen habe ich denn auf der Welt außer dir? Ist es nicht schade um mich? Wach doch bitte auf, Käpt’n Temel. Und sei mir nicht böse, wenn du wach bist.«

Käpt’n Temel stützte sich auf die Ellbogen und starrte mit blutunterlaufenen Augen irgendwohin in die Ferne.

»Wach auf, Käpt’n Temel, wach auf.«

Käpt’n Temel sah sich kurz um, legte sich dann den rechten Arm zurecht, bettete den Kopf darauf und fing auch schon an zu schnarchen. Der Schnurrbart hing ihm bis auf den Boden herab.

»Käpt’n Temel, hör doch zu, was ich dir sagen will …«

Die Katzen hatten sich inzwischen über die Knurrhähne hergemacht. Jede schleppte einen ganzen Fisch davon, verkroch sich damit zwischen Felsen, in einer Höhle oder im Sand, und mit hochgestellten Haaren und gekrümmtem Rücken fraß sie gierig raunzend in sich hinein.

»Käpt’n Temel, Käpt’n Temel, steh endlich auf. Schau doch her … Du …«

3

Salih setzte sich auf einen Felsen und sah den Möwen zu, die die Insel Diş umflatterten. Er kannte jeden Stein auf der Insel, weil er sich oft dorthin flüchtete, wenn er in Nöten war. Auch die Möwen dort kannte er bestens, und überhaupt, wer auf Erden wusste besser über Möwen, über Wolken und Hornissen Bescheid als Salih? Und über Käpt’n Temel und Meister Ismail? Und über Spinnenlöcher und Schwanenseen? Hm, wer?

Käpt’n Ali blickte nie von seiner Arbeit auf, seine Hände wieselten nur so über das blaue Netz und flickten und flickten und ließen den blauen Haufen neben ihm immer weiter anwachsen. Etwas weiter vorne machte Käpt’n Rüstem sich an einem ziegelroten Netz zu schaffen.

Käpt’n Aslan schichtete sein grünes Netz nicht zu einem Haufen, sondern breitete es am Kai aus, der wie eine bunte Ausstellung wirkte. Die Männer, die dort arbeiteten, hatten alle eine Hakennase und eingefallene Wangen. Ihre steifen Hosen sahen aus wie Ofenrohre mit einem Knick in der Mitte. Jeder, auch die Jüngeren, ging stets leicht gebeugt.

Salih verstand sich aufs Netzeknüpfen, ja er war darin so geschickt, dass alle nur staunen konnten. Wie das kam, wusste nicht einmal Salih selbst. Als er sechs oder sieben war, hatte er einmal frühmorgens, als das Meer noch ganz weiß war, auf den Felsen gesessen, die vom Kai auf die Insel Zeytin führten, und auf einmal war er aufgestanden, hatte sich zu Käpt’n Temel gesetzt, sich eine Nadel von ihm erbeten, und obwohl er eine solche zum ersten Mal im Leben in der Hand gehalten hatte, hatte er sogleich damit losgeflickt, und zwar genauso gleichmäßig und fehlerlos wie Käpt’n Temel selbst. Die Fischer waren alle ganz verblüfft gewesen, und am Abend hatten sie ihn mit ein paar Kisten voller Barben heimgeschickt. Und was hatte Salih mit den Fischen gemacht? Nun, was sollte er schon machen? Eine der Kisten hatte er zu Hause abgegeben und die anderen zum Markt gebracht und sie dort an den Fischer Hikmet verhökert, der ihm für die noch ganz frische, zappelnde Ware eine Menge Geld gegeben hatte. Und was hatte er damit gemacht? Nun, was sollte er schon damit machen? Ein Paar Schuhe hatte er sich davon gekauft, wie er sie schon ewig lang wollte, und zwar Fischerstiefel mit gelbem Schaft. Und was hatte er mit den Fischerstiefeln angefangen? Nun, das war aus ihm nicht herauszubringen. Ein paar Tage lang hatte er sie jedenfalls auch zum Schlafen nicht ausgezogen.

Wenn Salih morgens wach wurde, ging er sofort, ob Sommer oder Winter, zu dem grauen Felsen vor der Insel Zeytin und setzte sich dort in seine Höhle. Von dort sah er auf die noch halb im Dunkel liegende Insel Diş, auf die sich Möwenschwärme herabsenkten wie weiße Wolken und dann wieder aufflatterten wie Fahnen im Wind.

Jeden Morgen verabschiedete Salih die Fischkutter, wenn sie noch vor Sonnenaufgang hinausfuhren auf das weiße Meer, das dann erfüllt war von dem farbenfrohen Spiel der Fischkutter, von all dem Blau und Rot und Grün und Gelb, das sich, je weiter die Kutter sich entfernten, mit dem Blau und dem Weiß des Meeres vermischte, zärtlich zerfloss und sich dann ganz und gar in dem wieder völlig flachen Meer verflüchtigte.

Salih machte das Angst. Was wurde dort aus den Fischern, wie konnten sie so einfach verschwinden? Ganz still lag das Meer da. Salih wäre gern auf einem der Kutter mitgefahren, mit diesen hochmastigen, dickbauchigen Gefährten mit ihrem krummen Bug. Und die Fischer hätten ihn auch mitgenommen. War Käpt’n Temel nicht schließlich sein Freund? Spähte Salih aus seiner Höhle heraus nicht immer auf Käpt’n Temels Hände und seine blutunterlaufenen, warmen Augen? Wenn diese Hände ein Netz flickten, dann strichen sie so liebevoll mit der hölzernen Nadel durch das Nylongarn, als ob es ein lebendiges Wesen wäre.

Seit Salih denken konnte, staunte er alles an, was ihn umgab. Er war dazu geboren, zu sehen und zu staunen. Das hatte ihm Käpt’n Temel einmal gesagt. Es war damals gewesen, als sie sich gerade angefreundet hatten, wohl etwa einen Monat, nachdem Salih zum ersten Mal ein Netz geflickt hatte, da hatte Käpt’n Temel die Hand ausgestreckt, mit diesen unheimlichen langen Fingern, lang wie Schilfrohre, die so gern streichelten, und war Salih durchs Haar gefahren.

»Den träumenden Salih sollte man dich nennen, so wie du alles anstaunst«, hatte er gesagt.

Seit jeher tat Salih, sobald er nur etwas erblickte, weit die Augen auf, und von irgendeiner Warte, ob nah oder fern, starrte er, was sich ihm da bot, staunend an, als würde er hineinschlüpfen, würde seine Seele dafür hingeben, und was er an Kraft und Anteilnahme auch nur irgend aufbieten konnte, das verdichtete er in seinen Augen, und so wurde er mit dem Gesehenen eins, und wurde Baum mit einem Baum, Vogel mit einem Vogel, Wolke mit einer Wolke, Fisch mit einem Fisch, Blume mit einer Blume, Ameise mit einer Ameise, und wurde Mensch mit einem geliebten Menschen.

Die Platane etwa, die Meister Ismails Schmiede überragte, und die mächtigen Wacholdersträucher daneben, die konnte Salih von der kleinen Anhöhe gegenüber tagelang anschauen, ohne je die Augen abzuwenden. Die Äste der Platane waren voller Vogelnester, aus denen abends die zauseligen Vogeljungen ihre Hälse herausstreckten und dabei mit den weit aufgerissenen Schnäbeln ein herrlich verrücktes Lärmen veranstalteten, das sich genauso wenig nach Vögeln anhörte wie nach sonst einem bekannten Geräusch. Wie viele Tage, ja Wochen starrte Salih die Platane und den wuchernden Wacholder an, er wusste es selber nicht, wie sollten es da andere wissen. Salih war ja auch noch so klein, dass kaum einer ihn wahrnahm auf dieser Welt.

Von seiner Felsenhöhle auf der Insel Zeytin sah er ein oder gar zwei Jahre lang den Fischern zu, bis Käpt’n Temel ihn endlich bemerkte. Und das auch nur, weil Salih verzweifelt auf sich aufmerksam gemacht hatte.

Und Meister Ismail, wie viele Tage, Monate, Jahre hatte er Salih geflissentlich übersehen. Salih hatte an der Schwelle der Schmiede gesessen, auf die Hände von Meister Ismail und auf die glühenden Eisen gestarrt und gewartet und gewartet. Wie viele Monate, wie viele Jahre über hatte Salih sommers wie winters, manchmal in eisiger Kälte darauf geharrt, dass Meister Ismail frühmorgens seinen Laden aufsperrte. Wie oft war er vor der Schmiede wieder eingeschlafen und dann hochgeschreckt, wenn der Meister seinen Rollladen hochrasseln ließ. Wie und wie oft war das geschehen?

Oder Meister Dursun, der Schreiner, der so überarbeitet war, dass er Salih sowieso nicht sah. Dabei mochte Salih diesen Dursun doch mehr als jeden anderen auf der Welt. Meister Dursun fertigte im alten Stil Kommoden, Stühle und Sessel an, die er allesamt mit raffiniert geschnitzten Rosen verzierte. Er war ein ziemlich verrückter Mann, der ganz alleine wohnte. Er stammte nicht aus der Gegend, verriet aber auch keinem, woher er war.

»Da, aus dem Meer, da bin ich her, reicht dir das?«, sagte er höchstens und schüttelte sich dann vor Lachen.

Salih sah stundenlang Meister Dursuns Händen zu. Das Atelier des Meisters – er nannte seinen Laden Atelier – roch nach Farbe, nach Bäumen, nach Harz. Vor allem, wenn darin Holz gesägt wurde, dufteten Himmel und Erde, Weg und Steg, Stein und Mensch nach Kiefernholz, und dann wähnte Salih manchmal, er sei selbst – wenn schon nicht ein ganzer Kiefernwald – ein Kiefernschössling mit Zweigen und Blättern.

Wenn der träumende Salih ins Betrachten von Meister Dursuns Händen vertieft war, sah er zugleich das Meer und sah Möwen, Fischkutter, Netze, Schmetterlinge, einen langbeinigen Grauschimmel und war dabei so versunken, dass er das Essen und Trinken vergaß. So manche Nacht ging seine Mutter ihn suchen und fand ihn schlafend in seiner Felsenhöhle, vor der Schmiede oder an der Schwelle zur Schreinerei, und dann brachte sie ihn nach Hause. Mit seiner Art trieb Salih seine Eltern und seine Schwestern in den Wahnsinn. Die ältere seiner Schwestern mochte er gern, denn sie verstand ihn, sie las in seinem Herzen. Die jüngere dagegen war eine Gans und glich am ehesten ihrer Großmutter.

Salih erlernte das Schmieden, und als Schmied würde er einmal arbeiten. Durch beständiges Zusehen und Staunen hatte er sich das Handwerk bis in die kleinsten Finessen angeeignet. Und hätte man ihn gelassen, wäre er sofort imstande gewesen, ein Messer zu schmieden, ein Beil, einen Pflug.

Aber auch das Schreinern hatte er auf diese Weise gelernt, und das Fischen ebenso.

Er hatte einmal ein Pferd gesehen, am Meeresufer bei den Weinenden Felsen, im Morgengrauen. Er war aufgewacht, und da hatte es dagestanden, ein in Licht getauchter Grauschimmel, in angespannter Haltung, doch völlig reglos. Als die Sonne aufging, hatte er den Kopf hochgereckt, die Nüstern gebläht und die schneeweißen Zähne gebleckt. Der Himmel war blau und blauer geworden, und Salih hatte über den Anblick des Grauschimmels alles andere vergessen, sogar sich selbst. Vielleicht war er ja selbst zu diesem Pferd geworden, er wusste es nicht zu sagen. Und auf einmal war der Grauschimmel nicht mehr da gewesen, und nicht einmal ein Hauch von Dunst war an der Stelle noch zu sehen.

Salih war dann Tag für Tag in jene Bucht gegangen, doch den Grauschimmel hatte er lange Zeit nicht wiedergesehen.

Salihs Entschluss war gefasst: Er würde so werden wie Käpt’n Temel. Ganz klar war ihm das jetzt. Salih, der Träumer, wusste genau, wie Käpt’n Temel zu Käpt’n Temel geworden war, zum Besitzer von drei blauen Fischkuttern. Salih hatte die Geschichte aus Käpt’n Temels eigenem Mund gehört. Komm, du staunender Salih, hatte Käpt’n Temel gesagt, komm her, ich muss dir was erzählen. Dann hatten sie sich auf einen Felsen gesetzt, und von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang hatte Käpt’n Temel erzählt. Jawohl, Salih würde so werden wie Käpt’n Temel. Wer konnte schließlich ein Netz so gut flicken wie Salih, hm, wer? Und wie nannte ihn doch Käpt’n Temel: den träumenden Käpt’n Salih. Käpt’n!

Das Meer aber war groß und kalt und beängstigend. Jeden Morgen, wenn das Meer noch ganz weiß war und Käpt’n Temel und die anderen Fischer hinausfuhren, da war es doch so, dass das Meer auf einmal, schwups, die Kutter alle verschluckte. Wie kamen sie eigentlich aus dem Bauch des Meeres wieder heraus? Und wenn sie nun eines Tages nicht wieder herauskamen? Wenn nun das Meer sie eines Tages nur noch tiefer hinunterzog und nicht wieder freigab? Ein bisschen hatte Käpt’n Salih vor dem Meer doch Angst. Nein, furchtbare Angst hatte er, und deshalb beneidete er die Fischer auch. Die waren doch von anderem Schlag als die schmerbäuchigen Männer, die mit den Fischen nur Handel betrieben. Schmiede waren noch gute Leute. Und Schreiner. Wie herrlich es aus Schreinereien herausduftete. Als ginge man mitten durch einen Wald. Da roch Salih dann manchmal selbst, als habe er sämtliche Düfte eines Waldes in sich aufgesogen. Fischer rochen nach Fisch, und nach Sonne und Meer. Schmiede nach Flammen und Funken, nach verzischendem Wasser und glühendem Eisen. Und nach Geißblatt und Platane. Meister Hasan, der am Meeresufer die Rümpfe großer Kutter baute, roch nach vielem zugleich, nach Meer und nach Bäumen, nach Eisen, Farbe und Funken. Im T-Shirt hatte er stets eine Blume stecken. Im Frühling war es Ginster.

Obwohl Salih doch alles auf Erden bestaunte, verweilte er kaum bei Meister Hasan. Warum wohl?

»Jetzt schlaf nicht, Käpt’n Temel. Wie sollst du in der Nacht noch schlafen können? Wir haben zu tun, Käpt’n. Keine Angst, Netze zu flicken brauchst du nicht mit deinen alten, knotigen Fingern. Wach auf, Käpt’n Temel, wach auf. Du wirst dich noch zu Tode schlafen. Wach auf, ich brauche deinen Beistand, deine Hilfe.«

Es fliegen Netze über das Meer, senken sich langsam herab wie riesige Flügel. Und als sie wieder aus dem Wasser kommen, sind sie voller zappelnder, in der Sonne blitzender Fische. Aus den Netzen triefen Wasser und Fische herab. Tausende von Möwen fliegen knapp über dem Wasser dahin, Flügel an Flügel, in unbeschreiblichem Gekreische. Wie im Wahn peitschen sie auf das Wasser ein. Um die Kutter herum ist der Himmel vor Möwen ganz schwarz.

»Bitte wach doch endlich auf, Käpt’n Temel. Du verstehst dich auf die Sprachen von zweiundsiebzig Völkern, zweiundsiebzigtausend Geschöpfen, zweiundsiebzig Millionen Insekten, und so bin ich zu dir gekommen, damit … Was bläst du denn im Schlaf deine Backen so auf? Werd endlich wach, verdammter Mistkerl, wie kann man denn so lang schlafen?«

Da kam der Grauschimmel wieder, er stand im Morgenrot am Strand. Die Pfirsichbäume blühten.

Die Tochter von Doktor Yasef, der verschollene Halil der Großmutter, Metins Piraten … Aus dem Meer werden smaragdaugene Ungeheuer mit korallenen Hörnern auftauchen.

»Wach endlich auf. Wie kannst du so einfach schlafen hier, wo es doch Ungeheuer mit riesigen smaragdenen Augen gibt?«

Da glühen sie auf, die smaragdgrünen Augen. Sie bringen das Meer zum Wogen und schwingen ihr grünes Licht über dem Wasser wie ein scharfes Messer.

»Wach auf, Käpt’n, wach auf, wach auf. Ich habe für dich was zu tun.«

Die Wellen erschüttern die Erde, die Inseln, den Himmel. Aus den Felsen der Insel Zeytin schießt Gischt empor.

»Wach auf, Käpt’n.«

4

Salih suchte und suchte und fand schließlich einen großen, flachen Henkelkorb, den er mit duftenden Gräsern seidenweich polsterte. Dann legte er ihn mit einem grünen Samtflicken aus, auf den er die Möwe sorgfältig bettete. Ihre Flügel waren getrocknet, aber noch ganz zerzaust. Sie konnte den Kopf nicht heben, und ihre Augen waren bis zur Hälfte von einem weißlichen Häutchen bedeckt.

Salih zuckte zusammen. Und wenn sie stirbt? Der Leib der Möwe schien auszukühlen, und ihr Kopf lag da wie tot.

Ich muss ihr was zu fressen geben, dachte Salih. Und vielleicht hat sie ja auch Durst.

»Braucht sie nicht was zu trinken?«, fragte er unterwürfig seine Großmutter.

»Na, dann gib ihr doch was«, murrte die Frau.

Salih kam mit einer Tasse voll Wasser an, hob den Kopf der Taube und hielt ihr den Schnabel ins Wasser. Die Möwe merkte nichts davon. Weder öffnete sie den Schnabel, noch regte sie sich sonst irgendwie.

»Komm, nimm das Stück Watte da«, sagte die Großmutter. »Das tauchst du ins Wasser, und dann träufelst du ihr etwas in den Schnabel.«

Das machte Salih. Als sich der Schnabel der Möwe mit Wasser füllte, tat sie ihn ein paar Mal auf und zu. Und auch ihre Augen weiteten sich ein wenig. Salih freute sich, aber der gebrochene Flügel hing noch immer jämmerlich herab.

»Du machst doch Salben, Großmutter«, sagte Salih. Er war verwundert, ja fast erschrocken, dass er das überhaupt herausbrachte.

»Ja«, sagte die Großmutter, »für Menschen.«

»Und für Vögel nicht?«

»Bestimmt nicht«, versetzte die Großmutter mit gerümpfter Nase. Ihr weißes Kopftuch war straff gebunden, die Züge ihres spinnennetzartigen Faltengesichts blieben hart. »Einzig und allein für Menschen.«

Salih wusste, wie stolz sie auf ihre Salben war, die selbst Schusswunden heilen ließen und für die man ihr viel Geld bezahlte.

»Ach Großmutter«, sagte er listig, »wer wüsste denn besser als ich, dass nichts über deine Salben geht. Würdest du Ärzten ihr Geheimnis verraten, steinreich könnten wir werden, auf einen Schlag.«

»Denen gebe ich sie aber nicht, diesen Ungläubigen.«

»Und recht hast du damit! Vollkommen recht!«

»Keinem gebe ich meine Salben. Da nehme ich sie lieber mit ins Grab.«

»Das wäre schade. Wo sie schon so vielen geholfen haben. Ob sie nicht auch meiner Möwe helfen könnten?«

»Auf gar keinen Fall! Meine Salben sind nicht für Vögel und anderes Viehzeug! Ich habe schon Mühe, den Menschen zu helfen, da vergeude ich meine Salben nicht für so etwas.«

Flehend sah Salih die Großmutter an, mit großen, runden Augen, die sich mit Tränen füllten.

»Als Fethis Arm damals halb abgerissen war, hast du ihm die Wunde ausgewaschen, hast sie mit deiner Salbe bestrichen und verbunden. Und als er vierzehn Tage später zu uns kam, was haben wir da gestaunt, dass sein Arm wieder völlig in Ordnung war. Weißt du noch, Großmutter?«

Die Großmutter war sichtlich erfreut.

»In meinen Salben sind die Essenzen von Bäumen und Blumen und von allen Bergkräutern, die es nur gibt.«

Mit einem Ruck standen alle drei Webstühle still, und ihre Schiffchen hingen in der Luft.

Salihs Mutter, eine große, hübsche Frau, rief: »Herrgott! Jetzt kommt er mir auch noch mit einer Möwe daher. Die versaut uns doch das ganze Haus. Als ob du nicht schon genug angestellt hättest. Anderer Leute Kinder fahren mit den Fischern aufs Meer, gehen bei einem Schmied oder einem Schreiner in die Lehre, setzen sich an einen Webstuhl und arbeiten mit, helfen den Lastwagenfahrern, tun dies und jenes …«

Sie redete sich in Rage.

»So machen es anderer Leute Kinder. Aber dieser gottverdammte Einfaltspinsel gibt sich mit Möwenjungen ab, mit Ameisen, Fröschen, Schlangen und Tausendfüßlern. Dieser Hohlkopf! Dieser Narr!«

Schon eilte sie auf den Henkelkorb zu, und da Salih ahnte, dass sie den Korb mitsamt der Möwe aus dem Haus schleudern würde, packte er ihn gerade noch rechtzeitig und lief damit hinaus.

Mensch, fast hätte er die Großmutter herumgekriegt. Fast! Was nun? Die Möwe schien ja wieder zu werden. Sie hatte Wasser getrunken, und ihre Augen waren nicht mehr verschleiert, sondern glänzten regelrecht. Wenn sie jetzt nur noch etwas essen würde! Fisch. Möwen lieben Fisch.

Drinnen ratterten die Webstühle wieder los. Die Großmutter kam gebückt heraus und knurrte: »Für Menschen sind meine Salben, hörst du, für Menschen! Nicht für Möwen und andere Drecksvögel! Hast du kapiert?«

»Ja, habe ich«, rief Salih. »Und mit deinen verdammten Salben kannst du dich zum Teufel scheren!«

Da stürzte seine Mutter heraus.

»Wenn ich dich zu fassen kriege! Warte nur, wenn du heimkommst!«

»Ich komm nicht mehr heim!«

»Dann bleib von mir aus fort! Und lass dich nie wieder blicken!«

Salih rannte zum Meer hinunter. In der Bucht hinter dem Weinenden Felsen stellte er den Korb in einer Felsöffnung ab, krempelte die Hosenbeine hoch und stieg ins Wasser. Jetzt musste er etwas fangen, erst mal einen kleinen Ährenfisch, wenn die Möwe den fraß, dann würde sie die Augen aufschlagen und wieder quicklebendig werden. Falls er nur ein bisschen Glück hatte auf dieser Welt, dann würde die Möwe überleben. Selbst wenn ihr Flügel gebrochen blieb. Soll die verfluchte Großmutter, das geizige Weibsstück, eben keine Salbe machen. Das ist doch reine Bosheit von ihr. Sollte irgend so ein fremder Rotzbengel daherkommen und sie anflehen, bitte, bitte, tu doch was für meine verletzte Möwe, dem würde sie augenblicklich helfen, oder etwa nicht?

Aber ihn, Salih, mochte eben keiner im ganzen Haus, der Vater nicht, die Mutter nicht, die Schwestern nicht. Nicht dass sie ihn verabscheuten, aber sie nahmen ihn einfach nicht ernst. Wie konnte Salih sich nur einbilden, seine Großmutter hätte ihm verziehen und alles vergessen! Niemand mochte ihn, niemand, absolut niemand. Allerhöchstens Käpt’n Temel. Oder Meister Ismail, oder Meister Hasan, wer weiß? Ach was, niemand auf der ganzen Welt mochte Salih. Sogar der Verrückte Ali, der immer grinsend herumlief und allen Kindern über den Kopf streichelte, nicht einmal war der jemals freundlich zu Salih gewesen. Und die Handwerker, denen Salih immer so sehnsüchtig bei der Arbeit zusah, auch von denen hatte sich keiner je zu Salih umgedreht und ihm einen liebevollen Blick zugeworfen. Keiner.

Wäre es die Möwe der Großmutter gewesen, hätte Salih ihr dann etwa keine Salbe gemacht? Und ob er das getan hätte, mit Feuereifer sogar. Und wäre es Meister Ismails, Meister Hasans oder Käpt’n Temels Möwe gewesen, dann hätte Salih sich doch regelrecht zerrissen, um den Vogel nur ja wieder gesund zu machen.

Das Wasser war kalt. Vor Salihs Nase schwirrten kleine Fische in Schwärmen herum. Sobald er sich bewegte, stoben sie mit unglaublicher Geschwindigkeit davon. Eine ganze Weile stand Salih so im seichten Wasser und sah mit an, wie die Fischlein sich zu einem Schwarm formten und dann bei der kleinsten Regung wieder blitzartig auseinanderfuhren. Die Schatten der Fische huschten als lauter kleine Punkte über die Kiesel und den Sand am Meeresboden.

Sosehr sich Salih auch abmühte, fing er nicht einen Fisch. Bald war er am ganzen Körper klatschnass, und seine zu groß gekauften Kleider klebten ihm auf der Haut. Über der Insel Diş kreischten die Möwen, und das Vögelchen im Henkelkorb lag in todesähnlichem Schlaf.

Immer wieder kam Salih aus dem Wasser, um nach seiner Möwe zu sehen. Die lag mit abgeknicktem Hals da, der Schnabel war ihr unter den Flügel gerutscht. Ach, wenn sie doch den Schnabel da hervorzöge, wie würde Salih sich freuen!

Er ging wieder ins Wasser. Ein einziges Fischlein brauchte er vorerst, doch mit bloßen Händen brachte er nichts zustande. Mit einem Stück Netz könnte es gehen, mit einem Sack, einer Plastiktüte. Er stürzte aus dem Meer heraus, auf den Ort zu, aber nach hundert Metern blieb er stehen, sah sich um und kehrte zurück. Ihm klopfte das Herz vor lauter Schreck. War er denn verrückt geworden? Und wenn nun eine Katze das Möwenjunge entdeckt? Wie soll es denn davonfliegen mit dem gebrochenen Flügel? Was aber würden die Leute, die Fischer sagen, wenn er im Ort mit einer Möwe auf dem Arm auftauchte, noch dazu mit einer verletzten? Er stellte den Korb in die Felsöffnung zurück, setzte sich auf einen großen Stein, stützte den Kopf in die Hände und betrachtete die gekrümmt daliegende Möwe. Vor seinem geistigen Auge sah er die Großmutter mit dem Spinnennetz im Gesicht, sah den Bärtigen Haydar, der Tierarzt war, sah Fazil, den Apotheker, und schließlich Doktor Yasef. Doktor Yasef war älter als die Großmutter. Sollte er vielleicht zu ihm gehen? Der Doktor war ein gutmütiger Mensch, der seinen Beruf längst nicht mehr ausübte, ja es konnte sich keiner mehr erinnern, dass er tatsächlich mal Arzt gewesen war. Vielleicht verstand er etwas von Möwenleiden. Schließlich ging er schon im Morgengrauen an den Strand und starrte reglos aufs Meer hinaus. Sah er etwa nicht immer zu den Möwen auf der Insel Diş hinüber? Und ob er das tat! Kannte er sich also nicht mit Möwen aus? Und ob er sich auskannte! Also? Oder der Bärtige Haydar, der verstand doch die Sprache sämtlicher Insekten und Vögel, wie sollte er da nicht über die Krankheiten von Möwen Bescheid wissen? Einmal hatte er mit angesehen, wie der Mann mit einer Krähe sprach. Sollte er also nicht zu ihm gehen? Also zu wem jetzt: zu Yasef oder zu Haydar? Yasef holte mit seinem Stock manchmal nach Kindern aus. Die allerdings waren eine rechte Plage. Auf dem Platz am Strand, an den er sich gewöhnlich setzte, legten sie immer wieder Seeigel aus, in die er sich mit schöner Regelmäßigkeit hineinsetzte. Dann sprang er gleich auf und lief am Ufer umher, als ob ihm der Hintern lichterloh brennte. Er drehte sich lang im Kreis und warf sich schließlich zu Boden. Die ganze Zeit über liefen ihm dabei die Kinder hinterdrein und trieben allerlei Schabernack. Manchmal wurden sie von Erwachsenen ermahnt, sie sollten Doktor Yasef gefälligst in Ruhe lassen. Das ging dann einen Tag gut, zwei Tage, drei Tage, aber der Doktor hielt ja geradezu nach den Kindern Ausschau, und sobald sie das merkten, taten sie ihm gleich den Gefallen, wieder herbeizueilen. Dann ging das Geschrei von vorne los, das Fluchen und Stockschwingen. Und wieder wurden Verbote ausgesprochen. Worauf Doktor Yasef erneut mutterseelenallein dasaß, von allen verlassen, blutleer, fast wie ein Toter. Er wartete auf die Kinder. Sie sollten doch bitte wiederkommen, ja seinetwegen durften sie ihm mit einer Zange das Fleisch vom Leib reißen, wenn sie nur wiederkamen! Die Kinder wussten das, und deshalb eilten sie ihm trotz aller Verbote und Prügel immer wieder zu Hilfe. Nun war Doktor Yasef bestimmt wieder auf seinem Felsen und zog sich Stacheln aus dem Sitzfleisch. Wenn wirklich welche drin waren. Denn manchmal, wenn die Kinder gar keine Seeigel auslegten, führte der Doktor genauso seinen Veitstanz auf. Salih wusste, dass die Kinder ihm manchmal Kiefernzapfen hinlegten und er sich aufführte, als wären es Seeigel. Nur einmal, da hatten sie ihm ein federweiches Kissen ausgebreitet; darauf war er nicht hereingefallen. Da hatte er ihnen nur lächelnd zugewinkt. Und so ein Mann sollte der Möwe nicht helfen?

Da fiel Salih noch etwas ein, und er sprang auf. Manchmal schlichen sich die Kinder von hinten an Doktor Yasef heran und nahmen ihm die Brille weg. Dann war er gänzlich hilflos. Er konnte keinen Schritt mehr tun und sich nur noch verzweifelt im Kreis drehen. Mit ausgebreiteten Armen tastete er in der Luft umher, bis er erschöpft zu Boden sank und mit seinem großen Mund heftig nach Luft schnappte, wobei der faltige Hals sich jeweils dehnte und wieder zusammenzog. Dann flehte Doktor Yasef die Kinder an. Erst versuchte er es mit sanften Worten, und wenn die Kinder die Brille nicht herausgaben, wurde er immer heftiger und überzog sie schließlich mit wüsten Flüchen, die er sogleich bereute. Er schlug dann mildere Töne an, brüllte aber irgendwann doch wieder los.

Daran merkten die Kinder, dass es so weit war.

»Die Geschichte! Erzähl uns die Geschichte, Yasef!«, sagten sie.

Doktor Yasef schlug drei Mal mit seinem Stock auf den Boden.

»Na, kommt schon her, ihr Bengel«, sagte er mit sanftem, verschleiertem Blick. »Setzt euch da vor meinen Stock.«

Die Kinder gaben ihm die Brille zurück, setzten sich im Halbkreis vor ihn hin, und er begann, mit seiner tiefen, schönen Stimme alte Geschichten vom Meer zu erzählen.