Zorn des Meeres - Yaşar Kemal - E-Book

Zorn des Meeres E-Book

Yasar Kemal

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Beschreibung

Wenn der Erzähler seinen Freund, den Fischer Selim, auf der Jagd nach dem letzten großen Schwertfisch begleitet, beginnt das Marmarameer zu leben, leuchtet in all seinen Farben. Selims Traum ist es, ein Stück Land, das er bereits mit Olivenbäumen bepflanzt hat, zu kaufen und für seine große Liebe ein Haus zu bauen. Auf dem Boot erzählt Selim von seiner Freundschaft zu einem Delphin und beschreibt das grässliche Massaker, das die Fischer aus Geldgier unter den Delphinen des Marmarameers anrichteten. Während vieler Jahre hat Yasar Kemal die Fischer auf ihren Fahrten begleitet und die Stimmungen des Marmarameers in sich aufgenommen. Dieser Roman ist eine Liebeserklärung an dieses Meer und an die von Leben sprühende Stadt Istanbul, zugleich ein spannender Kriminalroman und ein Hohelied der Freundschaft.

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Seitenzahl: 790

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Über dieses Buch

Während vieler Jahre hat Yasar Kemal die Fischer auf ihren Fahrten begleitet und die Stimmungen des Marmarameers in sich aufgenommen. Dieser Roman ist eine Liebeserklärung an dieses Meer und an die von Leben sprühende Stadt Istanbul, zugleich ein äußerst spannender Kriminalroman und ein Hohelied der Freundschaft.

Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.

Yaşar Kemal (1923-2015) wird der »Sänger und Chronist seines Landes« genannt. Er wuchs in einem Dorf Südanatoliens auf und lebte in Istanbul. 1997 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 2008 wurde er mit dem Türkischen Staatspreis geehrt.

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Cornelius Bischoff (1928-2018) verbrachte seine Jugendjahre in der Türkei und studierte Jura in Istanbul und in Hamburg. Nach1978 war er als literarischer Übersetzer tätig und schrieb Drehbücher.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Yaşar Kemal

Zorn des Meeres

Roman

Aus dem Türkischen von Cornelius Bischoff

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 6 Dokumente

Die türkische Originalausgabe erschien 1978 unter dem Titel Deniz Küstü im Verlag Milliyet Yayınları.

Originaltitel: Deniz Küstü (1978)

© by Yaşar Kemal 1978

© by Unionsverlag, Zürich 2024

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Fulvio Roiter

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30796-4

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Version vom 26.07.2024, 21:36h

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Inhaltsverzeichnis

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Über dieses Buch

Titelseite

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Inhaltsverzeichnis

ZORN DES MEERES

1 – Die roh behauene Tür des Kaffeehauses wurde mit …2 – Ihsans Begräbnis fand am übernächsten Tag statt …3 – Nach solchen Vorfällen meide ich Menekşe mehrere Wochen …4 – In jener Nacht konnte ich nicht einschlafen …5 – Was in jener Nacht geschah, weiß ich nur …6 – Drei Tage und drei Nächte kam Fischer Selim …7 – Über den getöteten Delfin und Selim wurden in …8 – Nachdem er Ihsan getötet hatte, ging Zeynel zum …9 – Die See schimmerte noch fahl, als Fischer Selim …10 – Habt ihr sie richtig gut gefesselt, an Händen …11 – Nun war er wieder in Menekşe. Das Meer …12 – Als er die Augen aufschlug, blickte er auf …13 – Früher, als in der Bucht von Menekşe noch …14 – Mit Selim traf ich mich immer gegen drei …15 – Hüseyin Huri, dieser niederträchtige Bastard ohne Sinn für …16 – Noch bevor sich das Meer aufhellte, stach Fischer …17 – Im Dunst und Dunkel der alten, schwerfälligen …18 – Fischer Selim wälzte sich auf seinem Nachtlager …19 – Der Lodos stürmte mit voller Wucht, trieb riesige …20 – Alle Autos Istanbuls haben ihre Scheinwerfer eingeschaltet …21 – Dursun Kemal Alceylan schrak aus dem Schlaf hoch …22 – Bis Tagesanbruch hatte Zeynel seine Augen nicht zugetan …23 – Fischer Selim verließ sein Haus fast gar nicht …24 – Dursun Kemal fuhr mit Ahmet nach Beyoğlu …25 – An einem regnerischen Morgen kam Fischer Selim im …Worterklärungen

Mehr über dieses Buch

Über Yaşar Kemal

Günter Grass: Laudatio auf Yaşar Kemal

Yaşar Kemal: Über die Sprache

Yaşar Kemal: Die Natur, Universum der Mythen

Yaşar Kemal: Das Gefängnis – die Schule der türkischen Literatur

Yaşar Kemal: »Die Epen sind wie Kiesel auf dem Grund des Stromes«

Lucien Leitess: Vor seinen Büchern werden wir wieder zu Kindern

Über Cornelius Bischoff

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1

Die roh behauene Tür des Kaffeehauses wurde mit einem Fußtritt fast aus den Angeln gesprengt; noch bevor Zeynel, den Trommelrevolver in der Faust, auf der Schwelle erschien, fegte Lodos, der Südwind, der weit draußen das Meer aufwühlte, staubwirbelnd in die Gaststube. Einen Augenblick zauderte Zeynel, doch dann stellte er sich in aller Ruhe sperrig in den Türrahmen, richtete seine Waffe auf Ihsan und begann zu feuern. Wie versteinert blieben die Anwesenden auf ihren Stühlen hocken.

»O Mutter, ich bin verloren«, schrie Ihsan schrill. Sein zweites »Ich bin verloren« kam schon sehr leise, war kaum zu hören. Er glitt von seinem Stuhl zu Boden, ein Strom von Blut quoll in Stößen aus seinem Hals, versiegte dann plötzlich. Ihsans Aufschrei und der Sprung Selims des Fischers, der sich wie von der Sehne geschnellt aus der erstarrten Menge auf Zeynel stürzte, dessen Handgelenk umklammerte und sich der Waffe bemächtigte, waren eins. Den Revolver in der Hand, schaute Selim verstört einmal in die rauchende Mündung, dann wieder zu Zeynel, der immer noch dastand. Im nächsten Augenblick zuckten alle durch das Klatschen einer Ohrfeige zusammen, doch noch immer rührte sich keiner von der Stelle. Selim hatte die Waffe fallen lassen, mit der Linken Zeynel am Genick gepackt und schlug mit der Rechten auf ihn ein. Zeynel wiederum hatte seinen Kopf mit beiden Händen abgedeckt, und je länger der andere zuschlug, desto mehr krümmte er sich, duckte sich tiefer und tiefer, als gelte es, dem Tod zu entrinnen. Die Mündung seines Revolvers, der unter dem Herd der Teestube lag, rauchte nicht mehr, und Selim, mit Händen wie Vorschlaghämmer, schlug und schlug, bis er schließlich wie ein Blasebalg keuchend von Zeynel abließ. Dieser stand jetzt wie verloren neben dem Toten, ratlos, was er nun tun solle. Ihsan hatte sich im Fall auf die rechte Seite gerollt und lag mit geballten Fäusten und an den Bauch gezogenen Beinen in seinem Blut, das stellenweise im Lehmboden kleine Lachen gebildet hatte und bis an die Tür gesickert war. Auch der lange, blonde Schnurrbart des Toten war blutbefleckt. Und in den weit aufgerissenen, starren Augen zeichneten sich der maßlose Schrecken ab und die Angst vor dem drohenden Tod. Selim ging zu Ihsans Leichnam, betrachtete ihn, und während seine Augen nachdenklich auf ihm ruhten, bekam sein Gesicht nach und nach wieder Farbe. Wie von Angst gepackt drehte er sich plötzlich um, aber Zeynel stand noch immer unverändert da. Selim baute sich vor ihm auf, starrte ihn an, als gewahre er ihn zum ersten Mal, und fragte sich, wo dieser Mann wohl auf einmal hergekommen sei. Vielleicht konnte er wirklich nicht nachvollziehen, was da eben vor sich gegangen war. Er drehte sich wieder um, und als suche er irgendetwas, beugte er sich über den Toten, blickte ihm in die Augen und berührte ihn mit dem Zeigefinger. Doch ruckartig, als habe er eine Flamme berührt, zog er seine Hand wieder zurück. Als er sich danach aufrichtete, stand er Aug in Aug Zeynel gegenüber.

Mit einem lauten »Haktuuu!« spuckte Selim den reglosen Zeynel an, einmal, zweimal, dreimal mit solcher Kraft, dass die Spucke in dessen Gesicht wie der Hieb einer Peitsche aufklatschte.

Wie ein Betrunkener schwankte Selim zur Tür hinaus, mit hängenden Armen, den Strand entlang bis zur Anlegebrücke, kehrte von dort zum Kaffeehaus zurück, verharrte gedankenversunken vor der Tür, linste wie auf der Suche nach jemandem in die Gaststube, machte sofort wieder kehrt und schlug am »Kasino zur Möwe« entlang den Weg zum Strand von Florya ein. Baumhoch türmte der aus Südwest stürmende Lodos die Gischt über die Küstenstraße, wo sie klatschend auf den Asphalt niederging.

Kurz nachdem Selim gegangen war, richtete sich Zeynel wie aus tiefem Schlaf erwachend aus seiner gebückten Haltung auf, schaute in die Runde, stieg, ohne ihn anzusehen, über den daliegenden Ihsan hinweg, ging zum Herd, bückte sich, hob seinen Revolver auf, machte kehrt, ging zur Tür, und nachdem er wieder über Ihsan hinweggestiegen war, blieb er, den Rücken dem Licht zugewandt, vor der Tür stehen. Nacheinander schaute er jeden von uns an. Schließlich blieb sein Blick auf Ihsan haften, und es schien, als husche ein Ausdruck des Erstaunens über sein Gesicht. Er lächelte, schüttelte den Kopf, biss die Zähne zusammen, und dann sagte er mit gepresster, pfeifender Stimme: »Du hast mich vernichtet, Hurensohn Ihsan! Was hatte ich dir bloß getan?«

Er wandte sich ab, doch auf der Türschwelle verhielt er, schaute einmal zum Meer hinaus, dann mit scheuem Blick zu uns und rief: »Nun sagt schon, ihr alle wart hier Zeuge, und was habe ich diesem Luden Selim getan, dass er mich so behandelt?«

Niemand gab auch nur einen Ton von sich.

»Nun sagt schon, verdammt, was habe ich ihm denn getan, dass er mich vor euch allen so erniedrigt? Muss ich mich jetzt nicht für all das bei Selim rächen? Los, antwortet, 'dammt noch mal! Seid ihr denn Grabsteine?«

Den Revolver in der Hand, begann er im Kaffeehaus zu wandern. Weiterredend ging er auf und ab, verhielt hin und wieder, betrachtete den Toten zu seinen Füßen, um dann mit langen Schritten seinen Rundgang fortzusetzen, wohl bedacht, nicht in das Blut zu treten, das bis zur Schwelle gesickert war.

»Sagt mir, hab ich mit diesem Selim auch nur einmal gesprochen, seit er hier in Menekşe aufgetaucht ist? Antwortet, ihr Plagen Gottes, ihr Feiglinge, ihr miesen Geschöpfe! Seid ihr eigentlich Menschen? Schau, schau, nur weil ich diesen Revolver in der Hand halte und dieser Schurke da in seinem Blut liegt, könnt ihr euren Mund nicht aufmachen, nicht wahr? Ist euer Blut eingetrocknet, nicht wahr? Da ist unter euch kein zweiter Recke wie dieser stumme, tausendjährige Selim, nicht wahr? Heeey, ihr Grabsteine, gebt Laut! Hey, Süleyman, schau her, du Kiefernkloben, schau dich an, gebaut wie ein Bär, und vor lauter Brumm und Knurr wagt sich sonst niemand in deine Nähe, du verdammter Hund, und sieh, jetzt verkriechst du dich da, bist drauf und dran, unter den Tisch zu rutschen und unter dich zu scheißen!«

Er brach in irres Gelächter aus.

»Wer weiß«, höhnte er, »vielleicht hast du schon in die Hose geschissen und kannst dich deswegen nicht von der Stelle rühren.«

Dann richtete er die Mündung des Revolvers auf Süleyman. Dessen blau angelaufene Lippen zitterten so, dass man meinte, sie fielen ihm im nächsten Augenblick vom Munde. Er selbst hockte zusammengesunken auf seinem Stuhl.

»Steh auf, ungehobelter Bär! Seht ihn euch an, dieses Schwergewicht. Masse für drei Körper, wenn man ihn zerteilte.«

Wutentbrannt reckte Zeynel seinen drahtigen Körper, der sich jetzt wie eine stählerne Feder spannte.

»Auf die Beine, Schwätzer Süleyman, Sohn einer hurenden Mutter!«

Süleyman versuchte aufzustehen, er hatte beide Hände auf den Tisch gestemmt, doch es wollte ihm nicht gelingen, sich aufzurichten. Sein Gesicht war von papierener Blässe.

»Lase Erkan, steh auf und sieh mal nach, ob Süleyman in die Hosen geschissen hat.«

Erkan der Lase stand auf, fasste Süleyman unterm Arm, hob ihn hoch, bückte sich, besah den Sitz, musterte dann eingehend Süleymans Rücken, besonders das Hinterteil seiner Hose, und während Süleyman sich wieder hinsetzte, schüttelte Erkan den Kopf, schnalzte und sagte: »Tz, tz, er hat nicht geschissen.«

Zeynel musste lachen: »Dieser gottlose, geschwätzige Lude hat vor lauter Angst nicht einmal scheißen können …«

Süleyman nuschelte etwas vor sich hin. Zeynel ging näher an ihn heran und fragte: »Kerl, was hast du gesagt?« Seine Stimme klang spöttisch, von oben herab. »Wenn du nicht wiederholst, was du eben gesagt hast, kriegst du eine Kugel.«

Er drückte ihm den Revolverlauf gegen die Nase, doch dann, als sei ihm etwas eingefallen, drückte er die Trommel heraus, leerte die Patronen in seine Hand, steckte die Hand mit den Patronen in die Tasche, zog sie dann wieder heraus, lud den Revolver von Neuem und hakte die Trommel wieder ein.

»Nun sag schon, du Stricher«, drohte er, »sag, bevor ich dir das Maul mit Blei voll stopfe!«

Und Süleyman sagte flehentlich wie im Gebet: »Bitte nicht, mein Junge, tu's nicht, mein Kleiner, tu's nicht! Es gibt doch einen Gott …«

»Soso!« stieß Zeynel zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, »soso, dessen Mutter und Weib, dessen ganze Sippe samt Tochter und Stute … Für euch gibt es keinen richtenden Gott, aber für mich, nicht wahr, für mich solls einen geben, stimmts?«

Er verkantete den Lauf und schmetterte ihn mit aller Kraft auf Süleymans Kopf. Blut strömte Süleyman von der Stirn übers ganze Gesicht zum Hals hinunter und weiter übers Hemd auf den Tisch, wo es kleine Lachen bildete.

»Lase Erkan!«

»Befiehl, Bruder!«

»Wisch diesem Luden das Blut ab! Keine Angst, er wird nicht krepieren. Er wird nicht krepieren, aber er wird einen Monat lang auch nicht hinausfahren können, das gesamte Marmarameer in einer Nacht leerzufischen.«

Erkan stand auf, ging zum Küchenherd, nahm dem Wirt das Geschirrtuch von der Schulter und wischte damit Süleyman das Blut vom Gesicht, ging wieder an seinen Platz und setzte sich.

»Du hättest diesem Scheißkerl die Jacke ausziehen und damit sein verseuchtes Blut abwischen sollen«, sagte Zeynel und biss wieder die Zähne zusammen.

»Niederträchtiger Süleyman«, begann er von Neuem, »erinnerst du dich noch, es ist wohl fünfzehn Jahre her, wie du mir mit deinen Stiefeln auf die Hand tratst, als wir die Fische aus den Maschen des Schleppnetzes herausklaubten, mir auf die Hand tratest und meine Knochen zerdrücktest? Die Haut hattest du mir von den Fingern getreten und gelacht, weil man die blanken Knochen sehen konnte, du gottloser Kerl!«

Zeynel ging bis zur Tür, warf einen Blick aufs Meer und auf den Weg gegenüber, und jedes Mal, wenn er wieder zurückkam, nahm er sich einen der Anwesenden vor, damit er ihm Rede stehe für ein ganzes Leben. Bis zum Abend, bis der Tag sich neigte, dauerte diese Abrechnung. Irgendwann kam Zeynel auch zu mir, sah mich mit einem bitteren Lächeln an, und während seine Augen feucht wurden, sagte er mit trauriger, gebrochener Stimme: »Du hast nun alles mitgehört, mein großer Bruder, »alles … Hat mich nicht auch eine Mutter geboren, bin ich nicht auch ein Mensch?«

Ich schwieg.

»Wenigstens du solltest nicht schweigen, Bruder, hast so viel von der Welt gesehen und im Lauf der Zeit so viel erfahren!«

»Was soll ich denn dazu sagen, Zeynel«, antwortete ich, »du hast ja niemandem die Gelegenheit gegeben zu sprechen.«

Er hielt den Lauf der Waffe genau auf mein Herz. »Schau«, sagte er, »der da ist tot, der andere verwundet! Und was ich den anderen antat, ist schlimmer als der Tod. Vielleicht werden bald die Polizisten kommen, und wir werden kämpfen, denn ich ergebe mich nicht. Schau her«, und er zeigte auf seine Taschen, die voller Patronen waren, »ich wusste, was ich tat, als ich herkam. Ich werde gegen die Polizisten kämpfen … Ich gehöre nicht zu denen, die sich ihre Haut so leicht durchlöchern lassen. Meinst du, dass Selim der Fischer die Polizei alarmiert hat?«

»Das hat er nicht«, antwortete ich ruhig.

»Nicht schlecht, was ich da gemacht habe, nicht wahr?«

»Ich weiß nicht so recht, Zeynel.«

»Der Hurensohn dort am Boden hat es verdient«, sagte er, und auf Süleyman deutend, »und der auch …«

Dann musterte er seine Hände, lächelte und höhnte in die Runde: »Und die da auch …«

Er ging zur Tür und sah hinaus. »Die Lichter brennen«, freute er sich, »wie schön … Vielleicht werde ich bald getötet werden, wer weiß, wie Sterben ist. Dieser Hurensohn ist gestorben, schau dir an, wie er guckt. Wer weiß, vielleicht sterbe ich auch nicht, komme davon und verschwinde. Aber mich ergeben? Niemals!«

Niemand im Kaffeehaus sagte auch nur ein Wort. Zeynel ging hin, betätigte den Schalter, und die große, nackte Glühbirne von hundertfünfzig Watt tauchte die betroffenen, bleichen Gesichter der Anwesenden in grelles Licht. Nur Erkan lächelte.

»Was meinst du, mein großer Bruder, du kennst dich doch aus; werden sie mich hängen, wenn ich mich ergebe? Vielleicht tun sie's nicht. Warum sollten sie, nur weil ich diesen Hurensohn getötet und diesen Köter von Aufschneider verwundet und diese niederträchtigen Kerle beschimpft habe … Deswegen hängen sie mich doch nicht, oder?«

»Wer weiß, vielleicht …«

»Wer weiß, vielleicht«, äffte er. »Mann, sind du und deinesgleichen diplomatisch! Dir sitzt die Angst auch in den Knochen, nicht wahr?«

»Wer weiß, vielleicht …«

In diesem Augenblick erschien Selim der Fischer in der Tür.

Kaum hatte Zeynel ihn erblickt, geriet er in Panik, stürzte zur Tür, drängte Selim mit einem harten Stoß beiseite, flüchtete ins Freie und verschwand in der Dunkelheit.

Dann kam Selim herein und blickte in die Runde: »Was ist, war die Polizei noch nicht hier?«

»Hast du sie denn alarmiert?« fragte ich.

»Natürlich nicht«, entgegnete er barsch, und ich schwieg.

»Was hast du denn so lange getrieben, nachdem du weggelaufen warst?« fragte ihn Papa Hakki.

»Was ich getrieben hab?« Selim der Fischer strich sich mit den Händen durchs Haar: »Mensch, Hakki«, fügte er hinzu, »du weißt doch, mein Revolver … Ich bin zum Boot und dann aufs Meer hinaus … Ich hab wohl hundertmal geschossen, hab ihn ausprobiert. Ein Revolver wie Ezrail, der Todesengel … Und dann entdeckte ich, dass ich keine Munition mehr hatte … Was nun, fragte ich mich und bin hierher gekommen. Ach, denkst du, er wäre hier herausgekommen, wenn auch nur eine einzige Kugel übrig geblieben wäre?«

»Nein, dann wäre er hier nicht mehr herausgekommen«, antwortete Papa Hakki.

Um fünf Uhr morgens kam die Polizei ins Kaffeehaus. Sie holten mich aus dem Bett und verhörten mich mit all den anderen aus Menekşe bis zum Mittag. Dabei hörte ich verschiedentlich, wie Selim der Fischer »Ach wäre doch nur eine einzige Kugel übrig geblieben!« vor sich hin murmelte.

2

Ihsans Begräbnis fand am übernächsten Tag statt. Ganz Menekşe war ins Paradiesviertel zur neuen Moschee geströmt, die Alten, die Jungen und sogar die Kinder. Jeder sprach von Ihsans Schönheit, seinem Draufgängertum und seiner Großmut.

Über seine Schattenseiten und die sich für ihn aufopfernde Meliha aus Gelibolu fiel nicht ein einziges Wort, auch nicht, aus welchem Grund (den ja jeder kannte) Zeynel ihn getötet hatte. Auch über Zeynel verlor niemand ein Wort.

Nach der Beerdigung kehrten wir alle ins Kaffeehaus zurück. Einzig Remzi hatte sich heute Morgen nicht aus Menekşe gerührt. Den Fang auf ein Blech ausgebreitet, bot er seine Fische lauthals zum Verkauf, schrie zwischendurch: »Ich gehe nicht zur Beerdigung dieses Gehörnten, zur Beerdigung dieses Luden«, blies dabei den Vorübergehenden eine stechende Alkoholfahne in die gerümpften Nasen und grölte: »Man geht nicht zur Beerdigung eines so gemeinen Geschöpfs, nur Niederträchtige wie er beten die Totenandacht für ein schändliches Wesen.«

Der Wirt des Kaffeehauses, Saban, hatte den Tee schon längst aufgebrüht, der hasenblutrot leuchtend in goldgerandeten, taillierten Gläsern dampfte. Alle waren erschöpft, wortlos trank jeder schlückchenweise seinen Tee. Danach nahmen einige sofort ihr Kartenspiel wieder auf, die Tavlaspieler setzten sich wieder vor ihre noch aufgeklappt auf den Tischen liegenden Tavlakästen. Draußen eitel Sonnenschein, das Meer schien mit Licht gefüllt, randvoll, und das Wasser dehnte sich wie ein blaues, glitzerndes Netz. Ein Tag, an dem das lila Licht dem Menschen Flügel verleiht und in seinem Herzen das unbändige Verlangen weckt, davonzufliegen bis ans Ende aller Meere.

Ibo Efendi mit grauem Wochenbart hatte sich auf seinen Handstock gestützt und das runde Gesicht gedankenverloren in Falten gelegt. Erkan der Lase kritzelte Figuren auf ein Blatt Papier, das glatt gestrichen vor ihm lag. Seine Hände waren riesig, mindestens zwei Handbreit groß, und er schielte leicht auf beiden Augen. Hin und wieder legte er den Kugelschreiber auf den Tisch, blickte erwartend in die Runde, ließ die Augen auf diesem oder jenem ruhen, als wolle er sagen: Los, worauf wartet ihr denn noch.

Eine ungeduldige Spannung herrschte, die nichts gemein hatte mit Trauer oder Wut. Wenn auch jeder den überbordenden Drang verspürte, sich mitzuteilen, niemand sprach. Öffnete auch nur einer den Mund, würde ein jeder loslegen und sich alles von der Seele reden. Von draußen hallten Remzis Stimme und das Tuckern eines Motorboots herüber. Und weit weg, in der Gegend um Yeşilköy, krähte ein Hahn. Die Stimmung im Raum wurde immer bedrückender, und ich war gerade im Begriff, ins Freie zu flüchten, als Selim der Fischer aufstand; er war ein hoch gewachsener, stämmiger Mann, dessen Kopf fast an die Decke stieß. Die Enden seines kräftigen, leicht ergrauten braunen Schnauzbarts hatte er nadelspitz gezwirbelt, und tiefe Furchen wie die Spuren eines schweren, erfahrungsvollen Lebens durchzogen seine hohe Stirn. Sein Kinn war kräftig und passte gut zu den wulstigen Lippen und eingefallenen Wangen. Er hatte leuchtend blaue Augen inmitten zahlloser Fältchen, die diese wie ein Spinnennetz umringten und ihren Glanz noch erhöhten. Meistens verengte er die Augenlider, als habe er irgendetwas entdeckt, woran er sich nicht satt sehen konnte. Selim zog einige Münzen aus seiner Tasche, legte sie auf den Tisch und knöpfte seinen braunen Tuchcaban zu. Seine braunen Hosen klebten an den muskulösen Beinen. Er trug gelbe Gummistiefel und einen sorgfältig um die Hüften geknoteten Gurt. Mit weit ausholenden Schritten ging er hinaus, machte aber aus unerfindlichem Grund wieder kehrt, streckte seinen langen Hals zur Tür herein, ließ seine Augen über die Anwesenden schweifen, ein bisschen von oben herab; doch als sich dabei unsere Blicke trafen, wich er mir aus, was ihn gereut haben musste, denn er sah mir sofort wieder ins Gesicht und lächelte mich ganz verhalten, fast unmerklich an. Ich meine, dies war der Augenblick, an dem er volles Vertrauen zu mir fasste, an dem unsere Freundschaft eigentlich begann, an dem in gegenseitiger Übereinstimmung zutage trat, was schon unausgesprochen viele Jahre lang schlummerte. Er kehrte uns den Rücken und schlug die Richtung zum Anleger am Strand ein. Ich nehme an, dass er mit seinem Boot aufs offene Meer hinauswollte. Mit Getöse flog in geringer Höhe ein Flugzeug über uns hinweg, gleich danach knatterte im Tiefflug über unseren Köpfen der Hubschrauber, der jeden Tag um diese Zeit in Richtung Thrazien fliegt.

»Dreckskerl, niederträchtiger«, stieß Süleyman zwischen seinen Zähnen hervor, nachdem Selim verschwunden war. »Er ist der Mörder Ihsans, nicht Zeynel. Bevor Zeynel auch nur an den Abzug gekommen wäre, hätte er sich vorbeugen und ihm die Waffe aus der Hand reißen können … Wenn er nur gewollt hätte.«

»Er hätte es können«, pflichtete ihm Ibo Efendi bei, hob sein Kinn vom Knauf seines Stocks und kratzte sich den angegrauten Einwochenbart. »Natürlich hätte er ihm die Waffe wegnehmen können. Er wollte aber, dass Ihsan vorher Zeynel erschießt.«

»So ist es«, sagte Kaffeewirt Saban, »ich habe ihn von hier aus genau beobachtet. Solange Zeynel schoß, hatte Selim sich nicht von der Stelle gerührt. Drei Schuss lang … Erst als Ihsan vom Stuhl fiel, ergriff er Zeynels Handgelenk, und der ließ seinen Revolver fallen.«

»Ein abgekarteter Kampf«, meinte Süleyman und wandte sich an mich: »Sag du, war es nicht ein abgekarteter Kampf? Zeynel sollte Ihsan im Kaffeehaus töten, danach sollte Selim der Fischer ihm den Revolver aus der Hand schlagen, so hatten sie es vorher abgesprochen.«

»Sie haben sich abgesprochen!« höhnte Hakki Baba, während Süleyman ihn erbost ansah, »oh, du Gottloser, hast du jemals gesehen, dass Selim und Zeynel miteinander sprachen?«

»Er konnte Zeynel ja überhaupt nicht leiden, warum sollte er also mit ihm sprechen«, lachte Erkan der Lase selbstsicher, »wäre es nach ihm gegangen, hätte der Onkel Selim ihn in einem Löffel Wasser ertränkt. Wenn Onkel Selim der Fischer Zeynel nur sah, lief er schon dunkelrot an vor Zorn.«

»Haltet den Mund!« rief Ibo Efendi und schlug mit seinem Stock auf den Fußboden, »haltet den Mund!«

»Nicht Zeynel hat Ihsan getötet, sondern Selim der Fischer«, beharrte Süleyman.

Remzi, der in der Tür stand, kam wütend hereingestürmt. Eine Wolke sauren Weingeruchs breitete sich in der ganzen Gaststube aus.

»Verdammt«, brüllte er, »habt ihr keine Gottesfurcht? Wie kann man einen Menschen nur so verleumden, ihr verfluchten Gottlosen, ihr.«

»Du bist doch nur der Hund von Selim dem Fischer«, rief Atom-Salih und schnellte aus seiner Ecke.

»Ein Hund bist du«, entgegnete Remzi. Mit Tritten und Hieben gerieten sie aneinander und prügelten sich eine Weile mitten in der Kaffeestube. Niemand mischte sich ein, jeder saß nur so da und schaute zu. Schließlich trennten sich die Streithähne mit blutigen Nasen von selbst und gingen bald danach hinaus.

Ibo Efendi schlug mit seinem Handstock auf den Boden und rief: »Wäre Selim der Fischer ein etwas besserer Mensch, wäre Ihsan jetzt in unserer Mitte anstatt im Grab.«

Saban verteilte noch eine Runde Tee.

»Es ist dieser geizige Selim Ağa der Fischer, der ihn getötet hat«, sagte Yusuf der Tscherkesse.

»Natürlich«, bekräftigte Süleyman und stieß den Rauch seiner Zigarette aus. »Absichtlich, alles absichtlich … Er hatte Zeynel am Handgelenk gepackt und hätte ihn zermalmen können. Und Zeynels Revolver fiel zu Boden. Warum hat er Zeynel denn nicht festgehalten, gefesselt und der Polizei übergeben? Oder ihn gefesselt, hier auf den Stuhl gesetzt und einen Jungen zur Polizei geschickt?«

»Warum hat er Zeynel ins Gesicht gespuckt?«

»Weil er sich vor ihm ekelte und ihn nicht anfassen wollte«, lachte Erkan der Lase.

»Er hatte Angst«, mischte sich Mahmut ein. Er saß in der hintersten Ecke und sprach jetzt zum ersten Mal. Aller Gesichter wandten sich ihm zu. »Lasst euch von seinem Brumm und Knurr nicht täuschen. Er ist mit seinem Kuchenteigherz der ängstlichste Mensch der Welt. Er ist kein schlechter Mensch, er ist nur feige. Er fürchtet sich vor einem Fisch, vor einer Ameise, vor der Dunkelheit, vorm Friedhof, vor dem Bootsanleger dort, vor Netzen, Hunden, Katzen, sogar vor Schmetterlingen. Aslans Sohn hatte voriges Jahr in der Ebene von Florya ein Fohlen gefunden, und Selim der Fischer fürchtete sich auch vor diesem klitzekleinen, neugeborenen Fohlen … Dem jagt schon eine einzige Fliege Angst ein – ja sogar er sich selbst!«

»Nicht doch, Mahmut«, warf ich ein, »flunkre nicht so, wir sind schließlich Brüder von selbem Glauben!«

»Bei Gott, großer Bruder«, entgegnete Mahmut peinlich berührt, »bei Gott, ich flunkre nicht. Ich bin mit ihm zum Fischen gefahren. Er spricht doch nie, wie du weißt, denn wenn er spräche, würde er vor Angst stottern, und deswegen spricht er nicht. Es kommt mir vor, als würde er sich eines Tages vor Angst selbst töten.«

»Flunkre nicht!«

»Meine Mutter soll mein Weib sein, wenn ich lüge!«

»Wer feige ist, wer mutig, kann allenfalls derjenige …«

»Ich habs aber miterlebt, Bruder, er wird verrückt vor Angst.«

»Er ist der geizigste Dreckskerl der Welt«, empörte sich Atom-Salih, der wieder zur Tür hereinkam. »Es fehlte nicht viel, und Remzi und ich hätten uns wegen dieses geizigen, ehrlosen Unglücksbringers gegenseitig totgeschlagen.«

»Habt ihr euch wieder vertragen?« fragte Hasan der Kurde.

»Und ob wir uns vertragen haben«, antwortete Atom-Salih grinsend, »wir werden doch wegen dieses Dreckskerls nicht bis ans Ende aller Tage böse miteinander sein. Er hat meine Hand geküsst, und wir haben uns vertragen.«

»Er hat meine Hand geküsst«, schrie der kleine, ausgemergelte Remzi, der in der Tür auftauchte.

»Du hast meine Hand geküsst!«

Als Salih zum Sprung auf Remzi ansetzte, machte dieser einen Rückzieher. »Stimmt«, gab er zu, »du hast recht, mein Freund, zuerst habe ich deine Hand geküsst.«

»Du hast sie geküsst«, spreizte sich Atom-Salih, schlingerte zu Remzi, hakte sich bei ihm ein, und die beiden steuerten auf die gegenüberliegende Kneipe zu.

Danach ging im Kaffeehaus das Palaver von Neuem los. Sie ließen kein gutes Haar an Selim, und je mehr sie über ihn herzogen, desto mehr wuchs ihre Wut.

»Weiß denn jemand, von woher der überhaupt gekommen ist?«

»Als er krank war, hab ich mich drei Monate um diesen Hund gekümmert, hab ihn drei Monate gepflegt und ihm sogar Suppe gekocht … Und drei Monate lang auch Medikamente gekauft … Und drei Monate gefleht und gebettelt, sieh doch, Fischer Selim, du liegst im Sterben, sag mir doch, wo deine gesparten Gelder liegen! Sieh doch, du stirbst, ist es nicht schade um das viele Geld, sag mir, wo du es versteckt hast, damit es nicht verrottet … Fischer Selim, Fischer Selim, sieh, seit Monaten koche ich dir Suppe, seit Monaten pflege ich dich, wasche dich, habe dich sogar eigenhändig rasiert, du wirst doch sowieso bald sterben; ich verlange keinen Lohn dafür, sag mir nur, wo dein Geld liegt, damit das viele Geld unseres Staates, unseres Volkes nicht verrottet, Fischer Selim, mein Fischer Selim! Er kämpfte und quälte sich, und obwohl er mit dem Tode rang, machte er eine wegwerfende, verneinende Handbewegung. Da hob ich ihn hoch, legte ihn über meine Schulter, trug ihn zu seinem Boot und ließ ihn dort in seinem Todeskampf liegen. Anstatt in meinem Haus zu krepieren und alles zu verdrecken, sagte ich, stirb doch auf deinem eigenen Kahn!«

»Gelogen, Osman, gelogen. Ich erinnere mich, als wärs heute. Du hast ihn gar nicht in seine Kajüte gebracht.«

»Ich habe ihn wohl hingebracht, doch was sehe ich: Gegen Morgen ist dieser Mann in seinem Todeskampf wieder zurückgekehrt und in das Bett neben dem Ofen gekrochen … Da habe ich ihm noch einen Monat lang Suppe gekocht.«

»Und hast viel Geld dafür genommen.«

»Und wie viele Suppen hab ich ihm dafür gekocht? Sag, wie viele!«

»Wie viele Suppen denn, wie viele?«

»Suppen, sag ich dir!«

»Und wäre er gestorben, wären sein Kajütboot und seine Kähne bei dir gelandet.«

»Du hast ihm doch nicht aus reiner Güte Suppe gekocht! Wie viel hast du dafür genommen?«

»Zehn Lira … So ein Geizhals, einen geizigeren Mann als diesen …«

»Wird es auf dieser Welt nie wieder geben …«

»Zehn Tage altes Brot brockt er ins Wasser …«

»Weicht es auf …«

»Isst Brot mit Wasser …«

»Und den unverkäuflichen Kleinkram im Netz …«

»Den er weder brät noch kocht und wie 'ne Möwe runterwürgt.«

»Habt ihr schon einmal gesehen, dass er etwas anderes als Fisch und Brot gegessen hat?«

»Es ist wohl zehn Jahre her, vielleicht auch fünfzehn, da schenkte ihm jemand eine Apfelsine; und er beschnupperte die Apfelsine, beroch sie, und es verging eine Woche, bis er sie endlich streichelnd schälte und sie in ganz kleine, ganz dünne Scheiben schnitt. An einer Apfelsine hat er bis zum Abend einen Tag lang gegessen.«

»Er hat so viel Geld, wohl tonnenweise.«

»Und er bringt sein Geld nicht zur Bank.«

»Wo versteckt er es denn?«

»Das weiß niemand.«

»Vielleicht auf dem Meeresboden.«

»Unter Merkzeichen, die er niemandem verrät.«

»Wenn du verdurstest, gibt er dir keinen Tropfen Wasser.«

»Pisst dir nicht einmal auf den verletzten Finger.«

»Und sollte auf See dein Boot leckschlagen und er in der Nähe sein …«

»Käme er nicht zu dir, auch wenn du ertrinkst.«

»Er lacht nicht.«

»Er verschwindet und lässt sich eine Woche und länger nicht blicken.«

»Niemand weiß, wo er abbleibt.«

»Auch wenn du vor Neugier platzt, kannst du ihm nicht eine Frage stellen.«

»Er ist so abstoßend, dass man seine Nähe meidet.«

»Und tust du's nicht, hältst du's keine Viertelstunde aus.«

»Seitdem er wieder gesund ist, schaut er mich nicht mehr an.«

»Den Osman hat er nicht einmal gegrüßt.«

»Und ist an seiner Haustür kein einziges Mal vorbeigegangen.«

»Danach ist er nicht mehr krank geworden.«

»Aus lauter Geiz nicht mehr krank geworden.«

»Weil er wusste, dass eine Krankheit nicht umsonst zu haben ist.«

»Selim der Fischer kann nicht mehr krank werden.«

»Weil er weiß, dass Sterben teuer ist.«

»Selim der Fischer kann nicht sterben.«

»Den handgemachten Tuchcaban trug er schon, als er herkam.«

»Ein Hemd trägt er mindestens sieben Jahre lang.«

»Weil sie sich abnutzen könnte, wäscht er seine Unterhose nicht.«

»Er hat Ihsan getötet.«

»Beim Jüngsten Gericht wird er nicht wie ein rechtschaffener Mann vor Gottes Angesicht treten können.«

»Hat mit eigener Hand Zeynel den Revolver entrissen und dort hingeworfen … Hingeworfen und ist abgehauen.«

»Und wohin ist er?«

»Hat es nur getan, damit wir Zeynel nicht festnehmen.«

»Geiziger, falscher …«

»So was von geizig …«

»Ein einziges Wort …«

»Kommt ihm einmal im Jahr über die Lippen.«

»Und das in Raten.«

»Und das in Raten!«

»Und das in Raten!«

»Einmal bin ich in sein Boot gestiegen … Beinah hätte er mich getötet.«

»Und ich bückte mich mal nach einem Tauende, das ihm gehört haben soll. Da packte er mich so hart am Arm, als wolle er mich töten.«

»Hat jemand schon einmal sein Zimmer gesehen?«

»Wie denn, er lässt ja keinen hinein!«

»Er hat Ihsan getötet …«

Süleyman stand auf, reckte sich, öffnete seine Arme und rief: »Ihr alle könnt es bezeugen: Selim der Fischer hat Zeynel entkommen lassen. Als die Polizei kam …«

»Hat er ihn aus unseren Händen befreit.«

»Denn wir hatten ihn ja schon festgenommen«, wollte Ibo Efendi sagen, doch er brachte es nicht über die Lippen.

»Hätten wir gewollt, hätten wir ihn gehabt.«

»Wäre Selim der Fischer nicht gewesen, einer hätte sich in diesem großen Kaffeehaus bestimmt gefunden, der Zeynel festgenommen hätte.«

»Und ob sich einer gefunden hätte.«

»Doch wir alle hatten uns auf Selim den Fischer verlassen.«

»Wir waren alle wie erstarrt«, sagte Erkan der Lase. »Das ist die Wahrheit. Aus Angst vor dem Revolver haben wir in die Hosen geschissen.«

»Und Zeynel hat uns alle durch die Scheiße gezogen.«

»Dieser niederträchtige Kerl.«

»Das hatte Selim ihm aufgetragen.«

»Behandle sie so und so …«

»Nachdem du Ihsan erschossen hast!«

»Meine Zunge war wie gelähmt, und als fesselte mich eine unsichtbare Hand, konnte ich mich nicht vom Platz rühren«, sagte Süleyman, dessen Kopf ein schneeweißer Kopfverband wie ein Turban zierte.

»So wird es gewesen sein«, meinte Ibo Efendi, »sonst hättest du ihm doch …«

»Sonst hätte ich ihm …« sagte Süleyman, fasste sich an den Kopf und sprach den Satz nicht zu Ende.

»Jetzt geht es um Selim den Fischer … Seid ihr dabei? Wenn die Polizei kommt …«

»Wir sind dabei«, riefen sie.

»Ich nicht«, sagte Erkan der Lase.

»Ich auch nicht«, schloss Mahmut sich an.

»Nur einer unter uns … Feige, niederträchtig … Nur einer unter uns …«

»Kümmert euch nicht um diese Hunde«, sagte Süleyman. »Um die Polizei zu überzeugen, sind die andern Manns genug.«

»Sogar mehr als genug.«

»Blutrünstiger …«

»Mörder …«

»Damals …«

»Auf Badestränden …«

»Erzähl schon, Yusuf!«

»Was soll ich schon erzählen, gemeinsam brachten wir Huren an den Mann …«

»Hör dir das an …«

»Und jetzt …«

»Es gab nichts, was Selim und ich nicht ausfraßen. Ich haute meinen Anteil in Beyoğlu auf den Kopf, er sparte seinen.«

Papa Hakki schüttelte seine weißen Haare wie eine Mähne. »Eine Lüge«, sagte er. »Er hat weder mit dir noch mit sonst jemandem Weiber verkauft und wird es auch in Zukunft nicht … Er ist geizig, ängstlich, ein bisschen verrückt, erschrickt vor seinem eigenen Schatten, hat seine Schrullen, aber er verkuppelt keine Huren, stiehlt nicht, säuft nicht und zockt nicht. Und ich kenne ihn schließlich vierzig kalte Winter, er lügt nicht.«

»Er lügt nicht«, sagte Ibo Efendi.

»Er lügt nicht«, wiederholte Mahmut.

»Nein, er lügt nicht«, bestätigte Süleyman.

»Auch ich kenne ihn vierzig kalte Winter. Und koste es auch seinen Kopf, käme kein falsches Wort über seine Lippen«, sagte Selman, der in der Tür zum Kaffeehaus stand.

»Und er hat Menekşe große Dienste erwiesen«, warf der Wirt Saban ein, »er hatte den Einfall, unsere Boote an die jungen Leute aus Istanbul zu vermieten.«

»Damit sie in den Booten vögeln können«, fiel ihm Süleyman ins Wort, »er hatte diesen Einfall doch nicht zum Segen seines Vaters, dieser Lude …«

»Hör doch auf, Süleyman«, erboste sich Mahmut, »du gehst zu weit. Richtig ist, dass …«

Er warf mir einen Blick zu und schwieg.

»Richtig ist«, fuhr Ibo Efendi fort, »dass Fischer Selim Zeynel zur Flucht verhalf, das können wir alle bezeugen, wenn die Polizei kommt.«

In diesem Augenblick erschien in seinem wetterfesten Tuchcaban und den gelben Gummistiefeln Fischer Selim in der Tür. Hoch aufgerichtet stand er da mit seinem gezwirbelten, kräftigen Schnauzbart.

Aufgeregt sprangen einige auf und riefen: »Bitte, Fischer Selim, bitte komm herein!«

Fischer Selim kam herein, setzte sich an den freien Tisch rechts neben der Tür, schlug mit der Faust auf die Tischplatte und fluchte: »Verdammtes Pech. Hätte ich nur noch eine Patrone im Lauf gehabt, wäre mir Zeynel nicht entkommen, verdammt … Einen Tee!«

Dann schwieg er. Auch die andern schwiegen. Im Kaffeehaus sprach niemand auch nur ein Wort. Der Wirt brachte eilig den dampfenden Tee. In drei Zügen leerte Selim das Glas, legte das Geld auf den Tisch, stand auf, rückte seinen roten Gurt zurecht und ging hinaus. Kaum war er draußen, begannen sie wieder über ihn zu reden.

»Ein Mann wie Zeynel lässt ihn doch nicht davonkommen!«

»Bestimmt wird er Selim töten …«

»Wenn nicht heute, dann morgen, das ist so sicher …«

»Wie er Ihsan getötet hat …«

»Und so wird Zeynel den auch …«

»Die Haut wird Zeynel ihm abziehen …«

»Tut man einem Menschen so etwas an?«

»Ihn festhalten, den Revolver aus der Hand nehmen, ihn dorthin werfen … Und dann …«

»Ihn mit aller Kraft anspucken …«

»Ptuuuh, mitten ins Gesicht …«

»Das lässt doch ein Zeynel nicht auf sich beruhen …«

»Wird er sich da nicht rächen?«

»Er wird sich rächen«, brüllte Süleyman.

»Zeynel wird sich rächen!«

»Ihr seht doch, wie die Angst Selim schon jetzt umtreibt.«

»Von hier nach dort, wie einen Köter, dem die Pfoten brennen.«

»Zeynel wird ihm das Fell abziehen.«

»Und ob er's ihm abzieht … Einen Menschen so zu behandeln …«

»Schließlich hat er Ihsan getötet.«

»Hatte er nicht einen Grund?«

»Vielleicht war da etwas zwischen Ihsan und ihm…«

»Geht ein Mensch denn einen Menschen an, der gerade einen Menschen getötet hat?«

»Unser Prophet gebot uns, auch eine durstige Schlange in Ruhe zu lassen, wenn sie Wasser trinkt.«

»Geht man einen Menschen an, der einen Menschen tötet, mischt man sich da denn ein?«

»Da hast du's, nun wird er dich …«

»Wenn nicht heute, dann morgen …«

»Dann morgen …«

3

Nach solchen Vorfällen meide ich Menekşe mehrere Wochen, manchmal Monate. Auch wenn es mich dorthin zieht, zu meinen Freunden Nuri dem Schiffer und Kazim Ağa, zu Ilya und Meister Leon und Ali dem Tataren. Aber ich bringe es nicht über mich, nach Menekşe ins Kaffeehaus zu gehen und ihnen mit schuldbewusstem Blick in die Augen zu sehen. Denn wenn ich mir auch einrede, so sei die Welt nun einmal, und so seien die Menschen, widerstrebt es mir, mich mit den Worten »Was kann ich daran schon ändern« herauszureden. Ich brings nicht über mich, denn ich fühle mich irgendwie von irgendetwas beschmutzt, von irgendetwas, was nicht gut ist, was gegen die Freundschaft verstößt. Dann werde ich trübsinnig, kann die Düsternis in mir nicht verscheuchen, kann mich nicht reinwaschen. Was sie Selim dem Fischer antun und ihm dennoch in die Augen schauen, mit ihm Tee trinken, Tavla spielen, ihm antworten, wenn er endlich einmal den Mund auftut und ihnen eine Frage stellt, das will und will mir nicht in den Kopf. Bei Menekşe müsste ich ein Inselchen haben, auf der Insel ein Haus mit zwei winzigen Zimmern und einem Garten, und in dem Garten müsste ich Schößlinge von Olivenbäumen setzen, sie aufziehen, Tag für Tag mit meinen Blicken streichelnd … Sie sind die bescheidensten unter den Bäumen, wachsen unauffällig, lassen sich kaum anmerken, dass sie größer werden, so nach und nach, jedes Jahr höchstens zwei, drei neue Blattzweige treiben … Und die Enkelkinder meiner Nachbarn würden eines Tages die Früchte essen, ohne zu wissen, von wem diese Bäume, deren dunkelgrüne, spitze Blätter sich zur Sonne hin öffnen, einst gepflanzt wurden. Ich hätte gern auch noch einen Windhund und ein Fohlen, ein Vollblutfohlen, das ich eigenhändig aufzöge. Und die Türen aller Häuser stünden für jeden offen, für mich wie für jeden anderen auf meiner Insel. Wir würden einträchtig zusammenleben, uns näher sein noch als Geschwister, wir teilten dieselben Ansichten und Gefühle, jeder ginge dem andern zur Hand, empfände die Sorgen seines Nächsten, und seien sie noch so gering, als seine eigenen, wie auch ich die Sorgen der anderen zu meinen eigenen machte … Von so einer Insel bei Menekşe habe ich schon oft geträumt. Ihre Einwohner würden immer zahlreicher werden, doch niemand kratzte dem andern die Augen aus, kein Fischer nähme Kinder, klein wie Däumlinge, bei eisigem Wind mit hinaus aufs offene Meer und ließe sie mit steifgefrorenen Händen Fische aus klitschnassen, eisigen Netzen fingern und prellte die Kinder nach getaner Arbeit auch noch um ihren Lohn. Sie würden auch nicht beschimpft, schon gar nicht geprügelt, und sie stünden auch nicht mit angstgeweiteten Augen wie Vögel in enger Reihe im bitterkalten Nordwind, dem Karayel, der wie eine Sense über die Küste streicht, und sehnten frierend die Fischerboote herbei, um für ein Kinogeld, eine Tüte Kürbiskerne und eine Mohnbrezel die Ladung zu löschen. Und Mustafa des Lasen Hände, wie Rad und Reifen groß, schwarz und gerillt, hackten nicht Tag und Nacht das Erdreich hinter der Stadtmauer locker, um Petersilie, Rettich, Weißkohl und Salat anzupflanzen, damit er seine neun Kinder mit trocknem Brot satt kriegen konnte. Nein, auf meiner Insel zeigte sogar Mustafa der Lase ein lachendes Gesicht. Mit seinen pechschwarzen Händen kleidete er seine splitternackten neun Kinder und ginge mit ihnen jeden Abend am Kai spazieren. Jeder nähme teil an den Sorgen und Freuden des andern … Junge Mädchen und junge Burschen würden in die Boote steigen und zu zweit aufs violette Meer hinausfahren, da draußen Fische fangen, sich in der strahlenden Sonne verlieren und sich lieben. Und niemandes empörte Blicke scheuchte sie … Und Ali des Tataren Sohn segelte nicht aufs offene Meer hinaus und zündete sein Boot nicht an, um sich zu verbrennen, und Bekaroğlu würde die Hatce, Witwe mit elf Kindern, heiraten und glücklich sein wie nie zuvor. Ich sehe die Kinder ihm entgegeneilen, fröhlich wie Vögel, während er sein nach Meer duftendes Netz den Hang hinaufschleppt, und es ihm, diesem gütigsten aller Menschen, vom ausgemergelten Rücken nehmen … Ja, auf meiner Insel ereignete sich so manches, täten sich viele schöne Dinge … Die Menschen erträumten sich so vieles … Und sie schämten sich ihrer Träume nicht. Nie zögen sie in Betracht, dass ihre Träume sich vielleicht nicht verwirklichen würden, nie erlitten sie die Qual, ihre Hoffnungen in ihrem Innern begraben zu müssen … Und solange ich lebe, wird es diese Insel bei Menekşe geben, werden ich und Mahmut und Ilya und Malermeister Leon ohne Überdruss von unserer Insel träumen. Eines Tages würden wir Ahmet in den Kreis der Insulaner aufnehmen, weil wir gerade einen guten Zug an ihm entdeckt hatten, um am nächsten Tag voller Zorn und für immer Haydar von unserer Insel zu jagen, weil er nächtens im Suff an Zelihas Tür gerüttelt und die ältliche Hure im Ruhestand mit seinen Flüchen aufs tiefste erniedrigt hatte. Wir würden Windhunde besitzen, die schönsten der Welt, lang gestreckt mit Wespentaille und langen, schlanken Läufen. Aber wir würden mit ihnen nicht auf die Hasenjagd gehen, denn auf unserer Insel werden Menschen und Hetzhunde, Hetzhunde und Hasen Freunde sein. Aber das Schönste ist: Wir werden uns auf unserer Insel mit ganzem Herzen unseren Träumen hingeben und mit ganzer Kraft daran glauben, dass sich unsere Träume eines Tages erfüllen und die Wirklichkeit wie unsere Träume sein wird. Haben wir heute in Menekşe schon so eine Insel, wo unsere Träume mit der Wirklichkeit ineinander übergehen? Ist denn die Stadt Istanbul nicht zu nah, mit ihrem Krach, ihrem Schmutz, ihrem Drunter und Drüber, ihren Fallen, die sie Tag für Tag neu aufstellt und in denen die Einwohner einander zerreißen, ausbeuten, hassen und töten?

Was ist wirklichkeitsnäher, unser Leben in Menekşe oder die Insel unserer Träume? Und unterstehe sich einer zu meinen, er habe hierauf eine endgültige Antwort und müsse sie uns weismachen! Können wir nicht auch behaupten, dass die Trauminsel bei Menekşe unsere Wirklichkeit ist? Wie denkst du darüber, Fischer Selim? Ob Selim dem Fischer zu Ohren kam, was die Leute im Kaffeehaus über ihn redeten? Und wenn, hatte es ihn so verletzt, war er über die Bosheit der Menschen so erbost, dass er ihnen nie wieder verzeihen würde? Wie würde er sich verhalten, wenn wir uns träfen? Würde er sich zu mir umdrehen und mir mit seinen traurigen, tief liegenden blauen Augen, wenn auch nicht freundschaftlich, wenigstens einmal ins Gesicht sehen? Ich habe ja nicht alles mitbekommen, was sich da im Kaffeehaus tat, auch nicht alles gehört, was über ihn gesagt wurde. Wer weiß, was sich die Leute in Menekşe von ihm sonst noch so erzählen. Aber ich gebe jedem Brief und Siegel darauf, dass einer aus ihrer Mitte Selim dem Fischer das Gerede im Kaffeehaus brühwarm hinterbringt und sich über dessen vor Wut, Trauer, Ekel und Hilflosigkeit verzerrtes Gesicht vor Freude kugelt. Warum sollten sie auch über Selim den Fischer in seiner Abwesenheit noch so lange herziehen, wenn sie nicht wüssten, dass es ihm zu Ohren kommen würde? Aber hört Selim der Fischer sich auch an, was über ihn geredet wird? Fühlt er sich von den Worten Ibo Efendis, Süleymans und der andern wirklich im Herzen getroffen wie von einer geölten Kugel?

Oder hört er sich nur geduldig an, was über ihn geredet wird, um dann so von oben herab darüber lauthals zu lachen? Oder schmeichelt es ihm sogar, dass sie sich so ausgiebig mit ihm befassen, auch wenn sie ihn beschimpfen und erniedrigen? Ich weiß es nicht, denn Selim der Fischer spricht sehr wenig, und wenn er spricht, dann nicht wie wir. Er spricht nicht, er explodiert und geht mit gesenktem Blick davon, wenn es aus ihm heraus ist. Die Kasper, Schleimer und Witzbolde, die, wie es heißt, einen Toten zum Lachen bringen, sind ihm schnuppe …

Und sollte ihm gegenüber einer von ihnen die Grenzen überschreiten, schaut er ihn von oben herab nur einmal an, und der Mann erstarrt auf der Stelle, sein Lachen gefriert, und das Wort bleibt ihm in der Kehle stecken. Wer wagt es da noch, ihm ins Gesicht zu sagen, was hinter seinem Rücken über ihn geredet wird? Nur zu erwägen, was Selim täte, wenn doch einer käme und ihm dies Unsägliche ins Gesicht sagte, ist bisher noch niemandem eingefallen. Nicht einmal neugierig war man darauf, was Selim wohl täte, wenn tatsächlich ein Beherzter käme und Selim alles berichtete …

Ich konnte nicht hinunter nach Menekşe. Während dieser Zeit kam Mahmut einige Mal zu mir. Er war wie immer. Sein Gesicht strahlte vor Freude, und er strotzte vor Kraft. Er ging neben mir in die Hocke, erzählte mir mit brüchiger Stimme dies und das, verabschiedete sich und schlug den Weg über den Hang hinunter zu den Bahngleisen ein. Bei seinem letzten Besuch aber fuhr er mich mit scharfer Stimme grußlos an: »Bist du mir böse, Bruder?«

Ich gab keine Antwort. Es war offensichtlich, dass er sich seit Langem vorgenommen hatte, mir diese Frage zu stellen. Er setzte sich neben mich, und als sein Arm den meinen berührte, rückte ich unwillkürlich ein bisschen von ihm ab. Das konnte ihm nicht entgangen sein, denn er sagte überzeugt:

»Ja, du bist mir wirklich böse.«

Ich antwortete wieder nicht, sah ihn nur an und lachte.

»Aber Ilya und der Tatare und Hakki Baba haben auch über ihn geredet«, sagte er.

»Die tun es nicht, Mahmut«, entgegnete ich.

Verstört über meine Antwort, öffnete Mahmut seine Hände, schloss sie zur Faust, machte Anstalten aufzustehen, blieb dann doch sitzen und brüllte:

»Aber er ist feige.«

»Jedermann ist feige«, antwortete ich, »auch du bist es, und ich bin es auch.«

Immer noch verblüfft, sah er mich mit großen Augen fragend an: »Du auch? Und ich auch?«

Er senkte den Kopf, und während er so verharrte, murmelte er eine Weile: »Du auch und ich auch. Du auch und ich auch …?«

»Ja, wir alle …«

Und während er noch immer grübelte, machte ich im Innersten meinem Ärger Luft. Wären die Menschen denn so grausam und sich so feind, wenn sie nicht so große Angst hätten? Grübe der eine auch dann des andern Grube, brächten sie sich auch dann noch um, beuteten einander aus, knechteten und erniedrigten den andern? Vergäßen sie auch dann zu lieben und sich zu lieben? Wären die Hände, die sie reichten, dann immer noch so eisig und ihre Fähigkeit zu denken so erbärmlich? Würden sie auch dann so oft an den Tod denken, ohne sich zu sagen, dass sich für sie dadurch nichts ändert? Wären sie auch dann noch so blind für die Schönheit des Himmels, der Erde, der Gewässer, der Sterne, der Blumen, der hohen Berge und des Lichts? Kann man denn so leben, ohne Liebe, ohne Freunde, ohne das leicht und warm wie ein Vogel schlagende Herz beim Anblick der Geliebten?

Als habe Mahmut meine stumme Klage vernommen, sagte er: »Recht hast du, Bruder, verzeih!« Er sah mir in die Augen, als wolle er noch etwas sagen, gab es dann aber auf.

»Sprich, Mahmut, hab keine Scheu!« bat ich.

Er murmelte etwas, doch ich verstand ihn nicht.

»Nun sag schon, was du denkst, es geht ja nicht um Leben und Tod!«

»Wenn es so ist«, begann er, stockte eine Weile, »wenn es so ist, warum hast du …«

»Nichts unternommen«, ergänzte ich.

»Ja, man selbst ist wie gelähmt, lässt sich von der Stimmung überwältigen, kann sich nicht losreißen, regt sich auf, kann keinen kühlen Kopf bewahren …«

»So ist es«, nickte ich.

»Trotzdem, wenigstens ich hätte Selim dem Fischer das nicht antun dürfen.«

»Ja … Wenigstens du nicht …«

»Denn mich liebt Selim«, sagte er freudig erregt.

»Und eben deswegen …«

Er ballte die Fäuste und rief: »Sollen sie von nun an doch einmal versuchen, hinter Selims Rücken über ihn zu reden! Bei Gott, ich nehme das ganze Kaffeehaus auseinander.«

»Halt«, entgegnete ich, »damit wirst du bei ihnen nichts erreichen! Sie haben sich so daran gewöhnt, dass sie ohne Gerede über ihn nicht können.«

Er ließ den Kopf sinken: »Bei seiner Mutter, es stimmt. Ohne ihn, ohne das Gerede hinter Selim des Fischers Rücken können sie gar nicht. Sie müssen über ihn herziehen. Solange ich denken kann, ist das so.«

Er stand auf, sein Gesicht wirkte entspannt und spiegelte die Freude der Genugtuung wider.

»Falls du ihn siehst, grüß mir Selim den Fischer!« sagte ich; er nickte, als er schon den Weg nach Florya eingeschlagen hatte.

Auch ich machte mich bald danach auf, eilte schnurstracks den Hang hinunter, ging unter der Brücke neben dem Bahnhof hindurch und weiter bis an den Strand. Nicht weit vom Bootssteg saß Fischer Selim im dümpelnden Kajütboot und knüpfte an einem Netz. Als er den Kopf hob, kreuzten sich unsere Blicke; verwirrt sah er mich an, fasste sich dann sofort und lächelte.

»Merhaba, Fischer Selim!«

Er winkte mit seiner Riesenhand.

»Eine Zigarette«, rief ich, und sofort legte er sich in die Riemen und lenkte das Boot längsseits zum Anleger. Ich ging über die knarrenden Bohlen zu ihm, reichte ihm eine Zigarette hinüber, er nahm sie und steckte sie an. Gemeinsam rauchten wir, ohne zu reden. Anschließend reichte ich ihm eine zweite Zigarette und zog eine weitere für mich aus der Packung. Wir zündeten sie an; er sah gedankenverloren in die Weite, und auch ich ließ meine Gedanken schweifen. Erst nach einer ganzen Weile brach er das Schweigen mit einem einzigen Wort: »Dahinten«, sagte er und zeigte mit der Hand in die Richtung der Unseligen Insel.

»Nicht möglich.«

»Ganz bestimmt.«

»Ist er groß?«

»Ich hab ihn nicht gesehen, man hats mir erzählt.«

»Es soll doch keine mehr geben …«

»Einige wenige schon … Sie irren umher wie benommen.«

»Ein Jammer«, seufzte ich, »welch ein Jammer.«

»Ein Jammer, ja, aber wenn nicht ich, dann ein anderer …«

»Dann ein anderer«, nickte ich, »nur wenige, wie schade.«

»Er soll riesig sein …«

»O nein, wenn sie's doch bloß verbieten würden …«

»Wenn sie's doch bloß verbieten würden …«

Er nahm noch einen Zug.

»Wer schert sich schon um Verbote … Mit Dynamit fischen ist in diesen Gewässern auch verboten!«

»Ja, das ist auch verboten«, bestätigte ich.

»Und wer hält sich dran?«

Könnte ich ihm doch antworten, dass sich meine Freunde, die Fischer vom Bosporus, von Bandirma, von Ereğli am Marmarameer, von den Dardanellen und von meinem geliebten Sile am Schwarzen Meer sich daran hielten! Er saß da in seinem Boot und hatte sich wieder in seine Arbeit vertieft, und ich hatte mich hier am Ende des Anlegers auf die Bohlen gehockt und ließ meine Beine überm Wasser baumeln. Wir rauchten noch einen Haufen Zigaretten, ohne ein Wort zu reden. Über uns hinweg brausten in einem fort Flugzeuge, die zur Landung in Yeşilköy ansetzten, vor uns dehnte sich bis an die Küste von Bursa im Sonnenglast der funkelnde Spiegel des Meeres, und in unseren Nasen spürten wir ganz leicht den Geruch des aufkommenden Südwinds.

»Er kommt nicht«, sagte er, ohne aufzublicken.

»Wer?«

»Der Lodos natürlich«, lächelte er, und seine kräftigen, weißen Zähne blitzten. »Was solls, dieser Südwind hat nun mal seine Launen, er liebt es, sich zu zieren.«

Dann hob er den Kopf und sah mich an. »Du liebst doch das Meer, willst du morgen nicht mitkommen … Vielleicht hast du Glück, und wir sehen ihn.«

»Sicher werden wir ihn sehen!« antwortete ich. Und ich freute mich. Wie sollte ich mich da nicht freuen? Es war wohl das erste Mal, dass Fischer Selim jemanden zu sich aufs Boot einlud. Mag sein, dass schon vor mir einige die Ehre hatten, aber der Erste – und darauf verwette ich meinen Kopf –, den er ehrlichen Herzens aufforderte mitzufahren, war ich.

»Ich komme bestimmt, und wir werden ihn aufspüren und endlich sehen«, rief ich begeistert.

Meine Aufregung schmeichelte ihm. »Morgen früh, Punkt drei Uhr, hier!«

»Genau hier.«

Er legte sich in die Riemen und entfernte sich. Vor dem Palast des Präsidenten der Republik ließ er die Ruder los. Das Boot dümpelte ganz leicht in der ruhigen See. Fischer Selim saß gebeugt über den Maschen seines Netzes.

4

In jener Nacht konnte ich nicht einschlafen, mein Herz klopfte vor Aufregung. Fischer Selim hatte mich zu einer Bootsfahrt eingeladen! Der Mann, auf den ich schon seit Jahren neugierig war, von dem ich außer einigen Bemerkungen nie ein Wort hörte und von dem ich nicht wusste, ob er nun bescheiden war oder feige, beherzt oder ängstlich, ein Mann der Ehre oder der Niedertracht.

Das Meer hatte sich aufgehellt, ich ging hinaus. Im Garten stand der Judasbaum in voller Blüte und streute seinen rosa Schimmer wie einen Strom von Licht in die Morgendämmerung. Ich ging zum Ufer hinunter, das Meer lag ruhig da, eine laue Morgenbrise fächelte den Geruch des Salzwassers herüber. Fischer Selim war schon am Bootssteg, er saß in seinem Boot, und sein mächtiger Schatten lag lang gestreckt auf dem Wasser. Von Weitem schon leuchtete seine rote Bauchbinde durch die milchigblaue Morgendämmerung unter verblassenden Sternen. Die Hände auf den Rudern, wartete er auf mich. Er trug ein grünes Käppchen, unter dem die Locken seiner rötlichbraunen Haare hervorquollen. Mit einem freundlichen Lächeln, das von Herzen kam, begrüßte er mich. Stolz lag darin und Freude, ja, sein ganzer Körper schien eine Freude auszuströmen, wie ich sie an dieser Küste noch nie erlebt hatte. Unzählige Lachfältchen umrahmten seine strahlenden Augen. Wenn es Brüderlichkeit, Freundschaft und Liebe geben sollte, hier drückte sie sich aus. Doch plötzlich, als habe er bereut, sich so geöffnet zu haben, fasste er sich wieder. Die Falten seiner Stirn wurden schärfer, das Gesicht straffer, die Bartspitzen bebten, und die Augen blickten ernst. Doch seine Freude und seinen Stolz konnte er nicht verbergen, hartnäckig prägten sie auch weiterhin seine Züge.

Und mit einer Stimme, die trotz allem seine Freude verriet, sagte er: »Spring!«

Und ich sprang. Er legte ab, und nach einigen kurzen Schlägen ließ er die Ruder treiben, hob sie dann, ohne gegen die Bordwand zu stoßen, nacheinander übers Dollbord und legte sie längsseits ins Boot. Dann griff er mit den kräftigen, langen Fingern seiner mächtigen Hand nach der Knotenschnur des Anlassers und setzte mit einem ruckartigen Zug den Motor in Gang. Wir nahmen Kurs auf die Unselige Insel. Selims Motor von dreißig Pferdestärken pflügte eine schäumende Spur in die spiegelglatte See. Noch standen Sterne am Himmel, ihr fahles Licht fiel auf das Meer und die weit vor uns verschwommen im Morgennebel auftauchenden blauen Berge. Dicht vor der Unseligen Insel stoppten wir. Das Meer lag ruhig da, kein Geräusch kam aus seiner unendlichen Tiefe, kein Plätschern war zu hören, aber gerade darum erschien es mir schwerer, dröhnender als sonst. An so einem Morgen, im fahlen Licht der verblassenden Sterne, wenn sich vom glatten Meeresspiegel sanft der Nebel hebt, spürt der Mensch die unbändige Macht und Größe des Meeres umso mehr. Ich scheute mich, Selim meine Gedanken zu offenbaren. Mir war, als befürchteten wir beide, diese lastende Schwere, diese unendliche Weite, diesen Stillstand zu stören, dies in sich ruhende Meer aufzuschrecken. Regungslos, die Stirn in Falten, suchte Selim mit zusammengekniffenen, falkenscharfen Augen das Meer ab. Hinter uns, im bläulich fahlen Dämmer der Sterne, lag verschwommen im Dunst, die Lichter noch ausgeknipst, das schlafende Istanbul mit seinen nur teilweise sichtbaren, teilweise wie in der Luft hängenden bleiernen Kuppeln, seinen Minaretten und Wohnhäusern. Jeden Augenblick musste es erwachen, würde sich der Wirrwarr von Bussen, Autos, Pferdegespannen, Dampfern, Bugsierschleppern, Frachtkuttern, hochbepackt ächzenden Lastenträgern, gehetzt drängenden Menschen in überfüllten Straßen, vor Moscheen und Brücken ineinander verkeilen, und verwundert darüber, dass sich die Stadt trotz des erliegenden Verkehrs noch regt und bewegt, werden diese Menschen sich aufs Neue in das große Schlachtgewühl stürzen, um an den Ort zu gelangen, den zu erreichen sie sich vorgenommen hatten. Und bald werden die Fischer in den Booten ihre Auslagen herrichten, werden Holzkohlen oder Butangas anzünden, werden in Mehl gewälzte Fische in riesige Pfannen mit siedendem Öl werfen und am Kai übers Dollbord hinweg verkaufen, und der würzige Geruch wird vom Karaköy-Platz bis weit hinauf zum Blumenbasar und bis zu den Verladerampen für Obst und Zitrusfrüchte ziehen. Schichtarbeiter, die früh am Morgen Hunger haben, Herumtreiber, die keine Schlafstelle, aber etwas Geld ergattern konnten, übrig gebliebene Nachtschwärmer, junge, übermüdete Huren, die eine Nacht die Bordsteinkanten wetzten, Vagabunden, jugendliche Zigarettenverkäufer und Taschendiebe, Einbrecher, obdachlose Straßenjungen und Stricher, sie alle werden sich vor den am Kai liegenden Booten aufstellen und ein aufgeklapptes halbes Weizenbrot, gefüllt mit einem halben Blaubarsch, einem Viertel Makrele, einer Scheibe Tunfisch und einigen Brassen, in beide Hände nehmen und hineinbeißen, dass ihnen das Bratfett von den Mundwinkeln rinnt. Das dumpfe Grummeln der erwachenden Stadt Istanbul aber wird weit übers Meer bis zu uns herüberhallen, und die bleiernen Kuppeln, die Minarette und die hässlichen, zu diesen Minaretten überhaupt nicht passenden neuen Wohnhäuser werden sich ganz langsam aus dem Nebel schälen und sich ungeschlacht wie ein seltsamer Riese über die das Ufer säumenden steinalten Ringmauern hinweg dem Sonnenlicht entgegenstrecken.