Die Hähne des Morgenrots - Yaşar Kemal - E-Book

Die Hähne des Morgenrots E-Book

Yasar Kemal

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Beschreibung

Die vom Krieg zusammengewürfelte Gemeinschaft auf der Ameiseninsel wächst und wächst. Die Flüchtlinge aus dem Osten und aus dem Westen versuchen, hier heimisch zu werden. Doch auch das Heimweh wächst: Der berühmte Pferdezüchter Aga Efendi will um jeden Preis zurück auf sein geliebtes Kreta. Er reist nach Istanbul und Ankara, bestürmt Botschafter und Minister, bäumt sich auf gegen eine gedankenlose Weltpolitik, die nach dem Ersten Weltkrieg mit einem Federstrich Millionen von Menschen umgesiedelt und in die Katastrophe geführt hat. »Der Duft des Mittelmeerraums ist überall der gleiche. Ob auf Kreta, in der Çukurova, im Taurus, in Griechenland, in Frankreich, in Spanien oder in den Pyrenäen …«

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Über dieses Buch

Die vom Krieg zusammengewürfelte Flüchtlingsgemeinschaft auf der Ameiseninsel wächst und wächst – und mit ihr das Heimweh: Der berühmte Pferdezüchter Aga Efendi bäumt sich auf gegen eine gedankenlose Weltpolitik, die nach dem Ersten Weltkrieg mit einem Federstrich Millionen von Menschen umgesiedelt und in die Katastrophe geführt hat.

Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.

Yaşar Kemal (1923-2015) wird der »Sänger und Chronist seines Landes« genannt. Er wuchs in einem Dorf Südanatoliens auf und lebte in Istanbul. 1997 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 2008 wurde er mit dem Türkischen Staatspreis geehrt.

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Cornelius Bischoff (1928-2018) verbrachte seine Jugendjahre in der Türkei und studierte Jura in Istanbul und in Hamburg. Seit 1978 ist er als literarischer Übersetzer tätig und schreibt Drehbücher.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Yaşar Kemal

Die Hähne des Morgenrots

Roman

Aus dem Türkischen von Cornelius Bischoff

Die Insel-Romane III

E-Book-Ausgabe

Mit einem Bonus-Dokument im Anhang

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 7 Dokumente

Dritter Band der Insel-Romane

Die Originalausgabe erschien 2002 unter dem Titel Tanyeri Horozları bei Adam Yayınları, Istanbul.

Originaltitel: Tanyeri Horozlari (2002)

© by Yaşar Kemal 2002

© by Unionsverlag, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Yuri Bonder

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30781-0

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

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Version vom 22.06.2022, 05:15h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

Impressum

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Inhaltsverzeichnis

DIE HÄHNE DES MORGENROTS

1 – Er war sehr müde. Tagelang hatte er rundum …2 – Schneeweiß wie eine Jacht kam ein Kutter auf …3 – Ein Boot kam zum Anleger. Zuerst begrüßten die …4 – Seit Kapitän Kadri die beiden gesehen hatte …5 – Handscharträger Efe wohnte in einem der schönsten Häuser …6 – Die Mädchen packten ihre besten Kleider in den …Worterklärungen

Mehr über dieses Buch

Yaşar Kemal: Über die Inselromane

Über Yaşar Kemal

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Yaşar Kemal: »Die Epen sind wie Kiesel auf dem Grund des Stromes«

Lucien Leitess: Vor seinen Büchern werden wir wieder zu Kindern

Über Cornelius Bischoff

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1

Er war sehr müde. Tagelang hatte er rundum die Inseln abgerudert, bis er seine Arme nicht mehr heben konnte. Auf welcher Insel der Mann sich aufhielt, wusste er, dennoch steuerte das Boot andere Strände an. Zwar hielt er Kurs auf die ihm so vertraute Ameiseninsel, wusste, dass die gesuchte Person dort war, heftete seine Augen auf das im Dunst auftauchende Ufer, dümpelte, bis das Meer weiß wurde und die Insel sich aus den feinen Schleiern schob, wendete dann aber das Boot und machte sich ziellos davon. Proviant hatte er nur noch wenig. Auf anderen Inseln konnte er nicht an Land, denn wenn er den Mann umbrachte, würde man ihn leicht wiedererkennen. Auf See war ihm bisher noch niemand begegnet, kein Fischkutter, kein Boot, kein Dampfer. Die See lag leer und spiegelglatt.

Gegen Mittag fand er sich an einem Strand wieder, feiner Sand, soweit das Auge reichte. Dicht dahinter waren mit Tamarisken bestandene Hänge zu sehen. Er zog das Boot auf den Sand, nahebei stürzte Wasser über steil abfallende Felsen und vermischte sich mit dem Meer. Der Mann nahm seinen Proviant, ging zum Wasserfall, kniete nieder, trank, setzte sich, lehnte seinen Rücken an die Böschung, aß im Schatten der Tamarisken sein vertrocknetes Brot, den Käse, die mit der Faust zerschlagene Zwiebel, füllte die Krüge mit frischem Wasser und brachte sie zum Boot. Bald fielen die Schatten der Tamarisken auf den sandigen Strand. Der Mann rollte eine lange Matratze am Fuße der Böschung aus. Als er seinen Kopf auf den Quersack bettete, schoss aus einem großen Loch in der Böschung ein azurblauer Eisvogel, überzog den Sand, die Böschung, die Tamarisken mit seinem Blau und flog über das Meer davon.

Als die Sonne im Westen verschwand, lag Süleyman schweißgebadet da. Er wachte auf, schaute sich um. Er zog den Revolver aus einer der Taschen, er war nagelneu. Wie schön er doch glänzt, dachte er. Süleyman wird in Kürze einen blutjungen Mann töten, dazu noch einen, der niemanden getötet hat. Einen Unschuldigen, der sich in jener Nacht am Raubzug nicht beteiligt hatte, der nur abseits auf seinem Pferd saß, nicht einen Schuss abgab, kein Blut vergoss, dann sein Pferd zum Zelt des Emirs trieb und sich so rettete. Einen blutjungen, verbannten Tscherkessen, und einen Stammesbruder. Denn für uns Tscherkessen wurde das Töten von Menschen zum Beruf. Wir wurden mit Mord- und Totschlag verbannt, und bald wird ein Tscherkessenjunge durch deine Kugeln fallen! Er warf den Revolver wieder in die Tasche. Ist der Stiel der Axt, die den Baum fällt, nicht auch aus Holz?

Warum hatte Emir Selahaddin diesen Mann, der in seinem Zelt Zuflucht suchte, so lange geschützt? Sein ganzes Dorf hatte er nach Arabien umgesiedelt! Wohin genau, das wusste keiner. Vielleicht hatte er sie auch zurückgeschickt in den Kaukasus, nach Daghestan. War Emir Selahaddins Hanum nicht auch Tscherkessin? Die Tscherkessinnen sind die schönsten Frauen auf dieser Welt. Warum bloß haben die Männer des Emirs dem Scheich denn erzählt, dass der Führer der Männer, die sie nachts überfallen und niedergemacht haben, ein Tscherkesse war? Diese Männer des Emirs waren ja auch Tscherkessen! Dass er auf dieser Insel ist, hatten ihm auch die Söhne des Khans der Tschetschenen bestätigt. Wir werden ja sehen, ob das alles stimmt!

Warum schickte der Scheich ihn hierher, obwohl er genau wusste, dass Abbas und auch er selbst Tscherkessen sind? Wollte er das Band zwischen ihnen zerreißen?

Wie konnte er nach so vielen Jahren einen Menschen wiedererkennen, den er am Ufer des Euphrat zu Pferde im Kugelregen bis zum Zelt des Emirs verfolgt hatte? Nur einen Lidschlag lang hatte er ihn gesehen. Warum schickte ihn dann der Scheich los, obwohl er das alles wusste? Weil all die anderen Burschen, die er geschickt hatte, nur Aufsehen erregt, aber nichts erreicht hatten? Weil du erfahren bist, in den Dardanellen gekämpft, unzählige Bajonettkämpfe überstanden hast? Weil du diese Gegend und ihre Menschen so gut kennst wie deine Handflächen? Weil er meint, dass ein Tscherkesse darauf brennt, einen anderen Tscherkessen zu töten? Soll er doch mal sehen …

Er betrat das Dorf. Die Häuser waren anders als in den Dörfern, die er kannte. Sie waren zweistöckig. Die Bäume in den Gärten waren anders. Ölbäume standen in dunkelgrünem Dunst. Aufmerksam um sich schauend, ging er bis zur aufragenden Platane in der Dorfmitte. Im Café unter der Platane saßen Dörfler und Dörflerinnen. Sie winkten ihm, Platz zu nehmen, und riefen: »Willkommen, du bringst uns Freude!«

»Auch ich bin erfreut«, sagte Süleyman.

»Woher kommst du, wohin gehst du?«, fragten sie. Er antwortete: »Ich komme von den Bergen, kam ans Meer, habe in den Dardanellen gekämpft.«

»Es möge vergangen sein, Bruder! Hast du Verletzungen davongetragen?«

»In beiden Oberschenkeln stecken noch Kugeln. Die Ärzte meinten, sie sollen dort stecken bleiben, und ich sagte: Einverstanden. Ein Geschenk der Dardanellen an mich.«

Er ging in den Laden gegenüber. Dort lagen Brotlaibe, die von den Frauen in kleinen Hausöfen gebacken wurden. Sie waren noch ofenfrisch. Er kaufte Brot, Oliven, Käse und Türkischen Honig und sagte: »Bleibt gesund, Freunde, ich steche in See!«

»Geh frohen Mutes!«, riefen sie hinter ihm her. Über den Sand ging er zum Boot, legte den Quersack auf die Vorplicht, schob das Boot ins Wasser, sprang hinein und legte sich in die Riemen.

Der Ort war ein Griechendorf, das anatolischen Umsiedlern übergeben worden war, nachdem die Griechen es verlassen hatten.

Sie waren nicht hierher verbannt worden. Man hatte ihnen die Häuser geschenkt. Verbannt waren die Tscherkessen. Ihnen gab man weder Haus noch Acker. Man hatte sie splitternackt in die anatolischen Berge, in die Wüsten Arabiens vertrieben, ihnen gesagt: Seht zu, wie ihr zurechtkommt. Sie wurden zur Palastwache in den Serails der Emire abgestellt oder zu Leibgardisten von arabischen Scheichs. Wer keine Arbeit fand, musste verhungern.

Süleyman ruderte stetig. Langsam versank im Westen die Sonne. Je tiefer sie sich zum Meer senkte, desto größer wurde ihr roter Glutball.

Süleyman hatte das Auf und Ab des Ruderblattes dem Fluss seiner Gedanken angepasst. Wohin die Fahrt ging, kümmerte ihn nicht. Er war auf dem Weg, einen Tscherkessenjungen zu töten. Tut man das? Süleyman schämte sich. Die schrecklichste Gräueltat ist das Töten eines Menschen. Aber das Töten von Menschen ist die Aufgabe der Tscherkessen. Und die Araber töteten sich ja auch dauernd gegenseitig.

Vom Nachdenken und gleichzeitigem Rudern ermüdet, ließ Süleyman die Ruder sinken. Inmitten der ruhigen See fühlte Süleyman sich auch ganz ruhig. Er schaute in die untergehende Sonne. Das Orange, das Grün, das Violett, das Gelb, das Blau in ihrem Umkreis vermischten sich in einem Farbenrausch.

Das Licht der Sterne fiel auf das dunkelnde Meer. Er setzte sich auf die vordere Ruderbank und schaute hoch zu den Sternen. Sie standen reglos übereinander, glitten nicht weiter. Ganz anders die Sterne am Himmel des Euphrat: Sie zogen hintereinander dahin, brodelten, kreuzten sich, wurden ein jeder am Himmel zu mächtigen, sich öffnenden Blumen des Lichts.

Süleyman konnte seine Augen nicht vom Sternenhimmel wenden. Noch nie hatte er so viele sich neben- und übereinanderballende unbewegliche Sterne gesehen. Er vergaß alles um sich herum. Seltsam, überall auf dieser Welt gleiten die Sterne am Himmel. Aber die Sterne über diesem Meer schienen wie festgebunden. Bis ein Stern zu gleiten beginnt, wird er hier warten und zum Himmel schauen.

Bis nach Mitternacht wartete er, die Sterne scherte es nicht. Doch da machte ein kleiner Stern einen kurzen Ruck, und Süleyman frohlockte. Und im Osten stieg ein großer Stern wie von der Sehne geschnellt aus dem Meer, zog einen großen Bogen und fiel im Westen wieder ins Meer. Süleyman war verblüfft: Hat man so etwas schon gesehen? Sofort legte er sich in die Riemen. Die Ruderblätter wirbelten das Wasser auf, und es begann zu leuchten. Süleyman hatte sehr viele Meere erlebt, aber so ein Meeresleuchten noch nie. Seine Müdigkeit war verflogen.

Große und kleine Sterne begannen überall am Himmelszelt zu gleiten. Süleyman duckte sich erschrocken über die Riemenholme, ließ die Sterne aber nicht aus den Augen und bekam eine Heidenangst, sie könnten beim Gleiten zusammenstoßen.

Kühle Brisen kamen auf, der Meeresspiegel wurde milchweiß. In einiger Entfernung tauchte aus weißen Dunstschwaden immer wieder eine Insel auf. Ist es diese Insel?, überlegte Süleyman. Die Insel zeigte sich wieder und verschwand. Soll ich zurückrudern?, fragte sich Süleyman. Ich weiß, Abbas ist auf jener Insel. Wenn wir uns treffen, wird entweder er mich oder werde ich ihn töten. Ich werde ihn nicht überrumpeln. Ich bin dem Blutbad der Dardanellen entkommen, habe tausendundein Übel überlebt – und er die Apokalypse am Allahüekber. Wenn ich jetzt umkehre, geradewegs zum Emir Selahaddin, und ihm sage: Du bist unsere einzige Zuflucht. Der Scheich hat mich zu dieser Insel geschickt, um diesen Mann zu töten. Wie kann ich einen Menschen töten, der bei dir Zuflucht gefunden hat? Wenn ich ihn nicht töte und auf seiner Insel bleibe, würdest du dann meine Familie retten und auch mich in deine Obhut nehmen? Emir Selahaddin soll anstelle des Osmanischen Padischahs zum neuen Padischah ernannt werden. Mazli Sultan, seine Frau, ist auch Tscherkessin. Ich bin Tscherkesse, und Abbas ist Tscherkesse. Sind wir nicht in dieser misslichen Lage, weil sich die Tscherkessen immer gegenseitig umgebracht haben? Ich werde geradewegs zum Emir Selahaddin gehen, ihm sagen: Du bist der mächtigste und edelste Emir von ganz Arabien, ich habe bei dir Zuflucht gefunden, rette das Leben meiner Familie und auch mein Leben! Ich bin ein Tscherkesse, der die Schlacht um die Dardanellen überlebte, der einen Platz an der Pforte des Padischah verdient hat. Was er mir darauf wohl antwortet?

Süleyman wendete das Boot und steuerte auf die Sterne zu. Die Ruder bewegten sich so schnell auf und ab, dass er bald ganz außer Atem geriet: Blödes Menschenkind, sagte er zu sich selbst, Schwachkopf! Wer bist du schon, verglichen mit Emir Selahaddin?

Erst kürzlich hat der Scheich mit seinem großen Kopf und seinem weißen Bart am Tor des Selahaddin ganze Tage und Nächte gewartet und gestöhnt, und der Emir hat ihn nicht hereingelassen. Wer bist du also, he, du Trottel! Kehr um und töte ihn, hast du denn eine andere Wahl? Der Scheich wird dich umbringen, wenn du zurückkehrst, ohne ihn getötet zu haben! Mit seinem Schwert schlägt er dir eigenhändig den Kopf ab und treibt deine Familie zurück zum Russen! Mach kehrt!

Er machte kehrt und setzte das Boot auf den Sandstrand neben der Brücke. Hier ist die Ameiseninsel, freute er sich. Mächtige alte Platanen, haben sie gesagt. Stimmt! Und platsch, platsch plätschert der Brunnen, auch das stimmt! Seine Blicke hefteten sich auf das Meer. Eine lange Zeit. Plötzlich sprang er auf. Und das Meer, sagte er, das Meer ist so, wie sie es mir gesagt haben: Es glänzt. Wenn ich noch zwei Windmühlen und einen riesigen Birnbaum sehe, ist es klar: Diese Insel ist es! Er schlenderte hinter die Häuser und stand vor dem riesigen Birnbaum. Da es nun ein bisschen heller wurde, sah er auch die Windmühlen. Die Flügel der einen Mühle drehten sich. Er ging zurück und setzte sich neben den Brunnen. Er war so erschöpft, dass er keinen Schritt mehr tun konnte. Die Müdigkeit übermannte ihn, seine Augen schlossen sich, öffneten sich plötzlich, schlossen sich gleich wieder.

Als Vasili zum Brunnen kam, war Süleyman, den Kopf auf der Brust, in tiefem Schlaf. Das Boot lag nahebei auf dem Sand. Vasili untersuchte es. Im Boot waren ein kelimartiger Gebetsteppich, ein Mantelsack aus Teppichstoff, dann ein dunkelblauer neuer Anzug, Unterwäsche, ein seidenes, schulterlanges arabisches Kopftuch, einige kragenlose Oberhemden, eine Kopftuchkordel, drei gleichfarbige militärische Turbane, mehrere Beutel, in einem davon drei tscherkessische Handschars in nivellierten Scheiden. Neugierig öffnete er auch den nächsten Beutel und fand darinnen drei mit Seide durchwirkte Tscherkesskas; alle drei sorgfältig übereinandergelegt. Vasili legte sie wieder ordentlich zusammen, entfernte sich eilig vom Boot und blieb am Brunnen stehen. Süleyman lag noch in tiefem Schlaf.

Vasili eilte zu Nordwind. Lena war seit Langem wach und hatte den Tee schon aufgesetzt.

»Ist er noch nicht wach?«, fragte Vasili leise.

»Er wacht gleich auf«, antwortete Lena.

Vasili setzte sich in den Sessel.

»Was ist denn passiert, was gibt es denn, Vasili?« Sie unterhielten sich auf Griechisch.

»Am Brunnen schläft ein Mann. Wenn du mich fragst, einer von denen.«

»Wen meinst du damit?«

»Die gekommen sind, Nordwind zu töten.«

»Hast du ihm denn nichts getan?«, fragte Lena.

»Er schläft. Einen Schlafenden rührt sogar eine Schlange nicht an.«

Jetzt wachte Nordwind auf. »Was ist, Mutter, mit wem sprichst du?«, fragte er.

»Vasili ist hier«, sagte Lena.

Nordwind kam im Unterzeug aus dem Zimmer. »Was ist, Vasili, ist etwas passiert?«

»Nein, nichts«, beruhigte ihn Vasili, »nur ein Mann ist gekommen, unter die Platanen, sitzt da auf dem Sofa und schläft. Nach meiner Meinung gehört er zu den anderen. Ich habe in sein Boot geschaut.«

»Im Boot stand es geschrieben?«

»In seinem Boot sind ein Gebetsteppich aus Kelim und drei Beutel. Ich habe zwei Beutel geöffnet, in dem einen drei Tscherkessenhandschars in silbernivellierten Scheiden, in den anderen eine Kopftuchkordel und drei enge militärische Turbane in verschiedenen Farben. Hast du jetzt begriffen, woher dieser Mann im Dunkel der Nacht gekommen ist?«

»Ich habe begriffen, woher dieser Mann gekommen ist«, lachte Nordwind.

»Trug er einen Revolver an der Hüfte?«

»Ich habe mir auch die Hände des Mannes angesehen. Sein Zeigefinger krümmte sich wie am Abzug. Sogar im Schlaf. Die Finger der Menschen, die ihre Hand immer am Abzug haben, halten ihre Finger immer so, sogar im Schlaf.«

»Sieh an, das wusste ich nicht. Ich bin so einer, der viele Jahre den Finger nicht vom Abzug nahm, doch dass mein Finger mich verraten würde, wusste ich nicht. Und diesen Händen sieht man auch an, dass sie keine andere Arbeit getan haben, als auf den Abzug zu drücken.«

Hastig frühstückten sie und gingen zu den Platanen. Der Mann hatte den Kopf in den Nacken gelegt und schlief. Sie gingen zum Boot.

»In welchen Beutel hast du noch nicht geschaut?«

Vasili reichte Nordwind den dritten Beutel. Nordwind ging in Richtung Anleger, öffnete im Schutz des Röhrichts den Beutel, zog einen Koran, drei Amulette und einen beschrifteten Bogen Papier heraus. Nordwind las das Schriftstück, es war ein Empfehlungsschreiben, und der Name des Mannes Süleyman. »Süleyman ist wie ich ein Offizier im niedrigeren Rang. Er hat nach diesem Belobigungsschreiben in der Schlacht um die Dardanellen heldenhaften Mut bewiesen und ist mit diesem Schreiben befördert worden.« Im Beutel waren außerdem noch einige Kleinigkeiten: ein Rasiermesser, ein Lederriemen zum Schärfen der Klinge, ein Rasierpinsel und ein Stück Toilettenseife. Sie eilten zurück zum Boot, legten den Beutel an seinen Platz und gingen zu den Platanen. Währenddessen war Musa Kazan Agaefendi, der sie durchs Fenster beobachtet hatte, heruntergekommen und wartete auf sie.

Vasili ging zum Agaefendi und sagte leise: »Er schläft.«

Der Agaefendi fragte noch leiser: »Wer schläft?«

»Süleyman«, antwortete Vasili. »Niederer Offizier, ein Held in der Schlacht um die Dardanellen, er hat ein Belobigungsschreiben. Er schläft.«

Sie gingen plaudernd unter den Birnbaum, setzten sich ins Gras und berieten lang und breit das Problem. »Sprechen wir erst einmal mit dem Mann. Tiere beschnuppern, Menschen besprechen sich«, sagte Nordwind.

Sie gingen zu den Platanen. Süleyman schlief noch immer in derselben Haltung. Sie gingen zu den Ölbäumen in der Senke. Sie gingen zum Brunnen und kamen zurück zur Platane. Süleyman hatte seine Haltung nicht verändert, er schlief.

»Was sollen wir tun?«, fragte der Agaefendi.

»Gehen wir zu uns nach Haus, mein Efendi, Mutter Lena macht uns Tee!«

»Das geht nicht«, widersprach der Agaefendi. »Was ist, wenn der Mann aufwacht und gleich mit dem Boot davonfährt?«

»Das wird er nicht, mein Efendi: Ohne vorher mit mir gesprochen zu haben, fährt er nirgendwohin.«

»Dieser Mann ist also Tscherkesse, nicht wahr?«

»Ja, mein Efendi, ein Tscherkesse.«

»Diese Handschars schmieden nur tscherkessische Meister, und nur Tscherkessen gürten sich damit«, warf Nordwind ein.

»Und woran erkennt man, dass er aus Arabien kommt?«

»In dem anderen Beutel sind drei militärische Turbane und eine Stirnkordel. Beides wird in Arabien getragen.«

»Also, gehen wir! Gehen wir Lenas köstlichen Tee trinken!«

Sie hatten sich gerade umgedreht, da hörten sie ein Geräusch. Süleyman war vom Sofa gefallen. Kaum vernehmbar murmelte er etwas auf Arabisch, danach kam auf Türkisch: »Ich bin krank, ich sterbe.«

»Heb ihn hoch!«, sagte Nordwind zu Vasili, »leg ihn aufs Sofa, ich hole die Ärzte.«

Bald darauf kam er mit beiden zurück. Sie untersuchten Süleyman eingehend. »Er ist nicht krank. Dieser Mann musste lange hungern und noch mehr dürsten. Drei Tage Bettruhe und Pflege, dann kommt er wieder zu sich!«

Salman Sami, einer der Ärzte, nahm die Hand von Süleyman: »Schau dir die Handflächen an, sie sind angeschwollen und haben Wasserblasen. Wie ist dieser Mann nur hergekommen?«

Nordwind zeigte auf das Boot im Sand.

»Dann nimm ihn mit nach Haus! Dieser kleine Offizier Süleyman ist tagelang gerudert, war durstig und hat gehungert. Sonst fehlt ihm gar nichts. Wenn du ihm jeden Tag Fisch zu essen gibst, ist er bald wieder wohlauf.«

»Vasili«, sagte Nordwind, »bring ihn nach Haus, wasche ihn zuerst vom Scheitel bis zur Sohle, leg ihn ins Bett, dann schläft er sofort. Lena soll ihm etwas Gutes kochen, wenn er aufwacht, wird er sich wie ein Raubtier darauf stürzen. Leg ihm seinen Mantelsack und seine Beutel in Reichweite, wenn er aufwacht, sucht er nach seinen Sachen.«

»In Ordnung!«, sagte Vasili und nahm sich den Mann aus Haut und Knochen auf den Rücken, brachte ihn ins Haus und legte ihn aufs Sofa. »Mutter Lena«, sage er auf Griechisch, »mach einen Kessel Wasser warm, ich werde diesen Mann von Kopf bis Fuß waschen, ihn mit Kölnischwasser einreiben und dann hinlegen. Wenn er aufwacht, wird er um honigsüße Pastete bitten, wir werden ihm auch viel Fisch und viel Grützpilaw geben. Und wenn er wieder zu sich gekommen ist, wird er Nordwind erschießen, sogar mit sieben Kugeln, wird ihn töten und flüchten.«

»Woher weißt du das?«

»Was hat er denn um Mitternacht auf dieser Insel zu suchen? Tagelang hat er gerudert, hat Blasen an den Händen bekommen, vor lauter Rudern seine Finger zerfetzt.«

Lena ging dicht an Vasili heran, zog seinen Kopf zu sich, drückte ihren Mund an sein Ohr, und obwohl sie griechisch sprach, sagte sie ganz leise: »Bevor er euch tötet, erwürge du ihn jetzt. Er ist sowieso krank. Du weißt Bescheid, du bist klug, jeder ist von der Insel geflohen, nur du nicht. Du bist klug, hast gesehen, dass Nordwind ein guter Mensch ist, und hast ihn nicht getötet. Hast ihn in schwerer See gesehen, hast gesagt, schade um ihn, Nordwind ist ein guter Mensch, bist ins Wasser gesprungen und hast ihn gerettet. Nun wasch du diesen Mann sorgfältig, damit der Arme nicht voller Schmutz in die Hölle fährt!«

»Nordwind sagt, einen schlafenden Menschen rührt nicht einmal eine Schlange an.«

»Also werde ich jetzt hinausgehen, und du drückst ihm die Kehle zu. Wie viel Leben hat er denn noch … Schau ihm doch einmal ins Gesicht! Er ist ja schon ein Toter.«

»Ach, Mutter, vergiss es. Er ist Tscherkesse, vielleicht sogar ein Vetter von Nordwind. Mach Wasser heiß!«

»Hoffentlich legt er euch alle um«, sagte Lena wütend, zündete im Herd ein Feuer an und setzte den Kessel auf.

Vasili machte es sich in einem Sessel bequem, schloss die Augen und versank in Gedanken. Dieser Mann ist ein Räuber, ein Räuber, wiederholte er immerfort. Diesmal wird er alles daransetzen und Nordwind töten. Wir dürfen ihn nicht am Leben lassen! Er faselt etwas auf Arabisch, was faselt er wohl? Dass er uns alle töten wird!

Er hielt seinen Finger in das aufgesetzte Wasser, es war warm geworden. Er zog den schlaftrunkenen Süleyman aus, setzte ihn auf einen Stuhl, seifte ihn ein und wusch ihn sorgfältig. Mit Handtüchern rieb er ihn trocken, brachte ihn ins Nebenzimmer und legte ihn in das von Lena vorbereitete blütenweiße Bett, wo Süleyman schon schlief, kaum dass sein Kopf ins Kissen gesunken war.

Am Morgen des zweiten Tages wachte Süleyman auf, und als er wach war, kam Nordwind ins Zimmer. Süleyman rieb sich die Augen, blickte um sich, verzog sein Gesicht zu einem Lächeln. »Bist du Abbas?« Er ging zu Nordwind, umarmte ihn. »Streite es nicht ab, Abbas, ich habe dich erkannt, du bist es, du bist Abbas.«

Plötzlich wurde ihm bewusst, dass ihm der Name Abbas entschlüpft war, er zuckte wie vom Blitz getroffen zusammen, kauerte sich aufs Bett und nahm den Kopf in beide Hände.

Nordwind ging hinaus und traf auf Vasili.

»Hast dus gehört?«, fragte Nordwind. »Was machen wir nun? Das Wort Abbas ist ihm entschlüpft.«

»Was sollen wir jetzt tun? Hätten wir doch nur die Ärzte nicht geholt. Jetzt sind wir geliefert, wie sollen wir ihn nun töten?«

»Hören wir erst einmal, worum es geht. Können wir ihm hier nichts tun, übergeben wir ihn Veli dem Treffer, der findet einen Weg, sich seiner zu entledigen.«

»Der findet einen«, sagte Vasili.

»Er ist Tscherkesse, vielleicht ist er gekommen, um mir etwas auszurichten. Würde sonst ein Mann bei Verstand einem Menschen, den er zu töten beabsichtigt, entgegenbrüllen: Du bist Abbas, ich habe dich erkannt? Hat er außer den Tscherkessenhandschars noch andere Waffen bei sich?«

»Weiß ich nicht«, antwortete Vasili, »wir haben seinen Quersack ja nicht aufgemacht.«

»Los, gehen wir nachschauen!«

Sie nahmen den Quersack, den Süleyman unter den Platanen auch im Schlaf nicht aus den Händen gelassen hatte, gingen ins Röhricht und öffneten ihn. In einem Fach lagen eine Tasche, ein Paar neue Schuhe, einige frische Hemden, eine blaue Weste nach Allepoer Art mit einundvierzig Knöpfen, ein Fez mit lila Troddeln und noch einiger Krimskrams. Das andere Fach des Quersacks war verschlossen. Vasili, der Meister der Schlosser, öffnete es im Handumdrehen. Mit einem Schlüssel hätte es länger gedauert. Er holte drei Laib Brot, etwas Oliven und ein bisschen Halva hervor. Tief unten lag noch eine große, schrumplige grüne Orange. Zuletzt zog er einen schweren, samtenen Beutel heraus, öffnete den Verschluss und brachte einen Revolver zum Vorschein. Er war nagelneu und funkelte im Sonnenlicht. Ein zweiter, noch größerer Beutel war bis an den Rand voller Patronen.

»Bei seiner Mutter!«, wunderte sich Nordwind, »unser Landsmann und Held der Dardanellen ist ja das reinste Munitionsdepot. Als sei er nicht gekommen, einen Mann zu töten, sondern bei Anafarta gegen die Engländer zu kämpfen. Legen wir die Beutel in das Zimmer im Untergeschoss, und das Boot ziehen wir in die Bucht unter die Tamarisken!«

Zehn Tage waren vergangen, Süleyman hatte sich erholt, ein bisschen Fett angesetzt und sich mit den Ärzten, mit Nordwind und dem Agaefendi angefreundet. Er hatte nur noch einen Feind auf dieser Insel: Lena. Eines Tages fing er Lena im Hause ab, als sie allein waren.

»Komm, Lena, setz dich her, ich erzähle dir die Sache von Anfang an, und dann töte mich, wenn du mich töten willst.«

»Einverstanden«, sagte Lena, »ich bin ein Mensch, der vieles im Leben erfahren hat, also sag mir die Wahrheit!«

Süleyman begann zu erzählen, Lena hörte ihm wortlos bis zum Ende zu.

»Was sagst du dazu, Lena Hanum?«

»Ich überlege, Süleyman Efendi. Fürchtest du dich sehr davor, getötet zu werden?«

»Ich weiß nicht, Lena Hanum. Es wäre schade um deinen Jungen, wenn ich getötet werde. Er ist ein sehr guter Mensch. Er hat die Niederlage von Sarikamiş überlebt und ist trotzdem in der Seele unversehrt geblieben.«

»Wirst du auch ihm erzählen, was du mir erzählt hast?«

»Wort für Wort, Lena Hanum.«

»Dann beeile ich! Vergeude keine Zeit!«

»Diesen Tag noch.«

Kein einziges Mal hatte Süleyman in all den Tagen gefragt: Wo ist mein Boot, mein Mantelsack, wo sind meine Beutel? Als sei nichts geschehen, verbrachte er lachend und mit jedermann scherzend die Zeit. Als sei er ins Haus seines Sohnes gekommen. Die Ärzte waren seine Kriegskameraden. Beide waren einzigartige Menschen. Und auch alle anderen hier waren für diese paradiesische Insel wie geschaffen.

Lachend legte Süleyman seine Hand auf Nordwinds Schulter: »Schau mich an, Abbas, ich nenne dich zum letzten Mal Abbas! Bis ans Ende meiner Tage wird ab jetzt dieses Wort nicht mehr über meine Lippen kommen. Nordwind, mein Freund, ich habe eine Bitte an dich: Morgen in aller Frühe werden du und ich zur Quelle gehen und uns dort lange unterhalten. Einverstanden?«

»Einverstanden. Aber du hast uns nicht ein einziges Mal gefragt: Wo ist mein Boot, mein Mantelsack, wo sind meine Beutel?«

»Was solls, ich habe nicht danach gefragt.«

»Nein, ich meine, vielleicht … Morgen also.«

»Morgen …«, sagte Süleyman.

Früh am Morgen machten sie sich auf, gingen scherzend bis zur Quelle, hockten einander gegenüber nieder und schauten ins Wasser. Nordwind ergriff das Wort: »Kaum hattest du die Augen geöffnet, nanntest du mich Abbas. Woher wusstest du, dass ich Abbas bin?«

»Weil ich unter denen war, die dich verfolgten. Ich war der Erste, der dein Gesicht sah, bevor du am Wohnzelt des Emirs abstiegst und hineingingst. Dein Abbild hat sich in meinen Augen festgesetzt. Und als ich hier die Augen aufschlug, habe ich wohl noch schlaftrunken deinen Namen genannt. Später habe ich von einem Tscherkessen im Dienste des Emirs erfahren, dass du Tscherkesse bist und ihr wie wir auch in die Verbannung geschickt worden seid. Und wie ich später hörte, dass die Frau des Emirs deine Verwandte ist.«

»Das wusste ich nicht.«

»Jedenfalls wusste sie, wo dein Dorf lag.«

»Woher wusste sie es?«

»Der Emir wusste es, weil dein ganzes Dorf eines Nachts aufgebrochen war und sich in Arabien an einem Ort, den niemand kannte, angesiedelt hatte. Hätte der Emir es nicht getan, wärst du von dem Scheich, der dich nicht finden konnte, wie alle anderen im Dorf umgebracht und das Dorf angezündet worden.«

»Aus Angst, dass wir zusammenkommen, hat uns der Osmane so zerstückelt und verstreut, dass der Bruder den Bruder nicht finden kann. Ich kam, dich zu töten, aber mein Herz erwärmte sich für dich. Vielleicht sind du und ich sogar verwandt. Uns hat der Osmane auseinandergetrieben. Ob Kaukasus, ob Arabien, spielt das eine Rolle?«

»Wenn du auf die Insel gekommen bist, mich zu töten, wieso bist du mir in die Hände gefallen?«

»Niemand weiß, dass du auf dieser Insel bist. Viele wurden ausgeschickt, aber keiner ist dahintergekommen, dass du jener Abbas bist. Außer mir hat dich keiner am Eingang vom Zelt des Emirs gesehen.«

»Warum hast du mich am Zelteingang nicht getötet?«

»Am Eingang des Zeltes des Emir tötet keiner keinen. Wer das tut, dessen Sippe wird mit Stumpf und Stiel ausgerottet. Deinen Aufenthaltsort kenne nur ich allein, wenn ich ihn verrate, werden sie dich finden und töten, auch wenn du dich im Bau einer Schlange oder unterm Flügel eines Vogels verkriechst. Wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich meinen Revolver ziehen und abdrücken. Denn wenn ich mit schlenkernden Armen davongezogen bin, bist du auf dem Friedhof. Sag, wirst du mich jetzt töten, meine Handschars, meinen Revolver und alles andere von mir hast du ja. Wenn du mich nicht tötest, bist du des Todes.«

Nordwind senkte den Kopf und dachte eine Weile nach.

»Niemand weiß, dass ich hier bin. Unsereiner erzählt niemandem, wo er sich befindet. Sag, wirst du mich töten?«

Nordwind hob den Kopf. »Ich weiß es nicht«, sagte er, »ich weiß es nicht.«

»Sag, was du denkst!«

»Ich weiß es nicht.«

»Ich glaube dir. Glaub du mir auch. Das ist aus uns geworden, fast hätte ich getötet. Alle vertriebenen Tscherkessen sind miteinander verwandt. Im klitzekleinen Daghestan, dessen Einwohnerzahl nicht über eineinhalb Millionen hinausgeht, werden vierzig verschiedene Sprachen gesprochen.« Er lachte. »Das heißt, wohl jeder Tscherkesse hat eine andere Sprache. Du bist also mein echter Verwandter. Hast du es jetzt verstanden?«

Auch Nordwind lachte: »Ich habs verstanden. Und jetzt werde ich dich was fragen. Wann hast du darauf verzichtet, mich zu töten?«

»Einige Nächte, bevor ich hergekommen bin. Vom Rudern war ich müde und völlig erschöpft und ausgelaugt. Meine Hände waren geschwollen und meine Arme steif, mir war zum Sterben. Wie konnte ich ein blutjunges Leben auslöschen, nur weil ein blutdürstiger Scheich es wollte? Ich habe für den Scheich viele Leben ausgelöscht. Sogar um das Leben von Emir Selahaddin auszulöschen, wurde ich dreimal geschickt. Und jedes Mal gelang es uns nicht. Wir waren zu siebt, die den Emir in eine Falle lockten. Es war stockdunkel. Die Hanum an seiner Seite, ritt er durch die Wüste. Die Hanum muss es gespürt haben, sie packte den Emir am Arm, riss ihn vom Pferde und sprang anschließend selbst ab, im selben Augenblick überschütteten uns seine Leibwächter mit einem Kugelhagel. Sie töteten sechs von uns, ich allein kam davon.«

»Und dann das zweite und dritte Mal?«

»Beim zweiten Attentat kamen wir alle davon. Der Emir war oberhalb von Lalis auf der Jagd. Noch während die ersten Schüsse fielen, sprang der Emir vom Pferd und begann auf uns zu schießen, danach ließen seine Leibwächter die Kugeln auf uns nur so herabregnen, doch wir konnten uns im Schutz der Felsen retten. Wir waren fünfzehn Mann! Wiederum allesamt Tscherkessen. Beim dritten Mal war ich allein und nahm ihn unter Feuer. Er war vor meiner Nase, meine Hände bewegten sich wie ein Maschinengewehr, und wieder traf ihn nicht eine Kugel!«

»Du bist Leibwächter; von Kindesbeinen an?«

»Von Kindesbeinen an bis heute … Stimmt. Nur wer den fliegenden Kranich ins Auge trifft, den machen sie zum Leibwächter des Scheichs.«

»Und was machte der Emir mit dir?«

»Er tat mir gar nichts. Sogar ein zehnjähriges Kind hätte an meiner Stelle den Emir getroffen. Er kam durch einen beidseitig von steilen Felsen eingerahmten Pass. Vor ihm, hinter ihm, neben ihm seine Leibwächter. Als der Emir genau vor mir vorbeikam, Kimme, Korn und Schuss, drückte ich fünfmal ab, und was sehe ich, er hatte die Hand erhoben und befahl seinen Leibwächtern, nicht zu schießen. Ich drückte noch einmal und noch einmal ab, und seine Hand blieb in der Luft. Sie wichen mir aus und machten sich davon.«

»Wie konnte das geschehen?«

»Die Kugeln prallen vom Emir ab.«

Nordwind lachte lauthals.

»Vielleicht prallen sie nicht ab, aber seine Mutter hat ihn gleich nach seiner Geburt vom größten Zauberer von Arabien verhexen lassen.«

»Ich habe begriffen«, sagte Nordwind, »wenn du es nicht kannst, wird ihn niemand töten können.«

»Danach gab der Scheich auf. Er bekam es mit der Angst. Ihm ging auf, dass der Emir kugelfest ist. Ich habe es ihm erzählt. Dass die Kugeln, die ihn treffen, an seinem Körper abprallen, wusste ein jeder, ich hab es auch gesehen. Der Scheich schien es zu glauben, aber er wird von dir und auch vom Emir nicht ablassen. Von deinem Aufenthaltsort haben sie erfahren, und dass du Abbas bist, wird er eines guten Tages erfahren. Und eines guten Tages wird er auch einen Weg finden, den Emir zu töten.«

»Wie denn?«

»Seit es ihre Sippe gibt, bis auf den heutigen Tag, sind sie im Töten ihrer Gegner zu Meistern geworden. Also wird er noch vor seinem Tode, wie auch immer, einen Weg finden, den Emir zu töten. Dich zu töten, ist sehr leicht. Es dauert keine sechs Monate, und er findet heraus, dass du Abbas bist, und dann lässt er dich töten.«

»Wenn es so ist, was soll ich tun? Ich habe mein Leben auf diese Insel gerettet. Sag, was soll ich tun? Wohin soll ich mit diesem Mädchen an meiner Seite? Soll ich in den Kaukasus, nach Daghestan?«

»Sag du mir, ob du mich freilässt oder ob du mich bei Gelegenheit ertränkst, sodass mich die Fische fressen. Es wäre klug, mich nachts im Schlaf zu erwürgen, die Leiche mit einem Steinblock zu beschweren und weit draußen ins Meer zu werfen.«

»Von dir kann ich einiges lernen. Ich weiß nicht, wie man Menschen umbringt. Sogar in Sarikamiş habe ich keinen Menschen getötet. Aber hier sind viele, die dich töten können. Dieser Hüsmen etwa, der sechs Töchter hat, der erwürgt dich nicht im Schlaf, sondern sehenden Auges und wirft dich dann den Haien vor. Denkst du denn, ich lasse dich laufen?«

Süleyman wurde aschfahl. Er wollte etwas sagen, öffnete die Lippen, brachte aber kein Wort heraus. Er stand auf, machte einige Schritte, da schnellte auch Nordwind auf die Beine. »Halt!«, befahl er streng. »Bleib auf der Stelle stehen, sonst kriegst du die Kugel!« Er hatte seinen Revolver gezogen. »Komm zurück und setz dich wieder auf deinen Platz. Wohin wolltest du flüchten?«

Süleyman kam zurück und setzte sich hin. Er sah völlig verwirrt aus. »Ich wollte meinen Mantelsack holen.«

»Wir haben deinen Mantelsack nicht verschluckt, deine Beutel und dein Boot liegen da, wo du sie zurückgelassen hast.« Im Laufschritt eilte Nordwind davon, kam bald danach mit den Beuteln in der Hand, den Mantelsack über der Schulter, zurück und legte alles auf einen Felsblock. Er betrachtete eine ganze Weile Süleymans aschfahles, verwirrtes Gesicht, griff dann zum Mantelsack, holte zuerst die vertrockneten Brotlaibe, danach die Patronengurte hervor. Dann zog er aus dem samtenen Beutel den Revolver, reichte Süleyman die in der Sonne funkelnde Waffe, schaute ihm in die Augen und sagte: »Er ist geladen.«

»Ich weiß«, sagte Süleyman mit ruhiger Stimme. Er betrachtete den Revolver, drehte und wendete ihn lange in seiner Hand, dachte nach und legte ihn dann behutsam neben sich.

Mit gesenkten Köpfen saßen sie so da. Schließlich blickte Süleyman auf.

»Dass du so handeln würdest, wusste ich«, sagte er.

»Und ich wusste, dass du mich nicht töten wolltest, kaum dass du den Scheich verlassen hattest.«

»Woher wusstest du das?«

»Weil du auch den Emir nicht töten konntest.«

Süleyman lächelte. »Weißt du auch, dass ich jetzt den Scheich töten lassen werde?«

Nordwind schwieg.

»Ihn töten zu lassen, ist für mich nicht schwerer, als ein Haar aus der Butter zu ziehen, und die Welt ist von einem bis zum Hals in Blut watenden Mörder befreit. Ich mache mich jetzt auf zum Emir Selahaddin und werde ihm alles erzählen. Und der wird sich sofort um den Scheich kümmern. Nimm diesen Revolver als Andenken, und auch diese Handschars!«

»Du kannst nicht ohne Revolver gehen, behalte ihn! Gib mir die Handschars, sie sind auch eine Erinnerung an Vater und Großvater.«

»Nimm, sie gehören dir! Lässt du mich jetzt gehen, weil ich dich nicht habe töten können?« – »Nein, weil du mein naher Verwandter bist. Jetzt werde ich dich mit dem Boot vom Tierarzt in die Stadt bringen. In der Stadt werde ich dich für einen Besuch beim Emir Selahaddin zurechtmachen.«

Der Tierarzt erwartete sie schon und warf den Motor an. Unter denen, die sie verabschiedeten, waren auch der Agaefendi, Melek Hanum, die Doktoren, Dengbej Ali und andere mehr.

Nachdem Süleyman allen die Hand gedrückt hatte, stiegen sie in den Kutter. Nordwind und Süleyman nahmen nebeneinander Platz. Sie hatten so viel zu besprechen, dass sie befürchteten, die Zeit bis zur Stadt würde dafür nicht reichen.

In der Stadt gingen sie gleich zum Schneider. Sie kauften für Süleyman einen blauen Anzug aus englischem Stoff. Anschließend noch Hemden, Stiefel und Schuhe. Der Anzug passte Süleyman wie angegossen, er war außer sich vor Freude. Dann kauften sie noch einen wirklich schönen Koffer, worin sie die Einkäufe verstauten. Sie gingen in ein Lokal und aßen. Nordwind kannte Tag und Stunde des Dampfers nach Istanbul. Der Dampfer kam und ankerte auf der Reede. Süleymans Augen wurden feucht. »Mein Nordwind«, sagte er. »wären doch alle Menschen wie du. Dir kann der Mensch Hab und Gut, ja sein Leben anvertrauen!«

»Oh weh«, rief Nordwind, »wir haben nicht an dein Boot gedacht.«

»Schenke es jemandem«, sagte Süleyman.

Sie umarmten sich zum Abschied.

Diesmal kamen die Wolken mit dem Wind aus Nordnordost, und eine undurchdringliche Finsternis senkte sich über die Insel. Von überall her wehten laue Brisen, dann fielen vereinzelt dicke Regentropfen. Ein durchdringender Geruch von Erde verbreitete sich ringsum. Unter allen Gerüchen ist der Duft des beginnenden Regens wohl der einzige, bei dem der Mensch vor Freude fliegt, der ihn berauscht, ihm den Kopf verdreht, das tausendjährige Paradies, wenn auch nur für einen Augenblick, ins Herz verpflanzt, ihn in noch nie genossenes Glück, noch nie erlebte Welten und Farben trägt.

Während große Tropfen auf die Erde klatschten, stürzte Musa der Nordwind, ohne zu wissen, wie er so schnell die Treppe heruntergekommen war, ins Freie. Umhüllt vom Erdgeruch, marschierte er bis zum Röhricht, kehrte um und kam nach kurzer Überlegung vor Zehras Haus. Als er schon die erste Stufe nehmen wollte, kehrte er wieder um und ging hinunter zum Meeresufer. In ihm war die Sonne aufgegangen, sein Inneres war taghell. In der Finsternis schwamm er im Licht, seine Füße berührten die Erde nicht. Bis der starke Regen einsetzte, bewegte er sich so glücklich und berauscht dahin.

Wolken brodelten am Himmel. Plötzlich donnerte es, dass die Insel bebte. Blitze zuckten, fächerten sich, die Welt lag in blendendem Licht, versank dann wieder in undurchdringliche Finsternis. Mit dem rollenden Donner fiel stockdunkel der Regen. Nordwind war so nass wie aus dem Wasser gezogen. Donnern, immer wieder grelles Blitzen, ausfächernde Blitze, dazu die sich wiegende, bebende Insel. Nordwind ging im Kreis umher, dann führten ihn seine Füße zu Zehras Treppe. Die Tür stand offen. Er nahm einige Stufen, sein Herz pochte, kehrte dann aber wieder um, ging zum Ufer hinunter und marschierte landauf. Schneeregen prasselte von überall her auf ihn nieder. Die Wellen türmten sich mannshoch, und wie weit Nordwind ihnen auch auswich, manche umspülten ihn doch kniehoch.

Als die großen Tropfen fielen und der Geruch der Erde Zehra den Kopf verdrehte – so roch die Erde auch auf Kreta! –, sah sie, wie Nordwind ins Freie stürzte, wie er trunken bis zur Treppe schwankte, wie er wie vom Blitz getroffen sofort wieder kehrtmachte, im dichten Regen tief geduckt wieder zur Treppe kam, vier Stufen nahm und dort stehen blieb. Sie freute sich und grämte sich zugleich vor Mitleid. Der Regen fiel immer stärker, Zehra lief von der Tür zum Fenster, vom Fenster zur Tür, hin und her.

»Was ist denn, Zehra, was hast du, Mädchen?«

»Die Himmel bersten, Vater, die Himmel reißen auf. Vom Himmel strömen die Wasser, als leerten sich Flüsse.«

Es war finster geworden. Die immerfort aufflammenden Blitze rissen den Himmel in Stücke, jedes Stück versank wie eine blaue Lichtkugel im Meer, blaue Lichtstücke glitten über das Meer ins Weite. Die See donnerte, die Insel bebte. Nordwind, den Kopf eingezogen, bis zu den Knien im Wasser, stapft bis zum gelb geäderten Felsen, kehrt einen Schritt davor um, hebt beim Umdrehen den Kopf und schaut zu Zehras Tür hoch. Dicht vor der Haustür bleibt er stehen, hebt den Kopf, schaut zuerst zur Tür, dann zum Fenster, sieht mitten im gelben Licht Zehras Umriss, macht wieder kehrt. Das Rauschen des Regens, das Donnern der See, das Grollen des Himmels vermischen sich, die Insel, wie ein aus dem Ruder gelaufenes Schiff, schwankt von hier nach dort.

»Hab keine Angst, Zehra«, sagte der Agaefendi, »diese Insel geht nicht unter. Bis jetzt habe ich noch keine Insel versinken sehen. Hab keine Angst, mein Mädchen, komm, setz dich zu mir!«

Ob sie wollte oder nicht, sie musste sich zu ihm setzen. Sie zog den Kopf ein und streckte die Schultern.

Ihr Gesicht war puterrot, sie war in Schweiß gebadet. Hätte der Agaefendi seine Tochter so verstört gesehen, wäre er sehr erschreckt gewesen. Wie gut, dass er im gelben Licht der Lampe ihr Gesicht nicht so klar erkennen konnte. In Zehras Herzen sah es noch schlimmer aus. Er wird sterben, sagte sie sich, er wird sterben. Meinetwegen sterben. Und kann ich weiterleben, wenn er stirbt? Nicht einen Tag! Sie konnte nicht von der Seite ihres Vaters weichen, auch nicht zum Fenster oder zur Tür gehen. Jetzt aufstehen, durch den Regen, unter den Blitzen, den ins Meer stürzenden Himmelsbrocken hindurch – egal, was die Leute sagen –, zu ihm eilen, ihn umarmen, unterhaken, nach Hause bringen, ausziehen, ins Bett legen und bis zum Morgen am Kopfende dasitzen. Aber wenn der Vater das erlebt und begreift, dass die Hoffnung, nach Kreta heimzufahren, erlischt, trifft ihn dann nicht der Schlag?

Steif vor Anspannung hörte sie ihr Herz schlagen. Plötzlich konnte sie gar nicht mehr klar denken, ihre Füße trugen sie einfach zum Fenster. Der Regen fiel noch dichter, der Himmel krachte nah und fern. Nordwind, wie in zwei Teile zusammengeklappt, bewegte sich stolpernd und schwankend vorwärts. Zehra konnte nicht länger stehen, sie sank auf einen Stuhl.

Nesibe kam dicht zu ihr: »Los, steh auf und hör auf zu weinen. Wenn Vater aufsteht und hinausschaut und ihn sieht und dahinterkommt – er wird vor Schreck zusammenbrechen und sterben!« Mit einem Taschentuch trocknete sie Zehras Tränen.

»Dann stirbt mein Vater, ich weiß. Aber schau doch hinaus, auch er wird sterben! Wir müssen jemand zu Hilfe holen!«

»Dir und ihm passiert gar nichts. An unerfüllter, an schwarzer Liebe ist noch niemand gestorben, viele haben lang gelebt damit. Was redest du da? Los, steh auf!«

»Hab keine Angst, mein Mädchen, der Regen hört gleich auf. Bei uns auf Kreta regnet es auch so.«

Im selben Augenblick zuckte und krachte ein Blitz, im Inneren des Hauses wurde es blendend hell. Sogar der Agaefendi schreckte in seinem Sessel hoch.

Der Morgen graute. Der Regen hatte sich noch nicht gelegt, die Tore des Himmels standen offen, wie Flüsse strömten die Wasser. Zehra ertrug es nicht länger und stürzte zur Tür. Kaum hatte sie sie aufgestoßen, blitzte es ganz nah, und es wurde heller als am Tage. Sie konnte sogar das Gesicht von Nordwind erkennen. Dieser stattliche Mann schien nicht größer als ein Kind zu sein. Sie lief zurück und ging neben ihrem Vater in die Knie, keuchte wie in den letzten Zügen. Ihre Wangen hatten sich gespannt, ihre Lippen bebten.

»Mädchen, hab keine Angst, der Insel geschieht nichts. Wenn du immer so ängstlich bist, fahren wir in die Stadt. Wir können uns in den schönsten Gegenden der größten Städte niederlassen.«

»Mein Vater«, rief sie entsetzt, »wir gehören auf diese Insel. Ich habe hier keine Angst.« Ihre Stimme klang weinerlich. »Dieser Regen! Der Himmel hat sich in ein Meer verwandelt, Wildbäche fließen. Der ganze Himmel wird sich über uns ergießen. Hatte es bei der Sintflut nicht auch so geregnet, Vater?«

»Es hatte geregnet«, antwortete der Agaefendi, »aber ganz anders. Flüsse und Meere haben die ganze Erde überschwemmt. Dieser Regen wird sich legen. Es ist ein Sommerregen, er kommt mit einem Windstoß und geht mit dem nächsten wieder.«

»Diesmal geht er aber nicht. Was soll ich tun, Vater?« Dass ihr der letzte Satz so über die Lippen gerutscht war, ärgerte sie, sie kauerte sich in den Sessel und senkte den Kopf.

Der Agaefendi lachte. Er streckte den Arm aus und streichelte ihre Haare. »Auch als Kind hattest du Angst vor Regen, wenn es blitzte und donnerte, röteten sich deine Wangen, mit wirren Haaren kamst du herbei und schmiegtest dich an mich.«

»Ich habe keine Angst, Vater.«

»Nun, gehen wir schlafen!«

Zehra schnellte auf die Beine. Sie freute sich so, dass ihr Herzschlag fast aussetzte.

Der Agaefendi erschrak. Was ist nur mit dem Mädchen los?, fragte er sich. Schließlich war es nur ein Regen.

»Ich schlafe gleich ein und vergesse das Unwetter«, sagte Zehra.

Der Agaefendi stand eine Weile da. Dann ging er schnell in sein Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Und Zehra eilte zum Fenster, öffnete es. Sie kniff die Augen zusammen, konnte im Dunkel niemanden sehen. Die Regenschauer wehten herein, ihre Brust wurde triefend nass. Zehra rührte sich nicht von der Stelle. Sie konnte die Wellen nicht sehen, die bis zu den Platanen schäumten, konnte nicht einmal die Umrisse der Platanen ausmachen. Aus fernem Himmeln kam Donner, dazu zuckte ein Blitz, spaltete den Himmel und endete auf dem Hügelkamm. In diesem Augenblick war es Zehra, als habe sie Nordwind gesehen. Als ein Blitz zuckte, wurde es taghell. Jetzt erblickte ihn Zehra. Bis zu den Knien stand er im Wasser, gekrümmt wie eine Kugel, und versuchte einige Schritte voranzukommen. Zehra neigte sich zu Nesibe, die neben ihr stand. »Er wird sterben«, sagte sie.

»Was sollen wir tun?«, fragte Nesibe.

»Ich gehe hin. Ganz leise. Lösch die Lampe. Leg mein Kissen unter meine Decke. Wenn er stirbt, kann ich nicht leben!«

»Ich weiß«, sagte Nesibe, »beeile dich.«

Wenn mein Vater das wüsste, würde auch er sterben, dachte Zehra, als sie geräuschlos die Treppe hinunterging. Könnte er denn seine Tochter in der Fremde zurücklassen und nach Kreta heimkehren?

Nesibe ging ins Zimmer zurück und setzte sich aufs Bett. Zehra ist wie Mutter, dachte sie. Auch sie hatte sich beim ersten Blick in Vater verliebt! Sie soll das schönste Mädchen auf Kreta gewesen sein. Ihr Vater war Bey und Großgrundbesitzer gewesen. Eines Tages, so sagt man, hat sie ihr Bündel gepackt, ist drei Tage auf Schleichwegen zum Konak des Vaters gekommen und hat sich auf die oberste Stufe der Außentreppe gesetzt. Vater hat sie entdeckt und willkommen geheißen. »Danke«, hat sie geantwortet. »Schicke Brautwerber zu meinem Vater und lasse um meine Hand bitten!« Dann stand sie auf und ging. So war unsere Mutter. Und was würde Zehra tun?, fragte sich Nesibe.

Zehra tastete sich durch die Dunkelheit zum Strand hinunter. Am Ufer blieb sie stehen. Ihr Herz schlug bis zum Hals, und sie horchte gespannt auf Schritte. Doch außer Regen und Wellenrauschen war nichts zu hören. Ach, wenn es doch nur blitzte, wünschte sie sich. Plötzlich donnerte es direkt über ihr, es wurde stockdunkel, dann zuckten Blitze, die Platanen standen in grellem Licht. Dort war Nordwind nicht zu sehen. Sie blickte um sich. Beim dritten Blitz entdeckte sie den sich vorwärtskämpfenden Umriss, lief hin und umarmte Nordwind. Er zitterte, seine Zähne schlugen aufeinander. Sie schleppte ihn wie im Fluge über die Kiesel, Blitze zuckten ununterbrochen, es donnerte, das Meer heulte. Sie brachte Nordwind ins Haus. Wie sie ihn fortschleppte, mit ihm die Treppe hinaufgestiegen war, daran konnte sich Zehra hinterher nicht mehr erinnern. Sie wusste nur noch, dass Lena mit einer Sturmlaterne oben auf dem Treppenabsatz stand.

»Mutter Lena«, keuchte Zehra, »er stirbt, er stirbt.« Dann ließ sie sich in einen Sessel fallen.

Lena packte Nordwind, brachte ihn ins Schlafzimmer, zog ihn aus, trocknete ihn mit Badetüchern ab. Nordwind zitterte, und seine Zähne schlugen aufeinander. Lena brühte Tee, setzte Milch auf. Dann musste Nordwind viel Tee und heiße Milch trinken. Das Zittern und Zähneklappern schien nachzulassen.

Zehra kam ins Zimmer, blieb am Fußende des Bettes stehen und starrte auf Nordwinds geschlossene Augenlider. Nach einer Weile beugte sie sich über ihn und legte ihre Hand auf seine Stirn. Langsam ließ sie die Hand in sein Haar gleiten und streichelte ihn. Er öffnete seine Augen. Einen Augenblick wusste er nicht, wie ihm geschah. War es Zehra, die ihn da streichelte? Er traute seinen Augen nicht. Ihre Blicke trafen sich, Zehra hielt es nicht länger aus, sie drehte sich um, ging aus dem Zimmer zur Treppe, wusste nicht, wie sie die Tür gefunden, die Stufen genommen hatte. Sie ging durch die Wolkenbrüche nach Haus, wo Nesibe in der Tür mit einer Sturmlaterne in der Hand auf sie wartete. Auf diesem kurzen Weg war Zehra bis auf die Haut durchnässt worden. Nesibe war es nicht besser ergangen, denn sie war mehrere Male von der Haustür bis zu Nordwinds Haus hin- und hergeeilt. Gott sei Dank, dass der Vater eingeschlafen war, gleich nachdem er den Kopf ins Kissen gebettet hatte.

Zehra setzte sich zu Nesibe und flüsterte ihr ganz leise ins Ohr: »Er ist nicht gestorben.« »Los, gehen wir in unser Zimmer«, sagte Nesibe. »Vater schläft so tief, ihn könnte auch Kanonendonner am Ohr nicht wecken!«

Sie trockneten sich mit Badetüchern ab, zogen ihre Nachthemden an und setzten sich einander gegenüber auf ihre Betten. Zehra erzählte in allen Einzelheiten, was sie soeben erlebt und getan hatte. Sie floss über vor Glück. Danach sprachen sie vom Vater. Er wollte um jeden Preis zurück nach Kreta. Und solange die Verbannung anhielt, musste es unbedingt eine Insel sein, darum hatte er sich auf diesem kleinen, öden Eiland niedergelassen. Dann hatte er sich eine Farm gekauft, kurz darauf eine zweite, um Pferde zu züchten. Er hatte dafür auch viel Geld bezahlt. Als er den Grundbuchauszug bekam, freute er sich so, dass es ihn nicht im Haus hielt und er bis in den Morgen hinein umherwanderte.

Als sie im Morgengrauen aufwachten, war Musa Kazim Agaefendi schon auf den Beinen. Er hatte sich ans Fenster gesetzt und schaute auf das aufgewühlte Meer, das hinter dem Vorhang fallenden Regens verschwommen zu sehen war.

»Regen, Regen seit gestern Abend bis jetzt! So einen Regen habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen«, sagte er zu seinen Mädchen. »Es zuckten so viele Blitze, und so kurz nacheinander, dass der Himmel zu einer Feuerkugel wurde, die in tausend Stücke barst. Ich dachte, sie schlagen alle auf einmal in die Erde. Was sollte ich da tun? Also schlief ich ein.«

»Das machst du immer so, Vater. Als die Nachricht von der Vertreibung kam, hast du drei Tage und Nächte im Bett durchgeschlafen.«

Es klopfte an der Tür. Wer mag das zu dieser Stunde sein?, fragten sie sich. Zehra eilte zur Tür und öffnete. Mutter Lena wars. Zehra schwankte, wurde aschfahl, ihr wurde schwindlig. Sie musste sich an der Tür festhalten, sonst wäre sie gestürzt. Ist Nordwind etwas passiert?, wollte sie fragen, brachte aber kein Wort heraus.

Lena, die sofort im Bilde war, lachte. »Ist dein Vater aufgewacht, Mädchen?«, fragte sie. »Nordwind lädt ihn zum Frühstück ein.«

Leise flüsterte sie Zehra ins Ohr: »Ich hatte große Angst. Ohne dich wäre er gestorben. Wer wäre sonst darauf gekommen, dass er im Regen durchs Wasser watet? Mein Junge liebt es, im Regen vor eurem Haus durchs Meerwasser zu stapfen. Hättest du ihn nicht gebracht, er wäre noch gestürzt, und die Wellen hätten ihn fortgerissen. Und wir hätten nicht einmal seinen Leichnam gesehen. Die Fische hätten ihn gefressen. Nicht einmal seine Knochen hätten wir gefunden.« Lena flüsterte so leise, dass Zehra nur mit Mühe die Hälfte ihrer Worte verstehen konnte.

»Zehra, wer ist gekommen?«, rief der Agaefendi.

»Agaefendi, mein Efendi, ich bins, Lena.« Sie ging zu ihm, drehte sich dabei noch einmal zu Zehra um und sagte: »Gut. Sehr gut.«

»Dich, Agaefendi, mein Efendi, bittet Nordwind zum Frühstück. Er sagt: Wenn er mir diese Ehre erweist, werde ich sehr glücklich sein. Auch wenn er schon gefrühstückt hat, mag er doch auf einen Kaffee zu uns kommen, sagt er.«

Wenn Lena griechisch sprach, wurde sie noch verbindlicher.

»Ich komme sofort, leben sollst du, Lena! Sag meinem Sohn Nordwind, ich habe noch nicht gefrühstückt.« Er wandte sich an die Mädchen: »Bestimmt hat Nordwind mit mir etwas zu besprechen. Nehmt es mir nicht übel, ich muss los!«

»Geh in Frieden, Vater!« Während der Vater die Treppen hinunterstieg, standen sich die Töchter gegenüber, lachten und lachten.

Die Frühstückstafel bei Nordwind war reich gedeckt, es fehlte nur noch Vogelmilch! »Seit etwa zwei Jahren habe ich nicht so üppig gefrühstückt«, sagte der Agaefendi, als sie fertig waren.

Nordwind wusste nicht, was er darauf antworten sollte, stotterte ein mehrfaches Danke, doch da sprang Lena für ihn ein und bewies mit ihren höflichen Antworten auf Griechisch, dass sie aus sehr gutem Hause stammte.

Bis in den frühen Vormittag plauderten sie. Am Ende sagte Nordwind: »Efendi, für Ihre Rückkehr nach Kreta habe ich mir etwas überlegt.«

»Dann sags mir, mein Sohn!«

»Sie sind doch vor eineinhalb oder zwei Jahren in die Türkei gekommen, nicht wahr?«

»Ich bin nicht gekommen, mein Junge, sondern vertrieben worden«, antwortete der Agaefendi mit weicher Stimme und freundlich lächelnd.

»Ja, Sie sind vertrieben worden. Und seitdem ist die von Ihnen erwartete Nachricht nicht eingetroffen, nicht wahr?«

»So ist es. Aber wohin soll sie auch gelangen, ich habe ja nirgends länger als zwei, drei Monate gewohnt. Seit ich ins Land gekommen bin, habe ich noch keine feste Anschrift gehabt.«

»Mir kam da ein Gedanke. Vielleicht kann er von Nutzen sein!«

»Wie lautet er?«

»In Urfa hatten wir im Freiheitskrieg einen Kommandanten, der ist jetzt Abgeordneter und ein Vertrauter von Mustafa Kemal Pascha. Er mochte mich sehr und vertraute mir. Mit seiner Fürsprache könnten wir in der griechischen Botschaft vorstellig werden. Vielleicht ist das zurzeit der einzige Weg.«

Der Agaefendi war vor Freude ganz außer sich. »Das ist die Lösung«, rief er aufgeregt, erhob sich, wiederholte: »Das ist die Lösung« und setzte sich wieder. Er atmete schwer. »Das heißt, ich werde bald in meinem Haus, in meinem Land, bei meinen Freunden, in meinen Bergen, in meinen Gewässern, bei meinen Pferden sein!«

Er war so aufgeregt, dass er nicht an sich halten konnte: »Und Sie werden mit mir kommen«, sagte er und hatte es schon bereut. »Um das schöne Kreta kennenzulernen«, fuhr er hastig fort. »Wer Kreta nicht gesehen hat, der hat nicht gelebt! Also, leb wohl, auf nach Kreta!«

Er lief die Treppe hinunter, kam ganz außer Atem nach Haus und schrie schon von unten: »Mädchen, Mädchen, kommt schnell, vielleicht kehren wir bald schon nach Kreta zurück!«

Polternd eilten die beiden die Treppe hinunter zum Vater.

»Wir fahren zur griechischen Botschaft nach Ankara. Gott segne Nordwind Bey, meinen Sohn, und der heilige Ali versage ihm die Güte nicht, denn er hatte diesen Gedanken. Ich werde mit dem Botschafter griechisch sprechen. Wenn dieser mein Griechisch hört, wird sein Herz, mag es auch aus Stein sein, weich wie Seide. Vielleicht hat er auch schon meinen Namen gehört. Ja, wer unser Abenteuer aus meinem Munde hört, dem schmilzt das Herz vor Schmerz dahin. Kann sich die Menschheit mit dem, was uns widerfuhr, denn abfinden? Verlasse Heim, Heimat und die Gräber deiner Ahnen und gehe in hohem Alter in ein unbekanntes Land und lebe dort wie zwischen Mühlsteinen! Kann Gott so etwas billigen, das Herz eines Menschen so eine Quälerei ertragen? Gott sei Dank, ich bin Türke, bin Muslim, ist das ein Vergehen? Was habe ich Griechenland, was habe ich der Türkei getan? Warum haben sie mich wie ein Katzenjunges am Nacken gepackt und von Kreta hierhergeworfen? Was habe ich den Griechen denn getan, außer edle Pferde zu züchten, und den Türken, außer dass ich Türke und Muslim geblieben bin? Abgesehen von einigen Reibereien mit den Griechen von Zeit zu Zeit, lebten wir friedlich wie Rosen nebeneinander. Das alles habe uns Mustafa Kemal Pascha und Venizelos eingebrockt, sagt man. Nein, nein und nochmals nein, das hat uns das zivilisierte Europa eingebrockt. Bei der Konferenz von Lausanne. Das Herz von Europa ist aus Stein und Eisen. Den Entschluss hat ganz Europa gefasst, und wir wurden unserer Heimat, unserer Nester beraubt. Hoch soll Lena leben, sie ist zurück auf ihre Insel geflohen. In Frieden wird sie auf ihrer Insel sterben, ohne unzufrieden zurückzublicken. Und ich werde nach Kreta zurückkehren und auch ohne Gram sterben.«

Bis jetzt hatte noch niemand den Agaefendi so laut sprechen hören. In den Häusern war keiner mehr, alle standen unter den Platanen, hatten ihre Blicke dem wetternden Agaefendi zugewandt, mucksmäuschenstill, schienen nicht einmal Atem zu holen. Lena kniete in der Menge, schlug sich auf die Oberschenkel und weinte. Kaum hatte Musa Kazim Agaefendi sie wahrgenommen, hielt er inne, ging zu ihr, nahm sie bei der Hand, zog sie hoch und sagte auf Griechisch: »Komm, Lena, gehen wir zu mir! Du bist in deiner Heimat, wirst ohne Gram sterben. Du wirst in deiner Heimaterde begraben werden.«

Nachdem Lena sich bekreuzigt hatte, antwortete auch sie auf Griechisch: »Der Herrgott wird auch dich in Kürze mit deinem schönen Kreta vereinigen.«

Als der Agaefendi sich umdrehte, sah er Nordwind. Dieser war leichenblass; auch der letzte Tropfen Blut schien aus seinem Gesicht gewichen zu sein. Der Agaefendi tat, als sei es ihm nicht aufgefallen, und sagte lachend: »Ich rede immer vom Heimgehen! Aber was kann ich dafür, schließlich, mein Lieber, ist diese schreckliche Vertreibung die größte in der Geschichte der Menschheit. Zwei Millionen Menschen werden nicht gefragt, ob sie auswandern wollen oder nicht. Das ist die europäisch zivilisierte Art von Vertreibung. Wir haben alles Mögliche versucht, es hat nichts genützt. Die Gesetze von Europa sind unerschütterlich wirksam. Wurde dort nicht auch das Giftgas erfunden? Leben sollst du, mein Junge. Du hast mein Herz zu neuem Leben erweckt!«