Besuch zur Nacht - Rudy Namtel - E-Book

Besuch zur Nacht E-Book

Rudy Namtel

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Beschreibung

Dreizehn Stories um Mord, Entführung, Qualen und übernatürliche Vorgänge. Ob in Cornwall, Schottland, Paris, London oder dem Schwarzwald – das Prickeln im Nacken sowie das Eintauchen in Orte oder sogar vergangene Zeiten verändern den Abend. Was sagt der Kopf? Ist alles logisch? --- Überraschungen sind das Salz in der Krimi- und Mystik-Suppe. Wie das Leben so spielt … Gehen Sie mit auf die Reise! Die Zusammenstellung in diesem ausgiebigen Umfang gibt es nur als eBook. (Wer lieber ein Taschenbuch in der Hand hält, kann auf »Krimi-Reise Reloaded« oder »Vandark« zurückgreifen, auf die sich die Stories verteilen.) 212 Normseiten

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Inhaltsverzeichnis

Die Geschichten (Überblick)

Countdown

Der Mord in der Rue Claude Chahu

Violet

Auf Messers Schneide

Anmerkung zu »Auf Messers Schneide«

Die Kaffee-Tanten

Rosky

Lady

Gehetzt

Stuarts Geheimnis

Anmerkung zu »Stuarts Geheimnis«

Home Sweet Home

Anmerkung zu »Home Sweet Home«

Auflösung zu »Home Sweet Home«

6:30

Weinerts Ende

Ergänzende Einordnung zu »Weinerts Ende«

Notschrei

Über den Autor

Taschenbücher / eBooks

Erweitertes Impressum

Die Geschichten (Überblick)

Dreizehn Kriminal- und Mystery-Geschichten für den Abend oder die Nacht. Sie schlafen doch gut, oder? Aber keine Sorge, hier und da fließt sogar ein wenig Humor ein.

So folgen Sie mir, um einzutauchen. Wir starten …

»Countdown« - ein Einbruch in eine verlassen liegende Villa verläuft anders als geplant.

»Der Mord in der Rue Claude Chahu« schildert die Vorgänge in einer winterlichen Pariser Straße. (Eine weitergeführte Version eines Wettbewerbsbeitrags zum Agatha Christie Krimipreis 2013 unter dem Thema »Alibi«.)

»Violet« - Ein junger Archäologe verliebt sich im 19. Jahrhundert in eine nächtliche Schönheit. Doch die Liebe birgt geheimnisvolle Überraschungen ...

»Auf Messers Schneide« als Krimi-Variante eines Tratsches im Treppenhaus? Nein. Aber fast …

»Die Kaffee-Tanten« - führt in eine gemütliche Nachmittagsrunde, wenn nicht ...

»Rosky« - ein Kommissar begegnet einem alten Bekannten wieder.

»Lady« - drei Studenten wollen dem Geheimnis der weißen Frau auf die Spur kommen.

»Gehetzt« - sie wird gemartert und gequält; was will er von ihr?

»Stuarts Geheimnis« - 1981. Eine Jagd durch Edinburghs Unterwelt. Jeremy Lennox sucht seine Loreena.

»Home Sweet Home« - John bewohnt für kurze Zeit ohne seine Frau das neue Cottage; doch nachts ist noch jemand zugegen. Wer?

»6:30« - In London fällt am frühen November-Abend ein Schuss. Eine Frau sinkt tödlich getroffen zusammen. Eine harte Nuss für Inspector Sheppard. (Eine weitergeführte Version eines Wettbewerbsbeitrags zum Agatha Christie Krimipreis 2014 unter dem Thema »Heute hier, morgen Mord«.)

»Weinerts Ende« entführt ins Jahr 1835. Zur Zeit des Dichters Georg Büchners erlebt ein junges Paar seinen eigenen Alptraum. – Alles ist anders: die Art des Krimis, die Zeit und die Sprache.

»Notschrei« - Marlis, eine Studentin aus Freiburg, fährt zu einer einsamen Hütte im Schwarzwald, um mit Michi, ihrer neuen großen Flamme, ein romantisches Adventswochenende zu verbringen. Während sie wie verabredet in der Hütte wartet und Vorbereitungen trifft, lassen Geräusche ihre Ängste steigen. Wann kommt endlich Michi?

(Diese Story war aus rechtlichen Gründen in der Erstausgabe dieser Sammlung nicht enthalten.)

Die Zusammenstellung in diesem ausgiebigen Umfang gibt es nur als eBook.

(Wer lieber ein Taschenbuch in der Hand hält, kann auf »Krimi-Reise Reloaded« oder »Vandark« zurückgreifen, auf die sich die Stories verteilen.)

Countdown

Die Nacht beschützt mit ihrer Dunkelheit.

Sonja knutscht Philipps Brust Zentimeter für Zentimeter ab, hält kurz inne und legt ihren Kopf auf seine Haut, wiegt ihn hin und her. Ihre Hand streichelt mit nur ganz leichtem Berühren Philipps Brustwarze, gleitet weiter über seine Rippen zu dem muskulösen Six-Pack. Ihr Kopf hebt sich wieder, die Küsse folgen den Fingern. Jetzt halten sich ihre Lippen von der Schweiß-bedeckten Haut fern. Die Zunge hat die Herrschaft übernommen und kitzelt die feinen Härchen rund um Philipps Bauchnabel.

»Ich weiß, dass du das magst. – Und ich sehe es.«

Ganz kurz hebt sie grinsend ihren Kopf, dass sie den erregten Ausdruck in Philipps Gesicht sehen kann. Dann macht sie weiter.

»Du wirst es genauso lieben wie ich eben dein Spielchen an mir. Versprochen.«

Philipp lächelt ganz leicht, genießt verzückt. Stück für Stück sucht ihre Zunge sich den weiteren Weg.

»Wow! – Ja-ha, das passt …!« Philipps Worte sind kaum zu vernehmen, er hört sie selbst kaum. Er schließt seine Augen, taucht ab, seine Gedanken sind vollkommen auf das Geschehen zwischen seinen Beinen fixiert.

Ein schriller Ton schreckt ihn aus seinem Genuss auf. Pokerface tönt aus seinem Handy.

»Och, nein! Auf dieses Gaga hätte ich jetzt verzichten können!«

Doch er weiß auch, dass er das Telefon jetzt nicht ignorieren darf. Das kann nur einer sein. Und das ist wichtig.

»Ja?«

»Hi, Rakete, hier Benno. Es ist soweit.«

»Ach, Scheiße! – Sofort?«

»Klar, du Schmusebacke. Ich fürchte, ich störe gerade …«

»Yep.«

»Dein Pech, Alter. – Also mach hinne! Heute ist der Tag. – Ach Quatsch - jetzt!«

»Ja, ja.«

Missmutig schaut Philipp seine Sonja an.

»Ach, Sonnie, du weißt …«

»Ist schon okay, Rakete, mach dich auf. Ich weiß ja … Wir … wir können ja später weitermachen.«

Sie zwinkert mit einem Auge, robbt über seine Brust hoch zu ihm und drückt ihm einen langen Kuss auf.

»Hey, Alter, bist du noch dran?«

Philipp hört leise, wie sein Kumpel am anderen Ende in die Verbindung brüllt. Er führt das krächzende Handy wieder ans Ohr.

»Schon gut, Macker, bin auf dem Weg. – Ja, und ich weiß, ich hole das Gerödel aus dem Schuppen. Bis gleich.«

Während er sich ankleidet, streift Sonja schnell ihr Negligé über, lehnt sich an den Türrahmen und schaut ihm verträumt lächelnd zu.

»Und bitte, Rakete, pass auf dich auf!«

»Mach ich, Schatz.«

Wenige Handgriffe später zieht Philipp die Wohnungstür auf, wirft ihr noch ein schnelles »Ich liebe dich« zu und verschwindet durch das Treppenhaus hinunter.

In seinem Auto steuert er die einige Kilometer entfernt liegende Hinterhof-Garage an. Die letzten Meter rollt er mit ausgeschalteter Fahrzeug-Beleuchtung. Niemand soll ihn unnötig wahrnehmen – ihn nicht, das Auto nicht und nicht das Kennzeichen. Besser ist besser. Fünf Minuten später liegt das Werkzeug im Kofferraum. Den Weg zum Zielobjekt kennt er genau. Benno und er sind oft genug in den letzten Wochen dort gewesen und haben das Haus aus schützender Entfernung beobachtet. Seit zwei Wochen nur noch Benno. Einer reicht. Offenbar ist heute die richtige Gelegenheit. Benno weiß, worauf es ankommt. Vor allem darauf, dass niemand im Haus ist. Heute oder nie?

Nur wenig Straßenbeleuchtung kämpft gegen die Dunkelheit an.

Philipp weiß, dass er nicht mehr als zwanzig Minuten bis zum Ziel benötigen wird. Zusammen mit Anziehen und Garagen-Umweg in die entgegengesetzte Richtung werden also fünfunddreißig bis vierzig Minuten zwischen Anruf und Eintreffen vergangen sein werden – das passt. Das entspricht dem Wert, den Benno und er vorher errechnet haben.

Benno. Dufter Kumpel. Vielleicht hätte sich Philipp ohne seinen Freund und Tresor-Spezialist schon aus dem Geschäft zurückgezogen. Leisten kann er es sich. Die zwei Jahre hat er auf einer Arschbacke abgesessen. Das war es wert. Die Beute werden die nie finden. Seinen Schatz. Und ohne die zwei Jahre hätte er auch seinen anderen Schatz nie gefunden – Sonja. Aus ihrer Eingliederungshilfe als Sozialhelferin nach seiner Haft wurde schnell mehr. Warum zieht er sich nicht aus dem Geschäft zurück? Er hat jetzt alles. Philipp kann sich nur eine einzige Antwort geben: Weil es Spaß macht!

Rothschild-Allee. Gleich ist er am Ziel. Philipp parkt den Wagen so, dass er nach dem Bruch schnell und ohne Behinderung davon fahren kann. Benno erwartet ihn schon am Straßenrand.

»Hi, Rakete! Läuft perfekt. Keiner da.«

»Super, Benno.«

Sie schnappen sich das Werkzeug aus dem Kofferraum. Der Kies auf dem Weg zu der Villa knirscht unter den Schritten. Philipp weicht auf den Rasen aus.

»Hey, Benno!«

»Lass mal, Rakete, da ist wirklich keiner. Aber wenn du meinst.«

Auch Benno läuft auf dem Grün weiter. Philipp lauscht angestrengt. Doch außer dem Wind in den Bäumen und dem Verkehrslärm der einen halben Kilometer entfernt liegenden Bundesstraße kann er nichts wahrnehmen – vor allem nichts Verdächtiges.

Weder Sterne noch Mond sind am Himmel zu sehen. Die Wolkendecke schirmt die Szenerie wie bestellt ab. Das Zentrum der Stadt mit seinem Lichtermeer ist zu weit weg, als dass der Lichtschein die Atmosphäre auffallend erhellt. Die nahestehenden Bäume leisten ihren willkommenen Beitrag. In tiefer Dunkelheit schleichen die beiden Männer zur Rückseite des Hauses.

»Hier, Rakete!«

Benno zeigt auf das Fenster neben der Terrassentür.

»Nicht die Tür! Die ist, soweit ich weiß, besonders gesichert.«

Philipp setzt das Brecheisen an, ein kurzer Ruck, fertig. In wenigen Sekunden sind die Männer durch das Fenster gestiegen. Benno schaltet die Taschenlampe an. Der komprimierte Lichtkegel tastet den Boden und die Wände ab. Ölgemälde mit alten Motiven, Wappen, Ritter-Ausrüstungen, Säbel und Schwerter.

»Willkommen im Mittelalter!«, flüstert Benno.

»Du sagst es. – Und jetzt?«

»Erster Stock. Da steht der Panzerschrank.«

»Okay.«

Trotz aller Überzeugung allein zu sein schleichen beide auf Zehenspitzen vorsichtig durch den angrenzenden Flur. Die Luft riecht feucht und moderig, als hätten hier schon lange keine Bewohner gelebt. Muffig. Aber hier leben Leute, die hoffentlich heute wirklich nicht hier sind. Im begrenzten Lichtschein sehen sie die Treppe vor sich.

Ein deutliches Knarren aus dem Stockwerk über ihnen lässt Philipp zusammenfahren.

»Ey, Alter, du sagtest doch, wir wären allein.« Er wagt kaum, die Stimme über ein Hauchen hinaus zu erheben.

»Keine Ahnung, Rakete«, flüstert sein Freund zurück. »Ich war mir sicher, dass hier niemand ist.«

Gefühlvoll setzen sie Fuß nach Fuß auf den Holzstiegen. Ein Knarren. Verdammt, der eigene Schritt war’s. Philipp spürt Benno direkt hinter sich. Stufe um Stufe nach oben, jede Sekunde hochkonzentriert. Was melden die Ohren? Benno knallt mit dem Kopf gegen Philipps Rücken.

»Pass auf!«

»Lass gehen, Rakete! Wir werden es herausfinden, ob jemand da ist.«

Ihre Ohren können nichts außer ihrem eigenen Flüstern vernehmen..

»Vorn das zweite Zimmer links«, raunt Benno, als sie oben angekommen sind und sich in dem Flur im ersten Stock nach rechts wenden.

Philipp leuchtet den Korridor in diese Richtung aus. Er kann die zweite Tür klar erkennen. Es sind nur wenige Meter, fünf oder sechs.

Ein Poltern. - Irgendwo aus einem der Zimmer direkt vor ihnen. Aus dem dritten oder vierten Zimmer? Langsam tastet Philipp sich vorwärts. Sein Puls steigt. Ganz so hatte er sich den heutigen Einsatz nicht vorgestellt.

Ein lautes Krachen direkt neben ihm!

»Rakete, pass auf!«

Philipp hört Bennos Warnung zu spät. Ein heftiger Schlag auf seinen Schädel raubt ihm das Bewusstsein. Das Letzte, das er noch wahrnimmt, ist das Wegrollen seiner Taschenlampe, die ihm im Augenblick der Attacke aus der Hand geglitten ist.

Nach dem Aufwachen ist Philipp noch immer benommen. Der kleine Lichtkegel der Taschenlampe, die direkt mit dem Glas vor der Wand liegt, ist das Einzige, das er in der Dunkelheit wahrnehmen kann.

Er schüttelt den Kopf, als könne er mit einer solchen heftigen Bewegung seine Verwirrung abwerfen wie ein Hund das Wasser. Auf allen Vieren krabbelt er vorwärts, bis er die Taschenlampe greifen kann. Er leuchtet umher. Der Korridor zeigt sich genau so wie vor der Attacke. Dort ist das Zimmer, in dem der Tresor stehen soll. Philipp steht auf, wendet sich um. Der Lichtkegel wandert über den Fußboden an dem langen Teppich entlang zum rückwärtigen Ende des Korridors.

Philipp erstarrt. Benno! Er sieht seinen Freund am Ende des Korridors, durchbohrt von einem Schwert. Als ob die Spitze der Waffe an Bennos Rücken ausgetreten sei, in der Wand hinter ihm stecke und so den leblosen Körper des Mannes in der Aufrechten halte.

»Benno!«

Philipp stürzt vor und will die sieben, acht Meter zum Freund spurten. Ein Schuss peitscht über ihn hinweg und schlägt in einen der Deckenbalken ein. Philipp konnte das Mündungsfeuer sehen – direkt aus der Türöffnung neben Benno. Was ist hier los?

Er wirft sich zu Boden, begreift aber sofort, dass er sich damit in die hilfloseste Position bringt, die gerade jetzt möglich ist. Hastig springt er wieder auf und flüchtet zurück. Eine zweite Kugel donnert ins Gebälk.

Philipp stürzt in den Raum, der ihm als einziger irgendetwas Bekanntes zu bieten scheint – die zweite Tür links. Er knallt die Tür zu.

Einmal tief durchatmen, noch einmal. Für einen winzigen Moment Pause. Sein Puls rast.

Wenigstens hat er die Taschenlampe in der Hand festgehalten. Doch er ist ohne jegliche echte Waffe. Was würde ihm jetzt auch das Brecheisen nutzen, das im Erdgeschoss neben dem Fenster liegt?

Er atmet tief und schwer. Was kann ich tun? Aus dem Fenster? Er stürzt hinüber und blickt hinaus. Kein Balkon. Vier oder fünf Meter Höhe. Das könnte gehen. Wobei ein solcher Sprung in der Dunkelheit ein erhöhtes Risiko birgt. Wenn er den Boden nicht klar erkennen kann, wird er das Abroll-Manöver zum vielleicht unpassenden Zeitpunkt einleiten und sich Arm oder Bein brechen. Ganz schön riskant. – Aber nicht zu vermeiden.

Es poltert im Korridor. Philipp öffnet das Fenster.

Ein Schrei aus dem Hausinnern! Laut und schrill! Eine Frau!

Philipp zuckt zusammen. Seine Nackenhaare sträuben sich. Wie eine Welle rast das Frösteln vom Nacken über den Rücken nach unten.

Philipp hat den Schrei erkannt. Er ist sich sicher.

Sonja!

Er wendet sich um und rennt zur Tür.

»Nein! Nicht! Tun Sie mir nichts!«

Was passiert da mit ihr? Philipp umklammert die Taschenlampe noch fester und ballt die andere Faust. Er spürt den inneren Druck, seine Wut staut sich auf. Er presst die Zähne aufeinander. Sein Oberkörper zittert. Im Schein der Lampe sucht er die Wände des Zimmers ab. Vielleicht finden sich hier ähnliche Requisiten wie unten. Bilder – ja. Waffen – nein. Und jetzt?

Er wird da hinaus stürmen. Egal, wie bewaffnet. Er muss sie finden. Sie ist es! Hundertprozentig!

Rakete reißt die Tür auf.

Der Korridor gleicht einer dunklen Höhle. Nein, keiner Höhle. Der Hölle!

»Hilfe! Ah!«

Rakete hört die Stimme und gleichzeitig lautes Poltern. Das kommt von links. Zu seiner Rechten, irgendwo am anderen Ende des Flures im Dunkeln, hängt sein toter Freund. Links, in einem der drei Zimmer, passiert gerade etwas Schreckliches mit Sonja.

Was geht hier vor? Wer ist das? Und wie haben sie Sonja hergeschafft? Was geschieht mit ihr? Ja, die Zeit zwischen seinem Abschied von Sonja und seiner Ankunft hier hätte für wen auch immer gereicht, sie herzuschaffen. Oder während seiner Bewusstlosigkeit. Wie lang hat die gedauert?

»Ah!«

Der schmerzerfüllte Schrei der Frau stachelt Philipps Wut an. Er schaut hinaus in den Gang. Stockfinster. Seinen Freund am anderen Ende kann er nicht erkennen. Er kann ihm jetzt auch nicht helfen. Er will auch nicht noch einmal in das Mündungsfeuer rennen. Jetzt zählt nur eines: Sonja!

Philipp weiß nicht, mit wem oder womit er es zu tun hat. Einer oder mehrere? Es ist ihm für den Augenblick komplett egal.

Er stürzt den Gang entlang. An der ersten Tür lauscht er. Nichts zu hören. In der Dunkelheit ertastet er zufällig einen Lichtschalter. Licht! – Aber das wäre jetzt hier im Korridor keine brillante Idee. Er steht ungeschützt mitten im Flur und würde ein perfektes Ziel abgeben. Nein. Nicht hier. Aber sobald er in das richtige Zimmer stürmt, dann sollte er sofort den innenliegenden Lichtschalter betätigen. Wo sitzen die Schalter in den Zimmern?

Philipp will es darauf ankommen lassen - hier beim ersten Zimmer. Er stößt die Tür auf und tastet sofort die Innenwand ab. Bingo! Der Schalter! Hoffentlich ist das Überraschungsmoment auf seiner Seite.

Verdammt! Er betätigt den Schalter noch einmal. Nichts. Die Birne? Er will es jetzt wissen und riskiert das Licht im Flur. Nichts. Hier sind keine Glühbirnen kaputt – hier ist der Strom abgeschaltet.

Bleibt nur die Taschenlampe.

Sein Herz rast. Trotz der Kühle spürt er den Schweiß auf seiner Stirn. Sein Atem faucht.

Der Lichtkegel fällt in den Raum. Links. Rechts. Nichts. Leer.

Philipp atmet schwer aus.

Langsam, die Füße vorsichtig setzend, nähert er sich der nächsten Tür. Ein leises, kurzes Poltern aus dem Innern verrät ihm, dass es hier sein muss. Nur dieser Raum kommt in Frage. Nervös reibt er die Finger seiner linken Hand aneinander. Er will den Überraschungseffekt für sich nutzen. Jetzt gilt’s!

Blitzschnell drückt er die Klinke und stößt die Tür auf.

Er stürmt hinein. Doch statt mit seiner Taschenlampe sein Sichtfeld zu erleuchten, blenden ihn im nächsten Augenblick grelle Strahler. Verflucht! Von wegen »kein Strom«. Als wäre er gegen eine Wand gelaufen, stockt er in seiner Bewegung. Er presst die Augenlider zusammen.

»Rakete!« Sonjas hoffnungsvoller Aufschrei lässt ihn für den Bruchteil einer Sekunde glauben, dass mit ihr alles okay ist. Doch eine verzerrte, extrem nasal klingende Männerstimme reißt seine Hoffnungen in die Realität zurück:

»Ah – der Herr Rakete! Willkommen!«

Philipp kennt ihn nicht. Eine so sehr elektronisch verfremdete Stimme kann er niemandem zuordnen.

»Bleiben Sie stehen, wo sie sind, lieber Herr Rakete! Keine falsche Bewegung!«

Philipp wagt nicht, sich zu regen. Er öffnet seine Augen wieder, doch er erkennt nichts. Das gleißende Licht lähmt ihn zur Hilflosigkeit.

Verzweifelte Hilflosigkeit.

Hinter dem grellen Licht beginnt die Dunkelheit.

Langsam, Netzhaut-Zelle für Netzhaut-Zelle akzeptiert Philipps Nervensystem die Strahlen. Erste Konturen abseits der Leuchten werden erkennbar. Rakete sieht die Teleskop-Ständer mit ihren spinnenartig aufgespreizten Füßen, die wie spindeldürre Körper die Köpfe aus Licht empor recken. Der Fußboden gewinnt Kontur. Rechts taucht ein Stuhl aus dem indifferenten Dunkel auf. Beine eines Menschen. Nackte Beine. Frauenbeine. Das Negligé! Sonja! Rakete erkennt es sofort, als die Strahlen die Umrisse der Frau nicht mehr verbergen können.

»Alles okay, Sonnie?« Philipps Stimme zittert.

»Ich … ich weiß nicht. Was passiert hier?«

»Hat er dir was angetan, das Schwein?«

»Ich …«

»Aber, aber, Herr Rakete. Warum sollte ich ihr etwas antun?«

Sonja und Stuhl bilden eine erzwungene Einheit. Sie ist an die Lehne gefesselt, zweifellos. Philipp möchte dem Maskierten in seinem schwarzen Umhang hinter den Strahlern die Taschenlampe entgegen schleudern, aber er erkennt die Aussichtslosigkeit einer solchen Aktion. Hilflos.

Jetzt erkennt er die auf ihn gerichtete Knarre in der Hand des Mannes.

»Lieber Herr Rakete, ich bin ein gutmütiger Mensch.«

»Ha, das sehe ich! – Was wollen Sie?«

»Ihre Beute, mein Lieber. In einem kleinen Tausch.« Bei diesen Worten richtet der Schwarze die Waffe auf Sonja. »Sie bekommen, was ich hier habe. Und ich das rein Materielle.«

Verdammt! Darum geht es also. Philipps Beute aus dem großen Coup. Rakete blickt in Sonjas angsterfüllte Augen. Sie ist es allemal wert. Philipp beißt sich auf die Lippe. Soll er? Was ist danach? Seine Hoffnung sinkt. Er ist sich sicher – sobald er geplaudert hat, wird er nicht Sonja erhalten, sondern eine Kugel. Und Sonja die nächste. Verdammt! Was tun? Warum sollte der Typ anders dealen?

Rakete lässt seinen Blick schweifen, ohne den Kopf zu bewegen. Zu seiner Rechten an der Wand entdeckt er zwei gekreuzte Säbel. Ist auch hier eine kleine Waffenkammer? Egal. Ein einziger Säbel würde reichen. Aber die Entfernung ist zu groß. Bevor er eine der Waffen in der Hand hätte, würde der Typ ihn abknallen. So also nicht.

Sonja blickt Philipp flehentlich an. Vielleicht so? Rakete schaut auf sie, dann auf die Knarre, wieder zurück auf Sonja. Kurz und schnell hebt er Augenlider und lässt sie wieder fallen. Das Funkeln in Sonjas Augen zeigt, dass sie verstanden hat.

»Sie sind ein Scheißkerl!« Philipp brüllt laut, hebt die Taschenlampe und überrascht den anderen damit tatsächlich. Der starrt Rakete an. In diesem Augenblick tritt Sonja im erzwungenen Sitzen mit ihrem rechten Bein kräftig gegen die Hand des Schwarzen. Dieser kann die Waffe nicht mehr halten. In hohem Bogen fliegt sie in Philipps Ecke. Rakete greift blitzschnell nach der Waffe, zielt und schießt. Der Schwarze sinkt getroffen zu Boden.

»Rakete!« Sonjas Erlösungsschrei verkümmert noch während des Ausrufs in ein Schluchzen. Die Anspannung bricht aus ihr heraus. »Rakete!«

Philipp löst ihre Fesseln, kniet sich vor sie und nimmt sie in seine Arme.

»Rakete! Was soll das? Was geht hier ab?«

Philipp spürt ihr Zittern. Sie klammert sich an ihn.

»Schon gut, Sonnie! Er wollte etwas von mir, was er aber nicht bekommt. Niemand wird das je finden. Das Grab der Schultkottes ist ein sicherer Platz.«

»Ein Grab? …«

»Schon gut, Sonnie. Es soll dich nicht beunruhigen.«

Er steht auf und hilft ihr, sich zu erheben. Sie blicken auf den Toten am Boden. Philipp nimmt Sonja wieder in den Arm und schaut ihr in die Augen.

»Aber aus mir presst niemand das Geheimnis jemals heraus. Falls mir doch einmal etwas zustoßen sollte, dann halte dich an den Grabstein. Der sieht nicht nur aus wie eine kleine Kapelle, sondern er ist tatsächlich hohl. Die Rückseite lässt sich öffnen – für jemanden, der das nicht weiß, absolut nicht zu erahnen.«

»Ein Grab?«

»Die Gruft der Schultkottes – es gibt den Namen nur einmal auf dem Friedhof.«

»Perfekt, Herr Rakete, perfekt!«

Die verzerrte Stimme tönte aus der Ecke hinter ihm. Philipp drehte sich erschrocken um. Er blickte in die Mündung einer Pistole.

»Und diese hier ist nicht mit Platzpatronen geladen wie die andere von eben. Ich wusste, Sie würden lieber sterben, als mir etwas sagen. – Pech für Sie!«

Philipp drückt Sonja fester an sich. Er versucht, stark zu sein. Doch er spürt, wie er leicht in sich zusammensackt. Seine Knie fühlen sich weicher an als noch wenige Sekunden zuvor.

Der Schwarze wirkt wie eins mit der Dunkelheit.

Philipp martert sein Hirn. Was tun?

Der Säbel! Von hier aus, direkt an der Wand, kann es gehen. Und Sonja? Es muss eine Aktion sein, die ihm den Säbel verschafft, den Schwarzen für einen Augenblick verblüfft und Sonja aus der Gefahrenzone bringt.

Rakete macht seinem Namen alle Ehre und schleudert Sonja mit voller Wucht zur Seite in Richtung des Stuhls. Aus derselben Bewegung heraus dreht er sich an der Wand entlang und greift den oberen Säbel, rotiert weiter und katapultiert die Waffe mit der Spitze voran dem Schwarzen entgegen. Sonjas erschreckter Aufschrei erfüllt den Raum. Noch bevor der Schwarze einen Schuss abfeuern kann, trifft der blanke Stahl ihn mitten in die Brust. Leblos sackt er zusammen.

Philipp springt hinüber zu ihm, reißt ihm die Maske vom Kopf.

»Benno!«

Sein bester Freund liegt da. Das Kabel des Mikrofons an seinem Mund läuft unter seinen Umhang. Philipp kniet nieder und öffnet die Kleidung an der Brust. Eine Requisitenweste mit dem abgebrochenen Rest eines Kunststoff-Schwertes kommt zum Vorschein. Ein Lautsprecher ist neben dem Schwertrest befestigt.

»Benno! Ich …«

Rakete bricht seinen Satz ab. Er hört Sonjas Schluchzen. Er steht auf und will sie in die Arme nehmen. Er sieht ihre Tränen und will gerade sagen, dass doch alles vorbei ist.

Da hebt sie ihre Hand und richtet die Pistolenmündung auf ihn.

»Danke, Honey, dass du mir Benno abgenommen hast …«

Rakete sieht, wie sich ihr Finger am Abzug langsam krümmt.

Die Dunkelheit ist tiefer als die aller Nächte.

ENDE

Der Mord in der Rue Claude Chahu

Paris - meine Stadt. Wie konnte ich jemals ohne diesen prickelnden Pulsschlag um mich herum leben? Wohl nur mein Unwissen über die Verlockungen der Welt behütete mich vor Depression und Resignation in meiner Jugend und den ersten Jahren meines Polizisten-Daseins. Mein Gott, wie wäre es mir ergangen, wenn ich mich nicht vor fünf Jahren aus der bretonischen Provinz in das Herz Frankreichs hätte versetzen lassen? Wie hätte ich ohne die Herausforderungen dieser Metropole mein tristes Leben gestaltet? Ich weiß es nicht. Und will es auch nicht wissen. Die Bretagne ist für mich Vergangenheit. Eine schöne Erinnerung durchaus, aber doch nur deshalb, weil ich dort nicht mehr lebe.

Wollte ich früher Abwechslungen von den immer wiederkehrenden Alltagsabläufen genießen, boten sich nur die Vergnügungen einer typischen Hafenstadt an. Brest hat zwar einen wohl klingenden Namen, doch scheinen mir die Angebote für das wahre Erleben, das einem Mann in jungen Jahren in immer ausreichender Menge zur Verfügung stehen sollte, in dieser entlegenen Ecke Frankreichs eher dünn gesät. Grandiose Küstenlandschaften sind für den Hunger der Jugend selten eine satt machende Mahlzeit.

Dagegen fängt mich die Insel im Herzen Frankreichs wie ein nie versiegendes Buffet ein. Als sei es dem schlummernden Verlangen ein maßgeschneidertes Schlaraffenland. Doch begegne ich um mich herum nicht jenen Schlaraffen, sondern jungen wie alten Menschen, die gemeinsam mit mir den besagten Puls dieser Stadt erzeugen - mit seinem geschäftigen Lärm und hektischem Verkehr, doch auch mit seiner ruhig dahinfließenden Romantik am Ufer der Seine.

Wie sehr genieße ich meine Spaziergänge hinüber an das Flussufer. Nur wenige hundert Schritte sind es - vorbei am Place de Costa Rica zur Stahlkonstruktion der Métro-Brücke, unter der man das seltene Vergnügen genießen kann, dass die U-Bahn offen über einen hinweg rattert, bevor sie in den Untergrund an der Station Passy verschwindet. Blendet man die umherfliegenden Sprachfetzen der Menschen um sich herum aus und konzentriert sich nur auf die eisernen Träger und das rhythmische Reiben der Métro-Träger an den Schienen, so darf man sich unwidersprochen wie in einem Chicagoer Straßenzug fühlen. Um sich dann aus dieser Vorstellung herausreißen zu lassen, wenn man die wenigen Schritte bis zum Port Debilly direkt am Wasser weitergegangen ist und sich der immer wieder überwältigende Blick auf den Tour Eiffel jenseits der Seine eröffnet. Für nichts möchte ich dieses Lebensgefühl eintauschen.

Noch tiefer dringe ich in das Pariser Leben in meiner täglichen Arbeit ein. Die Herausforderungen und tagtäglichen Überraschungen in meinem Job als Fallanalytiker bei der Pariser Polizei führen mich in verschiedenste Facetten des Lebens, in die – in ihrer Vielfalt – nur wenige Menschen in dieser Stadt Einsichten haben.

Entschuldigen Sie bitte, dass ich mich noch nicht vorgestellt habe. Mein Name ist Pierre Laroque. Meine Profession nannte ich ja schon. Manch einer würde das neu-französisch vielleicht als Profiler bezeichnen, aber diese Leute haben wohl zu viel Fernsehen geschaut. Soweit ich weiß, verwenden selbst die realen amerikanischen Kollegen diesen Begriff nicht.

Analytisches Denken war schon immer meine Passion. Unterschiedliche, sich vielleicht sogar widersprechende Fakten und Puzzle-Teile zu einem stimmigen Gesamtbild zu formen – das ist meine größte Befriedigung. Und darin bin ich gut. Dieses Können in die Kriminalfall-Aufklärung einzubringen, ist für mich Ansporn und Erfüllung zugleich. Aber ich bin weit davon entfernt, mich für den Besten zu halten. Da gibt es Ermittler, die sind mir noch weit überlegen. Umso mehr fasziniert es mich, so jemanden bei seiner Arbeit zu beobachten oder ihm sogar zur Hand gehen zu dürfen. Ein solcher Jemand ist mein Chef, Claude Renoir. Er verblüfft mich immer wieder mit seinem geschulten, scharfsinnigen Blick und seiner punktgenauen Kombinatorik. Sein Ruf in Paris ist legendär. Er schüttelt manche Schlussfolgerung aus dem Ärmel, als sei es das Leichteste von der Welt. Er ist mein großes Vorbild. Ganz einfach gesagt – so gut wie er möchte ich auch werden.

Doch das logische Denken kann dann und wann verdammt schwerfallen – vor allem, wenn ein Opfer jemand ist, den man kennt. Dann lenkt Betroffenheit Ideen auch einmal in eine falsche, fatale Richtung. So war es bei dem vorliegenden Fall.

*

Ein strahlend blauer Himmel und die mittägliche Sonne ließen Paris in einem herrlichen winterlichen Glanz erscheinen. Die eisigen Temperaturen sorgten dafür, dass die Menschen auf der Straße immer wieder für einen kurzen Moment von ihren eigenen kristallisierten, schnell wieder verschwindenden Atemschwaden umtanzt wurden.

Meine Hände tief in den Manteltaschen vergraben begab ich mich zu Fuß auf den Weg zurück ins Commissariat des 16. Arrondissements in der Avenue Mozart. Ich sah vor meinem geistigen Auge schon die Kollegen lästern. Dass ein Pariser Polizist sein Auto so dumm parkte, dass es bereits nach wenigen Minuten während seiner Mittagspause abgeschleppt wurde, würde der Lacher des Tages sein.

- Ende der Buchvorschau -

Impressum

Texte © Copyright by Rudy Namtel, Scheidertalstr. 8, 65510 Hünstetten, [email protected]

Bildmaterialien © Copyright by Rudy Namtel

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN: 978-3-7393-0613-1