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»Er ist der mächtigste Anwalt Seattles. Und ich werde ihn vernichten …« Jonathan Segal hat nach seinem Abschluss an der Law School nur ein Ziel: Einen Job in der Kanzlei des berüchtigten Wirtschaftsanwalts Eli »Big Bad« Wolf zu bekommen, um Vergeltung für etwas zu üben, das Jahre zuvor seine Familie zerstört hat. Das Ziel seiner Rache? Eli Wolf und einer seiner Mandanten. Seine Pläne? Ausbaufähig. Sein Mindset? Entschlossen bis zum bitteren Ende. Der charismatische Eli ist ein Spieler und bald findet sich auch Jonathan auf dessen Schachbrett wieder. Doch eine viel größere Bedrohung zielt auf sie beide ab und zwingt sie, sich zusammenzutun – mit Folgen, die keiner der beiden für sich einkalkuliert hat ...
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Gay Drama
© Urheberrecht 2025 Jona Dreyer
Impressum:
Tschök & Tschök GbR
Alexander-Lincke-Straße 2c
08412 Werdau
Text: Jona Dreyer
Coverdesign: Jona Dreyer
Covermotiv: depositphotos.com
Lektorat/Korrektorat: Kelly Krause & Shannon O’Neall
Kurzbeschreibung:
Er ist der mächtigste Anwalt Seattles. Und ich werde ihn vernichten ...
Jonathan Segal hat nach seinem Abschluss an der Law School nur ein Ziel: Einen Job in der Kanzlei des berüchtigten Wirtschhafstanwalts Eli »Big Bad« Wolf zu bekommen, um Vergeltung für etwas zu üben, das Jahre zuvor seine Familie zerstört hat.
Das Ziel seiner Rache? Eli Wolf und einer seiner Mandanten.Seine Pläne? Ausbaufähig.Sein Mindset? Entschlossen bis zum bitteren Ende.
Der charismatische Eli ist ein Spieler und bald findet sich auch Jonathan auf dessen Schachbrett wieder. Doch eine viel größere Bedrohung zielt auf die beide ab und zwingt sie, sich zusammenzutun - mit Folgen, die keiner der beiden für sich einkalkuliert hat ...
Über die Autorin
»Fantasie ist wie ein Buffet. Man muss sich nicht entscheiden – man kann von allem nehmen, was einem schmeckt.«
Getreu diesem Motto ist Jona Dreyer in vielen Bereichen von Drama über Fantasy bis Humor zu Hause. Alle ihre Geschichten haben jedoch eine Gemeinsamkeit: Die Hauptfiguren sind schwul, bi, pan oder trans. Das macht sie zu einer der vielseitigsten Autorinnen des queeren Genres.
Nach all den süßen Romances, die ich in den letzten Jahren geschrieben habe, wurde es mal wieder Zeit für etwas Dunkleres, Dramatischeres.
Et voilà!
Pünktlich zum zehnjährigen Jubiläum meines Erstlings »Bittersweet Secrets«, ebenfalls eine Dark Romance, bringe ich euch »Big Bad Enemy«.
Boss trifft auf Angestellten. Feinde werden zu Verbündeten und später zu noch mehr. Nicht alles ist moralisch einwandfrei. Man möchte die Kerle manchmal schütteln und ihnen Kopfnüsse geben.
Habt Geduld mit ihnen. Schnallt euch an für eine Achterbahn. Es zahlt sich aus.
Viel Spaß beim Lesen!
Seattle, März 2023
Oh, Seattle. Endlich bin ich wieder hier. Die Großstadtluft hat mir gefehlt, nachdem ich die letzten Monate in einem Nest namens Fall City verbracht habe – der Ort, an dem ich aufgewachsen bin, an dem meine Familie wohnt, auch mein Onkel Tobias, der dort seine Kanzlei betreibt.
Ich konnte es kaum erwarten, nach Seattle zurückzukehren. Nicht nur, weil ich das Großstadttreiben, die Bars mit der Livemusik und den Bangrak Market mit seinem leckeren, asiatischen Street Food vermisst habe. Nein: Dass ich hier bin, bedeutet, dass ich meinem Ziel einen Schritt näher gekommen bin. Heute entscheidet sich, wie lange mein Aufenthalt in der Stadt sein wird – oder wie kurz.
Das Warten in diesem Vorraum zieht sich allerdings ewig hin. Ich sitze in der renommierten Anwaltskanzlei Berkowicz Wolf Ramirez und warte auf mein Vorstellungsgespräch bei Mr. Wolf, während die rothaarige Sekretärin am Empfang ununterbrochen Telefongespräche weiterleitet und zwischendurch an ihrer Kaffeetasse nippt oder ihren Lippenstift nachzieht.
Eli Wolf ist der mächtigste, berüchtigtste Wirtschaftsanwalt des pazifischen Nordwestens. Sein Ruf hat ihm den Spitznamen Big Bad Wolf eingebracht, denn er ist bekannt dafür, die dicksten Fische an Land zu ziehen, feindliche Übernahmen von Unternehmen durchzupeitschen und sich jedes rechtlichen Schlupfloches zu bedienen, das ihm und seinen Mandanten zugutekommt. Wölfe sind grau. Eli Wolfs Moral ist es ebenfalls.
Dass ich zu diesem Vorstellungsgespräch überhaupt eingeladen wurde, macht mich immer noch ein bisschen fassungslos, denn ich habe mein Jurastudium erst letzten Herbst beendet. Jura war nie mein Traumfach, ich wollte eigentlich den Bachelor of Arts in Musik machen, aber dann passierten gewisse Dinge und ich musste meine Lebenspläne ändern.
Deshalb sitze ich jetzt hier. Der nächste Schritt, so nahe am Ziel, dass mein Herz rasend klopft, wenn ich nur daran denke. Ich habe Rechtswissenschaften studiert, um hier zu sein. Exakt in dieser Kanzlei, die keine Studenten bei sich arbeiten lässt, sondern nur Leute mit Abschluss. Ich bin hier, weil hier die Antworten liegen, die ich seit Jahren suche. Die ich finden muss, weil es in meinem Leben sonst keinen Frieden geben kann. Ich habe keine Angst vorm großen, bösen Wolf.
Da mir vom Warten langsam der Hintern wehtut, stehe ich auf und strecke mich verstohlen. Die Sekretärin wirft mir einen irritierten Blick zu, aber ich ignoriere sie und trete an eins der bodentiefen Fenster, die hier im 26. Stockwerk einen atemberaubenden Blick auf die Stadt freigeben. Ich sehe die Space Needle, einen Aussichtsturm mit Restaurant, der aussieht, als sei ein Ufo auf einem gigantischen Strommast gelandet, den Rainier Tower und das Columbia Center, das höchste Gebäude Seattles.
Regen plätschert gegen die Scheibe. Es ist März, früher Nachmittag und ekelhaft nasskalt. Ich schaudere und wünsche mich in einen warmen Sweater, anstatt in Anzug, Hemd und Krawatte. Aber wenn ich in meinem Simpsons-Pullover hier aufgetaucht wäre, hätte man mich wohl direkt wieder rausgeschmissen. Das kann ich nicht riskieren. Ich muss eine Anstellung hier bekommen. Ich muss.
»Mr. Segal?«
Erschrocken fahre ich herum. Die Sekretärin steht nur zwei Schritte hinter mir und sieht mich an, als sei es eine Zumutung, sich überhaupt mit mir befassen zu müssen.
»Mr. Wolf empfängt Sie jetzt. Folgen Sie mir.«
Sie führt mich durch eine Glastür einen kurzen Gang hinunter zu einem komplett verglasten Büro und öffnet die Tür.
»Mr. Wolf? Jonathan Segal, wegen des Vorstellungsgesprächs.«
Wolf nickt stumm, die Sekretärin schiebt mich zur Tür hinein und schließt sie hinter mir. Mein Mund ist schlagartig trocken wie eine Wüste. Ich darf das hier nicht versauen. Auf gar keinen Fall.
»Wollen Sie von dort vorn mit mir sprechen?«, fragt Wolf und sieht mich nicht einmal an.
»Nein, ich ... Verzeihung. Guten Tag, Mr. Wolf, mein Name ist Jonathan Segal.«
»Ja, das ist mir durchaus klar.«
Endlich blickt er auf. Er ist eine dieser Personen, die mit ihrer Präsenz einen ganzen Raum einnehmen. Seine braunen Augen bohren sich förmlich in mich und ich hasse die Tatsache, dass ich mir beinahe in die Hose mache. So war das nicht geplant. Ich wollte ihm selbstbewusst gegenübertreten, nicht wie ein Duckmäuser, der den Schwanz vor dem großen, bösen Wolf einzieht.
»Jetzt setzen Sie sich endlich.« Wolf legt seinen Kugelschreiber beiseite und lehnt sich zurück. Er wirkt genervt, sogar etwas gelangweilt, und die Muskeln an seinem kantigen Kiefer treten hervor. Auf seinem Portrait auf der Website der Kanzlei ist er glattrasiert; heute trägt er jedoch einen kurzen, gepflegten Dreitagebart, der sein strenges Gesicht noch dunkler und bedrohlicher wirken lässt.
Vorsichtig ziehe ich den Stuhl vor dem Schreibtisch ein Stück zurück und hoffe, dass Wolf nicht bemerkt, wie meine Hände zittern. Heute steht alles für mich auf dem Spiel. Wenn er mir keine Chance gibt, habe ich meine Lebenspläne umsonst über den Haufen geworfen.
»Danke für die Einladung«, erkläre ich und versuche, eine bequeme Sitzposition zu finden und trotzdem nicht wie ein nasser Sack in dem Stuhl zu hängen.
»Warum sind Sie hier, Mr. Segal?«
Weil du mich eingeladen hast?!
»Berkowicz Wolf Ramirez ist eine Kanzlei mit einem exzellenten Ruf, die mit keiner anderen im pazifischen Nordwesten vergleichbar ist, was Wirtschaftsrecht angeht. Ich möchte von den Besten lernen.«
»Arschkriecher-Hausaufgaben gemacht.«
»Bitte?« Mein Körper versteift sich. Meine Spucke ist ja sowieso schon lange weg.
Wolf erhebt sich mit einem Seufzen aus seinem Stuhl und beginnt, im Büro umherzustolzieren. Er ist groß gewachsen, schlank und athletisch, und sein dunkelblauer Anzug sitzt tadellos. Der Hauch eines teuren Eau de Toilette weht zu mir heran, als er mich umrundet, wie ein Raubtier, das seine Beute umkreist.
»Typische Einschleimphrasen, Mr. Segal. Beeindruckt mich nicht im Geringsten.«
Meine Hände verkrampfen sich um die Stuhllehnen, lassen sich nicht entspannen. Ich habe das Gefühl, vor einem Abgrund zu stehen. Meine Hoffnung ist schon mal vorsorglich gesprungen.
»Aber wie Sie ganz richtig erkannt haben«, fährt Wolf fort, »hat diese Kanzlei sich einen großartigen Ruf erarbeitet. Hier sind nur die Besten beschäftigt und vertreten nur die Wichtigsten. Juristen mit Erfahrung, mit einem Renommee. Männer, die sich bewiesen haben. Nur die Besten sind für meine Partner und mich gerade gut genug. Warum glauben Sie, Mr. Segal, dass Sie zu diesen Besten gehören? Sie haben gerade erst die Law School abgeschlossen und Ihre Erfahrungen beschränken sich auf die Kanzlei ihres Onkels, der Hausfrauen bei ihren Scheidungsprozessen betreut.«
Ich schlucke trocken. Er hat sich also durchaus über mich informiert, aber die herablassende Art, wie er mir diese Informationen vermittelt, macht mich innerlich rasend.
»Wie soll ich wertvolle Erfahrungen sammeln, wenn mir keiner die Chance gibt, welche zu machen?«
Wolf, der gerade wieder hinter seinem Schreibtisch angekommen ist, bleibt stehen. Und er lächelt. »Gute Antwort.«
»Sie haben ja sicher auch nicht direkt als der größte Fisch im Haifischbecken begonnen«, fahre ich fort, ermutigt durch seinen Anflug von Anerkennung.
»Völlig richtig.« Er nimmt wieder Platz. »Und wissen Sie, wo ich begonnen habe? In der Kanzlei meines Onkels. Strafrecht. Kleinkriminelle, Verkehrssünder, all das. War nie meine Welt, aber ... der Weg zum Gipfel beginnt mit den ersten Schritten im Tal. Und dann heißt es klettern. Sie erwarten aber offenbar einen Lift. Denn hier ist schon der Gipfel, und Sie haben noch nicht einmal wirklich einen Felsen bestiegen. Es ist absurd, zu glauben, dass ich Sie hier einfach einstelle.«
Ja. Bedauerlicherweise ist das die Wahrheit, und trotzdem hatte ich Hoffnung. Eine wahnwitzige Hoffnung, nicht noch weitere Jahre warten zu müssen, bis ich meine Chance auf Gerechtigkeit bekomme. Ich fühle mich gerade unglaublich dumm und vorgeführt. Wie ein naives Rotkäppchen.
»Warum haben Sie mich dann überhaupt eingeladen?«, frage ich resigniert.
Wolf beugt sich zu mir nach vorn. Sein Duft hüllt mich ein und ich bemerke die zwei steilen, senkrechten Fältchen zwischen seinen Brauen. »Weil ich den Mann sehen wollte, der die Dreistigkeit besitzt, sich frisch von der Law School bei mir zu bewerben.« Er lächelt wieder. Es wirkt sinister.
Ich verstehe. Er wollte nichts anderes, als mich bloßzustellen und sich über mich lustig zu machen. »Dann hatten Sie ja jetzt Ihren Spaß.« Ich mache Anstalten, aufzustehen. Mein ganzer Körper schmerzt vor Anspannung, ich will nur noch allein sein und mich aus Frust betrinken. Ich war zu voreilig, zu ungeduldig und habe damit meine einzige Chance verspielt, an die Quelle der Informationen zu kommen, die ich für meine Antworten brauche.
»Halt.« Gebieterisch hebt Wolf eine Hand. »Wann sagte ich, dass Sie aufstehen dürfen?«
»Ich nahm an, das Gespräch sei beendet, weil–«
»Sie sollten weniger spekulieren, Jonathan.« Die Art, wie er meinen Vornamen ausspricht, jagt mir einen Schauer über den Rücken. »In dieser Welt zählen nur harte Fakten. Und Mut. Sie sind mutig, dafür, dass Sie mir Ihre Bewerbung geschickt haben und tatsächlich auch hier aufgetaucht sind, auch wenn Sie jetzt wie ein verängstigtes Häschen in Ihrem Stuhl kauern.«
Erschrocken richte ich mich wieder auf und nehme eine strammere Körperhaltung an.
Wolf lacht, ein sonorer, kratziger Ton. »Schön. Da ich der Meinung bin, dass Mut belohnt werden sollte, will ich Sie nicht mit ganz leeren Händen gehen lassen.«
Ich halte die Luft an und muss mich zügeln, um nicht aufzuspringen. »Das heißt, Sie bieten mir doch eine Stelle an?«
»Und schon überschreiten Sie wieder die Grenze zwischen Mut und Dreistigkeit.« Wolf schnalzt mit der Zunge. »Ich biete Ihnen ein Praktikum an. Drei Monate, in denen ich Ihnen keinen Cent zahle, aber in denen Sie sich beweisen dürfen. Sie werden Kaffee kochen, Akten ordnen und kopieren und mich zum einen oder anderen Termin begleiten, um meine Tasche zu tragen. Sollte ich in dieser Zeit ein gewisses Potenzial in Ihnen wahrnehmen, bekommen Sie vielleicht den Hauch einer Chance auf eine kleine Stelle in dieser Kanzlei. Dies ist mein Angebot. Nehmen Sie es an oder seien Sie dumm und lehnen es ab.«
»Ich nehme es an«, versetze ich wie aus der Pistole geschossen.
Es spielt überhaupt keine Rolle, dass er mich nicht bezahlt und ich vielleicht nur Akten ordne. Genau das will ich sogar: an die Akten. Ohne es zu wissen, hat mir Wolf mit seinem Angebot gerade den Schlüssel zur verbotenen Stadt überreicht. Ich kann mein Glück kaum fassen.
»Kluger Junge. Sie fangen kommenden Montag hier an, ich bin spätestens um sieben Uhr im Büro und erwarte, dass Sie vor mir da sind. Ihr Feierabend ist dann, wenn ich Sie nach Hause schicke. Jetzt ist der Moment, in dem Sie aufstehen und gehen dürfen. Ich habe heute noch eine Menge zu tun und habe schon mehr Zeit in Ihr kleines Vorstellungsgespräch investiert, als ursprünglich geplant.«
Eilig stehe ich auf. »Danke, Mr. Wolf. Vielen Dank für diese großartige Chance. Ich–«
»Eine Sache hasse ich wie die Pest«, unterbricht er mich. »Und das ist Arschkriecherei. Lassen Sie diese überschwängliche Dankbarkeit, mir kommt gleich das Mittagessen hoch. Beweisen Sie sich durch Ihr Arbeitsethos. Bis Montag, Jonathan.«
»Bis Montag, Mr. Wolf«, gebe ich zurück und verlasse sein Büro.
Der Geruch von Hühnersuppe empfängt mich, als ich die Tür meines Elternhauses öffne. Das treibt mir ein Lächeln ins Gesicht – und lässt meinen Magen knurren. Durchgefroren, wie ich bin, kann ich mir gerade nichts Besseres vorstellen, als Moms Hühnersuppe.
»Ich bin wieder da!«
Ich betrete die Küche, wo zu meiner Überraschung nicht meine Mutter hinter dem Herd steht, sondern ... Ted. Ihr Freund.
»Oh, Jonathan.«
»Ted. Du bist ... hier.«
Entschuldigend hebt er die Hände, in einer noch der Kochlöffel. »Tut mir leid, ich dachte, du kommst erst morgen zurück.«
»Da hat mir Mom wohl nicht richtig zugehört. Ich sagte, spätestens morgen, je nachdem, wie lange alles dauert. Es ging aber recht schnell.«
»Und, hat es geklappt?«
Schweigend sehe ich ihn an und er versteht.
»Deine Mom ist im Garten, Maya kurz rauslassen.«
Ich nicke und begebe mich zur Hintertür. Maya ist unser Familienhund, ein Golden Retriever, und kommt langsam in die Jahre, hat keine große Lust mehr auf ausgedehnte Spaziergänge. Aber den Garten mag sie immer noch, schnüffelt überall herum und erledigt ihr Geschäft.
»Hey!« Ich bleibe im Türrahmen stehen und winke meiner Mutter zu. In dem Nieselregen möchte ich nicht unbedingt noch mal nach draußen gehen.
»Jonty! Du bist schon zurück?« Sie wirft Mayas Stöckchen und kommt zur mir herüber.
Der Hund sammelt das Stöckchen ein und folgt ihr, tanzt freudig aufgeregt und schwanzwedelnd um mich herum, als hätte er mich seit tausend Jahren nicht gesehen.
»Ja, ich bin schon zurück«, erwidere ich lachend und stehe wieder auf. »Es ging schnell.«
»Ist das gut oder schlecht?«
»Gut, würde ich sagen.«
Ihre haselnussbraunen Augen, deren Farbe sie an mich vererbt hat, weiten sich vor Staunen. »Du hast also wirklich eine Stelle dort bekommen?«
»Fast. Ein dreimonatiges Praktikum.«
Sie stemmt die Hände in ihre rundlichen Hüften und runzelt die Stirn. »Praktikum klingt nach unbezahlt.«
»Das stimmt«, gebe ich zu, »aber das ist erst mal nicht so wichtig. Hauptsache, ich bin drin.«
»Ach ja, und ich füttere dich jetzt drei Monate kostenlos durch?«
»Ich werde mir einen Nebenjob suchen und dir Geld geben.«
»Ah.« Sie winkt ab. »Ich schätze, der Mann wird dich schon arbeiten lassen, bis du fast umfällst. Ich brauche kein Geld von dir und mir geht es darum eigentlich auch gar nicht.«
»Sondern?«
Sie hebt die Arme und lässt sie wieder fallen. »Du weißt genau, dass ich nicht will, dass du dort anfängst.«
»Ich muss aber.«
»Du musst gar nichts! Es ist vollkommen verrückt und wird dich in Teufels Küche bringen. Das kann nicht gut gehen. Mir wäre es lieber, du würdest weiter für deinen Onkel arbeiten, er hat dich sehr gelobt.«
»Das kann ich machen, wenn ich dort fertig bin.«
»Was willst du denn machen? Herumspionieren, und dann? Wenn du überhaupt das Glück hast, dass dich keiner erwischt. Solche Leute wie dieser Eli Wolf haben Kontakte. Die können auch jemanden verschwinden lassen. Ich will nicht noch jemanden verlieren.«
»Das wirst du nicht.« Zärtlich nehme ich ihre kalte Hand und drücke sie. »Ich werde vorsichtig sein. Aber ich brauche Antworten. Wir brauchen Antworten.«
Sie seufzt und lässt die Schultern hängen. »Wir–«
»Entschuldigung.« Ted tritt an mir vorbei aus der Tür und sieht meine Mutter an. »Ich habe erst mal den Herd ausgestellt, damit die Suppe nicht anbrennt. Ich gehe dann. Wir telefonieren?«
»Was, wieso willst du gehen?«
Ted kaut unbehaglich auf seiner Unterlippe, sieht mich kurz an, dann wieder meine Mutter. Äußerlich ist er der Typ gutmütiger Holzfäller, mit einem rötlichen Vollbart und einer Vorliebe für karierte Hemden, ganz anders als mein Vater. »Jonathan fühlt sich nicht wohl, wenn ich hier bin, und das muss ich akzeptieren.«
»Oh, nicht doch.« Ich hebe die Hände. »Ich kann auch noch mal in die Stadt fahren und mir dort was suchen, wenn ihr für heute Abend schon was geplant habt.« Obwohl ich wirklich keine Lust habe.
»Schluss damit!« Mom stampft mit dem Fuß auf. »Wirklich, es reicht jetzt! Niemand geht hier irgendwohin. Ihr bleibt beide hier. Jonathan, Ted hat dir nichts getan!«
»Das habe ich auch nie behauptet.« Ich verschränke die Arme, weil mir kalt ist, ein bisschen aber auch aus Trotz.
»Was ist dann dein Problem mit ihm?«
»Er ... er ist ...« Ich stoße einen langen Atemzug aus. »Er ist eben nicht Dad.«
Ich weiß, dass ich mich kindisch verhalte. Ich weiß es. Aber ich habe noch nicht mit dieser ganzen Sache, noch nicht mit Dad abgeschlossen, und einen anderen Mann an der Seite meiner Mutter zu sehen, in diesem Haus, in dem sie mit meinem Vater gewohnt hat, ist manchmal schwer zu ertragen.
»Natürlich bin ich nicht dein Vater«, erwidert Ted vorsichtig. »Und ich bin auch nicht hier, um so zu tun, als wäre ich es. Niemand wird je seinen Platz einnehmen. Es geht mir nur um deine Mutter. Denkst du nicht, sie hat ein bisschen Glück verdient?«
»Natürlich hat sie das«, erwidere ich gekränkt. »Und ich will ja auch, dass sie glücklich ist.« Und verdammt, ja, Ted macht sie offenbar glücklich. Er kümmert sich um sie. »Es ist nur manchmal so hart, zu begreifen, dass er wirklich nicht zurückkommt. Und deine Anwesenheit führt mir diese Tatsache immer wieder so schmerzhaft vor Augen. Denn wenn er noch da wäre, wärst du nicht hier.«
»Ich weiß.«
»Ich will euch beide hierhaben«, erklärt meine Mutter. »Ich will mit euch am Tisch sitzen und Hühnersuppe nach dem Rezept meiner Großmutter essen. Das Leben ist nicht immer einfach, aber wir müssen es nehmen, wie es kommt.«
Ich wünschte, ich hätte auch schon so viel Seelenfrieden gefunden, wie sie. Aber ich bin dem jetzt immerhin einen Schritt näher gekommen. Die Antworten sind es, die mir den Frieden liefern werden.
»Okay«, sage ich schließlich und reiche Ted die Hand. »Freunde?«
Er nickt, packt fest meine Hand und strahlt mich an. »Freunde.«
Eigentlich ist Ted ja auch ein guter Mann. Es gibt nicht wirklich einen Grund, einen Groll gegen ihn zu hegen. Aber leider fühlt es sich trotzdem irgendwie wie Verrat an meinem Dad an. Ich werde ihn am Montag besuchen und um Verzeihung bitten.
Wir gehen zurück ins Haus – zum Glück, ich bin schon ganz durchgefroren –, ich füttere Maya und setze mich schließlich zu Mom an den Küchentisch, während Ted das Essen fertig kocht.
»Jonty hat ein Praktikum bei Eli Wolf bekommen«, schnarrt meine Mutter in Teds Richtung.
»Ach so?« Ted dreht sich kurz um. »Ich würde dich ja beglückwünschen, aber Praktikum ist ja nur ein anderes Wort für schamlose Ausbeutung. Oder bezahlt er dich?«
»Nein«, erwidere ich genervt, »aber das ist gerade nicht so wichtig. Hauptsache, ich habe einen Fuß in der Tür.« Mir steht nicht der Sinn danach, mit Ted zu diskutieren, was genau ich dort vorhabe. Soll er ruhig denken, es ginge mir nur um eine Karrieremöglichkeit.
»Na, wenn Wolf mit dir zufrieden ist, ist das sicher nützlich für deinen Lebenslauf. Lass dich nur nicht zu sehr ausnutzen.«
Dieser väterliche Rat versetzt mir schon wieder einen Stich in die Brust. Er hätte von meinem Dad kommen sollen, aber Dad ... er war nicht so vernünftig. Nein, das stimmt nicht, er war durchaus vernünftig, aber auch leichtgläubig.
»Wann fängst du an?«, will meine Mutter wissen.
»Montag. Ich muss schon sehr früh los. Kann ich eventuell das Auto haben?«
»Am Montag kannst du es haben«, erwidert Mom, »aber nicht die ganzen drei Monate, ich brauche es auch, um einzukaufen oder mit Maya zum Tierarzt zu fahren.«
»Dafür kannst du auch mein Auto haben«, bietet Ted ihr an. Ich hasse es, wie nett dieser Kerl ist, ich will ihn eigentlich nicht mögen. »Der Stadtverkehr ist zwar auch nicht ohne, aber wenn er mit dem Zug reinfährt, ist er am Tag vier bis fünf Stunden mit Pendeln beschäftigt. Mit dem Auto fährt er pro Strecke nur eine halbe Stunde, bei ganz schlimmem Verkehr vielleicht etwas mehr.«
Mom stößt ein Seufzen aus, als würde sie eher mir das Pendeln zumuten wollen, als Ted, ihr sein Auto zu leihen. »Na, meinetwegen. Aber wenn mir Ted sein Auto mal nicht geben kann, dann musst du in den sauren Apfel beißen und den Zug nehmen.«
Ich nicke. »Das werde ich. Danke.«
Ted serviert das Essen – Hühnersuppe mit Matzeknödeln und Fadennudeln –, und ich genieße Löffel für Löffel, lasse mich davon wärmen. Es erinnert mich daran, dass ich auch meine Großeltern mal wieder besuchen sollte. Die Eltern meines Vaters. Wenn meine Mutter sich nicht nach Antworten sehnt, sie tun es gewiss.
Meine Gedanken gleiten zu Eli Wolf, seinem verglasten Hochhausbüro und seinem bohrenden Blick. Zu seinen Spielchen, bei denen er mich wie einen Fisch an der Angel hat zappeln lassen. Den gepflegten Händen mit der silbernen Rolex am Gelenk. Dem Geruch seines After Shaves ...
Stop.
Ich darf mich bei meiner Mission keinesfalls von seiner einnehmenden Gegenwart ablenken lassen. Rotkäppchen ging vom Weg ab, weil der Wolf sie dazu manipulierte. So weit darf es nicht kommen. Ich bin nicht das Rotkäppchen. Ich bin auch nicht die Großmutter. Ich bin der Jäger.
Todmüde betrete ich am Montagmorgen das Büro. Draußen ist es noch dunkel, und es regnet, weil es hier von Oktober bis April kaum je etwas anderes tut.
Herzhaft gähnend schlurfe ich hinein. Ich habe heute Nacht vor Aufregung kaum schlafen können.
»Halten Sie sich wenigstens die Hand vor den Mund, meine Güte.«
Erschrocken fahre ich herum. Es ist Eli Wolf. Er ist bereits hier und hält eine Tasse Kaffee in der Hand.
»Ich, äh ... guten Morgen«, stammle ich. Scheiße, wieso ist er schon da?
»Guten Morgen, Jonathan. Hatte ich nicht erwähnt, dass Sie vor mir im Büro sein sollen?«
»Doch, aber Sie sagten, Sie seien um sieben Uhr hier ...« Verwirrt sehe ich auf meine Armbanduhr, weil ich schon meinen Verstand anzweifele. »Es ist halb sieben.«
»Ich sagte, ich sei spätestens um sieben Uhr hier«, korrigiert er mich nachdrücklich und ich frage mich, wie er um diese gottlose Zeit so ausgeschlafen aussehen kann.
»Dann hätten Sie mir wohl besser sagen sollen, wann Sie frühestens hier sind, damit ich mich danach richten kann.«
Wolf zieht eine abfällige Grimasse. »Gleich am ersten Tag zu spät. Das gibt auf jeden Fall Minuspunkte.«
»Das ist nicht fair!«
»Ach so?«
»Ja. Ich konnte ja nicht wissen, wie früh Sie schon hier sind. Führen Sie ernsthaft eine Punkteliste?«
Wolf lacht und wendet sich ab. »Wer weiß? Vielleicht ja, vielleicht nein. Aber falls dem so ist, würde ich keine weiteren Einträge riskieren.«
Reiß dich zusammen, Jonty. Das ist deine einzige Chance!
»Dann komme ich morgen eben um fünf Uhr.«
Mein neuer Chef bleibt stehen und wirft mir einen Blick über die Schulter zu. »Sechs Uhr reicht. Vorher bin ich nie da. Irgendwann muss selbst ich einmal schlafen. Holen Sie sich einen Kaffee, Jonathan, und dann kommen Sie in mein Büro.«
Das geht ja gut los. Seufzend tue ich, was er sagt, und gehe zum Kaffeeautomaten. Das hier ist kein piefiges Filterkaffeeteil, sondern der pure Luxus. Es gibt gefühlt eine Million Kaffeesorten, mit Pflanzenmilch, mit Kuhmilch, entkoffeiniert, und so weiter und so fort. Neben dem Automaten stehen verschiedene Flaschen mit Aromasirups. Wie soll ich mich da entscheiden? Und wie soll ich meinen Plan verfolgen, wenn ich in diesem Büro schon mit der Zubereitung eines Kaffees überfordert bin?
Ich drücke wahllos einen Knopf und bekomme einen verdammten Espresso. Na ja, den kann ich jetzt wohl brauchen. Ich kippe ihn hinunter, kämpfe einen Moment gegen den bitteren Geschmack und meine verbrannte Kehle, wappne mich innerlich und gehe zu Wolfs Büro. Im gleichen Moment schneit die Sekretärin vom Empfang herein und behandelt mich wie Luft.
»Tür zu«, fordert Wolf, als ich noch nicht mal richtig eingetreten bin. Er blickt auf. »Wo ist ihr Kaffee?«
»Es war ein Espresso. Den hab ich direkt ausgetrunken.«
»Ah. Sie mögen den Kaffee also auch so schwarz wie Ihre Seele.«
»Ab und zu.« Und meine Seele ist nicht schwarz, im Gegensatz zu deiner.
»Setzen Sie sich. Im Wesentlichen wird unsere Assistentin Alison Ihnen Ihre Aufgaben zuteilen. Sie ist immer ab sieben Uhr dreißig hier. Sie wird Ihnen auch eine Zugangskarte für das Büro aushändigen, damit Sie es morgens betreten können, falls noch keiner da ist.« Er mustert mich mit funkelnden Augen. »Hier sind überall Kameras. Wenn Sie also Dummheiten machen, zeichnen die das alles auf.«
»Was für Dummheiten?«, entfährt es mir und ich versteife mich unwillentlich. Ich komme mir ertappt vor.
»Zum Beispiel, in meinen Bio-Joghurt zu spucken, von dem stets ein großes Glas im Kühlschrank steht. Wagen Sie es nicht, ihn auch nur anzusehen.«
»Bestimmt nicht.« Heiliger Bio-Joghurt, was zur Hölle.
»Warum wollen Sie das hier machen?«, fragt er unvermittelt.
»Sie meinen das Praktikum?«, hake ich vorsichtig nach.
»Das Praktikum, der Wunsch nach einem Job hier ... wieso wollen Sie für mich arbeiten? Hoffen Sie auf das große Geld?«
»N-nein ...« Ich schüttle den Kopf. »Nein, um Geld geht es mir nicht.«
»O nein, natürlich nicht. Es geht nie ums Geld, allen geht es nur um die Gerechtigkeit.« Er feixt und wirkt äußerst amüsiert. »Glauben Sie mir, Sie sind nicht der erste Bewerber und Praktikant hier. Die sehen alle: Oh, der trägt eine Rolex, er fährt einen Maserati und hat ein schickes Hochhausbüro mit seinen Partnern. Und dann denken sie sich: Hey, ich habe einen Abschluss in Rechtswissenschaften, ich kann das doch wohl auch, am besten setze ich mich gleich ins gemachte Nest.« Er lehnt sich in seinem Stuhl zurück und klopft mit seinem klobigen Kugelschreiber auf die Mahagonischreibtischplatte. Sein heutiger Anzug ist anthrazitfarben und steht ihm leider wieder verboten gut. Ich fürchte, diese Art von Ausstrahlung kann man sich nicht kaufen. »Mein letzter Angestellter ging, weil ich ihn beschissen bezahlt habe. Alle reißen sich um die Stellen hier, besitzen aber nicht genug Stamina, um sie tatsächlich auszufüllen.«
»Hm.« Ich kratze mich verlegen im Genick. »Geld ist ein schöner Nebeneffekt, das streite ich nicht ab. Der Studienkredit will bezahlt werden und ich will auch nicht in meinem Auto leben müssen.«
»Dabei tun das viele in Seattle.«
»Ihr Ex-Angestellter auch?«
Wolf verengt die Augen, aber dann lächelt er auf seine übliche, sinistre Art. »Wer weiß.« Er legt den Kugelschreiber weg. »Wenn Sie sich bemühen, soll es Ihr Schaden nicht sein, Jonathan. Machen Sie sich mit den Abläufen hier vertraut und halten Sie sich ansonsten im Hintergrund. Platzen Sie nicht einfach in mein Büro, insbesondere, wenn Mandanten da sind, sondern melden Sie sich vorn bei Zoe oder Alison an und warten Sie, bis ich Sie hereinrufen lasse. Jetzt habe ich zu tun, ich muss einiges vorbereiten. Morgen kommt ein wichtiger Mandant, Mason Starr.«
Mir klappt der Kiefer herunter. »Mason Starr? Der Mason Starr von Starr Inc.? Der ist Ihr Mandant?« Der Mann ist ein milliardenschwerer Investor und berüchtigt für feindliche Übernahmen und eine gewisse Unerbittlichkeit.
»Natürlich der. Von wem soll er sich denn sonst für seine Belange hier im pazifischen Nordwesten vertreten lassen? Von Ihrem Onkel Tobias?«
Ich schnaube. »Mein Onkel ist ein guter Anwalt. Er ist nur nicht ...« Ich breche ab.
»Nur nicht was?«, hakt Wolf nach.
Nicht so skrupellos wie du. »Nicht auf Wirtschaftsrecht spezialisiert.«
»Das muss er ja auch nicht sein. Irgendjemand muss sich schließlich auch um Tante Bettys Scheidung kümmern.«
Ich ziehe eine Grimasse und Wolf grinst mich an.
»Nichts für ungut. Jedenfalls ist Starr einer meiner wichtigsten Mandanten. Sein Unternehmen hat seinen Hauptsitz in New York City, aber er möchte hier oben auch noch ein bisschen wildern und ich werde das meiste für ihn in die Wege leiten, damit er mehr Zeit für seine Familie hat. So, wie er das beschreibt, ist eine Familie wohl schwieriger zu managen als ein Milliardenunternehmen.« Wolf schnaubt, genau wie ich vorhin. »Darum hatte ich nur einen Hund, der ging in den Hundekindergarten.«
Ich lege den Kopf schräg. »Echt?«
»Ja. Der Hundekindergarten kostete mich ein Vermögen, aber dort war er gut aufgehoben, wenn ich bei der Arbeit war. Eigentlich hätte ich mir bei meinem chronischen Zeitmangel gar kein Haustier anschaffen dürfen, aber ich konnte einfach nicht anders. Leider ist er letztes Jahr an Altersschwäche gestorben und ich habe noch keinen neuen. Ich bin mit Hunden aufgewachsen.«
»Ich hätte gedacht, Sie wurden von Wölfen aufgezogen.«
Wolf prustet los, aber dann wird er schlagartig wieder ernst. »Ich weiß noch nicht, wie ich Ihr freches Mundwerk finden soll. Eine gewisse Schlagfertigkeit imponiert mir, aber treiben Sie es nicht zu weit, Jonathan. Aus drei Monaten können auch drei Tage werden. Oder drei Stunden. Und jetzt verschwinden Sie endlich, Alison kommt gleich.«
Ich stehe auf und wende mich in Richtung Tür.
»Jonathan?«
Gerade hatte ich die Hand auf die Klinke gelegt. Ich halte inne und drehe mich um. »Ja?«
Wolf mustert mich aus zusammengekniffenen Augen. Lange. Schweigend. Mir bricht der Schweiß aus und mein Herz klopft. Ich fühle mich wie ein Verbrecher, der gleich überführt wird. Als stünde mir auf der Stirn geschrieben, was ich vorhabe, und Wolf weiß es, er weiß es genau.
»Einen erfolgreichen ersten Arbeitstag«, sagt er schließlich.
Ich sacke vor Erleichterung fast in mir zusammen. »Danke.«
Eilig verlasse ich das Büro. Ich glaube, ich brauche noch einen Espresso. Ich bin siebenundzwanzig Jahre alt und komme mir vor wie ein Vorschulkind, das gerade von seinem Lehrer gemaßregelt wurde. Wie ich es hasse!
Während ich grübelnd und grummelnd durch das Büro schlurfe, stoße ich fast mit einer Frau zusammen.
»Guten Morgen?!«, pampt sie mich an.
Erschrocken weiche ich einen Schritt zurück. »Tut mir leid, ich habe Sie gar nicht gesehen.«
»Klar, ich bin ja auch total unsichtbar.« Kopfschüttelnd stemmt sie die Hände in ihre Größe-fünfzig-Hüften. Sie ist Ende dreißig, attraktiv und füllig, mittelgroß, mit langen, kastanienbraunen Haaren. Wäre ich nicht stockschwul, würde ich wahrscheinlich auf sie abfahren. »Du bist dann wohl der neue Praktikant?«
»Ja ... ich bin Jonathan Segal. Sie sind Alison?«
»Bin ich.« Kopfschüttelnd mustert sie mich. »Wo zur Hölle gabelt Eli euch komische Vögel nur immer auf? Trink mal einen Espresso, damit du wach wirst, und dann komm in mein Büro. Es ist da drüben.«
»Geht klar.« Ich verschweige ihr, dass ich bereits einen Espresso getrunken habe. Wow, ich mache ja wirklich einen richtig guten Eindruck an meinem ersten Tag hier. Wenn ich so weitermache, werden sie mich rausschmeißen, ehe ich überhaupt in die Nähe einer Aktendatei komme.
Erneut gehe ich zum Kaffeeautomaten und lasse mir einen Espresso heraus. Ich bin nicht der Mann für starken Kaffee, aber ich muss mich konzentrieren. Bis meine Stunde gekommen ist.
»Bevor ich dir überhaupt irgendetwas zeige, musst du das hier unterschreiben«, fordert Alison und schiebt mir einen Zettel über den Tisch.
Ich nehme ihn zur Hand und lese: Verschwiegenheitserklärung. Das war zu erwarten, das ist üblich. Bei einem Passus muss ich schlucken.
»Vertragsstrafe von einer halben Million Dollar bei Verstoß?«
»Meiner Meinung nach zu niedrig angesetzt. Aber du hast ja nicht vor, was auszuplaudern, oder?« Alison hebt eine akkurat nachgezogene Braue.
»Natürlich nicht«, erkläre ich eilig. Mir war klar, dass es einen solchen Vertrag geben und dass auch die Vertragsstrafe nicht gering ausfallen würde, aber das jetzt so vor mir zu sehen, lässt mich innerlich trotzdem verkrampfen.
Ich habe vor, gegen diesen Vertrag zu verstoßen. Nur dafür bin ich hier. Aber eine halbe Million Dollar ...
Wenn es um illegale Dinge geht, erlischt die Schweigepflicht und der Vertrag ist nichtig. Ha! Wofür habe ich bitte Rechtswissenschaften studiert, wenn nicht für so was?
Schwungvoll setze ich meine Unterschrift unter den Vertrag. Wieder ein Schritt weiter.
»Schön. Also, deine Aufgaben hier werden im Wesentlichen erst mal darin bestehen, Büroarbeiten zu erledigen und Mr. Wolf zu Terminen zu begleiten. Hier hast du eine Zugangskarte zum Büro, sie gilt auch für das Gym im zwölften Stock, falls du da trainieren willst.«
»Oh, cool.«
»Fälle bekommst du als Praktikant natürlich keine eigenen, auch wenn du fertig studierter Jurist bist. Die bekommst du irgendwann, falls Mr. Wolf dich hier richtig einstellt.« Sie mustert mich skeptisch. »Was ich nicht für sonderlich wahrscheinlich halte, aber man weiß ja nie. Ich bin hier um spätestens siebzehn Uhr verschwunden, dein Feierabend ist aber erst, wenn der Boss es sagt. Mittagessen bringt uns das italienische Restaurant hier im Gebäude ins Büro. Noch Fragen?«
Ich überlege kurz. »Nein, erst mal nicht.«
»Na gut.« Alison unterdrückt ein Gähnen und schiebt mir einen großen Stapel Ordner über den Tisch. »Die kannst du da drüben im Aktenzimmer erst mal wieder einordnen. Wir sortieren klassisch alphabetisch.«
Erstaunt lege ich meine Hand auf den Stapel. »Sie führen hier noch analoge Akten?«
»Nicht grundsätzlich, aber für einige, bestimmte Mandanten bestehen die Anwälte noch auf analoge Akten, weil die Daten sehr sensibel sind und Datenbanken gehackt werden könnten. Sicher ist sicher.«
Sensible Daten, natürlich. Daten, die Wolf und seinen Mandanten gefährlich werden könnten, wenn sie in die falschen Hände geraten. Zum Beispiel in meine ...
»Okay, dann fange ich mal an.«
Zwar werde ich meine gesuchte Akte, falls sie zu den analogen gehört, mühevoll heimlich abfotografieren müssen, anstatt sie einfach auf einen USB-Stick zu laden, aber zumindest wird kein digitales System meine Schnüffelei registrieren. Ich muss an keinen Computer herankommen, der womöglich passwortgeschützt ist. Alles hat seine Vor- und Nachteile.
Ich klemme mir den Aktenstapel unter den Arm und gehe hinüber in den Raum voller deckenhoher Metallschränke. Jedes Fach, das mit verschiedenen Buchstaben von A bis Z versehen ist, ist mit einem Schloss versehen; Alison hat mir die Schlüssel mitgegeben. Ich bleibe stehen und atme tief durch. Es riecht nach Papier und verbotenen Möglichkeiten.
Ich sehe mir die erste Akte an: Guilford, Paul.
Ich suche das entsprechende Fach, öffne es und ordne die Akte zwischen Guarez, Juan und Guo, Jason ein.
Die nächste Akte. Franks, Graham. Ich ordne sie entsprechend weg, dann die nächste Akte, die übernächste. Bei der folgenden Akte bleibt mir kurz das Herz stehen: Milton, Elizabeth. Fach Me-Mi. Das Fach, das vielleicht alles enthält, wonach ich suche.
Mit zitternden Fingern stecke ich den Schlüssel ins Schloss und öffne es. Ziehe die Schublade heraus. Meabling. Medlecott. Milburn ... Mishchenko.
Mishchenko, Robert.
Bebend schwebt meine Hand über der Akte. Da ist sie. Direkt vor mir. Es kostet mich alle Selbstbeherrschung, die ich aufbringen kann, sie nicht einfach aus dem Fach zu reißen und damit davonzulaufen.
Doch das wäre zu auffällig. Viel zu auffällig. Selbst, sie jetzt in die Hand zu nehmen, würde mich sofort verdächtig machen. Ich kann das nicht am ersten Tag hier bringen, muss zuerst das Vertrauen von Wolf und Alison gewinnen, ehe ich zur Tat schreiten kann.
Und der Kamerawinkel. Den muss ich herausfinden, um mich, wenn es so weit ist, mit dem Rücken so zu ihr zu drehen, dass nicht auffällt, wie ich heimlich die Inhalte einer Akte abfotografiere.
Aber sie ist hier! Die Akte ist hier, direkt vor mir! Die Aufregung sprengt mir fast das Herz. Ich erlaube mir, mit den Fingern über den Rand der Karteikarte zu streichen, ehe ich die Dokumente von Elizabeth Milton einordne. Drei Jahre Jurastudium an der University of Washington School of Law, die Anwaltsprüfung, alles für diesen Moment.
Und wenn ich damit durch bin, werde ich vielleicht Staatsanwalt. Denn ich will für die Gerechtigkeit kämpfen und nicht Leute aus der Scheiße boxen, die Dreck am Stecken haben, egal in welcher Größenordnung.
Ich ordne den Rest der Unterlagen ein und verlasse das Zimmer. Auf dem Gang begegne ich einem großen, kräftigen, lateinamerikanisch aussehenden Mann mit einem freundlichen Gesicht. Er ist glattrasiert und hat sein schwarzes Haar mit etwas zu viel Gel nach hinten gekämmt, aber sein teurer Anzug macht das wieder wett. Ich schätze ihn auf Mitte vierzig.
»Ah, sind Sie Elis neuer Praktikant?«
Ich nicke. »Jonathan Segal.«
»Javier Ramirez. Willkommen in unserer Kanzlei.« Lächelnd streckt er mir eine Hand entgegen und ich ergreife sie. Der erste Mensch in diesem Büro, der mir auf Anhieb sympathisch ist.
»Vielen Dank. Erst mal nur auf drei Monate begrenzt, und dann sehen wir weiter.«
»Wir suchen immer nach talentierten Juniorpartnern«, weiß Ramirez zu berichten, »denn wir haben mehr zu tun, als wir zu dritt eigentlich bewältigen können. Nur erweist sich das leider als nicht so einfach.«
»Das wundert mich«, gebe ich zu. »Bei so einer prestigeträchtigen Kanzlei dachte ich, dass die Bewerber Ihnen die Bude einrennen.«
»Oh, an Bewerbern mangelt es uns nicht«, entgegnet Ramirez, »die stehen Schlange. Aber die meisten taugen leider nichts, trotz Abschlüssen an renommierten Law Schools. Für dieses Geschäft hier braucht man Biss, Jonathan. Eine gewisse Härte. Die bringt heutzutage keiner mehr mit. Aber wer weiß, vielleicht sind Sie anders? Oder wir sind zu wählerisch.«
Biss habe ich, antworte ich ihm in Gedanken. Aber ich bin nicht skrupellos, falls du das meinst.
Oder bin ich es doch? Schließlich lüge ich hier eine ganze Kanzlei an, um an mein Ziel zu kommen.
»Wo haben Sie bislang gearbeitet?«, will Ramirez wissen. »Oder haben Sie noch gar keine Erfahrung?«
»Bei meinem Onkel«, erkläre ich etwas beschämt.
»Ah, Familie ist für den Einstieg nie verkehrt. Ich habe meine ersten Fälle damals in der Kanzlei meines Großcousins bearbeitet.«
»Dann habe ich ja noch Hoffnung«, erwidere ich mit einem unsicheren Lachen.
»Ich wünsche Ihnen jedenfalls viel Erfolg«, fährt Ramirez fort. »Wir begegnen uns sicher hin und wieder. Ich muss jetzt aber an die Arbeit.«
Ramirez verschwindet in seinem Büro und ich blicke ihm hinterher. Das ist also der eine von Wolfs beiden Kanzleipartnern. Wie die wohl miteinander auskommen, so gegensätzlich, wie sie erscheinen?
Jetzt fehlt nur noch Eugene Berkowicz, aber als ich an dessen Büro vorbeikomme, ist es leer. Vielleicht kommt er später oder hat gerade frei. Laut Web-Auftritt der Kanzlei ist er deutlich älter als Wolf und Ramirez und hat diese Kanzlei gegründet.
Motiviert gehe ich zurück zu Alisons Büro, um die nächsten Aufgaben zugeteilt zu bekommen. Doch meine Gedanken bleiben bei der Akte von Robert Mishchenko.
Ich muss die typischen Hilfsarbeiten erledigen: Akten einordnen, Sachen kopieren, Kaffeetassen spülen. Nebenbei bekomme ich einiges über die Abläufe in der Kanzlei mit, sehe Mandanten ein und aus gehen. Hauptsächlich weiße Männer in feinen, teuren Anzügen, also genau die Klientel, die man hier erwartet.
Alison hat inzwischen längst Feierabend gemacht, auch Ramirez ist weg, aber Wolf ist noch da und ich ebenfalls. Verstohlen schleiche ich vor seinem Büro herum, in der Hoffnung, dass er mich entdeckt und ihm wieder einfällt, dass er mich irgendwann mal nach Hause schicken sollte.
Tatsächlich sieht er mich und winkt mich zu sich herein.
»Wie war Ihr erster Arbeitstag, Mr. Segal?«
»Ziemlich interessant«, gebe ich ehrlich zurück. »Alison ist ein Feldwebel. Und ich habe Mr. Ramirez kennengelernt. Nur Mr. Berkowicz war heute nicht im Büro?«
»Berkowicz ist so gut wie nie hier. Er macht nur noch ein paar Fälle für seine Stammklienten, ansonsten bewegt er sich mit seinen siebenundsechzig Jahren langsam in Richtung verdienten Ruhestand. Wir suchen händeringend einen Nachfolger, aber es gestaltet sich schwierig, jemanden zu finden, der zu uns passt.« Ernst sieht Wolf drein. Er wirkt zwar etwas müder als heute Morgen, aber immer noch viel zu frisch für einen so langen Arbeitstag. »Berkowicz war mein Mentor. Dank ihm wurde ich der Anwalt, der ich jetzt bin.«
Also muss Berkowicz ein ziemlicher Arsch sein.
»Vielleicht sollten Sie es so machen wie er und für jemanden als Mentor fungieren. So ist es wahrscheinlicher, jemand Passenden zu finden, als darauf zu warten, dass jemand auftaucht, der schon genauso ist, wie Sie es sich wünschen.«
Wolf mustert mich interessiert. »Sie sagen also, ich solle Sie mir zurechtziehen, Mr. Segal?«
»So hab ich das nicht gesagt«, gebe ich erschrocken zurück.
Amüsiert lacht er auf. »Oh, doch, das haben Sie.« Er lehnt sich zurück und verschränkt locker die Arme. »Ich mag Ihre Gewitztheit, das muss ich zugeben. Ihre Ideen, mit denen Sie hervorpreschen. Vielleicht denke ich über Ihren Vorschlag nach.«
Ich habe nicht vor, länger hierzubleiben, als nötig.
»Okay.« Ich räuspere mich und sage nichts weiter.
»Ja, meine Güte, nun gehen Sie schon.«
»Wirklich? Ich–«
»Machen Sie Feierabend, Mr. Segal. Und seien Sie morgen pünktlich.«
Ich werfe einen verstohlenen Blick auf die Uhr. Es ist schon weit nach sieben. Wie lange will der Mann hier noch herumsitzen? Außer ihm ist niemand weiter da.
Aber das soll nicht meine Sorge sein. Ich hole mir jetzt schnell etwas zu essen, und auf der Heimfahrt werde ich darüber nachdenken, wie ich so unauffällig wie möglich die Inhalte von Mishchenkos Akte dokumentieren kann.
Für meine Antworten.
Es ist zwar schon spät, längst dunkel, und ich bin müde, aber ich habe meinem Vater versprochen, ihn heute noch zu besuchen, und ich werde dieses Versprechen halten.
Statt also direkt nach Hause zu fahren, mache ich einen Abstecher zum Herzl Memorial Park. Das von Buchsbäumen und Thujen gesäumte Tor steht noch offen und ich trete zaghaft ein. Auch wenn ich nicht an Spuk und Geister glaube, finde ich Friedhöfe in der Nacht zum Gruseln.
Mit meiner Handytaschenlampe in der Hand laufe ich die gepflegten Wege entlang, bis ich das Grab finde, das ich suche.
CARL MOSHE SEGAL 1964-2018.
Ein tiefer Seufzer entkommt meiner Brust. Dad.
»Hey«, sage ich leise und hoffe, dass sich niemand anderes auf dem Friedhof befindet. Zumindest keiner, der lebt. »Du wirst nicht glauben, wo ich heute angefangen habe, zu arbeiten. In der Kanzlei von Eli Wolf. Und ich hab sie gesehen ... Mishchenkos Akte. Verstehst du, ich werde für Gerechtigkeit sorgen. Gerechtigkeit für dich. Ich werde niemals akzeptieren, dass er für das, was er uns angetan ist, nicht hinter Gitter gekommen ist – dank diesem verdammten Eli Wolf. Wie moralisch bankrott muss man sein, so jemanden zu verteidigen? Ich habe Jura studiert, obwohl ich das nie wollte, nur um diesen Weg zu beschreiten. Für dich, Dad. Du fehlst mir.«
Ein Windstoß summt durch die hohen Nadelbäume auf dem Friedhof, lässt sie geisterhaft singen und wie monströse Schatten tanzen. Ein paar Regentropfen treffen mich. Sicher wird es gleich wieder schütten.
»Ich wollte dich auch noch um Vergebung bitten«, fahre ich fort. »Wegen Ted. Ich hab Frieden mit ihm geschlossen. Bitte denk nicht, dass er dich ersetzen kann und wir dich vergessen! Ich will nur, dass Mom auch glücklich ist und nicht für immer allein. Ted ist freundlich. Bitte verzeih uns. Du wirst immer der Wichtigste für uns bleiben.«
Der Wind flaut ab, als wollte mein Vater mir sagen, dass alles entspannt ist, alles in Ordnung. Ich bin ein wenig erleichtert. Nein, eigentlich sogar sehr.
Die Gerechtigkeit, für die ich sorgen werde, macht meinen Dad zwar nicht wieder lebendig, aber es geht eben auch ums Prinzip. Um meinen, um unseren Seelenfrieden.
Am nächsten Morgen, nach einer Nacht mit viel zu wenig Schlaf, bin ich schon um halb sechs im Büro. Tatsächlich bin ich diesmal der Erste, weder Wolf noch irgendjemand anderes ist schon da.
Jetzt könnte ich eigentlich ungestört herumschnüffeln, wenn da nicht die Kameras wären. Ich muss herausfinden, wo sie sind.
Lässig schlurfe ich durch die Gänge und sehe mich wie zufällig immer wieder um. Da ist eine. Und dort drüben auch. Und da ... das ganze Büro ist überwacht wie ein Hochsicherheitstrakt. Eine Anwaltskanzlei! Aber eben nicht die von meinem Onkel ...
Im Aktenraum entdecke ich zwei Kameras, was nicht heißt, dass da nicht noch mehr sind. Ich werde wohl eher herausfinden müssen, wie ich mich in das Überwachungssystem einloggen kann, um einige Kameras gezielt für ein paar Minuten abzuschalten oder deren Winkel zu verändern.
Ich hatte mir das alles einfacher vorgestellt. Aber das war naiv. Unglaublich naiv. Wie mein ganzer Plan wahrscheinlich, aber jetzt bin ich schon so weit gekommen, jetzt ziehe ich das auch durch.
Wolf erscheint zuerst, grüßt mich nur kurz und verschwindet in seinem Büro. Alison kommt wie üblich um halb acht, fast zeitgleich mit Ramirez und Zoe von der Anmeldung. Wozu ich so zeitig hier sein soll, erschließt sich mir nicht, es ist wohl einfach nur Schikane.
Den Rest des Tages muss ich wieder Akten einordnen, kopieren, aufräumen, Tassen spülen. Und so geht es weiter, die ganze Woche. Ich sehe Wolf meist nur morgens und abends oder wenn ich an seinem Büro vorbeilaufe, aber er ruft mich nie herein, spricht nicht mit mir.
Mir soll es recht sein, am liebsten würde ich ganz unter seinem Radar fliegen und ihn vergessen lassen, dass ich existiere. Je nahtloser ich mich in dieses Büro einfüge, desto ungestörter kann ich mich hier bewegen. Das ringt mir eine Menge Geduld ab, aber die muss ich aufbringen, um nicht alles zu versauen.
Doch in der Woche darauf, am Dienstagabend, ist etwas anders. Ich schleiche wie üblich vor Wolfs Büro herum, damit er mich in den Feierabend schickt, als ich bemerke, dass er gerade telefoniert und dabei hektisch gestikuliert. Er wirkt wütend, nicht so kalkuliert und beherrscht wie sonst.
»Das ist eine absolute Scheiße!«, höre ich seine Stimme dumpf durch das Glas und verberge mich in einem toten Winkel, damit er mich nicht sieht. »Wieso zur Hölle fällt dir das genau jetzt ein?«
Die Person am anderen Ende antwortet offenbar, Wolfs Kiefer mahlen und seine freie Hand ballt sich zur Faust.
»Großartig. Ganz großartig. Und was soll ich ihnen dann sagen? ... Ach so ... Sicher ... Weißt du was? Leck mich. Leck mich einfach.« Sichtbar angepisst legt er auf.
In geduckter Haltung versuche ich, mich unauffällig davonzuschleichen.
»He, Sie! Jonathan!«
Shit.
Ich zucke zusammen und drehe mich langsam um. Wolf steht in der Tür. »Ja? Ich schwöre, ich hab nicht gelauscht!«
»Oh, natürlich haben Sie gelauscht, ich habe doch gesehen, wie Sie sich in der Ecke herumdrücken.«
»Es tut mir leid, das war wirklich keine Absicht, ich–«
»Was haben Sie am Samstag vor?«
»Am – am Samstag?« Verwirrt kratze ich mich an der Schläfe. »Eigentlich nichts, warum?«
»Gut. Dann begleiten Sie mich zur Bat Mitzwa meiner Nichte.«
»Ich soll was?«, frage ich verdutzt.
»Sie schulden mir was für Ihre dreiste Lauscherei. Außerdem ist meine Begleitung gerade ausgefallen und ich kann dort unmöglich allein auftauchen. Das gäbe wieder Gerede und dumme Fragen und Verkupplungsversuche, auf die ich wirklich so gar keine Lust habe.«
Noch immer verwirrt runzle ich die Stirn. »Aber ... aber wenn Sie da mit einem Mann als Begleitung auftauchen, gibt es kein Gerede?«
»Himmel, nein. Es würde vielmehr Gerede geben, wenn ich plötzlich mit einer Frau auftauche. Also, kommen Sie mit, Jonathan?« Es klingt nicht wirklich wie eine Frage, mehr wie eine Feststellung.
»Meinetwegen ...«
»Gut. Ziehen Sie sich angemessen an, wir treffen uns hier am Bürogebäude. Die Synagoge lassen wir aus und gehen direkt zur Feier. Und jetzt verschwinden Sie.«
Wie vor den Kopf gestoßen trolle ich mich und versuche, auf dem Weg nach draußen meine Gedanken zu ordnen. Ich soll Eli Wolf mal eben zu einer Familienfeier begleiten, weil sein eigentlicher Begleiter ihn offenbar versetzt hat? Und – noch viel interessanter – es würde Gerede geben, wenn er plötzlich mit einer Frau auftauchte? Das heißt, seine Familie ist es gewohnt, dass er mit Männern aufkreuzt?
Er ist schwul. Eli Wolf ist schwul.
Die Erkenntnis trifft mich wie ein Faustschlag, obwohl sie für meine Mission eigentlich gar keine Rolle spielt. Diese große Gemeinsamkeit mit ihm zu haben, fühlt sich unglaublich seltsam an, versetzt mich in eine eigenartige Aufregung, die ich nicht zuordnen kann.
Vorwort
1: Rache
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
2: Jagd
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
3: Gerechtigkeit
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Epilog - Eli Wolf
Nachwort
Leseprobe - Kitty Vegas
Leseprobe - Bittersweet Secrets
