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Eine Sammlung von 8 Kurzgeschichten aus der Feder von Jona Dreyer – von humorvoll über romantisch und spicy bis nachdenklich! Enthält folgende Kurzgeschichten: Sechs Särge und ein Kapitän, 18 Jahre später, Septemberhimmel, Was ist unter Grahams Schottenrock?, Weil du mein Lied bist, Der Herbst seines Lebens, Der Fahrstuhl, Fröhliche Geweihnachten
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Vorwort
Sechs Särge und ein Kapitän
18 Jahre später
Septemberhimmel
Was ist unter Grahams Schottenrock?
Weil du mein Lied bist
Der Herbst seines Lebens
Der Fahrstuhl
Fröhliche Geweihnachten
Nachwort
Leseprobe - Der Wind auf deiner Haut
Gay Drama
© Urheberrecht 2025 Jona Dreyer
Impressum:
Tschök & Tschök GbR
Alexander-Lincke-Straße 2c
08412 Werdau
Text: Jona Dreyer
Coverdesign: Jona Dreyer
Coverbilder: Depositphotos
Kurzbeschreibung:
Eine Sammlung von 8 Gay-Romance-Kurzgeschichten von humorvoll über romantisch und spicy bis nachdenklich.
Über die Autorin
»Fantasie ist wie ein Buffet. Man muss sich nicht entscheiden – man kann von allem nehmen, was einem schmeckt.«
Getreu diesem Motto ist Jona Dreyer in vielen Bereichen von Drama über Fantasy bis Humor zu Hause. Alle ihre Geschichten haben jedoch eine Gemeinsamkeit: Die Hauptfiguren sind schwul, bi, pan oder trans. Das macht sie zu einer der vielseitigsten Autorinnen des queeren Genres.
In diesem Jahr, 2025, feiere ich meinen 10. Autorengeburtstag. Es ist unglaublich, wie viel Zeit vergangen ist, seit mein erster Roman erschienen ist, und wie viele treue Leser ich in all den Jahren gewonnen haben.
In dieser Zeit ist viel passiert und viel entstanden – darunter auch eine Reihe von Kurzgeschichten für Anthologien, von mir selbst und von anderen Autoren herausgegeben. Viele dieser Anthologien, und damit auch meine Kurzgeschichten, sind mittlerweile gar nicht mehr erhältlich. Unter den Titeln der Geschichten habe ich die kleine Information ergänzt, in welchem Jahr sie jeweils erschienen sind.
Hier präsentiere ich euch nun meine Sammlung kleiner Geschichten von witzig über romantisch und spicy bis ernst nachdenklich. Lesehäppchen für zwischendurch, für die Momente, in denen man keine Zeit für einen ganzen Roman hat, aber die Fantasie ein bisschen treiben lassen möchte.
Sicher wird nicht jedem jede Geschichte gefallen – aber ganz sicher ist für jeden etwas dabei.
Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen.
Sechs.
Eigentlich hatte ich mir schon bei Drei gesagt, dass ich ab jetzt mit Zählen aufhöre, aber meine Vorsätze haben sich in den Fjordwind zerstreut und ich bin mittlerweile bei der doppelten Anzahl an Leichensäcken angekommen.
»Manchmal würde ich sie einfach gerne über Bord werfen. Sie wollen es ja im Grunde nicht anders.« Unser Schiffskapitän, der auf den wunderhübschen Namen Kristian Kristiansen hört, so wie der berühmte norwegische Entdecker, lehnt sich seufzend mit den Unterarmen auf die Reling. Sein nasaler, norwegischer Akzent verleiht dieser eigentlich tragischen Aussage etwas unfreiwillig Komisches.
»Du meinst, so als Strafe für zwei Wochen Dauerbeschallung mit der Schwarzwaldklinik?«
»Als Strafe dafür, dass in jedem Hafen der Bestatter gerufen werden und eine Menge Papierkram erledigt werden muss. Und dass sie den anderen den Urlaub versauen, indem sie einfach sterben. Können die damit nicht warten, bis sie wieder zu Hause sind? Oder gar nicht erst auf ein Kreuzfahrtschiff steigen, wenn sich der Sensenmann schon mit in den Koffer zwängt?«
»Jetzt sei doch nicht so«, erwidere ich und tätschele ihm mitleidig die Schulter. Ich suche übrigens ständig Gründe, ihn anzufassen. Bedauerlicherweise kommen wir seit Beginn dieser Kreuzfahrt nie über das Schultertätscheln hinaus, weil uns ständig tote Rentner dazwischengrätschen. »An deren Stelle würde ich mich wohl auch auf ein Kreuzfahrtschiff setzen, wenn mir der Gevatter schon mit der Sense winkt. Wenn du dir aussuchen könntest, wo du abtrittst, was würdest du wählen? Auf einem schicken Dampfer mit einem Cocktail in der Hand oder während Schwester Biggi vom Pflegedienst Kasupke dir die Fußnägel klippt?«
»Ja, ja, ich weiß.« Kristian seufzt und dreht unruhig seine Kapitänsmütze in den Händen. »Ich hätte doch Architekt werden sollen. Oder Fernsehmoderator.«
»Oder Bestatter«, pflichte ich bei.
Er knufft mich lächelnd in die Seite. Ein wohliger Schauer durchfährt meinen Körper. Wenn ich einen Mann so heiß finde, dass mir selbst im kalten Nordwind der Schweiß ausbricht, dann ist es Kristian Kristiansen. Dunkle Haare, stechend blaue Augen, ein gewinnendes Lächeln und ein Körper zum Niederknien, auch gern im wortwörtlichen Sinne. Jeder Traumschiffkapitän aus dem Fernsehen ist gegen ihn ein Würstchen im Schlafrock.
»Wann legen wir wieder ab?«, erkundige ich mich, während wir beobachten, wie Oma Ruth mit den Füßen voran von Bord transportiert wird. Der bunte Hafen von Kirkenes mit den moosbewachsenen Hügeln im Hintergrund zeigt sich unbeeindruckt von unserem Drama auf See.
»Hoffentlich pünktlich am Mittag«, erwidert Kristian. »Ich will heute Nachmittag wie geplant in Vardø andocken. Hoffentlich gibt es auf der Flussfahrt nicht auch noch Tote.« Er fletscht die Zähne wie ein bissiger Wolf.
»Und wenn schon. Dann hätten wir noch einen weniger, der uns auf die Nerven gehen kann.«
»Wehe, es beschwert sich wieder jemand bei mir wegen der Verzögerungen. Was kann ich denn dafür? Ich kann die Leute ja wohl schlecht in eine Gefriertruhe packen und sie in Svolvær gesammelt abholen lassen.«
»Was spricht dagegen?«
Kristian hebt eine Braue. »Zu wenig Gefriertruhen.«
Wir lachen boshaft in uns hinein. Heute haben wir auf unserer Kreuzfahrt an der Küste Norwegens die Grenze zu Russland erreicht. Viele Passagiere haben sich von Bord begeben, um eine kleine Schifffahrt auf dem Fluss Pasvik zu unternehmen, der genau entlang der Grenze führt. Nun ja, bis auf Oma Ruth. Die hat den Styx bevorzugt und feilscht nun vermutlich mit dem Fährmann. Kirkenes ist gleichzeitig der Punkt, an dem wir umkehren und uns wieder südwärts bewegen. Dem Ende dieser Albtraumkreuzfahrt entgegen.
Unglaubliche sechs Tote haben wir seit Beginn dieser Reise zu verzeichnen. Sechs. Jeden verfickten Tag stirbt jemand und jedes Mal kommt man sich ein bisschen vor wie in Tod auf dem Nil von Agatha Christie. Es ist nicht so, dass es außergewöhnlich ist, dass auf einem Kreuzfahrtschiff jemand stirbt. Wir haben für solche Fälle sogar tatsächlich einen Kühlraum an Bord, in dem wir die Verstorbenen aufbahren können, bis wir den nächsten Hafen erreichen. Aber jeden Tag einer? Irgendeine höhere Macht will uns hier eindeutig in die Suppe spucken.
Kristian räuspert sich und schenkt mir einen beinahe verlegenen Blick. »Ich wollte dich noch etwas fragen. Heute Abend wird es durch das Captain’s Dinner zwar etwas später, aber hättest du danach vielleicht ein wenig Zeit für mich?«
Mein Herz schlägt ein paar Takte schneller. Seit Tagen hoffe ich auf eine solche Einladung, auf etwas Zeit mit Kristian allein, aber ich habe mich nie getraut, zu fragen, weil durch die ständigen Zwischenfälle alles durcheinandergeraten ist und er ziemlich gestresst wirkte. Nicht die besten Voraussetzungen, um hoffentlich ein wenig auf Tuchfühlung zu gehen. »Natürlich«, versichere ich. »Für dich habe ich immer Zeit.«
Er schenkt mir ein strahlendes Lächeln, das mich vor Glück beinahe über die Reling reihern lässt. Dann verabschiedet er sich vorerst von mir, weil er zu arbeiten hat. Wie ich auch. Ich bin–
»Helgeeeeeeeeeeeeeee!«
Das Blut gefriert mir in den Adern, als ich Anita meinen Namen rufen höre. Anita ist fünfundsiebzig, geht an Krücken und hat eine Stimme, wie wenn man in eine rostige Gießkanne bläst. Sie ist ein Quälgeist vor dem Herrn und ich werde vermutlich in der Hölle schmoren, weil ich mir neulich gewünscht habe, dass sie die Nächste ist, die das Schiff mit den Füßen voran verlässt. Daran denkt Anita aber freilich nicht. Wie sollte sie mich dann auch weiterhin terrorisieren?
»Helgeeeeeeeeeeeeeee!«, ruft sie noch einmal, als ich nicht schnell genug reagiere. »Komm her und hilf mir!«
Ihre Aussprache klingt merkwürdig verwaschen. Lauert hier etwa der nächste Schlaganfall? Bekommt man beim Bestatter irgendwann Mengenrabatt?
»Anita!«, antworte ich und eile zur Stelle. »Was ist los?«
»Mein Gebich!«, schnarrt sie.
»Dein Gebüsch?«, wiederhole ich verwirrt. Vor meinen Augen entstehen Bilder, die mich bis in meine schlimmsten Albträume verfolgen werden. Wäre ich nicht schon schwul, würde ich es wohl spätestens jetzt werden. Ich will schon wieder über die Reling reihern, aber diesmal aus anderen Gründen.
»Mein Gebi-hich!« Sie zieht die Lippen vom Zahnfleisch und ich erkenne mit Entsetzen, dass sie nur noch einen einzigen Zahn im Mund hat. »Ech icht inch Wacher gephallen!«
»Oh.« Nicht lachen, Helge. Bloß nicht lachen. Ich habe das Gefühl, als müsste ich gleich platzen. »Ähem. Das tut mir leid, Anita.«
»Du mucht wach machen!«, drängt sie und haut mir mit ziemlichem Nachdruck ihre Krücke gegen das Schienbein.
Ich hüpfe winselnd im Kreis. »Was soll ich denn machen?«
»Hol ech rauch!«
»Anita ...« Ich taumle gegen die Reling. »Dein Gebiss ist ins Meer gefallen«, erkläre ich langsam. »Ich kann es da nicht rausholen.«
»Hacht du kein Netch? Keine Angel?«
»Die Wahrscheinlichkeit, dein Gebiss damit zu erwischen, geht gegen Null.« Unwillkürlich muss ich mir vorstellen, wie eine Fjordforelle mit Anitas Gebiss im Maul durch die Gegend schwimmt und ihren Artgenossen damit Angst einjagt. Nicht lachen, Helge!
»Wach choll ich denn jetcht machen? Ich kann doch gar nicht kauen! Du mucht wach machen, dach geht cho nicht.«
»Ich kann dir das Essen klein schneiden«, biete ich an. Damit du es auf den Felgen mümmeln kannst.
»Ich werde mich bei der Reicheleitung beschweren«, verkündet sie und reckt trotzig das Kinn, an dem borstige Haare sprießen.
»Worüber denn?«
»Dach ich mein Gebich verloren habe.«
»Aber dafür können wir ja nichts.«
Sie gibt einen grunzenden Laut von sich und stiefelt mit ihren Krücken, von denen ich heimlich glaube, dass sie sie gar nicht braucht, erstaunlich schnell davon.
Welcher dumme Geistesblitz hat mich noch mal dazu bewegt, Animateur auf einem Kreuzfahrtschiff zu werden? Hätte ich vorher geahnt, wie mein Tagesprogramm hier aussieht, wäre ich gleich Altenpfleger geworden. Oder Bestatter. Ein Bestatter muss mit seiner Kundschaft wenigstens nicht O la Paloma singen und im Sitzen tanzen oder Bingo spielen. Und ihr Gebiss brauchen die auch nicht mehr.
Seufzend begebe ich mich in die Panorama-Lounge, wo dröhnend eine weitere Folge der Schwarzwaldklinik über den Flatscreen flimmert. Die rüstigen Damen bekommen feuchte Höschen von Klausjürgen Wussows Anblick, oder vielleicht auch, weil die Inkontinenzeinlagen versagen. So genau will ich es nicht wissen.
»Helgilein!« Sofort hängen mir links und rechts zwei Greisinnen am Arm. »Was war denn mit der Ruth los? Wir sind alle noch ganz aufgebracht!«
»Die Ruth ist in die ewigen Jagdgründe eingegangen«, verkünde ich pathetisch. »Herzinfarkt bei der Morgengymnastik.«
»Ach herrje.« Rosemarie, eine freundliche, betagte Dame mit Pelikanhals und Perlenohrringen, tätschelt mir den Arm. »Armes Ding.« Ich bin mir nicht sicher, ob sie mich meint, weil ich die Morgengymnastik angeleitet habe, oder doch Ruth.
»Sport ist Mord, das habe ich ja schon immer gesagt«, ätzt Gisela von der anderen Seite. »Meine Schwester hat immer Sport gemacht, und was war? Mit sechzig ist sie gestorben. Krebs. Ich hab nie was gemacht und leb’ immer noch.«
Gib Gott, dass der Zustand bis zum Ende der Kreuzfahrt anhält.
»Ah, Herzchen!« Mit klimpernden Armreifen und Sonnenbrille im Haar, obwohl das Wetter ziemlich düster ist, rauscht Erika auf mich zu. Erika ist eine fesche Witwe, die die Figur eines Topmodels hat, allerdings die Haut einer Galapagos-Schildkröte. Ihre ständigen Begleiter sind die geifernden Blicke von Reinhold und Helmut. Reinhold ist übrigens Anitas Ehemann. »Gut schaust du aus.« Sie lässt ihre grell manikürten Finger über meine Brust laufen. »Kann ich dich mal kurz sprechen?«
»Klar.«
Ich bin fast dankbar, als sie mich von Rosemarie und Gisela wegzieht, denn die beiden sind zwar liebenswürdig, aber sehr vereinnahmend. Und sie würden Erika mit ihren Blicken töten, wenn sie es könnten.
»Also heute ist doch das Captain’s Dinner«, beginnt sie und zupft den Kragen meines Polohemds zurecht. »Ich hätte eine Frage. Der Kapitän Kristiansen – hat der eine Frau?«
»Nein«, erwidere ich. Wird er auch nie haben. Er ist nämlich schwuler als eine Horde verzweifelter Matrosen. »Wieso?«
»Och ...« Sie winkt ab. »Hat mich nur interessiert. Stelle ich mir auch schwierig vor, so eine Beziehung, wenn der Mann die ganze Zeit unterwegs ist.«
»Tja.« Ich zucke grinsend mit den Schultern. »Entweder, man ist geduldig, oder man reist mit.« Erika ist also scharf auf Kristian. Nicht, dass mich das sonderlich überrascht. Er ist hier der Traum aller schlaflosen Nächte, inklusive meiner.
»Zum Mitreisen braucht man schon Zeit«, sinniert sie und ich weiß genau, dass sie in Gedanken hinzufügt, dass sie die als Rentnerin ja schließlich hätte.
Weit gefehlt, Erika. Ich bin derjenige, der sich heute hoffentlich mit dem Captain in die Kajüte verzieht. Möge der nordische Meeresgott Ægir dafür sorgen! Ich habe es verdient, finde ich. Ich habe Mund-zu-Mund-Beatmung bei Ruth gemacht. Und sogar vorgestern bei Opa Hermann, bis der Schiffsarzt kam. Der fragte dann auch gleich, ob ich ebenfalls Hilfe brauche, denn ich muss ziemlich blass ausgesehen haben.
Seufzend mache ich mich daran, den Schlagernachmittag vorzubereiten, der stattfindet, sobald wir wieder vom Hafen ablegen. Zwei Stunden Andrea Berg und Helene Fischer, die volle Dröhnung, um die Zeit bis zur Ankunft in Vardø zu vertreiben. Und immer wieder die Unsicherheit, ob ich das lebend überstehe oder doch irre lachend von Bord springe. Sascha Hehn grinst schmierig aus dem Fernseher. Ich will Bestatter werden.
Tatsächlich ist die ganze Truppe vollzählig von ihrem Ausflug zurückgekehrt und wir legen einigermaßen planmäßig ab. Während des Schlagernachmittags wundere ich mich einmal mehr, wie ich dieses Leben ohne Drogen durchhalte. Aber die Antwort auf diese Frage trägt eine schwarz-weiß-goldene Uniform, hat einen Knackarsch und gönnt sich anscheinend gerade eine Pause von der Kommandobrücke. Endlich haben wir im Hafen von Vardø angelegt, der sich auf einer kleinen, vorgelagerten Insel befindet. Ich eile zu ihm nach draußen, bevor ich festgequatscht werde.
»Kristian!«, rufe ich.
Er bleibt stehen und dreht sich lächelnd zu mir um. »Na, hörst du wieder schöne Musik?«
»Wunderschöne. Ich bin begeistert von unseren Heimatmelodien. Aber mal im Ernst: Warum haben wir Deutschen eigentlich die beschissenste Volksmusik der ganzen Welt? Hör dir mal russische oder irische Volksmusik an, ein Genuss. Aber bei uns? Hum-ta-ta. Nur Polka ist schlimmer. Oder tschechische Blasmusik.«
Entschuldigend hebt Kristian die Hände. »Das kann ich dir auch nicht beantworten, weil ich glücklicherweise Norweger bin.«
Seufzend lasse ich die Arme baumeln. »Hast du’s gut. Hier ist es wirklich schön.« Ich richte meinen Blick auf die bunten Häuser, die sich auf die Insel drängen und einen stillen, aber irgendwie auch fröhlichen Frieden ausstrahlen. Hier würde ich gerne mal Urlaub machen. So richtig. Ohne Arbeit und Rentner. »Ich habe Sehnsüchte.«
Kristian lehnt sich mit dem Ellenbogen auf die Reling und mustert mich mit einem verträumten Lächeln, von dem ich immer kaum glauben kann, dass es mir gelten soll. »Erzähl mir davon.«
Ich seufze erneut. »Diese Sehnsüchte beinhalten Urlaub. Und Norweger und Hum-ta-ta.«
»Du meinst jetzt so vom Rhythmus her?« Ein kleines Grinsen stiehlt sich auf seine schön geschwungenen Lippen und der Wind zerzaust ihm die ordentliche Frisur.
»Ja. Ich habe zu viele Schlager und Volksmusik gehört, tut mir leid.«
»Sehnsüchte sind dazu da, erfüllt zu werden«, entgegnet Kristian vieldeutig und gleitet mit den Fingern beinahe zärtlich über das Geländer. Ich will das verdammte Geländer sein!
Ich trete einen Schritt näher. Muss mich zusammenreißen, um nicht die Arme um seine schmale Taille zu schlingen und mich an ihn zu drücken. Obwohl eine steife Brise weht, habe ich das Gefühl, seinen Atem auf meinem Gesicht zu spüren, dieses sanfte, warme Kitzeln. Nicht nur die Brise ist steif. Gott, wenn wir doch nur allein sein könnten ...
»Helgeeeeeeeeeeeeeee!«
Vor Schreck mache ich einen Satz, der mich beinahe über Bord gehen lässt, aber Kristian hält mich geistesgegenwärtig am Hosenbund fest, bevor ich ins Wasser klatsche und Raubfische mit Rentnergebissen mich zum Kaffee verspeisen.
»Helgeeeeeeeeeeeeeee!«
»Ja, ist ja gut, Anita, ich komme gleich!«
»Was will sie?«, erkundigt sich Kristian schreckensbleich.
»Mich terrorisieren. Heute Morgen ist ihr das Gebiss ins Meer gefallen und ich sollte es mit einer Angel herausfischen. Ich will gar nicht wissen, was jetzt los ist.«
»Ich denke, ihr ist der Fiffi vom Kopf geflogen«, mutmaßt Kristian mit einem kritischen Blick in ihre Richtung.
»Was?« Ich drehe mich kurz um. »Oh, nein, sie sieht immer so aus.«
»Helgeeeeeeeeeeeeeeee!«
Kristian zieht eine schmerzhafte Grimasse. »Du Armer. Komm doch nachher mal zur Kommandobrücke, wenn du Zeit hast. Vor dem Abendessen.«
»Um was zu tun?«, raune ich.
Er zwinkert mir nur anzüglich lächelnd zu und wendet sich ab. Mistkerl. Lässt mich einfach hier stehen. Glücklicherweise verabschiedet sich meine Halblatte direkt wieder, als Anita zum dritten Mal meinen Namen kreischt. Ich spreche ein kurzes Gebet und schlendere zu ihr hinüber.
»Anita, meine Liebe. Was ist denn?«, frage ich leidvoll.
»Du mucht mir einen Rollchtuhl holen.«
»Warum? Ist dir nicht gut?«
»Ich will nicht chelber chur Lounge laufen«, erklärt sie und tippt ungeduldig mit ihrer Krücke auf das Schiffsdeck.
Habe ich mich gerade verhört? »Du willst nicht oder du kannst nicht?«
»Ich will nicht.«
»Äh ... also Shuttleservice an Deck gibt es hier eigentlich nicht.«
Ihr Blick verdüstert sich und ich bekomme Angst, dass sie mich entweder gleich mit ihren Krücken verprügelt oder in ohrenbetäubendes Geschrei ausbricht oder beides. Keine Zähne mehr im Mund, aber La Paloma pfeifen. So was kann ich leiden. Ich sollte wohl besser einen Rollstuhl besorgen, denn Anita ist genau der Typ Passagier, der sich lautstark bei der Reiseleitung beschwert, wenn man ihm nicht den Hintern nachträgt. Und ich will meinen Job behalten, auch wenn er mich gelegentlich an den Rand des Wahnsinns treibt. Denn nur hier kann ich Kapitän Kristian Kristiansen sehen und Zeit mit ihm verbringen. Er ist es wert. Für ihn schlage ich mich auch mit Anitas und Hermanns und Giselas herum, und die verlassen nach spätestens zwei Wochen das Schiff, aber Kristian ist noch da. Und ich auch. Also ergebe ich mich meinem Schicksal und mache mich auf den Weg, um Anita einen Rollstuhl zu holen.
»Und bring einen Kaffee mit!«, brüllt sie mir hinterher.
Ja doch. Haben wir eigentlich Rattengift an Bord?
Es war nicht einfach, mich von den Rentnerinnen loszureißen, um noch rechtzeitig vor dem Galadinner zur Kommandobrücke zu gelangen. Ich musste dafür Rieke opfern, meine Kollegin, die die gleiche bescheidene Berufswahl getroffen hat wie ich. Kaltblütig habe ich sie in die Lounge voller bingowütiger Greise gestoßen, direkt in ihr Verderben, um mich meinem eigenen Vergnügen zu widmen. Ich werde dafür ganz sicher in der Hölle landen. Ich spüre Gaby Dohms missbilligenden Blick direkt vom Fernsehbildschirm noch immer in meinem Rücken.
Aber was tut man nicht alles, um dem Mann seiner Träume näherzukommen? Ich erinnere mich noch lebhaft an den Tag, an dem wir uns zum ersten Mal begegnet sind. Ich war gerade frisch getrennt, weil mein Exfreund nicht mehr damit klarkam, dass ich beruflich so viel unterwegs bin. Da erschien dieser höllisch heiße Schiffskapitän in seiner schwarz-weiß-goldenen Uniform vor mir, die Kapitänsmütze locker in der Hand und ein Lächeln auf den Lippen. Sascha Hehn kann einpacken! Aber der ist ja mittlerweile sowieso schon circa hundert.
»Kristiansen ist übrigens stockschwul«, verkündete mir Rieke so ganz nebenbei und weder Kristian noch ich wissen, wie sie das herausgefunden hat.
Aber ihrer Aufforderung, mich doch mal an ihn heranzumachen, habe ich nach kurzem Zögern und Zweifeln Folge geleistet. Ich habe mich an ihn herangepirscht. Unsere Unterhaltungen wurden freundschaftlich, dann flirty. Meine Pläne, vielleicht doch noch mal zur Uni zu gehen und etwas anderes zu machen, lösten sich schlagartig in Luft auf. Wenn ich diesen Traumschiffkapitän dafür haben kann, mache ich auch noch für den Rest meines Lebens Sitzgymnastik und Pflaumensaft-Wetttrinken mit Herta und Siegfried. Die alten Leute mögen mich schließlich. Wahrscheinlich löse ich so eine Art Enkel-Komplex in ihnen aus.
Glücklicherweise gelange ich ungesehen zur Kommandobrücke. Das Schiff ist inzwischen wieder auf See und steuert den nächsten Hafen an. Schüchtern betrete ich das Steuerhaus. Es jagt mir immer noch einen gehörigen Respekt ein. Schon als Kind haben mich Schiffe fasziniert. Für eine nautische Laufbahn war ich ungeeignet, aber durch meinen Job als Animateur bin ich über Umwege doch noch dauerhaft auf ein Schiff gelangt. Hier bewohne ich kostenlos meine eigene Kabine und werde gratis verpflegt. Und die meiste Zeit macht mir die Arbeit auch Spaß, denn ich verbringe eine lustige Zeit in einer großartigen Umgebung, sehe viel Natur und atme die frische Meeresluft. Und Kristians Duft, wenn er an mir vorübergeht. Aber diese Kreuzfahrt hier ... die ist schon ziemlich besonders. Skurril besonders.
Einen Moment genieße ich noch den großartigen Ausblick, den man hier vom Steuerhaus hat. Es liegt höher als der Rest des Schiffes und durch die Panoramafenster lässt sich die norwegische Küste ganz hervorragend bewundern. Gerade jetzt im Sommer, wo die Sonne nie wirklich untergeht und alles in ein warmes, goldenes Licht getaucht bleibt, wenn es nicht gerade bewölkt ist.
Ich räuspere mich leise, um auf mich aufmerksam zu machen. Kristian dreht sich um, entdeckt mich und wendet sich kurz an seinen ersten Offizier, um ihm etwas mitzuteilen. Dann steht er auf und kommt zu mir herüber.
»Toilettenpause«, raunt er mir zu und zieht mich verstohlen mit sich ins Personalklo. Er schließt ab. Mein Herz rast vor Aufregung. »Geht es dir gut?«
»Ja, ja«, versichere ich. »Es ist nur nicht einfach, jeden Tag zu lächeln und gute Laune zu verbreiten, vor allem, wenn einem die Passagiere am letzten Nerv sägen.«
»Setz sie vor die Schwarzwaldklinik«, murmelt er und drückt mich sanft gegen die Wand.
»Ich glaube, da sind mittlerweile alle Folgen durch.«
»Das Traumschiff?«
»Ich ertrage Sascha Hehn nicht mehr. Der verdirbt mir noch meine Freude an Schiffskapitänen.«
Kristians blaue Augen werden groß. »Das darf natürlich nicht passieren. Tatort?«
»Würde zu den vielen Todesfällen passen«, sinniere ich. »Gute Idee, Captain.«
»Mmh.« Er nähert sich mir noch weiter, streicht mit der Nasenspitze über meinen Hals. Ich erbebe, als seine heißen Atemstöße auf meine Haut treffen und grabe meine Finger in sein Haar.
»Küss mich doch endlich«, stoße ich heiser hervor.
Er lässt sich nicht beirren, knabbert an meinem Kinn und zieht mein Ohrläppchen in seinen Mund, bevor er sich küssend zu meinem Mund vorarbeitet. Gott, wie habe ich mich danach gesehnt. Ich bin hart wie Stahl. Endlich treffen unsere Lippen aufeinander. Ich spüre Kristians Zungenspitze, die neckend über den Rand fährt und–
Mein Handy klingelt. Es ist Riekes spezieller Klingelton.
»Warum tun sie uns das an?«, heule ich in Kristians Mund. »Warum gerade jetzt, in diesem Moment, auf den ich eine gefühlte Ewigkeit gewartet habe?«
Er nimmt einen Schritt Abstand von mir und kratzt sich verlegen hinterm Ohr, während ich ans Handy gehe.
»Was?«
»Öhm, störe ich gerade?«
»Ja!«
»Irgendwas stimmt mit dem DVD-Player nicht und ich krieg’s nicht hin. Anita meckert. Hörst du sie?« Sie scheint den Hörer von sich wegzuhalten und ich vernehme das erboste Geschnatter der rostigen Gießkanne. Dann ist Rieke wieder am Apparat. »Kannst du mal kommen und das reparieren?«
Ich stoße ein leidendes Winseln aus. »Ja, ich komme sofort.« Ich lege auf und werfe Kristian einen schuldbewussten Blick zu. »Tut mir leid.«
Er winkt ab und versetzt mir einen Knuff. »Ist sowieso nicht gut, im Dienst auf dem Klo herumzumachen. Heute Nacht nach dem Dinner, Helge. Ich bin wachfrei. Kannst du mir einen Gefallen tun?«
»Jeden, der mir möglich ist.«
Er lächelt. »Setz dich beim Dinner in meinen Blickwinkel.«
»Warum?«
»Damit ich dir ab und an zuzwinkern kann. Zum Durchhalten.«
»Freust du dich nicht auf das Dinner?«, stichle ich.
»Doch, wie verrückt. Omas in Pailletten und Perlenketten, und alte Herren, die mir lang und breit von ihren anderen Kreuzfahrten berichten, als seien sie Schiffskapitäne auf Expeditionsfahrten gewesen und keine Touristen, die sich am Buffet um das letzte Prinzesstörtchen balgen.«
»Selber schuld«, gebe ich zurück, »du hättest eben kein Deutsch lernen dürfen. Dann könntest du dich damit herausreden, dass du nichts verstehst.«
»Könnte ich eigentlich immer noch. Ach nein, ich bin schon enttarnt. Ich habe schon mit zweien deiner Schützlinge gesprochen. Und nun mach schon, deine arme Kollegin wartet.«
Ich nicke und lecke mir noch einmal über die Lippen, um den letzten Hauch seines Geschmacks auszukosten. Er ist köstlich, süß wie die Liebe und salzig wie das Meer. »Jawohl, Herr Kapitän.«
Beim Captain’s Dinner darf ich nicht mit am Kapitänstisch sitzen, weil die Plätze ausschließlich besonderen Gästen vorbehalten sind, wer auch immer die auf dieser Kreuzfahrt sein mögen. Aber ich werde mich in seinen Blickwinkel setzen. Kristian braucht Beistand. Meinen Beistand, was mir ganz besonders schmeichelt. Es ist nicht die erste Kreuzfahrt, die wir zusammen auf einem Schiff verbringen. Und gewiss auch nicht die letzte, außer der Sensenmann entscheidet, einen von uns anstelle von Anita zu holen. Wir leiden gemeinsam. Das verbindet.