Blut für Gold - Billy Remie - E-Book

Blut für Gold E-Book

Billy Remie

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Beschreibung

›Er wünschte, er könnte etwas ändern. Irgendetwas, das mehr Frohsinn zurück in die Augen seiner Brüder brächte. Aber was hätte das am Ende schon viel genützt… ‹ Darcar ist der erstgeborene Sohn aus einer der reichsten Familien in ganz Phillin Burgh und wächst wohlbehütet und scheinbar unantastbar auf, doch durch eine Intrige verliert er alles, was er je gekannt hat. Aus dem sicheren Elternhaus gerissen, wird er gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder Veland in das sogenannte Rattenloch verbannt. Abgeschirmt vom Rest der Welt sind sie plötzlich auf sich allein gestellt, in ihrem neuen Zuhause wartet nur das Elend auf sie, an jeder Ecke lauert der Tod. Es ist kalt und trostlos in den alten Ruinen, es gibt kaum Nahrung und kein sauberes Wasser, aber vor allem keinen sicheren Ort, an dem sie bleiben könnten. Und es erwartet sie noch eine viel größere Gefahr: Der Rattenkönig. Von Beginn an labt sich der skrupellose Herrscher des Viertels an Darcars Leid und nutzt jede Gelegenheit, ihn zu peinigen. Doch es gibt auch Hoffnung. Darcar stolpert in die offenen Arme eines anderen Verbannten. Elmer nimmt die verängstigten und durchgefrorenen Brüder bei sich auf, wohlwissend, dass sie von finstereren Gestalten als dem Rattenkönig gejagt werden. Er versucht, sie zu verstecken, und Darcar vor sich selbst zu bewahren. Denn Elmer spürt, dass blinde Wut und der Durst nach Rache etwas in Darcar wachrufen, das ihn zerstören könnte. Letztlich steht Darcar vor der Entscheidung: Rache nehmen und alles verlieren - oder die Vergangenheit ruhen lassen, um die zu schützen, die er liebt.

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Seitenzahl: 933

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Billy Remie

Blut für Gold

Der gejagte Sohn

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

0.1: Vorwort

1.Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Epilog

Impressum neobooks

0.1: Vorwort

Liebe Leser:innen,

dies ist ein DARK Fantasy Roman mit einem deutlichen Hauch Horror (aber kein Dark Romance), weshalb ich darauf hinweisen möchte, dass diese Geschichte für sensible Leser:innen nicht geeignet ist. Wer Phobien vor gewissen Krabbeltieren hat, sollte das Buch ebenfalls nicht anfassen.

Bitte versucht nicht, das angedeutete Rezept für die Herstellung von Maische nachzumachen, ich garantiere nicht für die Richtigkeit des diesbezüglichen Dialogs und habe die Herstellung des Schwarzgebrannten deshalb stets nur angedeutet. Wie der betroffene Charakter im Buch sagt: »Bist du verrückt, ich will nicht blind werden!« (oder Schlimmeres).

Es ist nur ein Buch, rein fiktiv, macht keine Rezepte nach! (Ich weiß, das ist für viele selbstverständlich, ich wollte einfach nur sicher gehen.)

Jetzt viel Spaß beim Lesen :)

1.Prolog

Er wünschte, er könnte etwas ändern. Irgendetwas, das mehr Frohsinn zurück in die Augen seiner Brüder brächte. Aber was hätte das am Ende schon viel genützt.

Es war weit nach Mitternacht und wie jeden Abend blieb ihr Vater dem Heim fern. Vermutlich würde er erst gegen Morgen eintreffen, völlig ausgelaugt und überarbeitet würde er leise herein schleichen und den Zylinder und den schweren Mantel mit einem Seufzen an die Garderobe hängen, um sich anschließend von Magda, ihrer Haushälterin, ein Glas Brandy an den prasselnden Kamin bringen zu lassen. So wie jeden Tag.

»Geht ins Bett«, trug Darcar seinen zwei jüngeren Brüdern auf, die in ihrer Stube im zweiten Stock aus dem Fenster und auf das im Garten liegende schwarze Tor starrten, darauf hoffend, dass die Kutsche ihres Vaters mit hellem Hufklackern vorfahren würde.

»Aber wir wollen Vater noch sehen!«, beklagte sich Veland, der ihren jüngsten Bruder Everett auf dem Arm trug. Im Halbdunkel wurden sein haselnussbraunes Haar und die goldschimmernden Augen nur von einer einzigen Kerze sanft angestrahlt, sodass ihn die dunklen Schatten noch jünger aussehen ließen. Am heutigen Tage war er neun Jahre alt geworden, es hatte Kuchen zum Frühstück gegeben und der Unterricht war ausgefallen, ihr Vater war sogar eine Stunde später zu seinem Geschäftsbüro aufgebrochen, das im Bahnhofsviertel lag. Doch wie es schien, kam er deshalb drei Stunden später als sonst zurück.

»Es ist spät, morgen früh hast du Unterricht«, blieb Darcar hart und nahm ihm Evi aus den Armen. »Keine Widerworte, begib dich ins Bett, oder muss erst Magda hochkommen und dir mit dem Rohrstock den Arsch versohlen?«

Das war eine leere Drohung, die jedoch stets fruchtete. Magda hatte immer damit gedroht, ihnen die Hintern zu versohlen oder die Ohren lang zu ziehen, wenn sie nicht gehorchten, aber sie hatte es nie getan, selbst nicht, als Darcar mit dem ersten blauen Auge nach Hause gekommen war, nachdem er einige Jungen in der Nachbarschaft lehren musste, was es bedeutete, sich über ihn lustig zu machen oder einen seiner Brüder zu schubsen. Tatsächlich hatten sie ihn gelehrt, dass er nicht so stark und geschickt war, wie er geglaubt hatte, was ihn jedoch nur verbissener hatte werden lassen.

Seine Mutter war außer sich gewesen, mögen die Götter ihrer gnädig sein, denn heute konnte sie nicht mehr schimpfen, sie starb vor einigen Wintern an der Seuche, mit einem vierten Kind im Bauch.

Eilig krabbelte Veland ins Bett, Darcar legte Evi in seinem eigenen schlafen. Es gab ein Kinderbett, aber sein kleiner Bruder schlief allein nicht durch, weshalb Darcar ihn immer heimlich bei sich liegen ließ. Sie teilten sich zu dritt ein Zimmer, das Haus war nur ein Stadtheim ihres Vaters, das er früher nur für Treffen mit Geschäftsleuten nutzen wollte. Es hatte zweckmäßig nur zwei Gemächer. In ihrem echten Haus, auf dem Südhügel der Stadt, gab es Platz für zehn Kinder, aber dort lebte nun ihre Stiefmutter. Allein mit ihren zahlreichen Dienstmägden.

»Du musst auch schlafen!«, rief Veland empört, als Darcar mit der Kerze in der Hand zur Tür ging.

»Ich gehe schlafen, wann ich will, ich bin älter als du«, zischte Darcar zurück. Er war gereizt, und das Genörgel seines Bruders nervte ihn heute gewaltig, denn er sorgte sich allmählich auch um ihren Vater. Das wollte er seinen Brüdern natürlich nicht zeigen.

»Deshalb muss ich noch lange nicht auf dich hören, ich will Vater gute Nacht sagen!«, schmetterte Veland zurück.

Darcar funkelte ihn mit kalten, braunen Augen an, woraufhin Veland zusammenschrumpfte und sich die Decke bis unter die Nasenspitze zog. Seinen trotzigen Ausbruch bereute er sofort.

»Doch, du musst auf mich hören! Solange Vater nicht hier ist, bestimme ich! Und jetzt Ruhe, V! Du bist jetzt neun Jahre alt, sei ein Vorbild für Evi!«

Es schimmerte in den Augen seines Bruders, und Darcar fühlte sich augenblicklich schuldig. Veland war das genaue Gegenteil von ihm. Ein leicht verletzliches Pflänzchen, hatte ihre Mutter immer gesagt und ihm den Kopf gestreichelt. Und sie hatte recht.

Versöhnlicher fügte Darcar hinzu: »Wenn du jetzt schläfst, siehst du Vater morgen früh ganz bald wieder. Außerdem komme ich auch gleich. Hier, ich lasse euch die Kerze da, aber schlaft jetzt, versprochen?«

Darcar stellte die Kerze wieder neben Veland ab, der nur noch eingeschüchtert nickte. Der Drang, ihn tröstend zu berühren, war beinahe übermächtig. Also beugte Darcar sich hinab und strich seinem Bruder über den Kopf. »Sei brav, in Ordnung? Du musst für mich auf Evi aufpassen.«

Veland lüftete sein halbverstecktes Gesicht und nickte schüchtern. Er hob ihm den Mund entgegen, und Darcar gab ihm einen leisen, hauchzarten Schmatzer darauf, wie er es immer tat.

Dann ging er, nachdem er seinem Bruder ein letztes Mal das seidene Haar verwuschelt hatte.

Als Darcar die knarrende Treppe hinabschlich, hörte er unten aus der Küche die leise Stimme seines Vaters, der sich mit Magda unterhielt. Einen Moment blieb Darcar auf der Treppe stehen und lauschte. Warmes Licht von Feuern und Laternen schien in die Diele hinein und zwei lange Schatten waren auf die Wand neben der Tür gezeichnet, wie zwei unheilvolldrohende Omen.

Seltsam, er hatte überhaupt nicht gehört, dass sein alter Herr nach Hause gekommen war.

Das Geflüster klang besorgt, sein Vater ermattet, und immer wieder hörte er einen gedämpften Laut vor Schreck, den er nur von Magda kannte, wenn ihr jemand berichtete, dass ein Bekannter von ihr gestorben war. Den gleichen Laut hatte sie ausgestoßen, als der Arzt verkündet hatte, dass Darcars Mutter nicht wieder gesunden würde.

Darcar hatte schon seit Wochen ein seltsames Gefühl in der Magengegend, eine Vorahnung, die ihm Übelkeit bereitete. Er kannte seinen Vater, dieser war mit jeder Schwierigkeit und jeder Überstunde lächelnd fertig geworden, doch in letzter Zeit war es anders. Seit der Heirat mit dieser Schnepfe, wurde Darcars Vater von Tag zu Tag besorgter, regelrecht ängstlich, sah sich immer über die Schulter und tastete oft nach seinem Colt, den er in einem Halfter unter der Jacke trug.

So kannte man ihn nicht, Baernulf van Brick war ein Mann, der nie verzagte und immer eine Lösung fand, ganz gleich ob sein riesiges Bahnunternehmen, das seine Vorväter reich und groß gemacht hatte, kurz vor dem Bankrott stand, oder ob seine Frau im Sterbebett lag, er war nie verzweifelt gewesen, hatte den Kopf immer oben getragen und war seinen Söhnen nicht nur Vorbild, sondern auch mentale Stütze, in allen Lebenslagen. Der Fels in der Brandung. Darcar respektierte diesen Mann mehr, als er je ausdrücken könnte, und sah, seit er denken konnte, zu ihm auf. Und er wusste, wenn sein Vater verzweifelte, gab es einen echten Grund zur Sorge.

Darcar war nun alt genug, zu spüren, wenn etwas Bedrohliches ins Haus stand, doch konnte er sich beim besten Willen nicht zusammenreimen, was es war. Er fühlte lediglich, wie über seiner Familie ein Richtbeil schwang, das nur darauf wartete, ihnen die Köpfe abzuschlagen.

Leise ging er nach unten, sparte die lockere Stufe aus, die ihn mit einem Knarren verraten hätte, und spitzte ein Ohr, während er die Kerze ausblies, damit sie ihn nicht kommen sahen. Er stellte sie auf einem Bord in der Diele ab.

Im Wohnzimmer prasselte bereits das Kaminfeuer, das flackernde Licht fiel ihm in den Rücken, und unter der Haustür kroch der eiskalte Wind von der Straße ins Haus. All das nahm er gar nicht wahr, er hörte nur angestrengt zu.

»Es ist eine Katastrophe, Magda«, klagte sein Vater mit bebender Stimme. Er setzte sich gerade an den Tisch, Darcar beobachtete seinen Rücken, er trug noch den schweren Wollmantel und schob gerade den Zylinder über den Tisch. An seiner Hüfte blitzte der Elfenbeingriff des Colts im Licht.

»Aber es ist doch nicht Euer Verschulden, Herr! Ihr habt Euch doch ausdrücklich bei der Versammlung gegen das Roden ausgesprochen!«

Magda drehte sich mit einem Tablett, auf dem eine Flasche Brandy und ein paar Gläser standen, zum Tisch um, sodass Darcar sich ein Stück in die Schatten zurückziehen musste.

»Mein Wort hat keinerlei Gewicht mehr«, seufzte sein Vater schwer, und Darcar beschlich ein Gefühl, als würde es im Haus plötzlich ganz furchtbar ziehen. »Um genau zu sein, hat mir meine ehrliche Meinung diesen Schlamassel erst eingebrockt. Man will mich beseitigen, weil ich ihnen nicht den Rücken deckte. Sie brauchen jetzt vor allem einen Sündenbock, und Kenneth will mich loswerden. Sie werden uns einen Strick aus dieser Sache drehen, das sagt mir mein Bauchgefühl.«

Ein Stuhl wurde zurückgezogen, Stoff raschelte, als Magda ihre Schürze über den Röcken raffte und sich setzte. »Was sollen wir tun, Herr? Wollt Ihr packen und eine Weile aufs Land, bis die Lage sich beruhigt hat?«

»Ich weiß es nicht, aber ich denke nicht, dass Weglaufen eine Lösung ist.« Ein Glas klirrte leise, Brandy wurde eingeschenkt. »Fakt ist, jemand wird dafür büßen, und es gibt eine Menge Leute da draußen, die mir nachtrachten. Sie wollen meine Dynastie stürzen. Es ging nie um den Wald, er war nur Mittel zum Zweck, um ein Verbrechen zu begehen, das man mir anhängen wird.«

Der Wald? Es gab viele Wälder jenseits der Stadt, es gab Sümpfe, Berge, Täler und Bauernhöfe zu Hauf in dieser Welt, trotzdem wusste Darcar ganz genau, von welchem Wald sein Vater sprach.

Seit Monaten redete die Stadt von nichts anderem, die Kaufherren und Krämer hatten beantrag, die Bahngleise nach Süden zu verlegen, um die Handelsstrecke zu verkürzen, auf diese Weise würden ihre Waggons voller Waren erheblich früher in der Stadt eintreffen, sie müssten nicht auf die Schiffe aus dem südlichen Königreich warten. Doch der Wald gehörte zu einem Hain oder Ähnlichem, den die Heiden des Bergbauvolkes besuchten. Eine heilige Stätte, die zu stören oder gar abzuholzen bedeutet hätte, Krieg mit den Heiden anzufangen. Der Rat dieser Stadt hatte deshalb entschieden, das Gesuch der Kaufleute abzulehnen, nachdem Darcars Vater sich ebenfalls dagegen ausgesprochen hatte. Natürlich waren viele wohlhabende und einflussreiche Männer dieser Stadt darüber nicht erfreut gewesen.

In Phillin Burgh regierte das Geld und der Gewinn, auf Kosten der Moral und der Menschlichkeit. Das hatte seine Mutter einst gesagt, Darcar hatte es nicht vergessen, und jetzt fiel ihm die Bedeutung dieser Worte wie Schuppen von den Augen.

Jemand hatte den Wald zerstört, um es seinem Vater anzuhängen. Zwei Fliegen auf einen Streich.

Aber wieso? Was sollten sie davon haben? Warum sollte jemand seinem Vater etwas Böses wollen, ihm gehörte die Bahngesellschaft! Sie brauchten ihn, um die Gleise zu verlegen! Das ergab doch alles keinen Sinn.

»Der Rat wird wissen, dass nicht Ihr daran schuld wart«, versuchte Magda, Darcars Vater zu beruhigen.

Aber dieser war sich dessen weniger sicher. »Der Rat wird eine Untersuchung einleiten und nur wissen, dass Kenneth mein Stellvertreter ist. Er braucht nur zu behaupten, dass ich ihm den Auftrag gab, und er wird sich auf das Recht der Straffreiheit beziehen, weil er auf Wunsch seines Vorgesetzten handelte. Er wird behaupten, ich hätte ihn mit vorgehaltener Waffe gezwungen, den Wald roden zu lassen. Oder sie kaufen sich ein paar Leute im Rat, ich…«

»Vater?« Darcar hielt es nicht mehr im Schatten aus und trat in den Lichtschein.

Erschrocken fuhren die Erwachsenen am Tisch herum, das Gesicht seines Vaters war eine grauenhafte Maske aus müdem und fahlem Fleisch. Er sah älter aus, obwohl Darcar ihn doch erst am Morgen gesehen hatte.

»Darc, warum bist du noch auf?« Leichter Tadel klang in der Stimme seines Vaters mit, aber kein echter Zorn.

»Ich habe auf dich warten wollen«, erklärte Darcar und trat mit besorgter Miene an den Tisch. »Was ist geschehen?«, fragte er, seine Augen zuckten von Magda zu seinem Vater, immer hin und her.

Ein matter Seufzer entkam seinem Vater, als er ihm bedeutete, sich zu setzen. »Komm, Junge, trink was mit deinem alten Herrn.« Er fuhr sich mit der Hand über das braune, schüttere Haar.

Magda stand auf, als wollte sie ihnen Privatsphäre geben, drehte sich jedoch nur zum Herd um, wo sie Spülwasser in einem Topf erhitzte.

»Was ist los?«, drängte Darcar seinen Vater, als er sich zu ihm setzte.

»Ach …« Dieser schüttelte den Kopf, während er seinem Sohn ein Glas Brandy eingoss. »Nichts, nur langweilige Politik. Hier, trink.«

Er schob ihm das Glas unter die Nase, Darcar starrte in die braune Flüssigkeit, ihr Geruch brannte auf seinen Schleimhäuten. »Du hast gesagt, ich bin zu jung, zum Trinken.«

»Habe ich?« Er kippte den Inhalt seines Glases in einem Zug hinunter und lächelte Darcar anschließend warm an. »Nun, heute nicht. Ein Glas erlaube ich dir. Den ersten Schluck Brandy sollte man immer mit dem Vater trinken.«

Darcar umfasste mit ungutem Gefühl das Glas, hob es aber nicht zum Mund. »Etwas Schlimmes wird passieren, oder? Was ist mit dem Wald? Ich habe dich darüber mit Magda sprechen hören.«

»Habe ich dir nicht gesagt, du sollst nicht lauschen?«, konterte sein Vater ein wenig säuerlich.

Darcar sah zu, wie er sich ein drittes Glas einschenkte. »Du hast auch gesagt, Alkohol macht uns zu Tölpeln.«

Sein Vater stellte das Glas wieder ab, ohne davon getrunken zu haben, und verengte mit liebevollem Spott die Augen. Aber da funkelte auch Stolz im Blick seines Vaters, auf den sich Darcar immer viel eingebildet hatte. In jener Nacht machte er ihm jedoch Angst.

»Vater, bitte!« Darcar langte über den Tisch und drückte seines Vaters Arm. »Ich weiß, dass etwas nicht stimmt.«

Sein Vater nickte auf das Glas. »Trink, Darc! Trink dein erstes Glas mit mir. So hat es mein Vater mit mir gemacht, und sein Vater mit ihm, tu mir den Gefallen.«

Darcar zog seine Hände zurück, starrte in sein Glas und nahm es anschließend mit schwermütigem Blick. »Warum ist das jetzt wichtig?«

Er erhielt keine Antwort.

»Auf die Familie, Erstgeborener, auf die Dynastie.« Sein Vater hob das Glas und lächelte müde. »Mach Schweiß zu Geld und Blut zu Gold.«

Auch Darcar hob sein Glas und stieß notgedrungen mit seinem Vater an, da es ihm wichtig schien. Er wiederholte den Leitspruch ihrer Stadt: »Schweiß zu Geld und Blut zu Gold.«

Sie tranken, der Brandy war scheußlich, aber Darcar würgte ihn herunter und musste sofort husten. Magda lächelte über die Schulter, und sein Vater schlug Darcar lachend auf den Rücken. »So ist es recht, mein Sohn, so ist es recht.«

Er würde nie wieder trinken, es sei denn, sein Vater würde ihn darum bitten. Nie wieder, schwor er sich, während ihm Tränen in seine Augen stiegen. Gleichzeitig genoss er die aufkommende Wärme in seinem Bauch, die sich glühend wie ein anheimelndes Feuer in seinen Gliedmaßen ausbreitete.

Plötzlich tätschelte sein Vater ihm liebevoll die Wange, verwundert sah Darcar auf.

»Du siehst deiner Mutter ja so ähnlich, mein Junge, das gleiche schwarze Haar, die gleichen braunen Augen, die gleiche unverfrorene Klugheit. Ich vermisse sie sehr, das weißt du, ja?«

Darcar war es unangenehm, über sie zu sprechen, weil er den Schmerz in den Augen seines Vaters nicht ertrug. Er erinnerte ihn an das, was sie verloren hatten, sie alle. »Ich weiß, Vater«, gab er mit belegter Stimme zurück.

»Meine Heirat mit Ilona hat dich unglücklich gemacht, aber…«

Darcar sah wütend zur Seite.

»Aber nach dem Tod deiner Mutter verlor ich die Gunst ihrer Familie. Du weißt, sie gaben mir die Schuld für …«

»Es war nicht deine Schuld«, presste Darcar durch die Zähne. Er hasste seine Großeltern, schon vor dem Tod seiner Mutter. Geld war ihnen immer am wichtigsten es waren kalte Menschen, die seinen Vater kalt behandelt hatten. Darcar mochte sie nicht, er hatte mit der Familie seiner Mutter nie viel zu tun gehabt.

Sein Vater atmete vernehmbar aus, dann nahm er die Hand von Darcars Wange. »Wir hatten Schulden, nach der Abfindung, die ich deinem Großvater zahlen musste. Und Ilonas Familie ist reich, ich hatte keine andere Wahl, ich hätte viele gute Menschen entlassen müssen, um uns über Wasser zu halten. Das konnte ich ihnen doch nicht antun, ihre Familien hätten gehungert.«

Sicher hatte es noch einen anderen Grund für die Hochzeit gegeben, Ilona war die stadtbekannte schönste Frau – und sein Vater war einsam gewesen, auf der Suche nach Trost. Da war seine Mutter noch nicht lange unter der Erde gewesen. Doch das versuchte Darcar, ihm zu verzeihen.

Darcar nickte nur. Was sollte er auch dazu sagen? Seine Stiefmutter war für seinen Vater viel zu jung und nur auf sein Geschäft aus, sie hatte sogar Darcar und seine Brüder aus dem Elternhaus verbannt, weil sie angeblich von ihnen krank wurde. Es war ihr zu viel Aufregung, sich um drei Kinder zu sorgen, obwohl Magda sich doch um sie kümmerte.

Diese Heirat war ein Fehler gewesen, und irgendwann würde Darcar seinen Vater dazu bewegen, sie rückgängig zu machen.

Aber zunächst standen ihnen andere Probleme ins Haus.

Wie auf ein Stichwort hin, sagte sein Vater plötzlich nachdenklich. »Du passt auf deine Brüder auf, Darc, ja? Gleich, was noch geschieht, du bist ihr großer Bruder und für sie verantwortlich. Pass immer auf sie auf, selbst wenn ich nicht mehr bin.«

Darcar fuhr zu ihm herum, dieses Gerede machte ihn sofort wütend. »Was erzählst du denn da? Du passt auf uns auf, niemand sonst! Und du gehst auch nicht fort! Du kannst uns nicht einfach allein lassen!« Er sprang vom Stuhl auf, der lautstark über den Boden geschoben wurde. »Sag so etwas nie wieder! Du gehst nicht weg!«

Magda presste sich die Hand auf den Mund, aber Darcars Vater blieb einfach nur unglücklich auf seinem Stuhl sitzen und starrte in seinen Brandy. »Versprich es mir, Darc.«

»Einen Scheiß werde ich.« Tränen der Wut brannten in Darcars Augen, er ballte die Hände zu Fäusten und war kurz davor, wütend aufzutreten.

»Setzt dich hin, Sohn, du machst dich lächerlich«, erwiderte sein Vater nur ruhig, was Darcar nur noch mehr aufbrachte.

Seine Nasenflügel bebten, als er dessen Aufforderung trotzdem nachkommen wollte, da ihm bewusstwurde, dass er sich wie ein Kind verhielt.

Es klopfte an der Haustür, ehe er wieder Platz genommen hatte.

Verwundert drehten die drei in der Küche die Köpfe zur Diele herum.

»Wer kann denn das so spät noch sein?«, fragte Magda und trocknete ihre feuchten Hände an ihrer Schürze. Sie wollte die Tür öffnen gehen, wie sie es schon immer für die van Bricks getan hatte, doch dieses Mal hielt Darcars Vater sie auf.

»Warte, Magda, ich gehe.«

Darcar folgte seinem Vater, ein Knoten bildete sich in seinem Magen.

Die Türscharniere knarrten, es war finstere, kalte Nacht draußen, und drei uniformierte Männer mit Filzhüten standen auf der Türschwelle, wie die Boten des Todes. Zwei von ihnen hatten Gewehre um die Schultern geschlungen. Darcar starrte sie mit aufkommenden Bauchschmerzen an.

»Sheriff Vic?« Sein Vater streckte aus Gewohnheit seinem alten Freund die Hand entgegen, die beiden kannten sich aus Kindertagen, das wusste Darcar. Vic war ein Freund der Familie, der trotz, dass er nicht von Stand war, von seinem Vater immer gut behandelt wurde.

Für einen Moment atmete Darcar auf. Die beiden Männer gaben sich die Hände, doch das Lächeln unter dem dichten Schnurbart des Sheriffs wirkte bedauernd.

»Kommt rein, ihr holt euch noch den Tod.« Darcars Vater winkte sie ins Haus und schob dabei ungewollt seinen Sohn zurück in die Küche. Noch bevor sie wussten, was der späte und ungebetene Besuch zu bedeuten hatte, wollte Darcars Vater – ganz der Gentlemen, der er war – seine Gäste bewirten und trug der tüchtigen Magda umgehend auf: »Bereite Tee für die Herrschaften.«

»Nur keine Umstände«, lehnte Vic wie gewohnt ab.

Die Küche wirkte plötzlich viel zu klein durch all die Menschen im Raum. Darcar blieb dicht hinter seinem Vater, weil dieser ihn hinter sich schob. Der Sheriff und die beiden stummen Uniformierten der Stadtwacht versperrten die Tür. Darcar hatte das ungute Gefühl, dass sie nicht aus reinem Zufall dort stehen blieben.

Fragend sah er zu Magda, die ihm jedoch wie immer nur diesen auffordernden Blick zuwarf, damit er sich anständig benahm.

»Bitte, setzt euch doch, meine Herren«, Darcars Vater deutete zum Tisch, »kann ich Euch etwas anderes anbieten…«

»Bearnulf«, begann Vic, und sein bedauernder Tonfall gefiel Darcar überhaupt nicht.

Er tastete nach dem Messer an seinem Gürtel, doch es war nicht dort. Magda hatte es vor drei Tagen gefunden und es ihm weggenommen, weil ein gebildeter, junger Mann in ihren Augen nicht mit einer versteckten Stichwaffe herumlief wie ein Attentäter. Der Sheriff zog seinen Hut ab, bevor er fortfuhr: »Ich befürchte, wir müssen dich zu einer Befragung mitnehmen, alter Freund.«

Magda schnappte nach Luft.

»Befragung?«, platzte Darcar heraus. »Folter, wollt Ihr sagen! Mein Vater geht nirgendwohin-«

»Darc!«, warnte sein Vater ruhig, aber bestimmt, und schob Darcar wieder hinter sich. Dann wandte er sich an den Sheriff. »Ist das wirklich notwendig, Vic?«

»Ich befürchte, ja. Es tut mir sehr leid. Komm friedlich mit, dann muss ich dir keine Eisen anlegen.«

»Aber er hat nichts verbrochen!«, rief Darcar und wollte sich wieder schützend vor seinen Vater stellen. Dieser stieß ihn aber sanft wieder zurück und bedeutete Magda, sich um Darcar zu kümmern. Die etwas pummelige, alte Haushälterin legte ihm ihre Hände auf die Schultern und hielt ihn fest. Darcar wandte sich in ihrem Griff, wie ein Aal an der Angel, aber ihre Finger bohrten sich schmerzhaft in sein Fleisch.

»Ich bin sicher, wir können das irgendwie regeln, Vic«, versuchte es sein Vater diplomatisch und zückte ein paar Scheine, insgesamt dreihundert Noten, aus seiner Tasche. »Es versteht sich von selbst, dass ich einen Anwalt benötige, gib mir nur Zeit bis morgen Abend…«

»Das kann ich leider nicht tun, Baernulf, es tut mir leid.« Sein schuldbewusster Blick zeugte von seiner Aufrichtigkeit.

Darcar wurde trotzdem wütend. »Was wird ihm vorgeworfen? Das ist doch nicht rechtens!«

»Gibst du jetzt Ruhe, Junge?«, zischte Magda ihm ins Ohr.

Der Sheriff setzte Darcar mit einem befehlsgewohnten Blick fest. »Mach es für deinen Vater nicht noch unangenehmer, als es ist, Bursche.«

»Vic, das ist doch wirklich nicht nötig, du kennst mich! Du weißt, ich würde nicht davonlaufen. Ladet mich zu einer Befragung vor, ich werde anwesend sein, das verlangt die Ehre, ich bin ein Gentleman. Aber führt mich nicht wie einen Verbrecher ab!«

»Anordnung des Schwarzen Rates, du weißt, wie das läuft, mein Freund. Ich tue mein Bestes, damit du es so angenehm wie möglich hast.« Vic drehte unbehaglich den Hut in der Hand und beugte sich dann im vertrauten Ton ein Stück nach vorne. »Bitte, Baernulf, denk an deine Söhne. Komm friedlich mit, dann kannst du für sie vielleicht noch etwas aushandeln.«

Darcar sah zu, wie sein Vater die schweren Schultern hängen ließ. Er blickte noch einmal zurück, fassungslos starrte Darcar zu ihm auf und schüttelte den Kopf. Frost, der nicht von draußen kam, zog in seinen Nacken.

»Pass auf deine Brüder auf, Darc«, sagte sein Vater, dann drehte er sich um und nickte Vic zu. »In Ordnung, ich komme friedlich mit.«

»Was? Nein!« Darcar aalte sich aus Magdas Geiergriff, als sein Vater von den beiden Uniformierten in die Mitte genommen wurde, und warf sich dazwischen. Magda schrie, als ein Handgemenge in der Diele entstand.

Darcar brüllte: »Nein, er hat nichts verbrochen! Er hat doch nichts verbrochen. Warum bringt ihr ihn fort! Vater, tu doch was! Wehr dich doch!« Sein Herz war vor Angst zu einem Eisklumpen geworden und zerbarst beinahe bei jedem panischen Schlag. Er zerrte an seinem Vater, der versuchte, ihn von sich zu stoßen. Einer der Uniformierten schlug Darcar ins Gesicht, der Schmerz machte ihn blind, er schmeckte Blut, ließ aber nicht den Ärmel seines Vaters los.

Der Sheriff umschlang ihn von hinten und riss ihn schließlich fort.

»Nein! Vater!«

»Ist schon gut, junger Herr«, redete Vic auf ihn ein. »Alles wird wieder gut.« Die Tür wurde geöffnet, die kalte Nachtluft zog herein und peitschte auf seine nassen Wangen. Das Letzte, was Darcar von seinem Vater sah, war der ernste Blick, den er über die Schulter warf. »Pass auf deine Brüder auf«, waren seine letzten Worte an ihn.

Nichts wurde von diesem Moment an je wieder »gut«.

Kapitel 1

Sie kamen drei Tage nach der Verhaftung, kurz vor Morgengrauen.

Darcar lag im Bett und hatte die Arme um seine Brüder gelegt. Ihre Wärme und ihre flache Atmung beruhigten ihn, manchmal fand er sogar ein paar Stunden selbst Schlaf.

»Es wird alles wieder gut, Vater ist bald wieder da«, hatte er ihnen versprochen, jeden Tag, wohlwissend, dass es eine Lüge war.

Magda war bei ihnen, obwohl sie selbst eine kleine Wohnung in der Stadt bewohnte und einen Ehemann und eine Schar Kinder hatte, die darauf warteten, dass sie heimkam. Doch sie sagte immer, die van Bricks wären auch ihre Familie, und solange der edle Herr »verhindert war«, würde sie die Jungs nicht allein lassen, immerhin habe sie das der Lady am Sterbebett versprochen.

Drei Tage Ungewissheit, drei Tage bangen und Stunden, die sich endlos hinzogen. Bauchschmerzen, Appetitlosigkeit und das Gefühl, gefangen im eigenen Haus zu sein.

Sie durften nicht nach draußen, nicht zu den Verhandlungen. Darcar hatte versucht, wegzulaufen, zum Rathaus zu gelangen, aber Magdas älteste Söhne hatten ihn nach zwei Straßen eingefangen und zurückgeschleift. »Das hat keinen Sinn, Junge, du machst es nur schlimmer.«

Darcar verstand nicht, was sie damit meinten, er wollte doch nur für seinen Vater sprechen.

Pass auf deine Brüder auf.

Letztlich war es das Einzige, was er noch tun konnte.

Die ganze Zeit hatte er erwartet, dass die Tür aufging und sein Vater erschöpft, aber mit einem Lächeln über die Schwelle trat und die Arme ausbreitete. Dass er zurückkäme, der Beschützer der Familie. Der Mann, der immer jedes Unheil abwenden konnte, bis auf den Tod selbst.

Doch als die Tür lautstark aufgestoßen wurde, war es nicht ihr Vater, der zurückkehrte. Darcar hatte gerade durch das Fenster beobachtet, wie malvenfarbenes Licht die graue Morgendämmerung verdrängte, wie Hoffnung in die Dunkelheit drang, als sich jemand mit Gewalt Zugang zum Haus verschaffte.

Es war, als würde man aus einem lieblichen Traum mit einem Schlag in den Magen geweckt werden, er saß sofort aufrecht im Bett, sein Herz raste so schnell, dass es ihm fast aus dem Hals rauskam.

Mit einem erschrockenen Laut wurde auch Veland wach und klammerte sich an ihn. »Was war das?«

»Bleib bei Evi«, befahl Darcar leise, griff nach dem Küchenmesser, das er unter dem Kissen deponiert hatte, und wollte aufstehen.

Veland hielt ihn fest, seine großen, wässrigen Augen flehten ihn an. »Lass uns nicht allein«, wisperte er mit brüchiger, von Panik durchdrungener Stimme.

»Bin gleich zurück, versprochen!« Darcar musste Velands Hände gewaltsam aus seinem Baumwollhemd lösen, da sein Bruder sich wie eine Krähe an ihm festgekrallt hatte. Er verzichtete darauf, sich etwas über die lange Unterhose zu ziehen, schlich auf nackten Füßen zur Tür und schlüpfte in den engen Flur. Es war dunkel, keine Kerze oder Laterne brannte, sodass sein Schatten ihn nicht verraten konnte. Mit angehaltenem Atem schlich er an der Wand entlang zum Treppenhaus.

Unten herrschte aufgebrachter Lärm, Magdas erboste Stimme kam den Eindringlingen entgegen. »Was soll das hier werden? Das ist Hausfriedensbruch!« Sie schlief unten in einer Stube neben der Küche und war sofort in der Diele, sie trug nur ein Nachthemd und zur Waffe ihre tadelnde, alte Miene. Schwere Stiefel polterten durchs Haus, es klang wie eine Herde Büffel. Schubladen wurden aufgezogen, Vasen und Bilder zu Boden geworfen, jede noch so geringfügig persönliche Sache mit Füßen getreten. Es sah wie eine Räumung aus.

Es war eine Räumung.

Einer der Uniformierten trat Magda in den Weg und fragte erbost: »Wo sind die Jungen?«

Darcar zog sich der Magen zusammen. Doch Magda entgegnete verwirrt: »Jungen? Welche Jungen?«

Der Uniformierte schnaubte ungehalten und baute sich bedrohlich vor Magda auf, doch erst als er seinen Revolver aus dem Holster zog, wich sie vor ihm zurück. Er hob die Waffe nicht, er hielt sie an seinen Schenkel, doch die Drohung genügte. Er drängte Magda rückwärts, bis die alte Frau buchstäblich mit dem Rücken zur Wand stand.

Wie dieser Kerl mit ihr umging machte Darcar rasend vor Wut, er ballte die Faust um das Messer, bis seine Knöchel weiß hervortraten.

»Keine Spielchen, alte Frau! Wo sind die Jungen? Wir wissen, dass van Brick Söhne hatte.«

Darcar knirschte mit den Zähnen.

»Nun«, Magdas Stimme klang beneidenswert gefestigt, »wenn dem so wäre, wären die Jungen wohl bei ihrer Stiefmutter, oder nicht? Ich bin nur eine einfache Haushälterin, die sich um das Anwesen des edlen Herrn kümmert, bis er wieder da ist.«

Der Uniformierte spuckte verachtend vor ihr aus. »So, so. Der edle Herr wird jedoch nicht mehr zurückkommen, er wurde zum Tode verurteilt.«

Als Darcar genau das hörte, worauf er sich seit Tagen innerlich vorbereitete, erwartete er unbändige Wut, die ihn zu etwas Dummen verleiten würde. Doch sie blieb aus, stattdessen war er wie gelähmt, hörte für einen Moment alles nur noch gedämpft, als würde er langsam ertrinken. Und dann spürte er das Zittern in seinen Beinen, wobei er es eher dadurch bemerkte, dass seine Knie einknickten und er gegen die Wand sackte wie ein gebrechlicher, alter Mann. Er keuchte geräuschlos, hielt sich an der Kante fest.

»Und die junge Lady sagt sich los von seiner Brut«, fuhr der Uniformierte kalt fort. »Da die Jungen nachweißlich nie bei ihr lebten, hat sie das Recht, die Stiefmutterschaft abzuerkennen. Van Brick wurde des Verrates angeklagt, sein Unternehmen geht an diejenigen, denen er geschadet hat, wie es das Gesetz vorsieht. Demnach haben seine Jungen kein Recht mehr auf Anteile davon, und da sie keine Mutter und auch sonst keine Mittel zur Verfügung haben, sind sie nun Waisen und obdachlos. Dieses Haus hier wird verkauft, sie müssen ausziehen!«

Magda wurde bleich, sie schüttelte vehement den Kopf. »Es sind doch nur Jungen! Kinder! Bitte, Herr, lasst sie einfach in Ruhe. Lady Ilona wird sich bestimmt ein Herz fassen und sie aufnehmen.«

»Lady Ilona hat vor dem Schwarzen Rat vehement verkündet, dass sie von ihrem Ehemann geschlagen, missbraucht, zu dieser Ehe gezwungen und in ihrem Haus festgehalten wurde wie eine Sklavin. Ich glaube nicht, dass man der jungen Lady zumuten sollte, die Brut dieses Monsters aufzuziehen. Und jetzt holt die Jungen, sonst müssen wir sie mit Gewalt auf die Straße zerren…«

Magda presste die Lippen zusammen. »Die Jungen sind nicht hier.«

Der Uniformierte schlug ihr mit dem Handrücken ins Gesicht, sodass ihr Kopf herumflog und ihre grauen Haare sich aus ihrem wirren Geflecht lösten. Blut klebte an ihrer Lippe, aufgerissen von dem Siegelring des Mannes. Sie leckte es sich ab, dann schielten ihre Augen für den Bruchteil eines Augenblicks zu Darcar nach oben. Sie sah ihn direkt und eindringlich an.

Er zog sich zurück und eilte auf wackligen Beinen ins Zimmer. Gerade, als er den Uniformierten sagen hörte: »Seht oben und auch im Keller nach. Zieht die kleinen Bastarde an ihren Haaren raus aus ihrem Versteck.«

Schritte erklangen auf den knarrenden Stufen. Leise drückte Darcar dir Tür zu und holte einen Stuhl, um ihn unter die Klinke zu stemmen.

Dann drehte er sich um. Veland stand hilflos im Nachtanzug mitten im Raum, offensichtlich verängstigt, und drückte Everett an sich, der natürlich überhaupt keine Ahnung hatte, was passierte, er konnte ja kaum allein auf seinen kleinen, dünnen Beinchen stehen. Er war noch zu klein, und Darcar machte es einen Moment unendlich traurig, dass Evi sich weder an Mutter noch an Vater erinnern würde. Doch solche Gedanken durfte er jetzt nicht aufkommen lassen, er biss wütend die Zähne zusammen.

»Was ist los?«, jammerte Veland.

Darcar legte einen Finger über seine Lippen, um ihm zu bedeuten, still zu sein. Sie sahen sich in die Augen, verstanden sich, nickten. Veland hielt eine Hand über Evis Mund und Nase, als dieser zu wimmern begann.

Nebenan wurde die Tür zum Schlafzimmer ihres Vaters aufgestoßen, sie vernahmen deutlich, wie die Männer Möbel umstießen und den Schrank durchwühlten, Teppiche wegzogen und den Boden, sowie die Wände abklopften.

»Schnell«, flüsterte er beinahe tonlos zu Veland.

Darcar schlug das Herz bis zum Hals, sie waren in einem einfachen Haus, es gab keine versteckten Fluchtwege oder doppelte Böden, wie in den Geschichten, die Magda ihnen gerne vorgelesen hatte. Es war nur ein stinknormales Haus. Immerhin hatten sie bis dorthin auch niemals Feinde gehabt, vor denen sie sich hätten verstecken und um ihr Leben bangen müssen.

In Windeseile zog Darcar die Schubladen der Kommoden auf und zog seinen Brüdern Pullover und Socken an, wobei Veland das natürlich allein schaffte, aber Evi brauchte Hilfe.

Es war keine Zeit, um mehr einzupacken, er wickelte Everett noch in ein weißes Lacken und schlüpfte selbst in einen Mantel und Schuhe, dann nahm er Evi auf den Arm und ging zum Fenster.

Sofort schlug ihm kalter Wind und Nieselregen entgegen, wie es für Phillin Burgh üblich war, und der Morgen gewann gerade erst an Farbe, dichter Dunst stand in den Straßen über dem alles einnehmenden, schwarzen Stein, aus dem die Stadt erbaut war.

Seit die Stadtwacht ins Haus eingedrungen war, war nicht so viel Zeit vergangen, wie es sich für ihn angefühlt hatte.

Darcar warf einen Blick nach unten – und fluchte unterdrückt. Das war höher, als er gedacht hatte. Er würde es bestimmt schaffen, aber nicht mit Evi auf dem Arm.

Schritte vor der Tür, jemand rüttelte an ihr, erst probehaft, dann kräftiger. Veland zuckte erschrocken zusammen. Darcar zog ihn an der Schulter zu sich.

»Nimm Evi, ich gehe zuerst, dann springst du und ich fange euch auf!«, erklärte er.

»Nein!«, rief Veland und drückte ihm Everett zurück an die Brust. Der Kleine fing durch die grobe Behandlung an zu weinen, spürte instinktiv, dass um ihn herum gerade ihre ganze Welt zusammenbrach, und seine Brüder Angst hatten. »Pa! Pa!«, weinte Everett. Es war das einzige Wort, das er bis zu diesem Moment je gesagt hatte.

»Du darfst mich nicht allein lassen!«, flehte Veland aufgelöst, »Darc! Du darfst uns nicht allein lassen!«

»V! Ich muss euch auffangen, es ist zu hoch!« Er rief die Worte aufgebracht in das Gesicht seines panischen Bruders, der daraufhin auf die Lippe biss, um nicht zu weinen. Darcar würde sich hinterher entschuldigen, gerade verlor er etwas die Geduld; hatte selbst Angst und wusste nicht, was er eigentlich tun sollte.

Vor der Tür wurden Rufe laut. »Aufmachen! Sofort!« Sich leise zu verhalten war jetzt unnötig, sie würden diese Tür aufbrechen. Schon rumste es lautstark, als mindestens einer der Uniformierten mit der Schulter dagegen rannte. Magdas Stimme mischte sich unter den Lärm: »Lasst sie in Ruhe! Es sind doch nur Kinder! Lasst sie gefälligst in Ruhe! So habt doch ein Herz!«

»Nimm ihn jetzt!« Darcar drückte den weinenden Evi nachdrücklich in Velands Arme, der von dem Chaos vor der Tür kurz abgelenkt war, und drehte sich zum Fenster um, ehe sein Bruder sich erneut weigern konnte.

Doch als Darcar auf das Fensterbrett steigen wollte, bemerkte er unten etwas im Vorgarten. Fluchend ließ er sich fallen und duckte sich unter das Fenster, packte Veland und riss ihn zu sich.

»Was?«, wimmerte Veland verwirrt. »Was ist los?«

Darcar schüttelte nur mit grimmiger Miene den Kopf und presste seine Brüder an sich. Er wollte ihnen nicht sagen, dass Scharfschützen auf das Fenster zielten. Wollte sie nicht verstören. Ihr Leben lang – so kurz es auch gewesen sein mochte – hatten sie beigebracht bekommen, dass die Männer der Stadtwacht ihre Beschützer, ihre Helfer waren. Am heutigen Tage wurden sie zu ihrem schlimmsten Feind, und das nur, weil ihr Vater all sein Geld verloren hatte.

Darcar war sich nicht sicher, ob die Schützen sie nur festhalten sollten, oder ob diese Mistkerle wirklich abdrücken würden. Er wäre das Risiko eingegangen, wäre er allein.

»Darc, wir müssen fliehen!« Veland riss an seinem Hemd. »Wir müssen fliehen, Darc!«

Darcar schüttelte erneut den Kopf, presste Veland an sich und grub die Nase in sein weiches Haar, das nach Keksen und Kaminfeuer duftete. »Das geht nicht, V.« Er schloss die Augen. »Es tut mir so leid, so leid…«

Er wusste nicht, was er tun sollte, er wusste gar nichts mehr. Ein Gefühl der Leere breitete sich in ihm aus, er wollte doch tatsächlich weinen, sehnte sich nach jemandem, der ihm sagte, was zu tun war. Jemand, der ihn rettete. Er war doch auch nur ein Kind!

Doch dann kam die Wut und sein Trotz zu tage. Denn er wollte nicht schwach sein, nicht verzweifeln. Er sprang auf und zückte das Küchenmesser, beschützend stellte er sich vor seine Brüder. Er wusste, dass er nicht alle überwältigen konnte, aber sie würden ihn nicht kampflos bekommen. Und auch nicht seine Brüder.

Die Tür brach mit einem lauten Knall und krachte schwungvoll gegen die Wand. »Auf den Boden!«, brüllten dunkle Stimmen. »Lass das Messer fallen!« Unwillkürlich zuckte Darcar zusammen, aber als er die ersten drei Männer in ihren dunkelblauen Uniformen und den eimerförmigen Hüten sah, die nur mit Knüppeln, statt mit Schusswaffen auf ihn zutraten, gewann er an Mut. Er stürzte sich auf die Männer, Magda schrie im Türrahmen überrascht auf, Veland kreischte Darcars Namen. Es ging schnell, beinahe zu schnell. Blindlings stach er zu, schlitzte einem ausweichendem Uniformierten den Ärmel auf, Wolle quoll hervor. Als er erneut ausholte, packte ihn ein anderer am Handgelenk und verdrehte ihm schmerzhaft den Arm auf den Rücken, wodurch er sich aufschreiend nach vorne krümmte und die Finger öffnete. Er verlor das Messer. Und diese Typen waren jetzt wütend.

»Darc!«, brüllte Veland verzweifelt, als Darcar von einem Knüppel im Nacken getroffen und zu Boden geworfen wurde. Für einen Moment drehte sich alles und ein helles Klingeln dröhnte in seinen Ohren, er sah nur verschwommen, und sein Magen drehte sich um. Dabei spürte er zunächst keinen Schmerz, das Adrenalin in seinem Blut verhinderte das, jedoch spürte er, wie ihm etwas Warmes in den Nacken floss.

Sie traten und knüppelte auf ihn ein, instinktiv krümmte er sich zusammen. Es dauerte nicht lange, sie wollten ihn nicht töten, nur niederprügeln. Magda riss an einem der Kerle, der sie so grob wegstieß, dass sie zu Boden stürzte. Zwei andere rissen Veland und Everett auseinander. Wie benommen konnte Darcar nur machtlos zusehen, wie denen, die er liebte, wehgetan wurde, spürte und sah die Angst seiner Brüder – und konnte nichts tun.

»Bringt sie raus.« Der Kommandant erschien wieder in der Tür, winkte sie ungehalten aus dem Raum.

Jemand packte Darcar ins Haar und riss ihn brutal auf die Beine. Er schrie auf, stolperte hinter dem Wachtmeister her, der ihn über den Flur und dann die Treppe hinunterzog. Trotz Schmerz, trotz Wut, versuchte er, sich nach seinen Brüdern umzusehen. Veland war am Arm gepackt, schluchzte, aber lief brav mit. Everett wurde zumindest auf den Arm genommen, aber er kreischte lauthals und sein Kopf war bereits ganz rot.

Draußen vor dem schwarzen Gitter hatten sich ein paar Schaulustige versammelt, die zu dieser frühen Stunde bereits unterwegs gewesen waren. Darcar hatte keine Augen für sie, er erblickte nur das Chaos. All ihre Sachen, Kleider, Schmuck- und Kunststücke, die seiner Mutter gehört hatten, alles aus dem Haus war achtlos im Vorgarten verteilt worden, wie üblich bei einer Räumung. Die Wachtmaster würden sich gewiss noch ein paar wertvolle Dinge einstecken und den Rest dann verbrennen. Darcar überkam ein seltsames Gefühl des Unglaubens, als er daran dachte, dass alles, was sie je besessen hatte, zu Asche verbrannt wurde. In diesem Moment, als er am Haar aus seinem eigenen Haus geschliffen wurde, wusste er mit einer Endgültigkeit, dass nichts mehr so sein würde wie je zuvor, dass ihm übel und kalt zugleich wurde. Er fühlte sich, als würde er in einen tiefen, schwarzen Abgrund stürzen. Er fiel… und fiel … und fiel…

Und als wäre der Schmerz nicht schon groß genug, warf man ihn auf den Rasen, durchsuchte ihn von Kopf bis Fuß und riss ihm das Medaillon mit dem Bild seiner Mutter vom Hals. Er versuchte, sich zu wehren, tobte und klammerte verzweifelt die Faust um die Kette. Er weinte nun doch, teils aus Wut, teils aus Trauer, es war ihm gleich, was man von ihm hielt. Er konnte es nicht ertragen, dass ihm das Einzige, was ihm von seiner Mutter geblieben war, weggenommen wurde.

Sie schlugen ihm mit den Knüppeln auf die Arme, bis er losließ und sich schmerzerfüllt und heulend im Gras krümmte. Irgendwo schluchzte Veland seinen Namen, aber er konnte seinen Bruder jetzt nicht ansehen, sich sein Versagen nicht vor Augen führen.

Zum ersten Mal wusste er, was es hieß, wirklich allein zu sein.

»Genug!«, ertönte plötzlich eine erboste, bekannte Stimme. »Ja seid ihr denn von Sinnen? Habt ihr kein Mitgefühl, ihr Tiere?! Das sind Kinder!«

Tränenverschmiert hob Darcar den Blick. Der Sheriff trat durch das Tor und gebot seinen Männern Einhalt. Für einen Moment glaubte Darcar, sie seien gerettet, doch dann hörte er Vic sagen: »Ihr hättet ihnen wenigstens ihre Würde lassen können! Es ist schon schlimm genug für sie!«

»Vic…«, wimmerte Darcar. Doch er wusste, dass selbst der Sheriff sie nicht retten konnte.

Der alte Freund seines Vaters drehte sich zu ihm um, bedachte ihn mit einem entschuldigenden Blick. »Es tut mir so leid, mein Junge.«

Darcar wurde wieder wütend, wollte ihn beschimpfen, ihm an den Kopf werfen, dass er ihm versprochen hatte, dass alles gut werden würde. Aber er hatte einfach keine Kraft mehr, blieb mit leeren Augen liegen und fühlte sich der Situation plötzlich völlig fremd. Als wäre er nur einer der gaffenden Nachbarn, und nicht Teil davon.

Da drehte Vic sich um und deutete auf den Mann, der Everett auf dem Arm hielt, als wäre er nur eine Puppe. »Was macht ihr da mit dem Kind der Haushälterin?«

Alle wirkten überrascht, allen voran Magda.

Der Mann, der Evi hielt, blinzelte verwirrt. »Sir? Wir… wir haben Anweisung…«

»Die van Brick Kinder, ja, nicht den Balg der Haushälterin! Ja kann man euch denn gar nichts zutrauen?« Erbost nahm Vic Evi aus den Armen des verwirrten Mannes und wiegte ihn, während er ihn zu Magda brachte.

»Sheriff!« Der Kommandant der Truppe trat ärgerlich zu Vic. »Wenn das Kind der Dame gehört, kann sie das sicher beweisen.«

»Aber natürlich kann sie das! Wir können jetzt sofort alle zum Gericht gehen und die Geburtsurkunde anfordern. Ihr wisst ja, wie das in städtischen Krankenhäusern so ist, da wird einiges verschlampt, vermutlich werden wir den ganzen Tag dort verbringen, oder länger.«

Die Lippen des Uniformierten wurden schmal, als er sie pikiert zusammenpresste. Es war deutlich, dass er nicht den Wunsch verspürte, wegen eines Balges den ganzen Tag in einem dunklen Flur zu sitzen und zu warten. Und dann darüber einen Bericht zu verfassen. Gewiss wollte er lieber dabei sein, wenn das Urteil vollstreckt wurde.

Darcar wurde übel, dieses Mal krümmte er sich und würgte Galle ins Gras.

»Uns wurde zugetragen, er habe drei Kinder…«, hielt der Mann trotzdem dagegen.

Vic bot ihm einen Ausweg: »Van Bricks erste Frau starb mit einem Kind im Bauch, guter Mann, auch das können wir nachforschen. Dies hier ist der Sohn der Haushälterin.« Magda drückte Evi an sich und versuchte, ihn zu beruhigen. »Ich bin der Sheriff – und ich bürge dafür.« Vic beugte sich zu dem Mann, seine Augen bohrten sich in dessen. »Habt doch ein Herz, Bursche. Er ist nur ein Hosenscheißer. Wollt ihr gleich drei Kinderleben auf eurem Gewissen haben?«

Die beiden Männer lieferten sich ein Blickduell, doch schließlich gab der Jüngere seinem Vorgesetztem nach. Offenbar gepackt von einem Anflug Menschlichkeit. Er nickte und schien sich auch ein wenig zu schämen, vor allem als sein Blick auf Darcar fiel, der gegen seine Übelkeit ankeuchte.

»Darc!«, rief Veland. »Das dürfen sie doch nicht…«

Doch sein Bruder verstummte, als Darcar zu ihm aufsah und kaum merklich mit ernstem Blick den Kopf schüttelte. Sei still, warnte er mit den Augen.

Wenigstens hatte Vic Evi retten können. So jung wie er war, kannten ihn die Meisten gar nicht, es würde leicht sein, das Gerücht zu verbreiten, dass Evi Magdas Sohn war – und kein van Brick.

Für V und Darc war es jedoch zu spät, jeder kannte sie als die Söhne des großen Bahnbarons. Und nun als die Söhne eines Verräters.

Es war ihnen nicht gestattet, in der Stadt zu leben, deshalb konnten und durften Vic oder Magda sie nicht aufnehmen. Sie waren nun keine Menschen mehr, nur noch Verbannte.

»Führt sie ins das Rattenloch«, sagte der Kommandant abschließend. Es war das letzte Mal, dass Darcar einen Blick auf die schwarze Steinfassade seines Hauses warf. Er würde es nicht wiedersehen.

Kapitel 2

Der dunkle Dampf war bereits zu erkennen, noch bevor der Zug in die Stadt hineinfuhr. Die schwarzen Schwaden zogen einen fast so langen Streifen wie die vielen aneinander gereihten Waggons selbst, als würde ein finsteres Feuer im Inneren der Öfen brennen, die die Räder antrieben. Sobald die Lock die Stadt erreichte, trennte der dichte Rauch ganze Stadtviertel durch eine regelrechte schwarze Wand.

Ein Zug wurde immer mit einem ohrenbetäubenden Pfeifen angekündigt, doch noch bevor man ihn sah und hörte, konnte man ihn spüren. Durch die vibrierenden Gleise, noch lange bevor der Dampf in Sicht kam. Dies war das Zeichen für die Ratten, von den Schienen zu verschwinden.

Die Ratten. Das waren keine verseuchten Nagetiere, sondern nur verseuchte Straßenkinder, die sich ein paar halbe Noten verdienten, indem sie für die Stadt den Müll und den Unrat zwischen den Schienen einsammelten.

Ein Schicksal, von dem sie hoffen konnten, dass sie es auch einmal antreten würden, dachte Darcar wie benommen. Denn selbst diese Ratten waren angesehener als sie es noch waren, immerhin hatten diese Kinder das Recht, sich in der Stadt aufzuhalten, auch wenn man sie nachts zurück in das Elendsviertel treiben würde. Darcar und Veland wurden jedoch auf direktem Wege in »Das Rattenloch« gebracht. Das war ein noch mal mit einer Mauer abgetrennter Bereich im Elendsviertel, mit streng bewachten Gittern, wo nur straffällig gewordene Kinder eingepfercht waren.

Oder Kinder von Verrätern.

Er wusste nicht, was ihn dort drinnen erwartete. Niemand wusste das. Es gab Gerüchte, gewiss, von Jungen, die freigekauft oder angeblich daraus entkommen waren, doch Darcar hatte sie alle für Lügner gehalten. Nun würde er es selbst erfahren.

Sie standen am Bahnhof, der Zug fuhr mit ratternden Rädern über die Schienen und hielt mit einem lauten Pfeifen und Kreischen an. Veland hasste dieses Geräusch, er zuckte dann immer zusammen und hielt sich die Ohren zu.

Dampf hüllte sie ein, als der Zug zum Stehen kam. Weiter vorne auf dem Gleis stiegen Passagiere aus und neue ein. Darcar und Veland standen ganz hinten, den letzten Wagon vor Augen, seine Fenster waren mit massiven Gittern versehen. Er würde sie in ihr neues Zuhause bringen.

Veland sah zu ihm auf. »Warum müssen wir dorthin?«, fragte er.

Darcar starrte wütende Löcher in die Waggonwand. Weil sie fürchten, dass wir eines Tages unseren Vater rächen, dachte er bitter. »Weil sie grausam sind«, antwortete er jedoch nur.

Zwei Deputies und Vic waren bei ihnen. Er spürte ihre Augen im Nacken, doch sie sagten nichts. Vic wollte ihm aufmunternd die Schulter drücken, aber Darcar wehrte sich mit einem energischen Schulterzucken.

Es war bitterkalt, der Winter kroch durch jede Ritze und legte sich mit seinem frostigen Atem auf die Haut, klebte sich fest, drang in jede Pore und sorgte für steife Glieder. Darcar fühlte seine Zehen und Finger kaum noch, er zitterte und versuchte, es zu unterdrücken. Er trug nur seine Unterwäsche und den langen Mantel darüber, immerhin war Veland einigermaßen gut eingepackt, doch auch seine Hand fühlte sich eiskalt an, als er Darcars ergriff und nicht mehr losließ.

Darcar rieb mit dem Daumen über die kalten Knöchel seines Bruders, um sie zu wärmen. Veland drückte sich ängstlich an ihn. Immerhin riss Vic sie nicht auseinander, er war sichtlich traurig über ihr Schicksal. Das machte Darcar beinahe noch wütender. Mitleid brachte ihnen rein gar nichts, von Vics entschuldigendem Lächeln konnten sie sich auch nicht freikaufen.

Oder ihren Vater retten.

Aber an diesen durfte Darcar jetzt nicht denken. Er hatte bereits auf dem Weg hierher mehrfach versucht, sich loszureißen, war aber immer wieder eingefangen worden. Selbst Passanten, die Freunde oder zumindest Bekannte seines Vaters gewesen waren, hatten ihn aufgehalten und der Obrigkeit übergeben, ihn wie einen Verbrecher behandelt, als würden sie ihn gar nicht kennen. Elende Verräter. Erst als Vic zu ihm sagte: »Ich weiß, dass du deinem Vater helfen willst, aber das geht nicht mehr. Du kannst ihn nicht befreien, sie würden dich fassen und auch hängen. Denk nach, Junge. Deinen Bruder kannst du noch beschützen, tu es für ihn, lass ihn nicht allein«, hatte er sich seinem Schicksal ergeben. Obwohl ihm speiübel wurde und er sich fühlte, als würde er seinen Vater im Stich lassen – ihn sogar verraten.

Er konnte dieses nagende Gefühl kaum ertragen, wollte brüllen, bis er daran erstickte.

Für Veland tat er nichts dergleichen. Veland brauchte ihn.

Pass auf deine Brüder auf.

»Wir müssen einsteigen«, drängte Vic sanft.

Es kam Darcar so vor, als würde er auf Treibsand laufen, jeder Schritt war eine Qual. Als würde er auf die Höllenpforte zulaufen. Durch die Kälte waren seine Glieder steif, doch das war es nicht, was seinen Schritt erschwerte, er wollte einfach nicht einsteigen. Aber ihm blieb keine Wahl.

Die Stufen waren steil und glatt, er half Veland darauf. Prompt rutschte sein Bruder aus, Darcar zog ihn an seiner Hand auf die Beine und setzte ihn wieder auf die Stufe. Er hielt ihn fest und trug ihn die restlichen Stufen hoch.

Im Inneren des Wagons war es dunkel, die Fenster saßen sehr hoch, sodass man nicht hinaussehen konnte. Eiserne Sitzbänke, eine Zelle am Ende, blanke Haltestangen. Der Frost hatte sich hineingeschlichen und die Sitzmöglichkeiten wie weißer Schimmel überzogen.

Darcar wickelte Veland den Schal ab, klopfte eine Bank damit ab und legte ihn dann so aus, dass Veland sich darauf setzten konnte, ohne krank zu werden.

»Und auf was sitzt du?«, fragte sein Bruder.

»Auf meinem Hintern, der ist fett genug«, versuchte er sich an einem Scherz. Und tatsächlich lächelte Veland kurz auf, als Darcar sich zu ihm setzte.

Vic und seine zwei Begleiter verzichteten darauf, sie anzuketten, obwohl eiserne Manschetten zu ihren Füßen lagen. Veland entdeckte sie und wurde auf einmal ganz still und steif. Grummelnd streckte Darcar einen Fuß aus und schob die Ketten unter die Bank, damit sein Bruder sie nicht mehr sah. »Komm her«, sagte er dann und zog den Kleinen in seine Arme, hielt ihn fest und wärmte ihn – und auch sich.

Der Zug setzte sich ratternd in Bewegung, ein lauter Pfiff ertönte und dröhnte über die Waggonwände, die Dampfbetriebenen Maschinen arbeiteten lautstark, sodass man ihren gewaltigen Kraftaufwand durch leichte Erschütterungen spürte.

»Wann wird Vater uns holen kommen?«, fragte Veland verängstigt. »Ich will nach Hause.«

Er hatte es noch nicht verstanden. Es brach Darcar das Herz, er konnte kaum atmen. Sein Blick begegnete Vics betroffenem Gesicht, sein Magen zog sich zusammen. Was sollte er bloß tun? Wie sollte er seinem kleinen Bruder erklären, dass sie kein Zuhause mehr hatten?

Statt zu antworten, zog er Veland wieder eng an sich, nahm dessen Finger zwischen seine Hände und rieb sie, bis sie auftauten, führte sie zu seinem Mund und hauchte hinein.

Veland fragte nicht weiter nach, vermutlich kannte er die Wahrheit und wollte sie gar nicht wirklich hören. Der Kleine lehnte den Kopf an die Schulter seines Bruders und ließ mit großen, kindlichen Augen den Blick durch den Waggon schweifen. All das, diese kalte, kahle Dunkelheit, die Zelle, die Uniformierten, die Gitter, mussten ihn furchtbar ängstigen, doch er zitterte nicht einmal, hielt sich nur an Darcar fest, als könnte dieser ihn vor allem Unheil bewahren.

Doch Darcar wusste nun mehr denn je, dass er das nicht konnte. Dass er genau genommen absolut machtlos war und er nichts hätte unternehmen können, wenn man ihm Veland entreißen wollen würde.

Er konnte rein gar nichts bewirken. Dieses Gefühl – diese Gewissheit – zerschlug ihn innerlich.

»Du tust mir weh«, flüsterte Veland ihm zu, sein Atem streifte Darcars Hals und wärmte ihn für einen winzigen, süßen Moment. Verwundert sah er seinen Bruder an, dessen whiskyfarbene Augen wässrig in seine blickten. Erst da bemerkte er, dass er die kleinen Finger seines Bruders vor Wut zerquetschte. Sofort ließ er locker.

»Tut mir leid«, hauchte er reuevoll und legte Velands Hände stattdessen unter seinem Mantel auf seine Brust, um sie warm zu halten. Sein Bruder kuschelte sich wieder an.

*~*~*

Phillin Burg war groß, erstreckte sich über mehrere Hügel und Ebenen, die Häuser reihten sich eng aneinander, ließen selten Platz für Gässchen. Die Stadt lag an einer Bucht, geformt wie ein Sichelmond. An den vielen Stegen, die hinaus auf das schwarze Wasser des Obsidian Meeres führten, legten täglich unzählige Dampfschiffe unterschiedlicher Größe und Form an, ihre dichten Wolken schienen den Himmel über dem Gewässer zu verdunkeln, wobei über der Stadt meistens ohnehin eine dicke Wolkendecke hing, die Sonne war so selten, dass man sie hier für einen Mythos hielt. Wenn es nicht regnete, schneite es.

Es gab das Bahnhofs- und Geschäftsviertel, das mittig und gehoben lag, dort wurde die Stadt durch die Bahnschienen einmal geteilt. Wer unterhalb wohnte, gehörte zu den Arbeitern, Menschen, die gerade so über die Runden kamen, dort waren die Straßen nicht gepflastert und wurden häufig zu einem dreckigen Sumpf. Oberhalb der Schienen spielte sich das elitäre Leben der Elite ab, wo die Straßen breit, gepflastert und gesäubert waren, sogar Bäume in Reih und Glied eingepflanzt waren, um die Straßen zu teilen. Wer es dann noch auf den Südhügel schaffte, wohnte meistens in einer riesigen Villa, war stadtbekannt und angesehen – oder gefürchtet. Es heißt, dort oben fließe pures Gold aus dem Berg, und bis es unten ankäme, wäre daraus Blut geworden. Während unten die Bewohner dreckiges Wasser abkochten, schlürfte man oben Champagner und aß Kaviar.

Darcar hatte bis zu diesem Moment zu den oberen zehntausend gehört. Er war nie herablassend gewesen und sein Vater hatte ihm beigebracht, dass man für seinen Lohn schwer arbeiten musste – dass nichts selbstverständlich war, auch wenn man in eine reiche Familie geboren wurde. Aber nun, da er all das verloren hatte, fühlte er sich ängstlich gegenüber dem Unbekannten, das ihn auf der anderen Seite der Stadt erwartete.

Das Elendsviertel war ein Stadtteil, der einst durch ein Feuer fast gänzlich niedergebrannt war. Die Flammen hatten sich wie Dämonen von einem Dach auf das andere geschwungen und sich die Häuser einverleibt. Da so viele Menschen betroffen gewesen waren und es kaum Hilfe gegeben hatte, um alle zu retten, hatte man eine Mauer um bestimmte Teile der Ruinen gezogen und es zu einem Ort der Verbannten erklärt. Oft kursierte dort die Seuche, als ob dieser Ort den Tod magisch anzog. Das Viertel lag nicht am Hafen, es erstreckte sich im Norden, mittig in der Stadt, und wurde auf den neuen Karten als schwarzes Loch angezeigt, als wäre ein Meteor an dieser Stelle eingeschlagen.

Der Zug fuhr oft an der Mauer und den Gittertoren, die diesen Ort abschirmten, vorüber. Darcar hatte ihn durch die Fenster ein ums andere Mal gesehen. Doch viel war dort nicht, meist nur halb eingestürzte, geschwärzte Häuser. Der Zug fuhr quer durch das Elendsviertel, dort gab es Zelte in den Gassen, Straßenkinder mit schmutzigen Gesichtern und mager. Manchmal versuchte jemand, den Zug zu überfallen, aber es gab bewaffnete Wachen in den Waggons, die Verbrecher mittlerweile abhielten. Tatsächlich besaß dieser Ort so etwas wie einen Bahnhof, denn Leute aus der Stadt kamen trotzdem hier her.

Um die Manege zu besuchen.

Die Manege. Darcar kannte diesen unerhörten Ort nur aus der Ferne, aber die Gerüchte sprachen für sich. Ein verbrannter Stadtteil, den die Bewohner komplett mit Zirkusplanen verkleidet hatten. Rotweiß und schmutzig leuchtete das Zelt in der Ferne. Es hieß, dort gingen viele angesehen Männer hin, um sich mit ruchlosen Mädchen oder Lustknaben zu vergnügen. Dort spielte sich ein morbides Nachtleben ab, Dekadenz sickerte aus jeder Pore. Leichte Mädchen, leichte Jungen, anzügliches Theater, gefährliche Vorführungen, wilde Tiere, vulgäre Lieder. Sein Vater hatte die Manege verachtet, er war der festen Überzeugung gewesen, dass ein rechtschaffender Mann nicht das Elend dieser Menschen ausnutzen sollte. Darcar hatte einst eine Diskussion zwischen seinem Vater und dessen jüngeren Geschäftspartner Kenneth mit angehört, als sein Vater eben jene Worte, an die Darcar gerade dachte, auch zu diesem gesagt hatte, und Kenneth entgegnete: »Wenn niemand mehr dorthin geht, alter Mann, wie sollen diese Menschen dann überleben? Ohne Kundschaft gibt’s kein Geld, ohne Geld kein Essen.«

Sein Vater war stur geblieben, er verachtete diesen Ort und all die Menschen, die dort freiwillig blieben und auf diese unrühmliche Art ihr Brot verdienten.

Was er wohl jetzt dazu sagen würde, wüsste er, dass Vic sie genau dort unterbringen wollte, um sie vor dem Rattenloch – dem Herz des Elendsviertels – zu bewahren.

*~*~*

»Nein«, weigerte sich Darcar, noch bevor sie hineintraten. Die Straßen waren eng und trotz der Ruinen dunkel. Alles wirkte einen Hauch grauer und kälter, der Nebel kroch wie ein schwebender Teppich über den gepflasterten Boden. Alles hatte den Anschein, als würde es in der Stadt noch brennen, selbst die Schneeflocken, die durch den Wind wehten, sahen wie Asche aus. Darcar glaubte, dass es sogar immer noch nach Rauch roch.

Vor einem der vielen Hintereingänge der Manege blieb er stehen und zerrte Veland an sich. Der Kleine hatte keine andere Wahl, als dicht bei ihm zu bleiben, obwohl sein kindliches Staunen ihn für einen Moment von seiner Angst abgelenkt hatte.

Darcar warf nur einen flüchtigen Blick nach drinnen. Dort war es schummrig und es roch nach einer Mischung aus Schweiß und schweren, süßen Parfums. Der exotische Duft biss in seiner Nase, bis er Kopfschmerzen davon bekam, dabei verwehte der Wind draußen bereits die Geruchsnoten. Da war noch etwas, was er erschnüffelte, aber nicht zuordnen konnte. Vielleicht war es dieses Opium, vor dem Vater ihn immer ausdrücklich gewarnt hatte, und das die Freier, die die Manege besuchen kamen, berauschen sollte. Es glühten Lampen im Inneren, rote Tücher waren über sie gelegt, sodass es gar kein richtiges Licht gab, nur eine rötliche Dämmerung, künstlich erzeugt. Es handelte sich um einen schlichten Durchgang, und mehr als ein paar zigarettenrauchende Gestalten mit verschmierter Schminke und abgesetzten Perücken konnte er nicht erspähen. Aber die Menschen, die sich in den Straßen vor der Manege tummelten, genügten ihm bereits. In bunte Lumpen gehüllt lehnten oder saßen sie an den teils bis zur Hälfe eingestürzten Hauswänden und sahen mit leeren, menschlichkeitsfernen Blicken in seine Richtung, wie Geister aus der Dunkelheit. Sie sahen ungepflegt aus, regelrecht heruntergekommen, viele waren missgestaltet oder ihnen fehlten Gliedmaßen. Die Wände waren mit bunten Plakaten zugekleistert, jede Woche prangte ein anderes Gesicht darauf. »Die beinlose Lolita, die auf ihren Händen tanzt«, verkündete eine Überschrift aus roten Zahlen über einer Zeichnung einer beinlosen Frau, die mit dicken und roten Lippen ihre Brüste nach vorne drückte. »Nach der Show könnt ihr sie im Séparée buchen!«

Auf einem anderen stand: »Charly, der Goldjunge! Seht, wie schnell er sich aus seinen Ketten befreit – nach der Show befreit er euch gerne von euren Hosen.«

Es war auf den ersten Blick deutlich, dass das hier ein buchstäblich hartes Pflaster war. Bunt, aber in Darcars Augen trostlos. Ein Leben, das er nicht antreten wollte, nicht würde.

Ein Obdachloser saß unter seinem improvisierten Zelt aus braunen Leinen, kraulte einen dreibeinigen Hund, um den die Fliegen selbst im Winter schwirrten, und grinste zahnlos zu Darcar herüber. Sein rechtes Ohr fehlte und war durch eine Art bronzenen Trichter ersetzt worden.

Beklommen wandte Darcar das Gesicht ab, obwohl der Mann freundlich gewirkt hatte. Er drückte Veland enger an sich, da er plötzlich Angst hatte, ihn zu verlieren.