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Der Untergang beginnt… Zwei Erben. Eine Krone. Und ein Geschöpf, das alles Leben bedroht und den Funken der Liebe erstickt. Während Xaith und Riath beide nach Nohvas Krone greifen, bereitet sich unter der Oberfläche der Welten der wahre Feind auf seinen Schachzug vor. Denn nichts war leichter, als Männer zu verführen, sich gegenseitig zu hintergehen. Doch das Schicksal schmiedet seine eigene Geschichte und bringt zurück, was längst für tot erklärt wurde, um sich gegen den Nebel zu stellen – und die Liebe in die Welt zurückzubringen, die in Vergessenheit geraten ist. *Band 8 der Reihe Chroniken der Bruderschaft
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Seitenzahl: 1494
Veröffentlichungsjahr: 2024
Billy Remie
Geliebtes Nohva
Die Abgründe einer Liebe
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Vorwort
Prolog
Teil 1: Rückkehr
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Teil 2: Damals
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Teil 3: Erlösung
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Epilog
Impressum neobooks
Liebe Leser:innen,
allmählich neigt sich die Reihe ihrem Ende zu, aber noch ist dieser Band nicht der finale Band. Es empfiehlt sich jedoch vor Band 8 den Zweiteiler »Mythen aus Nohva« zu lesen. Es ist natürlich kein Muss, sondern lediglich ein Vorschlag.
An dieser Stelle wünsche ich euch viel Spaß beim Lesen.
Er musste die Seele fortbringen. Dies war seine Aufgabe. Er musste die Seele zu diesem sterblichen Mädchen mit den spitzen Ohren bringen. Es war des Meisters Wille.
Ob jemals ein unbedeutender Wasserdämon - wie er einer war - mit solch einer wichtigen Pflicht betraut worden war, wie sie ihm nun oblag? Der Fisch glaubte das nicht, umso stolzer und aufgeregter war er, während er sich die Strömungen hinaufkämpfte und den Windungen folgte, die sich wie Gedärm aus der Unterwelt in Richtung Sterblicher Welt schlängelten. Doch er empfand auch Angst. Schlichte und blanke Angst, bei seinem Auftrag zu versagen. War sein Dasein doch darauf beschränkt, Unglückliche ins Wasser zu locken, damit sie ertranken und die Seeungeheuer etwas zu Fressen hatten. Er allein war nur ein kleiner Teil zum Beitrag des natürlichen Gleichgewichts. Wo sollte er nur den richtigen See und das richtige Mädchen finden, um die Seele in Ihr Ungeborenes zu pflanzen? Wie sollte er sich bloß vor dem Dämonenfürst verstecken, der das Mädchen ehelichen würde?
Noch immer spürte er den Willen des Meisters in seinem Herzen, der ihn leitete und zu seinem Ziel bringen sollte. Doch wann war die Zeit reif, es zu tun? War er in der Lage, einen Fürsten der Unterwelt unbemerkt zu hintergehen? Und würde der Dämonenfürst – des Meisters Onkel – leicht zu überrumpeln sein? Oder würde er den Fisch bereits in der Nähe seiner Braut fühlen und ihn bei lebendigem Leib in einen siedenden Kochtopf stecken? Jahr ein, Jahr aus.
Würde er nicht alles tun, um den Fisch daran zu hindern, seinem sterblichen Weib die Seele einzupflanzen?
Der Wasserdämon schauderte. Auf keinen Fall durfte er die Seele verlieren, sie war des Meisters Erstgeborener. Ein Heiligtum der Unterwelt, fast noch heiliger als der Meister selbst. Der Fisch konnte es spüren und sein Herzschlag pochte wild vor Aufregung. Die Seele war wach und pochte so rein schwarz wie flüssiges und rauchiges Obsidian. Kalt und heiß zugleich zitterte die Seele in ihm, wandte und windete sich wie eine Larve, die unruhig nach einem Körper verlangte, in dem sie wachsen konnte.
So lange hatten die Dämonen darauf gewartet, dass der Meister ihn frei ließ. Jahrtausende. Jahrhunderttausende. Der Prinz der Unterwelt.
Kein Fürst. Ein Prinz.
Einst als Sterblicher geboren, mit der Saat der Dunkelheit im Herzen. Ein Auserwählter, der die Unterwelt für immer verändern würde. Der Prinz, der ihnen eine Aufgabe schenken würde.
So wurde es ihnen vor langer Zeit vorausgesagt.
Und nun hielt ein bedeutungsloser Dämon ihren Prinzen in seinem Leib verborgen. Oh – er hoffte wirklich, dass die Seele verborgen war und niemand sie verfolgte. Er war zwar schnell und so unbedeutend, dass man ihn leicht übersehen konnte – weshalb der Meister wohl ihn wählte – doch ein Kämpfer war er nicht. Hoffentlich wurden sie nicht entdeckt, von wem oder was auch immer.
Der Prinz der Unterwelt musste wiedergeboren werden, damit er endlich seine Bestimmung erfüllte.
Ob es dem Meister gefiel oder nicht. Dieses Mal würde er den Prinzen nicht kontrollieren und unterdrücken können. Der Fisch konnte spüren, wie hungrig der Prinz nach all den Jahrhunderttausenden des Eingesperrt Seins nach Macht war. Wie sehr er danach lechzte, einen Körper zu erlangen, der seiner würdig war.
Plötzlich kam dem Wasserdämon ein Gedanken. Flüchtig nur, wie eine flackernde Kerzenflamme, entzündet in einem Sturm, die sofort erlosch. Und doch war der Funke stark genug, sich an den Docht zu klammern und die Flamme in einem Moment der Windstille lodern zu lassen.
Warum eigentlich nicht, dachte sich der Fisch. Warum sollte er dem Meister gehorchen, er war nun fort. Wiedergeboren und ohne Gedächtnis, das hatte er belauscht. Wenn der Fisch dem Wunsch des Meister nachkäme, würde dieser den Prinzen doch nur wieder kontrollieren, seine Natur einsperren. Ihn aufhalten, zum dummen Wohl der sterblichen Zweibeiner.
Doch was, wenn der Fisch die Seele woanders hinbrächte? Zu einem geeigneten Körper, zu einer Widergeburt, die seiner würdig wäre?
Wo und wie würde sich wohl ein solcher Körper finden lassen?
»Vielleicht kann ich helfen?«
Erschrocken wirbelte der Fisch herum, sodass ein Vorhang aus wildblubbernden Wasserbläschen seine Sicht behinderte. Als sie sich langsam auflösten, sah er einen alten Mann mit einer Augenklappe, der wie ein Geist im Wasser schwebte und ihm ein Angebot unterbreitete, das ihm logisch und gerecht erschien.
Und dafür sollte er mehr als reich belohnt werden…
»Ihr habt den Dämon abgefangen, nicht wahr?«
»Ich hielt es für das Beste, in diesem Moment einzugreifen«, erwiderte der Schöpfer mit einem leichten Lächeln in der Stimme. Der alte Mann mit der Augenklappe und dem knorrigen Wanderstab hockte auf einem weißen Marmorsockel im weißen Garten, umgeben von weißen Blüten und weißem Kies, der einen perfekten Weg um einen Marmorbrunnen beschrieb, der im Inneren eines von Säulenterrassen gesäumten Hofes lag. Das plätschernde Wasser gluckerte aus der Kehle eines dreiköpfigen Drachen in das marmorne Becken. An Tristheit war das Götterreich mit all seinem makellosen Weiß kaum zu übertreffen.
Desiderius brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass der einäugige Blick des Schöpfers auf ihm ruhte, während er auf der Terrasse die Wände abging und die Geschichte begutachtete, die in beeindruckenden Bildern auf das Gestein gepinselt worden war. Für die Ewigkeit erhalten, denn es gab an diesem Ort weder Zeit noch Wetter, die ihnen zusetzen könnten.
Nun ja, das mit der Zeit war relativ, denn ihm kam es so vor, als wären sie schon ewig dort, was selbstverständlich daran lag, dass er lieber wo anders wäre als hier. In der stofflichen Welt, in der vergänglichen Welt, wo er selbst Fleisch und Blut war – nun ja, zumindest soweit es für jemanden wie ihm derzeit möglich war – und wo Wexmell auf ihn wartete.
Er hasste es, ihn warten lassen zu müssen. Doch so sehr sein Trotzkopf auch durch die Wand brechen wollte, um seinen Willen zu bekommen, sein Körper war genauso wenig bereit wie sein Geist, sich der sterblichen Welt auszusetzen.
Götter waren vergänglicher als jeder Sterbliche. Der Tod war für sie endgültig, es gab keine Ewigkeit danach, keine unsterbliche Seele, denn sie waren bereits mit ihr verschmolzen, weshalb es auch so schwer war, sie zu töten. Mit allen Mitteln mussten sie sich an ihre Existenz klammern und sie beschützen.
Musste er sich an sie klammern und sie beschützen, korrigierte er sich insgeheim. Doch es fiel ihm schwer, sein neues Dasein zu akzeptieren, hatte er das, was er nun war, doch gelernt zu verachten.
»War er es?«, fragte Desiderius, um seine Gedanken abzulenken. »War Melecay die Seele des Prinzen?«
Beinahe spürte er das nachsichtige Lächeln des Schöpfers in seinem Nacken. »Du weißt genau, wer der Prinz der Unterwelt ist, du willst es nur weiterhin leugnen.«
Desiderius drehte sich um, seine Hände waren hinter dem Rücken verschränkt und eine unbestimmte Last drückte seine Schultern nieder. Er schwieg.
»Balthasar M`Shier, Sohn des ersten Blutdrachen, wurde einst in die Unterwelt verbannt, nachdem er den Frieden in Nohva störte. Dein Bruder, Bellzazar, dachte sich vor einigen Jahrzehnten, es sei an der Zeit, ihn zurückzubringen. Was dein Bruder nicht wissen konnte, oder nicht berücksichtigt hat, ist der Umstand, dass Balthasar selbst Seelen in seinem Reich hortete, die er freiließ, bevor er wiedergeboren wurde.«
Desiderius ließ sich die Worte durch den Kopf gehen und warf einen weiteren Blick auf die Geschichte, die die Wände erzählten, die seinen Bruder und Balthasar zeigten, daraufhin folgten Bilder von Balthasar in der Unterwelt, wie er Phiolen an Dämonen verteilte, die sich daraufhin auf den Weg machten.
Ja, er wusste, wer die Seelen waren. Oder zumindest, wer sie in diesem Leben waren, doch wer oder was sie davor gewesen sein mochten, blieb ihm verborgen.
»Das verstehe ich nicht.« Kopfschüttelnd trat Desiderius durch die Säulen in den Hof, der weiße Kies unter seinen Füßen knirschte nicht einmal, als würde er auf einer seidenglatten Leinwand laufen; auf einem Bild, das nicht echt war. »Zazar sagte, es wären die ersten Leben meiner Söhne. Sie hätten nie zuvor existiert. Und das, was sie jetzt sind, hat es so noch nie gegeben.«
»Letzteres ist wohl wahr, ihre Fähigkeiten sind einzigartig. Was das andere betrifft… Nun, glaubst du, dein Bruder wäre nicht fähig, sich zu irren?« Ein amüsierter Ton lag in der Stimme des allmächtigen Wesens. »Die Ereignisse um Balthasar liegen… « - er musste tatsächlich nachdenken, oder er war ein guter Schauspieler - »… nun, mehr als zweihunderttausend Jahre zurück. Es war das erste Jahrtausend, das Zazar in der sterblichen Welt verbrachte. Auch, wenn du und Zazar denken, er sei allwissend, er kann sich zuweilen täuschen oder sich zu sehr auf sein Gespür verlassen. Alles, was Zazar gelernt hat, lernte er von uns. Sein Gespür ist das Gespür einer meiner Götter, meiner Schergen. Balthasar hatte sich zeitseines Lebens von uns losgesagt und stieg selbst zum Gott auf. Die Seelen, die er an sich band, gehören ihm. Ihre Signatur ist für meine Götter schwer zu erfassen. Aus gutem Grund, Balthasar will noch immer verhindern, dass sie uns auch in diesem Leben in die Hände fallen. Er hat sie schlicht vor Zazar verborgen.«
»Aber Ihr wusstet es«, schloss Desiderius und wusste nicht, ob er darüber froh oder verärgert sein sollte. »Und Ihr hieltet den Fisch auf. Warum?«
Der Alte schmunzelte derart keck zu ihm auf, dass sich sein Gesicht in Falten legte, doch der Glanz in seinen Augen strafte seinem Äußeren Lüge, wirkte jugendlich und geistig gewieft. »Fordernd wie eh und je. Das mochte ich immer an dir, Desiderius, du bist nie gewillt, einfache Fakten hinzunehmen, hinterfragst selbst deinen Schöpfer.«
Wartend blickte Desiderius den Alten an.
Noch immer schmunzelnd stützte der Schöpfer sich auf seinen Wanderstecken und erhob sich. »Aus einem einfachen Grund, Desiderius, ich hielt es für klüger, den Jungen in Hände zu legen, die ihn vielleicht ein wenig… formen könnten. Der Fisch und ich tauschten die Seelen aus und ich legte den Prinzen der Unterwelt in deine Hände.«
Der Stich in seinen nicht vorhandenen Eingeweiden kam dem einer heißen Klinge gleich, die ihn in zwei Hälften teilte. Desiderius drehte sich zur Seite und ließ das Gefühl der Scham und Schande über sich hinwegschwappen. »Und ich habe versäumt, ihn auf den rechten Pfad zu führen.«
»Findest du, er ist so schlecht geraten?« Schalk flirrte in den Worten mit.
Desiderius sah auf.
Der Schöpfer trat zum Brunnen, das Ende seines Stockes versank lautlos im weißen Kies. »Sehen wir auf seine Taten hinab, tat er gewiss genau das, was von jemandem wie ihm zu erwarten war. Er sehnt sich nach-«
»Macht – Aua!« Desiderius wich vor dem Alten zurück und rieb sich den Arm, wo das knorrige Ende des Stabes ihn erwischt hatte.
»Liebe«, betonte der Schöpfer und stellte den Stock zurück neben seine Füße. Dann lächelte er wieder, während Desiderius ihn noch strafend betrachtete. »Als ich seine Väter für ihn wählte, tat ich das gewiss nicht aus einer Laune heraus. Wexmell und du erschient mir als die richtige Mischung, um auf ihn einzuwirken. Doch du kannst einen Stamm vielleicht formen, Desiderius, aber du kannst ihn nicht in eine andere Richtung biegen, ohne ihn zu brechen. Entsprechend kann ich bisher sagen, dass es wesentlich schlimmer hätte kommen können. Denn letztlich habt ihr ihm eure Werte mitgegeben. Und die hat er nicht vergessen, er ist grausam zu seinen Feinden und zu Verrätern, doch trotz all seinem Potential, hat er Unschuldige oft beschützt.«
Desiderius ließ von seinem Arm ab und seufzte stumm mit Blick ins Leere, sein Herz hatte zu alledem eine andere Meinung. »Ich weiß, dass ich an vielem Schuld bin, was meine Erben betrifft.«
»So wie ich an den Handlungen meiner Kinder – den Göttern.«
Desiderius blickte dem Schöpfer in das von Grauenstarr trübe Auge und konnte sich dem Verständnis doch nicht öffnen. »Ich stehe für die Fehler ein, die ich begangen habe. Er mag sein, was er ist oder nicht ist, er war meine Verantwortung, und die gebe ich nicht ab, indem ich mich damit tröste, dass ich nicht gegen seine Natur ankommen könnte.«
»Lobenswert, aber auch gefährlich, Desiderius. Du siehst deine Söhne wie etwas, das es zu reparieren gilt. Etwas, das du falsch zusammengebaut hast und das du jetzt mit ein paar Handgriffen korrigieren könntest.«
»Und was soll ich Eurer Meinung nach mit ihnen machen?«, fragte er mit dem Dorn der Gereiztheit in der Brust, der eine allzu unerträgliche Unruhe verursachte. »Er hasst mich – und das vermutlich nicht ohne Grund – er wird nicht auf mich hören, noch sich von mir belehren lassen. Und Melecay… verdammt, wenn er Balthasar ist, ist er ein Gott. Wie soll ich einem Gott befehlen?«
Das wettergegerbte Gesicht, das der Schöpfer trug, nahm einen beunruhigend ernsten Ausdruck an. »Indem du selbst ein Gott bist und indem du aufhörst, zu befehlen, und anfängst, zuzuhören.«
Desiderius presste die Lippen aufeinander und wandte seinen Blick dem Brunnen zu. Seine Augen wanderten hinauf zu den drei Köpfen des Drachen. Das weiße Licht an diesem Ort glitzerte auf den Wasserfällen, die aus ihren aufgesperrten Mäulern rauschten.
»Warum habt Ihr ihn zurückgebracht?«, stellte er nach einem Moment diese eine Frage, die tief in ihm brannte, die er aber aus offensichtlichen Gründen ungern stellte. Implizierte sie doch das Schlimmste, was ein Vater denken konnte. »Warum habt Ihr seine Seele nicht vernichtet, als Ihr sie in Euren Händen hieltet?«
»Glaubst du immer noch nur an das Gute und das Böse, mein Sohn? An Schwarz und Weiß?«
»Mitnichten.«
»Dann verwundert mich deine Frage«, der Schöpfer betrachtete ihn wissend. »Oder läufst du nur wieder vor der Wahrheit davon?«
Desiderius starrte zu den drei Drachen hinauf, sagte jedoch nichts.
Der Schöpfer folgte seinem Blick und betrachtete die Drachen ebenfalls. »Beeindruckende Geschöpfe, so groß und so übermächtig, dass man sie oft für brutal und zerstörerisch hält, aber wusstest du, dass Drachen sich nur von Überfluss ernähren? Wegen des natürlichen Gleichgewichts. Deshalb kamen sie einst in unsere Welt, um Menschen zu fressen, bevor sie zu zahlreich werden. Ich habe sie deshalb nie versucht, zu vertreiben, sondern eine stumme Allianz mit ihren Ältesten geschlossen. Ohne sie sähe unsere Welt nach zweihunderttausend Jahren um einiges düsterer aus, würden sie nicht unser Gleichgewicht wahren.«
Überraschung schlug Desiderius mitten ins Gesicht, er fuhr zum Schöpfer herum und betrachtete ihn forschend.
Dieser lächelte nachsichtig, als er seinen Blick erwiderte. »Du bist jetzt ein Gott – oder so gut wie. Es ist an der Zeit, dass du aufhörst, dich vor der Wahrheit zu verschließen.«
Wie auf ein Stichwort bewegte sich etwas im Becken des Brunnens und zog Desiderius` Blick auf sich. Ein Schuppenkleid schwebte durch das Wasser, es schillerte in allen weltlichen Farben, sodass seine Pracht an diesem tristen weißen Ort beinahe zu viel für seine Augen war. Die Farben blendeten ihn regelrecht und weckten gleichsam die Sehnsucht nach der stofflichen und farbenfrohen Welt der Sterblichen, in jener er lieber wäre als im Reich der Götter.
Der Fisch zog an ihm vorbei und schwamm seine Runden im Brunnen. Desiderius trat näher und sah ihm dabei zu, wissend, wer oder was er war.
»Ich dachte, es sei der Untergang Eures Reiches, würde ein Dämon es betreten«, sagte er und legte die Hände auf den Marmor des Brunnens. Der Fisch schwamm schneller, entfernte sich ängstlich, als er sich über ihn beugte.
»Ich versprach ihm, für seine Sicherheit zu sorgen, und ich halte immer mein Wort.« Der Schöpfer trat an das Becken heran und streckte eine Hand aus, die nur aus Knochen und faltiger Haut bestand. Die langen Finger sahen aus wie gekrümmte Äste, als er sie mit den Spitzen ins schillernde Wasser tauchte. Der Fisch schwamm heran, zahm und freundlich, ließ sich streicheln wie eine Katze und wuchs und gedieh unter der Berührung. Seine Schuppen funkelten noch mehr.
Der Schöpfer zog die Hand zurück, hielt sie demonstrativ hoch und sagte schmunzelnd: »Siehst du, ich bin nicht vergangen.«
Eine kalte Vorahnung erfasste von Desiderius Besitz, wie ein Schatten, der über das Tal seines Rückens fiel und jegliche Wärme verschlang. Aber er hatte gelernt, zu schweigen und zu warten.
»Um deine Frage zu beantworten«, fuhr der Schöpfer schließlich fort, »es geht um das schlichte Gleichgewicht, mein Sohn. Der Prinz der Unterwelt ist eines dieser Gleichgewichte. Niemand hat ihn erschaffen, sein Potential erwachte einfach so, als Antwort der Natur auf die Völker. Er ist der Grund, weshalb ich meinen Göttern verbot, sich weiter in das Geschehen der Sterblichen einzumischen, hätte ihre Einmischung doch mehr von ihm hervorgebracht. Doch das war ein Fehler. Alles war ein Fehler.«
Verwundert schüttelte Desiderius den Kopf. »Was meint Ihr damit?«
»Sag du es mir, mein Sohn, sieh die Welt mit den Augen eines Gottes. Sieh sie mit den Augen eines Drachengottes, eines Wesens, das mehr sieht als die Sterblichen. Was siehst du?«
Desiderius sagte nichts, er konnte und wollte es nicht aussprechen, war er doch Teil davon.
»Die Unterwelt ist nicht das reine Böse, nur ihr Sterblichen wollt sie so sehen, weil sie euer Gegengewicht ist. So wie ihr das Böse im Wolf seht, der euer Leben bedroht, obwohl er nur sein eigenes Leben lebt. Wie Ihr das Böse in einem Gewitter seht, obwohl es nicht einmal über eure Existenz nachdenkt. Wie ihr das Böse in einem Hund seht, der nach euch schnappt, weil ihr sein Leben nicht respektiert. Ihr teilt alles in Gut und Böse, dabei seht ihr nicht, dass das eigentliche Böse, ihr selbst seid.«
Stirnrunzelnd sah Desiderius dem Schöpfer nach, der an ihm vorbei schlenderte und mit einer einzigen Handgeste die Bilder an den Wänden auf der Terrasse änderte. Sie wurden düsterer, blutiger, schwärzer.
»Der Dämon war vor euch da«, führte der Schöpfer aus. »Wir fanden einst eine Welt voller Schatten und Felsen und Kreaturen, die ohne Sonne und ohne Pflanzen überleben konnten. Eine Welt, die von Magieströmen und magischen Wesen lebte. Wir kamen aus Welten, die immergrün waren, mit saftigen Wiesen und Feldern und strömenden Flüssen. Wir wollten dieser Welt etwas Gutes tun, also formten wir sie um, damit Leben entstehen konnte, nichts ahnend, dass wir damit den Lebensraum der meisten Kreaturen vernichteten. Sie flohen in den Untergrund und versteckten sich hinter magischen Toren.«
»Die Unterwelt.«
»Die Welt war erblüht, aber leer, also erschufen wir Leben«, sprach der Schöpfer ungerührt weiter, während sich auf den Wänden Bilder zu seinen Worten formten. »Und wir schufen die Volker, die mit der Magie dieser Welt so verbunden waren, dass sie sie nutzen konnten. Zumindest einige von ihnen. Die, die weniger gebildet waren, ließen wir in der Welt zurück, um sie zu bevölkern, die mächtigsten Magier jedoch, erhoben wir zu Göttern und lösten sie von ihrer sterblichen Hülle, damit sie mit uns gemeinsam die Welt weiter gestalten konnten. Doch wir bedachten nicht, dass wir damit auch wichtiges Verständnis und Mitgefühl aus der Welt entnahmen. Die Götter mussten zusehen, wie ihre Schützlinge unaussprechliches mit der Welt anstellten. Unsere wunderschöne Vision wurde zu einem blutigen Alptraum aus Sklaverei und Ausbeutung. Die Götter verzweifelten.«
»Einige wurden jedoch abtrünnig und grausam, von Mitgefühl war keine Spur bei Euren Göttern geblieben.«
»Du verachtest ihre Methoden und ein wenig verachtest du auch mich.« Der Schöpfer belächelte ihn jedoch gutmütig, während er ihn umrundete, um zum Brunnen zurückzugelangen. »Du fragst dich wütend, wieso ich den Göttern so viel erlaubt habe, wieso ich oft nicht eingegriffen habe, wieso so viele sterben mussten. Und auch hier lautet die Antwort: Ausgleich.«
Desiderius wollte es nicht verstehen, aber so sehr er sich auch dagegen wehrte, in seinem Kopf und in seinem Herzen ahnte er bereits, worauf der Schöpfer hinauswollte. »Das wahre Böse, steckt in Eurer eigenen Schöpfung.«
»Die scheinbare Grausamkeit der Götter spiegelte lediglich stets euer eigenes Verhalten wider. Es spiegelt euren Umgang mit Leben, mein Sohn.«
Desiderius drehte sich zu ihm um. »Wieso habt Ihr uns nie gänzlich vernichtet?«
»Wieso ziehst du nicht in Erwägung, deine Kinder zu töten, um zu verhindern, dass sie anderen Leid zufügen?«
Scham und Schuld erfassten ihn wie ein Schlag mit dem Schmiedehammer, der auf seinen Nacken gezielt hatte. Desiderius wich dem Blick des Schöpfers aus und spürte eine schier unaussprechliche Verzweiflung an seinem Verstand nagen.
»Dein Kopf sagt dir, was logisch betrachtet richtig wäre.« Der Schöpfer las aus ihm wie aus einem auswendiggelernten Märchenbuch. »Aber im Gegensatz zu vielen anderen Sterblichen, besitzt du trotz all deiner Härte auch ein Herz.« Milde machte die Stimme des Alten weich wie goldenen Honig, die Zuneigung in seinen nächsten Worten war greifbar. »Du bist ein guter Mann, Desiderius, wegen all deiner Fehler.«
Verwirrt blickte er auf.
»Ich habe deine Entwicklung beobachtet, seit du geboren wurdest, jeden Schritt mitangesehen, jeden deiner Gedanken verfolgt und jeden Zweifel mitgefühlt. Du bist jemand, der nie aufhört, zu lernen. Du bist fähig, dich immer weiterzuentwickeln, dich zu verändern zum Wohle des Ganzen. Und Sterbliche wie du einst einer warst, sind der Grund, warum ich die Hoffnung nie aufgegeben habe. Zum Leidwesen aller anderen Lebewesen, wie ich gestehen muss. Aber euch alle auf einen Schlag zu vernichten, das würde auch bedeuten, alles Leben zu vernichten. Auch wenn ihr es durchaus verdienen würdet, eure Opfer verdienen eine Chance auf Freiheit.«
Desiderius ließ sich die Worte sorgfältig durch den Kopf gehen, während ihn eine Erkenntnis von innen heraus kitzelte. »Der Prinz der Unterwelt soll all das verändern.«
»Er ist die Strafe und er ist der Erlöser«, erwiderte der Schöpfer mysteriös. »Er ist nicht mehr als das, was die Natur entschied, was ihr verdient.«
»Dass wir uns gegenseitig vernichten.«
»Ich hoffte, wir würden es bei einem Dezimieren belassen.« Der Schöpfer setzte sich auf den Rand des Beckens, als hätte er nicht gerade offenbart, das Ende der Welt beabsichtigt zu haben.
Nein, nicht das Ende der Welt, nur das Ende der Völker.
»Was ist ein Leben wert?«, fragte der Schöpfer ihn, bevor er sich von den Worten auch nur erholen konnte. »Ihr Zweibeiner habt dafür eine einfache Antwort. Euer Leben steht über dem Leben anderer. Ihr klagt bei den Göttern, wenn es zu Ende geht, ihr betete die Götter an, wenn einer eurer Liebsten im Sterben liegt, um ihm Aufschub zu gewähren. Ihr seid für euch selbst das Maß aller Dinge. Derweil schätzt ihr das Leben nicht, das wir in eure Hände legten.«
Desiderius wollte etwas erwidern, doch ihm fielen dazu keine Worte ein. Keine Rechtfertigungen. Vielleicht war ein Teil von ihm bereits zum Gott aufgestiegen, denn er spürte ein Grauen in seiner Seele, als würde sie vor Schuld schreien.
»Welches Leben ist wertvoll?«, fragte der Schöpfer lauernd. »Und wer bestimmt das? Du? Die Priester? Der Adel? Die Gewohnheit oder doch eher die bloße Gemütlichkeit? Die Gier?«
Desiderius erwiderte seinen intensiven Blick, war jedoch klug genug, in diesem Moment das Schweigen zu üben.
»Ihr empört euch über Sklaverei, nanntet sie lebensunwürdig, und beendete sie. Und doch versklavt ihr für euren eigenen Vorteil Tiere. Sperrt sie in unwürdig kleine Ställe, um sie zu mästen und zu schlachten. Für euren Appetit – nicht, um zu überleben. Ich bin euer Schöpfer, ich weiß sehr wohl, dass ihr ohne Töten überlebt, besser sogar als mit, dennoch nennt ihr es den Willen meiner Götter, dass alles andere Leben als das eurige unter eurem Genuss steht.«
Der Tadel saß schwer, denn er war wahr.
»Wie viele hast du getötet? Wie viele Leben genommen oder nehmen lassen, um sie zu verspeisen? Was machte dein Leben wertvoller als das ihrige? Gewiss kann ich dich nicht tadeln, dass du versucht hast, zu überleben. Wölfe reißen auch Tiere, nicht wahr? Aber bist du ein Wolf? Seid ihr alles Wölfe? Isst der Wolf nicht nur, um zu überleben, während ihr – bequem wie ihr immer mehr werdet – aus Völlerei heraus versklavt, foltert, mordet und fresst? Stehst du über dem Leben einer Maus, und wenn ja, warum? Was macht dich wertvoller? Weil du reden kannst? Weil du mit deinen Händen Dinge erschaffen kannst? Oder bloß, weil du die Macht besitzt, sie zu töten?«
Der Schöpfer legte in Erwartung einer Erwiderung den Kopf schief.
»Nein«, war seine Antwort aus seiner trockenen Kehle. »Ich habe nicht mehr Wert als eine Maus.«
Der Schöpfer war damit einigermaßen zufrieden. »Ein Gott zu sein – und ob du es willst oder nicht, das bist du jetzt – bedeutet, jedes Leben zu achten und zu verstehen, dass jedes Leben gleich wertvoll ist. Und ich werde dich lehren, zu fühlen, wie jedes Leben, mein Sohn.« Er klang bedauernd, fast mitleidig, was sehr beunruhigend war, als wüsste er etwas Schlimmes, was Desiderius bevorstand. »Und dann wollen wir noch einmal über die Götter reden und warum ich sie nicht aufhalte, wenn sie dafür sorgen, dass ihr euch gegenseitig dezimiert. Denn die einfache Antwort darauf ist, dass wir euch aufhalten müssen. Ihr seid Monster, die in den Augen eurer Schützlinge keine Seele mehr sehen, sondern nur noch Dinge, die ihr ausbeuten könnt.«
Es war ein gewisser Schock, als Monster bezeichnet zu werden, wegen etwas, dass ihm stets als das Natürlichste auf der Welt vorgekommen war. Er hatte viele Leben genommen, viele Männer erschlagen, aber hier ging es um die unzähligen Leben, die er gelassen hatte, um seinem Gaumen eine Freude zu bereiten. Oder eine Rüstung am Leibe zu tragen. Oder auch nur, weil zufällig eine Spinne über ihn gekrabbelt war.
Er wusste nicht, ob er protestieren oder sich schlecht fühlen sollte. Er wollte protestieren, dass er es hatte tun müssen, um zu überleben. Doch das galt vielleicht für die Jahre, die er in der Wildnis verbracht hatte und hin und wieder Jagdglück gehabt und einen Hirsch erlegt hatte, nicht aber für die Jahre als König, als das Jagen ein Zeitvertreib gewesen und der Festmahlbraten ein tristes Leben als lebendige Ware in einem seiner Ställe gefristet hatte, bevor er auf dem Teller gelandet war.
Der Schöpfer verfolgte seine Gedanken und nickte, als wäre er zufrieden mit seiner Entscheidung, ihn gewählt zu haben. »Schon einst hast du Leben gesehen, wo andere nur ihr Essen sahen. Erinnere dich an die Kaninchen im Klostergarten. Du hast in ihnen stumme Freunde gefunden, die Mönche jedoch bloß eine Gelegenheit zum Essen. Schon einmal hast du zu Gunsten des Lebens verzichtet, das möge dir angerechnet werden.«
Desiderius` Magen zog sich zusammen, als er daran dachte, wie er als Kind diese zarten Geschöpfe entdeckt und gefüttert hatte, bis sie Vertrauen in ihn gefasst hatten. Ein Vertrauen, das ihnen das Leben gekostet hatte.
Der Schöpfer breitete eine Hand über das Becken des Brunnens, als wollte er Desiderius einladen, darin zu baden. Doch stattdessen sprang der Fisch so unvermittelt aus dem Wasser auf den Rand, dass Desiderius nass gespritzt wurde und zurückwich. Doch die Tropfen trockneten augenblicklich, als sie ihn berührten.
»Bist du bereit, den wahren Monstern in die Augen zu blicken?«, fragte der Schöpfer, und der Fisch öffnete sein Maul, sodass zwei Reihen messerscharfe Zähne zum Vorschein kamen. »Bist du bereit, deine Schuld anzuerkennen und zu sühnen?«
Desiderius verstand kein Wort – oder sträubte sich dagegen, es zu verstehen. »Ich…«, setzte er an und schüttelte verwirrt den Kopf.
Der Schöpfer lächelte warm. »Wie viele Leben hast du ausgelöscht? Was sind sie dir heute wert? Und wie viel Fleisch hast du genommen? Wie viel haben dir andere Geschöpfe von sich geschenkt, damit du überleben kannst? Was ist im Vergleich dazu schon eine Hand wert?«
Desiderius starrte den Schöpfer einen Moment überrascht an, doch dieser blickte ihn nur wartend an, mit mildem Blick. Zögerlich wanderten Desiderius` Augen in das offene Maul des Fisches, Wasser und Schleim tropften von seinen Zähnen.
Was ist im Vergleich dazu schon eine Hand wert?
Desiderius hing wirklich sehr an seinen Gliedmaßen. Nun ja, wer wohl nicht? Alles in ihm schrie danach, davonzulaufen und den Alten für wahnsinnig zu erklären.
»Das fühlt sich an wie eine Prüfung«, sagte er trocken, um sein Unbehagen zu kaschieren. »Dies ist, wovor Zazar mich bei meinem Tod bewahrte. Das ins Auge blicken meiner Sünden, oder?«
Der Schöpfer lachte dunkel in sich hinein. »Wie willst du Prinzen der Unterwelt und abtrünnige Götter auf den rechten Pfad führen, wenn du nie selbst mit gutem Beispiel vorangegangen bist?«
»Ich fürchte mehr, dass ich selbst davon abkomme, wenn ich sehe, was Ihr mir zeigen wollt.«
»Genau wie der Wert eines Lebens, wird der rechte Pfad nicht von Sterblichen bestimmt, mein Sohn. Ab jetzt darfst du nicht mehr wie ein König denken, ab jetzt musst du wie ein Gott denken. Und das kannst du nur, wenn du gefühlt hast, was jedes Leben je gefühlt hat, vom kleinsten bis zum größten Wesen. All das Leid wirst du mit ihnen teilen müssen. So werden Götter geboren.«
Noch immer zögerte er mit Blick in das offene Maul des Dämons und rieb sich dabei unwillkürlich das linke Handgelenk. »Welche Hand?«, fragte er düster.
»Was ist dir deine Buße wert?«, antwortete der Schöpfer. »Möge das Leben, das du genommen hast, darüber entscheiden, ob das Opfer genug war, um dir zu vergeben.«
»Und wenn sie mir nicht vergeben?«
»Dann irrte ich mich und du warst von Anfang an der falsche Mann hierfür.«
Er hatte tausend Fragen. Der falsche Mann wofür? Warum musste er das hier tun? Konnte er nicht einfach als Sterblicher wiederkehren? Und wenn er keine Hand gab, was würde dann geschehen? Würde er Wexmell wiedersehen…?
Letztlich stellte er keine dieser Fragen, sondern trat entschlossen auf den Fisch zu. Er musste nicht einmal mehr Atem holen, um sich Mut zu machen, er streckte den Schwertarm aus und legte seine Waffenhand in das Maul des Dämons. Die Hand, die das ausmachte, was er einst gewesen war; ein Krieger sondergleichen, der Dämonen und Götter bezwungen hatte.
Denn in Anbetracht der unschuldigen Leben, die für seinen Appetit gestorben waren, war dies das Mindeste.
Das Maul schnappte zu und nahm sich seinen Tribut, doch der aufflammende Schmerz, als die messerscharfen Zähne durch Haut und Knochen sägten, wurde nach nur einem Herzschlag von der Wucht der Magie abgelöst, die in Desiderius` Kopf fuhr und ihn vor Schmerz brüllen ließ. Alles verschwamm, wurde dunkel und von einer undurchdringlichen Schwärze aufgefressen. Doch darauf konnte er sich nicht konzentrieren, in seinem Kopf dröhnte es, als der Dämon ihn durch Zeit und Raum riss. Das Nächste, was er wahrnahm, war der kalte und harte Boden unter ihm. Es war dunkel, es stank und es war klamm. Als er blinzelte, starrte er in die gebrochenen und traurigen Augen einer Sau, die weit über ihm ragte. Ein absurder Gedanke sickerte durch seinen Kopf: Mutter. Eine tiefe Zuneigung überkam ihm und er wollte auf sie zugehen, sie berühren und sich an sie schmiegen, als ihn plötzlich eine riesige Hand packte und hochriss. Vor Schreck kreischte er, seine Mutter quiekte panisch, doch sie wurde immer leiser und leiser, während er davongetragen wurde, auf einen Raum zu, der nach Blut roch.
Und da wusste er, was ihm blühte. Der Schöpfer würde nichts auslassen, würde ihm nichts ersparen. Desiderius würde jedes Leben leben, sei es noch so kurz und sei es in der Welt der Sterblichen noch so wert- und bedeutungslos. Vom Ferkel, das nur wenige Tage lebte, über den Hirsch im Wald, der von Hunden zu Tode gehetzt wurde, bis hin zum totgeprügelten Hund, der nach einem Kind schnappte, das ihm ständig am Schwanz zog. Und mit jedem Leben mehr, das er durchlitt, wuchs in ihm eine Kühle gegenüber der Völker, wie sie nur ein Gott verspüren konnte.
Schuld und Zeit nagen beide an einem Geist, der stets seine Pflichten vertrödelt. Dabei braucht eine Veränderung nichts weiter als Sterbliche, die den Mut finden, den ersten Schritt zu tun.
Täten wir alle den ersten Schritt, würde das Leid endlich enden.
Wegsehen ist leicht. Hinzunehmen ist feige.
Entweder wir ändern jetzt etwas, oder wir gestehen uns ein, dass des Bösen Ursprung immer wir selbst waren – nicht die Dämonen.
Dies ist das Verständnis der Götter.
Zu erkennen, was getan werden muss, sei es in euren Augen auch noch so schrecklich.
Es beginnt bei dir.
Welten zu durchqueren war wie das Durchschreiten von Wasserwänden. Der kalte Widerstand drängte auf ihn ein wie die Masse eines gesamten Meeres, seine Sicht verschwamm wie im Sprühregen, jedes Licht und jedes Geräusch wurde verschluckt, sodass er eingehüllt in einen Kokon aus Nichts haltlos irgendwo zwischen den Dimensionen schwebte. Jedes Mal aufs Neue – und es war gleich, wie viele dieser Grenzen er bereits durchschritten hatte – war es ein Akt der Verzweiflung, vorwärtszugehen. Es fühlte sich mehr wie Schwimmen an, nur ohne Nass zu werden.
Vielleicht fühlten sich Vögel ähnlich, die gegen den Wind anflogen.
Er kämpfte sich vorwärts, rudernd und mit zusammengebissenen Zähnen. Sein Instinkt wollte atmen, doch es gab schon lange keine Luft mehr, die seine Lungen füllen konnte, und zum Glück brauchte er zum Überleben auch keinen Atem, dennoch ließ die Gewohnheit ihn das Gefühl des Erstickens in all seinem Grauen empfinden.
Er kämpfte und kämpfte gegen die Wand an, die ihn zurückdrängen wollte, grub sich in sie hinein wie ein Maulwurf durch die Erde. Mit gebleckten Zähnen wie eine Bestie und knurrend wie ein Wolf, schob er sich Stück für Stück vorwärts, blind, taub und gefangen in der irrationalen Panik, dass er langsam erstickte.
Unter Einsatz seines gesamten Körpers schlängelte er sich durch die fast undurchdringliche Masse, bis seine Fingerkuppen den Hauch von Luft erspürten. Das Herzfragment in seinem Inneren machte einen Satz, er zog sich auf die Stelle zu, von jener er den Hauch gespürt hatte. Weiter, immer weiter. Der Druck innerhalb der Dimensionsmasse quetschte ihn aus sich heraus auf die andere Seite. Mittlerweile brüllte seine Lunge nach Atem, er erstickte Augenblick für Augenblick qualvoll, ohne zu sterben.
Wind umspielte seine Hand, als sie hervorbrach. Er erstastete etwas Nasses und Kaltes. Etwas, das er erkannte, aber seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr gespürt hatte. Sand. Seine Finger gruben sich in feuchten Sand, er zog sich vorwärts. Doch trotz, dass ihn die Wand loswerden wollte, kostete es ihn all seine Kraft, sich auch nur eine weitere Handbreit hervorzuziehen. Es war, als versuchte er, sich durch ein haarnadelgroßes Loch zu quetschen.
Als er die Kraft verlor und innehielt, drohte ihn die Masse in sich zu zerquetschen, doch da packte eine andere Hand die seine und zog ihn aus der Schwärze in eine stoffliche Welt.
Hustend und prustend kam er hervor, landete wie ein nasser Sack im feuchten Sand. Und nass war er wirklich, als wäre er im Wasser geschwommen, dessen Strömung über seine Füße und Beine streichelte, kaum dass er echte Luft einatmete.
»Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du meine Hand festhalten sollst?« Raue Fingerspitzen strichen ihm das feuchte Haar aus dem Gesicht und hoben schließlich seinen Kopf an. Er blickte in vertraute blaue Augen, die unter rabenschwarzen Haarspitzen hervorschimmerten. »Stell dir vor, wir verlören uns, wer jammert mir dann bis in alle Ewigkeit die Ohren voll? Ich habe nicht noch ein Herz, das ich teilen könnte, pass besser darauf auf!«
Cohen schnaubte und stieß Bellzazar von sich. Im Sand brachte er sich schwankend auf die Knie und sog keuchend Luft in seinen gequetschten Brustkorb, seine Lungen brannten, als würde er den Sand einatmen, der seinen nassen Leib bedeckte. »Leck… mich…«, stieß er aus und fuhr sich mit dem Arm über die Lippen.
Bellzazar gluckste über ihn, stand dann auf und reichte ihm seine Hand erneut.
Cohen blickte noch immer am Ende aller Kräfte zu ihm auf und fand für einen langen Moment nicht einmal mehr die Motivation, Bells Hand zu ergreifen. Schließlich gab er sich einen Ruck und schlug ein, im nächsten Moment hatte sein Gefährte ihn auf die Füße gezogen. Er schwankte erneut, denn starker Wind erfasste den Uferabschnitt und ließ ihre schwarzen, nassen Hemden flattern wie Fahnen, die sich um sie wickelten.
»Ich mach das nie wieder«, beschloss Cohen, jedoch nicht zum ersten Mal in den letzten… Er wusste nicht einmal, wie oft und wie lange sie schon umherirrten. »Ich dachte, du kennst den Weg durch die Welten!«, murrte er stattdessen.
»Theoretisch«, wandte Bellzazar ein. »Praktisch… ist alles eine Frage des reinen Zufalls und Glücks.«
Sie waren schon zu lange Gefährten, als dass ihm diese Art der Ausflüchte auch nur den Mund offen stehen lassen könnten. Cohen begnügte sich mit einem Lippenverziehen, strich sich energisch den Sand von den Armen und sah sich dabei erstmals genauer um.
Sie standen an einem Flussufer, das Wasser floss rauschend an ihnen vorbei und riss schwimmende Eisplatten mit sich. Wo kein grauer Sand das Ufer säumte, bedeckte Schnee die Landschaft wie eine Glasur aus Zucker ein Gebäckstück. Die Landschaft erstreckte sich auf der anderen Seite des Flusses so ebenmäßig wie der Boden eines unendlichen Ballsaals aus, hinter ihnen befand sich eine Böschung, die von Frost geplagten Bäumen beherrscht wurde, die wie Götter über ihnen aufragten und ihre dunklen Schatten auf sie warfen. Dahinter waren die Schemen nebelverdeckter Berggipfel auszumachen.
Und doch, so sehr ihn dieser Ort auch an die sterbliche Welt erinnerte, in der er einst geboren und gestorben war, konnte sie es abermals nicht sein. Cohen sah keinen Himmel, nur eine gewaltige graubraune Wolkendecke, aus jener sich Tornados auf die Erde schraubten, die groß genug waren, ganze Städte zu zerstören. Und genau das schienen sie vor langer Zeit getan zu haben, denn in den graubraunen Wirbeln schwebten die Überreste vieler großer Gebäude, ganze Türme und Zinnen waren noch zu erkennen.
Auf den ersten Blick mussten es hunderte Tornados sein. Das erklärte das stetige laute Rauschen und den tosenden Wind. Schnee wirbelte auf der freien Fläche auf, wo die rotierenden Luftsäulen auf Grund trafen, Bäume und Wurzeln wirbelten in ihrem Inneren.
»Wir sind wieder falsch«, stellte Cohen mit einer tiefen Resignation fest. Ihm graute davor, erneut durch die Masse zu treten und hundert Tode zu sterben, bis sie auf die nächste Welt trafen. Verdammt dazu, bis in alle Ewigkeit einen Weg in die Welt zu finden, die die ihre war.
Erschöpft drehte er sich zu Bellzazar um. Sein Gefährte betrachtete mit klugen und nachdenklichen Augen den Himmel, die Iriden waren wieder zu einem glänzenden Schwarz geworden. Vermutlich hatte sich bei dem Anblick selbst Bells Laune verschlechtert.
»Bist du sicher, dass es überhaupt einen Weg in unsere Welt gibt?«, wagte er zu fragen, denn er bezweifelte allmählich ernstlich, ob sie sie jemals wiederfinden würden.
Durch die Portale hatten sie nicht gehen können, diese waren zerstört. Sie hatten einen anderen, langen Weg durch die Dimensionen und Leerräume zwischen den existierenden Welten beschritten, durch Risse, die Bellzazar in die magischen Wände geschlitzt hatte. Doch war seine Macht überhaupt stark genug, eine Welt zu finden, die sie vor nicht allzu langer Zeit erst abgeschottet hatten?
Nun, ihnen war keine andere Wahl geblieben, seit…
»Ich glaube nicht, dass wir hier falsch sind«, fiel Bell ihm mit düsterer Stimme in seine Gedanken. Einer Stimme, die Cohen sofort aufblicken ließ, während sich sein Magen mit unheildrohender Vorahnung zusammenzog.
Bellzazar starrte auf etwas hinter ihm am Himmel und Cohen folgte seinem finsteren Blick, indem er sich wieder umdrehte. Es dauerte einen Moment, bis er entdeckte, was Bellzazars Aufmerksamkeit erregt hatte.
Über den dunklen Schemen hoher Berggipfelt wirbelten Gebäudefragmente durch die Luftsäulen unzähliger Tornados. Gebäudefragmente, die groß genug waren, dass er sie vom Fluss aus erkennen konnte, hatte er sie in seiner Kindheit doch beinahe täglich betrachtet. Die schwarzen Mauern der Schwarzfelsburg. Ihr Burgfried, selbst die Wand samt Balkon vor dem ehemaligen Gemach seines verstorbenen Vaters, wirbelten haltlos durch die Luft. Er erkannte, was einst seiner Familie gehört hatte.
»Wir sind zu Hause«, sagte Bellzazar schlicht, doch Cohen hätte ihn nicht einmal gehört, hätte er ihn angebrüllt.
Gefangen von dem Anblick starrte er auf die Luftsäulen und die Überreste der Burg, während er tonlos flüsterte: »Was ist geschehen?«
Stille war so vielfältig wie Licht und Dunkelheit, sie barg alles in sich, Unheil und Idylle, Friede und Verlust. Der Anfang und das Ende allen Seins.
Alles hatte mehrere Facetten, das war mitunter das faszinierende am Leben, die vielen unendlichen Schattierungen und Varianten von Musik und Stille, die es hervorbrachte.
Wexmell mochte die eingefrorene Stille um ihn herum. Er hatte sie schätzen gelernt. Das absolute Fehlen von… Geräuschen, die die Völker verursachen konnten. Er, geboren und aufgewachsen als Prinz in einem überfüllten Palast. Er, ein Stadtgeborener. Er, der Gefährte eines Königs und später selbst König, der kaum einen Augenblick allein war oder auch nur einen Schritt gehen konnte, ohne dass ihn leise Schritte wie ein Echo folgten. Er genoss die Absolutheit der Stille des abgelegenen Berges, auf dem sie sich versteckt hielten.
Wie friedlich die Welt doch wirkte, wenn keine Zweibeiner sie störten. Da lag nur das Rascheln des Windes in den gefrorenen Baumkronen, das leise Rieseln des Schnees, der von den Tannenzweigen geweht wurde und der lautlos auf der Schneedecke am Boden aufkam, um sie zu bestäuben. Da war nichts weiter als das Flüstern der Winde. Und wenn man ganz genau lauschte, konnte man hin und wieder das leise Tapsen eines Berglöwen oder das Schnauben eines Hirsches vernehmen.
Mehr als das füllte die Stille in den Nebeln nicht, als wäre man auf dem Gipfel der Welt ganz allein. Allein und doch nicht allein. Eins mit der Natur, ein Teil von ihr und nicht bloß ein Dorn in ihrem Fleisch. Er war akzeptiert worden von der Umgebung, den Tieren, den Pflanzen, der Luft.
Kein Hufgetrampel, keine ratternden Wagenräder, kein Atmen, keine Worte, keine Schritte. Kein Geschrei, kein Waffenklirren, kein Hämmern der Schmiedehämmer. Kein Gestank, nur frische Luft, gelegentlich mit einem Hauch von Tod durchtränkt, wenn ein Berglöwe in der Nähe jagderfolgt erzielt hatte.
Wexmell wusste nicht, wie viel Zeit genau vergangen war, seit er entschieden hatte, bei Derius` versteinertem Leib zu wachen und der Welt fernzubleiben. Er hatte aufgehört dir Tage zu zählen, nachdem Karrah ihm zum zwanzigsten Mal die Haare geschnitten hatte. Zeit hatte keine Bedeutung. Er wusste, dass dort draußen in der Welt etwas vor sich ging, dass ihm und Derius nicht gefallen würde. Die Welt war immer stiller geworden, immer kälter und immer ferner. Er spürte die Veränderung in der Luft, doch er hatte die Welt sich selbst überlassen, um seinem Herzen zu folgen.
Er bereute diese Entscheidung nicht.
Wie lange sie hier ungestört gewesen waren, wusste er nicht mehr zu sagen. Zeit verging zu schnell, wenn man den Ort genoss, an dem man verweilte. Wenn man eins mit der Natur geworden war.
Doch er war nicht naiv genug gewesen, zu glauben, man würde sie niemals aufspüren. Es mochte lange gedauert haben, doch früher oder später hatte jemand über sie stolpern müssen. Ob beabsichtig oder nicht, es machte keinen Unterschied.
Die Stille war schön gewesen, aber vor allem hatte er sich so sehr an sie gewöhnt, dass sein Gehör und Gespür so scharf waren wie bei einem Raubtier. Er hatte sie kommen gehört, ihre knirschenden Schritte auf dem unberührten Schnee. Wie sie sich durch den Wald hinaufgekämpft hatten, schnaufend, knurrend auf der Suche nach Fressen. Eine Wolke fauligen Geruchs hing ihnen an und verpestete die Luft. Sie waren so präsent gewesen wie ein Weinfleck auf weißer Seide, während er längst mit dem Berg eins geworden war. Ein Umstand, der ihm das Leben gerettet hatte, wie er hinterher mit schockierender Klarheit begriff.
Wexmell stand im schwarzgefärbten Schnee und starrte die Dinger an, die sie niedergestreckt hatten, während er die Stille aus tiefsten Herzen vermisste, wurde sie doch so jäh unterbrochen. Der Anblick der zerhackten und verstümmelten Kreaturen, die sich auf der kleinen Lichtung ausbreiteten, katapultierte ihn in die Wirklichkeit zurück, die ihn traf wie ein Schlag ins Gesicht. Er fühlte sich nicht bereit für das, was fortan kam.
»Alles in Ordnung?«, fragte Rahff schnaufend nach dem Kampf. Der Gigant stand verhüllt von seinem riesigen Umhang hinter ihm und schnickte das Blut von seiner Klinge.
Wexmell ignorierte die Frage. »Was bei den verdammten Göttern sind sie…?«, brachte er stattdessen hervor, doch er konnte den Schock nicht aus seiner Stimme verbannen. Das Grauen, das in seinen Augen stand, musste Bände sprechen, doch ihm gelang es nicht, seine Starre zu überwinden.
Rahff schüttelte so heftig den Kopf, dass der dunkle Stoff seiner Kapuze raschelte. »Ich weiß es nicht«, sagte er mit tonloser Stimme, während er das, was sie getötet hatten, genauso anstarrte wie Wexmell. Als träumten sie den gleichen Alptraum.
Im Kampf hatten sie bloß reagiert, gehandelt, ohne nachzudenken. Überlebt. Man stellte dem Monster, das einen töten wollte, nicht erst die Frage, was es war und woher es kam. Wexmell hatte seine Überraschung schnell überwinden müssen, diese Dinger waren verflucht flink und verflucht aggressiv gewesen, obwohl das Überraschungsmoment auf seiner Seite gewesen war. Nun starrten er und Rahff in der aufkommenden Stille nach dem Kampf erstmals auf die seltsam verdrehten Gliedmaßen. Teilweise mit Fell bedeckt, teilweise blank wie ein Mensch. Gesichter von Männern und Frauen, Tierköpfe und Körper, Menschen mit sechs Beinen wie Spinnen, geweihte Pumaköpfe auf den Hälsen von Männern, die mit vier Armen vier Schwerter führten. Wexmell hörte noch das Echo ihrer wahnsinnigen Laute und spürte noch ihre mörderischen und von Irrsinn geplagten schwarzen Augen, die ihn glänzend vor Mordlust angestiert hatten. Tollwütige Kreaturen waren über sie hergefallen.
Wexmell hob sein Schwert und betrachtete die Flüssigkeit auf dem scharfen Stahl. »Es ist schwarz«, stellte er fest und warf dann einen Blick auf die Monster zu seinen Füßen. »Ihr Blut ist schwarz wie-«
»Fäulnis.« Der Gigant wischte sich mit einem Ärmel über das unter der Kapuze gelegene Gesicht und besah seinen daraufhin schwarzen Arm. »Sie sind verderbt.«
»Hat er sie geschickt?« Wexmell drehte sich zu ihm um. »Fäule?«
Rahff spuckte angewidert in den Schnee. »Ob er sie geschickt hat, vermag ich nicht zu beurteilen, doch zweifelsohne sind es seine Kreaturen.«
»Jetzt sind sie es«, korrigierte Wexmell mit einem Stich im Herzen, da die Erkenntnis ihn erdolchte.
Er musste kein Gelehrter sein, um zu erkennen, was diese Kreaturen zuvor gewesen waren. »Sie waren einst wie wir. Menschen, Luzianer…« Er ließ den Blick über die Kadaver gleiten, die sich um sie herum ausbreiteten. »... sogar Tiere.«
Rahff trat gegen einen Arm im Schnee, dessen Hand eine Wolfstatze war. »Er lässt sie verschmelzen, ich kann Fäule an den Narben erkennen, wo sie zusammenwuchsen…«
Ein helles Klappern wie von abgenagten Knochen unterbrach Rahffs laute Überlegungen. Wexmell wirbelte herum, konnte in dem grauen Nebel zwischen den Tannen am Rande der Lichtung jedoch nichts erkennen. »Wir sollten hier weg«, sagte er leise mit angespannter Stimme, während er bereits zurückwich. Plötzlich überkam ihn ein unheildrohendes Gefühl, das ihm wie schlechter Atem ins Gesicht wehte.
Es war vermutlich keine so kluge Idee, auf einer offenen Lichtung zu stehen und jedem Bogenschützen ein perfektes Ziel zu bieten. Karrahs Kräuterheilkunde war vielleicht die Beste, die er kannte, doch auch sie vermochte kein Kraut in der Höhle zu züchten, das einen Pfeil im Auge heilen würde.
Rahff musste eine ähnliche Erleuchtung ereilt haben, denn er trat vor und wartete, bis Wexmell sich hinter seinem riesigen Körper in Sicherheit gebracht hatte, mit dem er ihm eine vortreffliche Deckung bot, während sie auf die Tannen zu ihrer Linken zueilten.
Wexmell beschwerte sich nicht, er hatte sich mit einer Selbstverständlichkeit, die ihn selbst überraschte, an Rahff als seinen Leibwächter gewöhnt. Sie redeten nie viel, Wexmell bemerkte ihn meistens nicht einmal, nur wenn es zu Kämpfen kam, stand der Gigant plötzlich an seiner Seite.
Nun, Derius wäre wohl auch nicht erfreut, würde er erwachen und Rahff müsste ihn über Wexmells vorzeitiges Ableben unterrichten. Darüber hinaus hegte Wexmell auch nicht den Wunsch, sich zu verletzen oder gar zu sterben, er war vorsichtig geworden, und verweigerte sich nicht Rahffs Schutz oder Beistand. Auch wenn er der Mörder seiner Familie war… Wexmell dachte nicht darüber nach, der Zweck heiligte die Mittel. Wenn der Schöpfer glaubte, sie brauchten den Giganten, um Derius` zu beschützen, dann hinterfragte er das nicht.
Noch nicht.
Dies war die Zeit, um sich mit Rahff zu arrangieren, nicht um ihn büßen zu lassen für etwas, mit dem Wexmell seinen Frieden gemacht hatte.
Es war natürlich leichter, Frieden mit den Toten zu schließen, die auch tot blieben, doch der Gigant war nicht der Feind von damals, sondern nur ein Bruchteil von dessen Seele. Oder nicht einmal mehr das, er war nur eine Erinnerung, mehr nicht. Das sagte Wexmell sich zumindest immer wieder vor, wann immer er mit ihm Seite an Seite stehen musste.
Mit angespannten Nerven und Muskeln lehnten sie sich an die Tannen und versuchten, nicht einmal zu atmen, um lauschen zu können.
Das Klappern kam näher, aus gleicher Richtung, aus der die Kreaturen den Wald hinaufgekommen waren. Die Nebelschwaden wirbelten aufgeregt zwischen den Tannen, ein Übelkeit verursachendes Knacken von Gelenken, die wie brechende Äste klangen, ertönte im Takt mit schweren Schritten im Schnee.
Ein Schnaufen, das Wexmell eine kalte Gänsehaut verursachte. Er lugte um den Stamm herum, der ihm Deckung bot, und spürte prompt Rhaffs warme Pranke, die sich auf seine Brust legte. Ein Teil von ihm wollte sie wegschlagen. Ein Teil konnte und hatte nicht vergessen, wer er war. Und vielleicht war dieser Teil auch der, der Eifersucht empfinden konnte. Doch Wexmell konzentrierte sich auf das Wesentliche. Im Nebel tauchte etwas Dunkles auf, ein riesiger Schemen nahm mehr und mehr Gestalt an. Die Schritte waren gemächlich, der massige Leib wankte hin und her, doch es wirkte nicht taumelnd oder unsicher, eher lässig wie die schweren Bewegungen eines…
»Ein Schwarzfelsbär«, raunte Rahff mit einer hörbaren Bewunderung. »Ich dachte, sie wäre bereits zu meinen Zeiten ausgestorben.«
Ausgestorben war ein zu mildes Wort dafür, dass diese Tiere wegen ihres hübschen dunklen Felles und des Ruhmes wegen ausgerottet worden waren. Ihre Art hatte sich wohl aus Verzweiflung auf den Gipfel der Welt zurückgezogen. Wegen ihrer schieren Größe, die eine Kutsche um eine Manneslänge überragen konnte, und so hochgewachsen war wie zwei übereinander gestapelte Kaltblüter, hatten sich Männer aus der ganzen Welt mit diesen Bären messen wollen. Wer damals einen Bären erlegte, galt als besonders männlich. Dabei waren diese Tiere sanftmütige Bären, die sich größtenteils von Beeren, Wurzeln und hin und wieder von etwas Aas ernährten.
Wexmell betrachtete das Tier, als es aus dem Nebel auf die Lichtung trat, sein schwarzes Fell wirkte stumpf und struppig, es besaß kahle Stellen, die von schwarzen Malen befleckt waren. Schwarzes Blut tropfte unter dem großen Leib in den Schnee. Der Bär witterte in der Luft und öffnete das Maul zu einem unheimlichen Stöhnen, als er den Kopf drehte, präsentierte er eine zerfressene Gesichtshälfte, Hautlappen schwanken an seinem gewaltigen Kiefer bei jeder Bewegung. Wexmells Herz wurde schwer vor Bedauern. »Ich glaube, der hier ist verdorben.«
Rahff schwieg einen Moment, aber er konnte die Fäule an dem Tier genauso gut erkennen. Wexmell brauchte sich nicht umzudrehen, um dessen Wut zu spüren. »Wir müssen ihn erlösen«, presste er so leise hervor, dass Wexmell sich die Worte vielleicht auch nur eingebildet hatte.
Der Bär betrat die Lichtung unerschrocken und senkte den Kopf über dem Massaker. Rahff nahm die Hand von Wexmells Brust, als das Tier mit krachenden Kiefern zu fressen anfing.
Sie umfassten beide ihre Schwerter. Wexmell wappnete sich innerlich. Etwas in ihm wollte sich weigern, den Bären zu töten. Diese so seltene, majestätische Kreatur, sei sie noch so verdorben. Vielleicht war er durch die Fäule nun tatsächlich das letzte Exemplar.
Doch der Gigant hatte Recht, sie konnten und durften keine Kreatur leben lassen, die von Fäule befallen war. Fäule durfte keine Armee aufstellen, niemals. Vor allem nicht so nahe an Derius` Versteck.
Wexmell lockerte noch einmal die Handgelenke und duckte sich tiefer, um so wenig Schrittgeräusche wie möglich zu verursachen. Der Bär würde sie ohnehin bemerken noch bevor sie auch nur die Hälfte des Weges an ihn herangetreten waren. Wenn sie ihn einkreisten, konnte er sie jedoch nicht gleichzeitig angreifen. Schweigend gab Wexmell Rahff ein Zeichen, dass er von weiter Links kommen würde, und schlich so lautlos wie möglich im Schatten der Tannen um die Lichtung herum, während Rahff alles aus dem Schatten seiner Kapuze heraus beobachtete und wartete. Der graue Nebel umwogte ihn immer dichter.
Der Bär fuhr so unvermittelt herum, dass Wexmell in der Kriechbewegung versteinerte und sein Herzschlag einen Moment aussetzte, obwohl der Bär nicht ihn ansah. Etwas hinter ihm im Wald, aus dem das Tier gekommen war, erregte dessen Aufmerksamkeit. Die Kreatur fuhr für ihre Masse beunruhigend flink herum und stellte sich plötzlich brüllend auf die Hinterbeine.
Wexmell wusste nicht, was sie gesehen oder gewittert hatte, aber es war die perfekte Gelegenheit, ihr buchstäblich in den Rücken zu fallen. Er warf noch einen Blick zu Rahff, um sich seiner abzusichern. Der Stamm, an dem der Gigant zuletzt gelehnt hatte, war leer. Verwirrt suchte Wexmell die umliegenden Bäume ab, als er bereits das Kampfbrüllen vernahm. Auf der Lichtung.
Als Wexmell zu dem Laut herumwirbelte, erblickte er Rahff bereits mit erhobenem Schwert, wie er auf den Bären zueilte.
Fluchend sprang Wexmell auf und preschte grazil durch die Baumstämme, als ihn unvermittelt etwas zurückriss. Für einen Moment war er so überrascht, dass er sich nicht einmal wehren konnte, seine Füße stellten sich selbst ein Bein, er sah den schneebedeckten Boden bereits auf seine Nase zukommen, hätte ihn nicht eine Hand am Umhang gepackt und in den Wald gerissen.
Unsanft knallte er mit Rücken und Hinterkopf gegen einen Baum, spürte noch die grobe Hand, die ihn dagegen gestoßen hatte und ihn nun festhielt. Sein Blut geriet sofort in Kampfwallung, in seinen Ohren rauschte es, er riss das Schwert nach oben, hörte Stahl auf Stahl treffen, Funken sprühten, als aus seiner Klinge ein Bruchstück brach. Durch die gekreuzten Klingen brüllte ihn ein Gesicht an, dass ihm so vertraut war, dass der Anblick ihn schockierte.
Wexmell sah, wie sich der schmale Mund bewegte, konnte aber nichts verstehen. Am Rande seines verwirrten Bewusstseins glaubte er Hundebellen und -knurren zu vernehmen, die sich mit dem Brüllen des kämpfenden Bären vermischten.
»Z…Za…zar…?«, stammelte er. Zazar? Hier? Jetzt?
»Weck ihn auf!« Endlich verstand er, was Bellzazar ihm mit finsterer Miene zubrüllte. »Geh und weck ihn verdammt noch mal auf!«
Wexmell blinzelte, bis er das Gefühl hatte, die Worte zu begreifen. Wie von selbst bewegte sich sein Kopf von links nach rechts. »Ich… ich… ich kann nicht...« Er durfte Derius nicht wecken, nicht jetzt, er brauchte noch mehr Ruhe!
Seine Gedanken wurden abgelenkt, als das eindeutige Jaulen eines Hundes an seine Ohren drang. Er fuhr zur Lichtung herum und sah ein Rudel bulliger Unterweltdoggen, die gemeinsam mit Rahff und einem braunen Wolf den Bären umkreisten.
»Cohen…«, flüsterte Wexmell erkennend.
Doch das war noch nicht alles, wie auf ein Stichwort hin zuckten die Gliedmaßen auf der Lichtung, schwarzer Nebel bildete sich über den Leichenteilen und zog sie magisch an, um erneut zu verschmelzen und sich zu erheben…
Geschockt sah Wexmell zu, konnte nicht einmal atmen, so fassungslos war er.
Gewaltsam wurde seine Klinge zur Seite gelenkt, erst da bemerkte er, dass seine Waffe noch immer mit Bellzazars Schwert verkeilt gewesen war. Dann verschwand der Druck, als der vermeintliche Angreifer zurücktrat.
»Weck ihn auf, wir müssen hier weg!«, bellte Zazar ihn noch einmal an, dann trat er mit dem Schwert in der Hand an ihm vorbei und eilte auf die Lichtung. Im Lauf schlug er eine Kreatur entzwei, die sich gerade wieder wackelig auf die Beine gebracht hatte, sein schwarzer Umhang wehte hinter ihm her, während ein Bogen aus schwarzen Bluttropfen ein Muster auf den Schnee zeichnete.
»Lauft!«, rief er den anderen zu. »Cohen, nicht! Zu mir!«
Lauft? Zazar forderte sie auf, zu laufen? Zu fliehen? Wenn nicht einmal Zazar gegen diese Kreaturen kämpfen wollte… Zazar, das mächtigste Wesen, das Wexmell glaubte zu kennen…
Wie in Trance sah er zu, wie der schwarze Nebel sich verdichtete und die Kreaturen zu neuem Leben erweckte. Der Bär schlug mit einem Hieb einen Hund und Rahff zur Seite, der Hieb katapultierte sie über die Lichtung, sie versanken bei ihrem Aufprall tief im Schnee. Rahff rührte sich nicht. Cohen sprang in Wolfgestalt auf den Rücken der Bestie, doch drei auferstandene Kreaturen warfen sich mit knackenden Gliedmaßen auf ihn, dass er herzzerreißend aufjaulte.
Als ein Feuerball explodierte, den Bellzazar hervorgerufen hatte, verschluckten Funken und Flammen die Szene, und Wexmell stolperte zurück, obwohl er die Hitzewelle nicht einmal gespürt hatte. Er stand zu weit weg.
»Lauft!«, befahl Bellzazar wieder. »Wir müssen zur Höhle! Lauft, na los!«
Ein kaltes Grauen erfasste Wexmell und löste ihn aus seiner Schockstarre, er wirbelte auf dem Absatz herum, rammte das Schwert in die Scheide und rannte los. Sprang über Wurzeln und umgefallene Stämme, um zur versteckten Höhle zu eilen. Rannte weiter, immer weiter, bis ihm die Lunge brannte und er sie beinahe auskeuchte. Die Muskeln in seinen Beinen fühlten sich an, als stünden sie in Flammen.
Der Eingang war nicht mehr als ein verborgener Felsspalt, der sich seiner Berührung offenbarte. Blaue Siegel leuchteten auf und ließen ihn ein. Die absolute Dunkelheit innerhalb des Felsens machte ihn für einen Augenblick blind.
Es roch nach gebratenen Winteräpfeln und Zimt, als er an Karrahs Küche vorbeikam, die im unterirdischen, verlassenen Gefängnis lag. Seine Ziehtochter rief ihm verwundert nach, als er gehetzt vorbeirannte.
Er hielt nicht inne, spürte förmlich den schwarzen Nebel im Nacken. Die Anwesenheit der Fäule.
Nein, es war zu früh für einen Kampf. Derius war noch nicht so weit. Sie durften ihn nicht finden, nicht so.
Im runden Raum, wo die einstigen Zellen lagen, warf er sich auf den Boden über den versteinerten Leib seines Geliebten. »Es tut mir leid«, keuchte er und riss sich die Handschuhe von den Händen. »Ich weiß, du bist noch schwach, aber du musst jetzt aufwachen!«
»Was tust du da?« Karrah war ihm gefolgt, das Fackellicht ließ ihre rote Mähne schimmern wie Flammen.
Er ignorierte sie und beugte sich über Derius. Er sah so friedlich aus, doch auch so verletzlich. So angreifbar. Wehrlos.
Wexmell küsste seine harten, kalten Lippen aus Stein. Er konnte spüren, wie sie unter seiner Berührung zu Fleisch wurden, wie sie warm und weich wurden. Diese wundervollen schmalen Lippen in ihrer ganzen grimmigen Herrlichkeit, die er so sehr liebte.
Dann hob er den Kopf, biss sich selbst in den Arm und riss die Vene auf, dass das Blut bereits auf Derius` Gesicht träufelte und dort, wo es auf Stein traf, Haut hervorbrachte.
Karrah marschierte herein. »Er ist noch nicht so weit!« Sie hielt inne, als hinter ihr im Gang die eilenden Schritte mehrerer Personen auf sie zukamen, und drehte sich um.
»Weck ihn auf!«, bellte Zazar, der von schwarzem Blut überströmt und mit versengten Umhangsaum hereinkam und Karrah wortlos zur Seite schob. Sie war so überrascht, ihn zu sehen, dass sie sich nicht einmal beschweren konnte.
Rahff und Cohen folgten, letzterer wieder in Menschengestalt. Er hinkte und hielt sich die Seite, blutete aus zahlreichen Wunden, man konnte hören, wie es feucht auf den Boden tropfte. Karrah besah die Männer und trat schweigend zurück.
Wexmell hatte längst seine offene Wunde auf Derius` Lippen gedrückt und presste ihm sein Blut in den Mund, als würde er eine Orange über seiner Zunge auspressen. Zazar ging um sie herum und beobachtete mit ihm gespannt, wie der Stein sich zurückzog und blasse Haut hervortrat. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, die Wexmell schier in Verzweiflung versetzte, bis Derius endlich trank.
Als sich seine langen Fänge dann aber endlich tief in sein Fleisch bohrten, sackte Wexmell erleichtert auf ihm zusammen. »Wach auf!«, flüsterte er flehend. »Du musst jetzt aufwachen, Derius! Wir müssen hier weg!« Seine Worte waren mehr eine Entschuldigung, denn eine Aufforderung. Zärtlich streichelte er mit der freien Hand Derius` Gesicht, während dieser im tiefen Schlummer trank.
»Was ist geschehen?«, wandte Karrah sich schließlich an Rahff.