Carmen - Kein Drama nach Georges Bizet - Anno Stock - E-Book

Carmen - Kein Drama nach Georges Bizet E-Book

Anno Stock

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Beschreibung

Sevilla, 1829. Eine Stadt zwischen Tradition und Leidenschaft. Eine Liebe, die alles zerstört. Don José Lizarrabengoa ist ein pflichtbewusster Soldat aus gutem baskischen Hause, nach Sevilla versetzt, um Disziplin zu lernen. Doch als er Carmen begegnet – eine stolze, freiheitsliebende Gitana, die in der königlichen Tabakfabrik arbeitet – gerät sein geordnetes Leben aus den Fugen. Carmen ist anders als alle Frauen, die José je gekannt hat: wild, ungezähmt, unfähig und unwillig, sich den Regeln der Gesellschaft zu beugen. Sie liebt ihre Freiheit mehr als jede Bindung, mehr als jeden Mann. Doch José verfällt ihr rettungslos. Für einen Moment ihrer Aufmerksamkeit opfert er seine Ehre. Für ihre Nähe desertiert er. Für die Hoffnung auf ihre Liebe wird er zum Verbrecher. Doch je mehr José Carmen an sich zu binden versucht, desto mehr entzieht sie sich ihm. Als der berühmte Torero Escamillo in ihr Leben tritt – charismatisch, erfolgreich und ohne Josés verzweifelte Anhänglichkeit – droht José endgültig zu verlieren, was er nie wirklich besaß. In den Bergen Andalusiens, zwischen Schmugglern und Gesetzlosen, zwischen Leidenschaft und Verzweiflung, spielt sich eine Tragödie ab, die nur ein Ende kennen kann: Zerstörung. "Carmen – Kein Drama nach Georges Bizet" ist eine eindringliche Neuerzählung der zeitlosen Liebestragödie. Ein psychologischer Roman über Obsession und Freiheit, über die Grenzen der Liebe und den Preis, den wir für unsere Leidenschaften zahlen.

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Seitenzahl: 204

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Anno Stock

Carmen - Kein Drama nach Georges Bizet

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Table of Contents

Prolog: Begegnung in den Bergen

Kapitel 1: Ankunft in der weißen Stadt

Kapitel 2: Die Blume der Gitana

Kapitel 3: Blut auf weißem Leinen

Kapitel 4: Als der Schlüssel sich drehte

Kapitel 5: In der Taverne des Lillas Pastia

Kapitel 6: Der Punkt ohne Wiederkehr

Kapitel 7: Zwischen Himmel und Gesetz

Kapitel 8: Das Gewicht einer Kugel

Kapitel 9: Die Botschaft aus der Vergangenheit

Kapitel 10: Was zerbrach

Kapitel 11: Der Mann in Gold

Kapitel 12: Im Licht der brennenden Kerzen

Kapitel 13: Das Rot auf den Steinen

Epilog: Die Echo der Leidenschaft

Nachwort zur Romanadaption

Impressum neobooks

Table of Contents

Carmen – Kein Drama nach Georges Bizet & Prosper Mérimées

Anno Stock

Über dieses Werk

Dieser Roman basiert auf Georges Bizets Oper Carmen (1875) und Prosper Mérimées gleichnamiger Novelle (1845).

Die Geschichte wurde für diesen Roman frei bearbeitet und um historische Details sowie psychologische Tiefe erweitert.

Anmerkung zur Sprache: In diesem Roman wird die respektvolle spanische Bezeichnung "Gitana" (Singular) bzw. "Gitanas" (Plural) für Angehörige des Roma-Volkes verwendet. Dies entspricht der historischen Authentizität des Schauplatzes und vermeidet diskriminierende Begriffe.

Prolog: Begegnung in den Bergen

Die Sonne stand bereits tief über den zerklüfteten Hängen der Sierra Nevada, als der Reisende sein erschöpftes Pferd zum letzten Mal an diesem Tag antrieb. Die Schatten der Berge streckten sich wie dunkle Finger über das ausgedörrte Land Andalusiens, und in der Ferne glühte Sevilla in den letzten Strahlen des Tages wie eine Fata Morgana aus weißem Stein und Gold.

Es war der Sommer des Jahres 1830, und Spanien lag noch immer in den Nachwehen jener turbulenten Jahre, die das Land zwischen Tradition und Revolution, zwischen Bourbonen und Liberalen hin und her gerissen hatten. In den Bergen hausten Schmuggler und Banditen, in den Städten herrschten Militärs mit eiserner Faust, und überall spürte man jene eigentümliche Mischung aus Gefahr und Lebenshunger, die das Land so faszinierend und so bedrohlich zugleich machte.

Der Reisende – nennen wir ihn einfach Don Alejandro, obwohl sein wahrer Name für diese Geschichte keine Rolle spielt – suchte nach einer Herberge für die Nacht. Er war ein Gelehrter aus Madrid, unterwegs, um römische Ruinen zu erforschen, und hatte sich vielleicht etwas zu weit von den sicheren Straßen entfernt. Die Bauern, denen er begegnet war, hatten ihn gewarnt: Diese Gegend war berüchtigt. Hier oben in den Bergen verlor sich die Autorität der Krone in Felsspalten und Schluchten, und wer des Nachts allein unterwegs war, tat gut daran, ein geladenes Gewehr griffbereit zu haben.

Als die Dämmerung hereinbrach, entdeckte er endlich eine kleine Quelle, umgeben von verkrüppelten Korkeichen. Ein idealer Platz zum Lagern. Er band sein Pferd an, breitete seinen Mantel auf dem steinigen Boden aus und machte sich daran, ein kleines Feuer zu entfachen. Die Nacht würde kühl werden, trotz der glühenden Hitze des Tages.

Er hatte gerade die ersten Flammen zum Leben erweckt, als er das Geräusch hörte. Schritte. Vorsichtig, aber nicht leise genug für jemanden, der wirklich unentdeckt bleiben wollte. Don Alejandro griff instinktiv nach seiner Pistole, doch noch bevor er sie ziehen konnte, trat eine Gestalt aus dem Schatten der Felsen.

Es war ein Mann, Anfang dreißig vielleicht, obwohl sein Gesicht die Spuren eines Lebens trug, das um Jahre älter machte. Er war groß und kräftig gebaut, trug die zerschlissene Uniform eines Soldaten – ein Kavallerie-Regiment, wie Don Alejandro erkannte – und hatte etwas in seinen Augen, das den Gelehrten sofort aufhorchen ließ. Es war nicht die kalte Brutalität eines Räubers, sondern etwas anderes: eine tiefe, verzehrende Verzweiflung.

„Guten Abend, Señor", sagte der Mann mit einer Stimme, die überraschend kultiviert klang. „Verzeihen Sie, dass ich Sie erschrecke. Ich sah Ihr Feuer und..." Er stockte, als suche er nach Worten. „Ich bin seit Tagen allein in diesen Bergen."

Don Alejandro musterte ihn vorsichtig. Der Mann war bewaffnet – ein Säbel hing an seiner Seite, und in seinem Gürtel steckte eine Pistole –, doch seine Haltung wirkte nicht bedrohlich. Eher... gebrochen.

„Setzt Euch ans Feuer", sagte Don Alejandro schließlich. „Ich habe Brot und etwas Wein. Nicht viel, aber genug für zwei."

Der Fremde zögerte einen Moment, dann nickte er dankbar und ließ sich am Feuer nieder. Im flackernden Licht konnte Don Alejandro sein Gesicht besser erkennen. Es waren nicht nur die eingefallenen Wangen und die dunklen Ringe unter den Augen, die auffielen. Es war der Ausdruck völliger Hoffnungslosigkeit, den der Mann nicht verbergen konnte.

Sie aßen schweigend. Der Fremde trank den Wein in langen Zügen, als könne er damit etwas in sich ertränken. Erst nach einer Weile begann er zu sprechen.

„Ihr seid nicht von hier, Señor", stellte er fest. „Ein Reisender. Ein Gelehrter vielleicht?"

„So ist es. Ich erforsche die römischen Überreste in dieser Gegend. Und Ihr? Ein Soldat, wenn ich Eure Uniform richtig deute?"

Ein bitteres Lächeln huschte über das Gesicht des Mannes. „Ein Soldat. Ja, das war ich einmal. José Lizarrabengoa aus Elizondo im Baskenland. Aber nennt mich einfach José. Meinen ganzen Namen trage ich nicht mehr mit Stolz."

Don Alejandro nickte. Er spürte, dass dieser Mann ein Bedürfnis hatte zu reden, und in der Einsamkeit der Berge, vor einem Fremden, dem er nie wiederbegegnen würde, fiel es oft leichter, die Seele zu öffnen.

„Was führt Euch hierher, Don José? Dies ist keine Gegend für einen ehrlichen Soldaten."

José starrte ins Feuer, und für lange Sekunden sagte er nichts. Als er schließlich sprach, war seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern.

„Ehrlich? Ich weiß nicht, ob ich dieses Wort noch verdiene. Ich bin auf dem Weg zurück nach Sevilla. Morgen wird dort ein großer Stierkampf stattfinden. Ein Matador namens Escamillo – vielleicht habt Ihr von ihm gehört? Er ist der Held der Stadt, der gefeierte Torero, den die Frauen anbeten."

Er spuckte diese Worte förmlich aus, und Don Alejandro erkannte den blanken Hass darin.

„Ich muss nach Sevilla", fuhr José fort. „Ich muss jemanden dort treffen. Eine... Frau." Er schluckte schwer. „Die Frau, für die ich alles aufgegeben habe. Meine Ehre, meine Familie, meine Zukunft. Die Frau, die mich zum Verbrecher gemacht hat."

Don Alejandro schwieg. Er spürte, dass er hier Zeuge einer Tragödie war, die sich noch nicht vollständig entfaltet hatte.

„Sie heißt Carmen", sagte José, und in diesem Namen lag eine ganze Welt von Schmerz und Leidenschaft. „Eine Gitana. Die schönste und grausamste Frau, die Gott je erschaffen hat. Ich liebte sie vom ersten Moment an, als ich sie sah. Und diese Liebe hat mich zerstört."

Er erzählte stockend, in Bruchstücken, unterbrochen von langen Pausen, in denen nur das Knistern des Feuers zu hören war. Er erzählte von seiner ersten Begegnung mit Carmen vor der Tabakfabrik in Sevilla, von ihrer Verhaftung und seiner verhängnisvollen Entscheidung, sie entkommen zu lassen. Er erzählte von seiner Degradierung, seinem Gefängnis, seinem Sturz in die Schmugglerbande, mit der Carmen lebte.

„Ich war ein angesehener Mann", murmelte José. „Aus guter baskischer Familie. Meine Mutter war so stolz auf mich, als ich zur Kavallerie ging. Und dann... dann sah ich diese Frau, mit ihrer Blume im Haar und diesem Lächeln, das versprach und doch nichts hielt. Sie warf mir die Blume zu, und ich war verloren."

Er sprach von den Monaten in den Bergen, von der wilden, freien Existenz der Schmuggler, von Carmens zunehmendem Desinteresse an ihm. Sie hatte ihn nie wirklich geliebt, das wusste er jetzt. Für sie war er nur eine Laune gewesen, ein Soldat, den zu verführen ihr Spaß machte. Aber für ihn war sie alles geworden – und gerade das machte ihn ihr gleichgültig.

„Sie liebt nur ihre Freiheit", sagte José bitter. „Und jetzt liebt sie diesen Torero. Diesen Escamillo mit seinem glitzernden Kostüm und seinem falschen Lächeln. Sie wird morgen bei seinem Kampf sein. Alle wissen es. Und ich..."

Er brach ab, und Don Alejandro sah, wie seine Hände zu Fäusten wurden.

„Was werdet Ihr tun?", fragte der Gelehrte leise, obwohl er die Antwort fürchtete.

José hob den Kopf, und in seinen Augen brannte ein fiebriges Feuer. „Ich werde mit ihr sprechen. Ein letztes Mal. Ich werde sie bitten, mit mir zu kommen. Wir könnten in Amerika neu anfangen, in den Kolonien. Ich würde für uns beide arbeiten, ich würde alles tun, nur um sie zu behalten."

„Und wenn sie ablehnt?"

Die Stille, die folgte, war schwerer als Blei. José starrte in die Flammen, und sein Gesicht verhärtete sich.

„Dann", sagte er schließlich mit einer Stimme, die keine Emotion mehr trug, „dann wird sie niemandem gehören. Wenn ich sie nicht haben kann, soll sie auch kein anderer haben. Lieber tot als in den Armen dieses Toreros."

Don Alejandro erschauderte. „Don José, Ihr redet von Mord."

„Nein", widersprach José heftig. „Ich rede von Gerechtigkeit. Von der einzigen Gerechtigkeit, die einem Mann bleibt, der alles verloren hat. Sie hat mich zu dem gemacht, was ich bin. Sie muss die Konsequenzen tragen."

Der Gelehrte versuchte, mit ihm zu reden, ihm die Vernunft zu predigen, doch José hörte nicht mehr zu. Er stand auf, zog seinen Mantel enger und wandte sich zum Gehen.

„Danke für das Brot und den Wein, Señor", sagte er förmlich. „Und verzeiht, dass ich Euch mit meinen Sorgen belastet habe. Aber es tat gut, einmal zu sprechen. Morgen wird alles vorbei sein. So oder so."

„Wartet!", rief Don Alejandro. „Ihr könnt nicht—"

Doch José war bereits in der Dunkelheit verschwunden. Nur seine Schritte waren noch zu hören, dann verschluckte die Nacht auch diese.

Don Alejandro saß noch lange am Feuer und starrte in die Flammen. Er dachte darüber nach, nach Sevilla zu reiten, die Behörden zu warnen, doch was sollte er sagen? Ein Mann hatte ihm seine Verzweiflung anvertraut – war das ein Verbrechen? Und würden sie ihm glauben?

Am nächsten Tag erfuhr er in einem Dorf von der Tragödie, die sich vor der Stierkampfarena abgespielt hatte. Eine Gitana namens Carmen war erstochen worden. Der Täter, ein desertierter Soldat namens José, hatte sich selbst gestellt. Die ganze Stadt sprach von nichts anderem – von der wilden Schönheit, die so viele Männer ins Verderben gerissen hatte, und von dem unglücklichen Burschen, der ihr letztes Opfer geworden war.

Doch Don Alejandro wusste es besser. José war nicht ihr Opfer. Er war der Täter seiner eigenen Tragödie, ein Mann, der seine Freiheit für eine Illusion aufgegeben hatte und daran zerbrochen war. Und Carmen? Sie hatte nur getan, was ihrer Natur entsprach – frei zu sein, zu lieben und zu leben, ohne sich an Ketten legen zu lassen.

Jahre später, als Don Alejandro alt und grau geworden war, erzählte er manchmal von jener Nacht in den Bergen. Und immer fügte er hinzu: „Ich habe in meinem Leben viele Tragödien gesehen, aber keine war so tief und so unvermeidlich wie die Geschichte von José und Carmen. Es war, als hätte das Schicksal selbst sie gegeneinander ausgespielt – zwei Menschen, die sich hätten niemals begegnen dürfen, weil ihre Naturen zu verschieden waren. Er suchte Besitz und Bindung, sie Freiheit und Bewegung. Und als diese beiden Kräfte aufeinanderprallten, konnte es nur eines geben: Zerstörung."

Doch das ist die Geschichte, wie sie endete. Um zu verstehen, wie es so weit kommen konnte, müssen wir an den Anfang zurückkehren. Nach Sevilla, in jenem heißen Sommer, als ein junger Soldat aus dem Baskenland zum ersten Mal eine Gitana mit einer Blume im Haar erblickte – und damit sein Schicksal besiegelte.

Erster Teil: Sevilla, Stadt der Verführung

Kapitel 1: Ankunft in der weißen Stadt

Die Hitze lag wie ein schwerer Mantel über Sevilla, als Don José Lizarrabengoa zum ersten Mal durch das Macarena-Tor in die Stadt einritt. Es war Anfang Juni 1829, und die andalusische Sonne brannte bereits am späten Vormittag mit einer Intensität vom Himmel, die dem jungen Basken völlig fremd war. In seiner Heimat Elizondo, eingebettet in die grünen Täler der Pyrenäen, kannte man solche Hitze nicht. Dort war die Luft klar und kühl, selbst im Sommer, und die Bäche rauschten das ganze Jahr über von den Bergen herab.

Sevilla aber war eine andere Welt. Die weißgetünchten Häuser reflektierten das gleißende Licht, die engen Gassen lagen in tiefen Schatten, und überall mischten sich Gerüche – Jasmin und Orangenblüten, Gewürze und Pferdemist, gebratenes Fleisch und der süßliche Duft verfaulender Früchte. Die Stadt pulsierte mit einem Leben, das José gleichzeitig faszinierte und beunruhigte.

Er trug die stolze Uniform des Alcántara-Kavallerie-Regiments, dunkelblau mit roten Aufschlägen, und saß aufrecht im Sattel seines müden Pferdes. Nach drei Wochen Ritt von Pamplona aus waren sowohl er als auch sein Tier erschöpft, doch José achtete darauf, seine Haltung zu bewahren. Ein Soldat, so hatte ihm sein Vater eingeschärft, repräsentierte immer die Ehre seines Regiments und seiner Familie – selbst wenn er staubbedeckt und durstig war.

Die Kaserne des Alcántara-Regiments lag im Nordosten der Stadt, nicht weit vom Fluss Guadalquivir entfernt. José folgte den Anweisungen, die ihm der Hauptmann in Pamplona mitgegeben hatte, und bahnte sich seinen Weg durch die belebten Straßen. Überall drängten sich Menschen – Händler priesen ihre Waren an, Wasserträger balancierten ihre Krüge auf den Schultern, Bettler streckten ihre Hände aus, und elegante Damen in schwarzen Mantillas huschten wie Schatten an den Hauswänden entlang.

Und dann waren da die Frauen. José, der in der sittsamen Welt des baskischen Landadels aufgewachsen war, konnte kaum glauben, wie offen die andalusischen Frauen die Männer anschauten. Ihre dunklen Augen funkelten hinter den Spitzenfächern hervor, und mehr als einmal begegnete er einem Blick, der eine unmissverständliche Einladung enthielt. Er spürte, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg – und es war nicht nur die Sonne.

Die Kaserne war ein massives, zweistöckiges Gebäude um einen staubigen Innenhof herum gebaut. José meldete sich beim Wachposten, einem gelangweilt dreinblickenden Unteroffizier namens Moralès, der ihn von oben bis unten musterte.

„Ein Baske, was?", sagte Moralès mit dem singenden Akzent Andalusiens. „Wir bekommen nicht oft Nordländer hier. Die meisten von euch können die Hitze nicht ertragen und werden krank." Er grinste. „Oder sie verlieben sich in die falschen Frauen und kommen auf andere Weise zu Schaden."

José verkniff sich eine Antwort. Er hatte auf seinem Weg hierher bereits genug anzügliche Bemerkungen über das angeblich steife Wesen der Basken gehört.

„Ich suche Leutnant Zuniga", sagte er förmlich. „Ich habe Befehle, mich bei ihm zu melden."

Moralès zuckte mit den Schultern. „Der Leutnant ist in seinem Quartier. Zweiter Stock, dritte Tür links. Aber komm erstmal runter von deinem Gaul. Du siehst aus, als könntest du einen Schluck Wasser vertragen."

Das stimmte allerdings. José stieg ab, führte sein Pferd zu den Ställen und tränkte es, bevor er sich selbst an den Brunnen im Hof begab. Das Wasser war lauwarm, aber es löschte wenigstens den schlimmsten Durst. Mehrere Soldaten saßen im Schatten einer Arkade und spielten Karten. Sie warfen ihm neugierige Blicke zu, ließen ihn aber in Ruhe.

Leutnant Zuniga war ein Mann Mitte vierzig mit scharfen Zügen und dem selbstbewussten Auftreten eines Offiziers, der seine Stellung durch Fähigkeit und nicht durch Geburt erlangt hatte. Er musterte José mit kritischem Blick, während dieser seine Versetzungspapiere überreichte.

„Lizarrabengoa", las Zuniga laut. „Ein alter baskischer Name. Gute Familie, nehme ich an?"

„Ja, Herr Leutnant. Mein Vater ist Großgrundbesitzer in Elizondo."

„Und trotzdem Soldat geworden? Die meisten jungen Herren aus gutem Hause kaufen sich lieber eine Offiziersstelle oder lassen sich vom Dienst freistellen."

José zögerte. Die Wahrheit war kompliziert und schmerzhaft, aber Zuniga wartete auf eine Antwort.

„Es gab einen Zwischenfall, Herr Leutnant", sagte er schließlich steif. „Ein Streit beim Pelota-Spiel. Ich... ich habe einen Mann verletzt. Schwer verletzt. Um einen Prozess zu vermeiden, entschied meine Familie, dass es besser wäre, wenn ich für einige Jahre im Militärdienst verschwinde."

Zuniga nickte langsam. „Verstehe. Eine Ehrensache, vermutlich?"

„Der Mann hatte meine Schwester beleidigt."

„Natürlich." Der Leutnant lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Nun, hier in Sevilla interessiert sich niemand für baskische Familienehre. Wir haben genug eigene Probleme. Schmuggler in den Bergen, Diebe in der Stadt, und politische Unruhen überall. Die Liberalen konspirieren gegen den König, die Karlisten träumen von der Rückkehr der alten Ordnung, und wir in der Mitte versuchen nur, unsere Haut zu retten."

Er stand auf und ging zum Fenster, das auf den Kasernenhof hinausging.

„Du wirst hier niemandem von deiner Familie oder deiner Vergangenheit erzählen", fuhr er fort. „Die Männer respektieren nur das, was sie sehen. Zeig ihnen, dass du ein guter Soldat bist, und sie werden dich akzeptieren. Spiel den vornehmen Herrn, und sie werden dir das Leben zur Hölle machen. Verstanden?"

„Ja, Herr Leutnant."

„Gut. Moralès wird dir dein Quartier zeigen. Du teilst dir eine Kammer mit drei anderen Soldaten. Morgen früh um fünf Uhr Appell. Und José?" Zuniga sah ihm direkt in die Augen. „Halte dich von den Gitanas fern. Sie sind hübsch anzusehen, aber sie bringen nichts als Ärger."

José nickte, ohne zu ahnen, wie prophetisch diese Worte sein würden.

Sein Quartier war eine spartanische Kammer mit vier Pritschen, einem wackligen Tisch und einem Fenster, das auf eine schmale Seitengasse hinausging. Von seinen drei Mitbewohnern waren zwei anwesend – ein breitschultriger Aragonier namens Ramírez und ein schmächtiger Junge aus Extremadura, den alle nur „El Chico" nannten, obwohl er bereits zwanzig Jahre alt war.

Ramírez musterte José mit unverhohlenem Misstrauen. „Ein Baske also. Könnt ihr überhaupt Spanisch, ihr Nordländer?"

„Besser als du Manieren", entgegnete José schärfer, als er beabsichtigt hatte.

Ramírez' Augen verengten sich, doch bevor die Situation eskalieren konnte, mischte sich El Chico ein.

„Lasst ihn in Ruhe, Ramírez. Erinnerst du dich noch an deinen ersten Tag? Du hast vor Hitze fast das Bewusstsein verloren."

Das brachte Ramírez zum Lachen, wenn auch widerwillig. „Das stimmt. Diese verfluchte Hitze." Er wandte sich wieder an José. „Hör zu, Baske. Ich habe nichts gegen dich, solange du deinen Teil der Arbeit machst. Aber erwarte keine Freundschaft. Jeder hier schaut nur für sich selbst."

José verstaute seine wenigen Habseligkeiten unter seiner Pritsche – ein zweites Hemd, eine Decke, die seine Mutter ihm mitgegeben hatte, ein Gebetbuch und ein Medaillon mit einem Porträt seiner Familie. Es war nicht viel, aber es war alles, was ihm von seinem alten Leben geblieben war.

In dieser Nacht lag er lange wach auf seiner harten Pritsche und lauschte den fremden Geräuschen der Stadt. Sevilla schlief nie wirklich. Selbst nach Mitternacht hörte man Schritte in den Gassen, Gelächter aus den Tavernen, das Klappern von Hufen auf Kopfsteinpflaster. Irgendwo spielte jemand Gitarre, und eine Frauenstimme sang ein melancholisches Lied in einem Dialekt, den José nicht verstand.

Er dachte an sein Zuhause in Elizondo. An das alte Steinhaus mit seinen dicken Mauern und den Balken aus dunklem Holz. An seine Mutter, die wahrscheinlich gerade ihr Abendgebet sprach. An seinen Vater, dessen Enttäuschung über Josés „Versagen" so tief saß, dass er kaum noch mit seinem Sohn gesprochen hatte. An Micaëla, die Tochter des Nachbarn, die ihn seit ihrer Kindheit mit treuen Augen angesehen hatte.

Micaëla. Er hatte ihr versprochen zu schreiben, sobald er in Sevilla ankäme. Sie hatte geweint bei seinem Abschied, und er hatte ihr versichert, dass er zurückkommen würde, sobald seine Zeit beim Militär vorüber war. Dann würden sie heiraten, so wie ihre Familien es seit Jahren geplant hatten.

Doch hier in Sevilla, in dieser heißen, lebendigen, gefährlichen Stadt, fühlte sich Elizondo wie ein ferner Traum an. Eine andere Welt, die vielleicht nie wirklich existiert hatte.

José schloss die Augen und versuchte zu schlafen. Morgen würde sein neues Leben als Soldat beginnen. Er würde seine Pflicht tun, seine Zeit absitzen und dann nach Hause zurückkehren. Alles würde gut werden.

Er wusste noch nicht, wie falsch er damit lag.

Die folgenden Wochen vergingen in einem monotonen Rhythmus aus Drill, Wachdienst und Hitze. José lernte die Routinen des Kasernenlebens kennen – den frühen Appell, die endlosen Übungen mit Säbel und Karabiner, die Patrouillen durch die Stadt, die langweiligen Stunden auf Wache vor irgendwelchen Regierungsgebäuden.

Er lernte auch seine Kameraden besser kennen. Ramírez erwies sich als weniger feindselig, als er zunächst gewirkt hatte. Er war einfach ein einfacher Mann, der seine Gefühle durch Grobheit ausdrückte. El Chico war schüchtern und harmlos, ständig in Geldnöten und verliebt in ein Mädchen aus einem Nähstübchen, das seine Existenz nicht einmal bemerkte.

Der dritte Mitbewohner, ein älterer Soldat namens García, war ein Zyniker, der bereits zehn Jahre bei der Armee diente und jede Illusion über Ehre und Pflicht längst verloren hatte.

„Siehst du die Offiziere da oben?", sagte er eines Abends zu José und zeigte auf die erleuchteten Fenster des Offiziersquartiers, wo Zuniga und seine Kollegen beim Kartenspiel saßen. „Die kümmern sich einen Dreck um uns. Wir sind nur Bauern auf ihrem Schachbrett. Und die Regierung? Die weiß nicht mal, ob sie morgen noch im Amt ist."

José wollte widersprechen, doch García lachte nur.

„Du bist noch jung, Baske. Du glaubst noch an Dinge wie Ehre und Vaterlandsliebe. Gib dir ein Jahr, und du wirst genauso denken wie ich. Hier geht es nur ums Überleben. Um den nächsten Tag, die nächste Mahlzeit, die nächste Bezahlung."

Doch trotz Garcías Zynismus fand José sich allmählich in sein neues Leben ein. Er war ein guter Soldat – diszipliniert, stark, geschickt im Umgang mit Waffen. Zuniga bemerkte das und gab ihm mehr Verantwortung. Nach einem Monat wurde José zum Cabo, zum Korporal, befördert und erhielt einen kleinen Trupp von vier Männern unter sein Kommando.

Mit der Beförderung kam auch mehr Respekt von den anderen Soldaten. Selbst Ramírez behandelte ihn jetzt mit einer gewissen Höflichkeit. José fühlte sich zum ersten Mal seit Monaten wieder wie jemand, der etwas wert war.

Und dann, an einem heißen Nachmittag Ende Juli, änderte sich alles.

Kapitel 2: Die Blume der Gitana

Es war Moralès, der José zum ersten Mal auf die Tabakfabrik aufmerksam machte. Sie standen gemeinsam Wache vor dem Gouverneurspalast, eine langweilige Aufgabe, die hauptsächlich darin bestand, in der glühenden Hitze regungslos dazustehen und so zu tun, als würde man die vorübergehenden Passanten beobachten.

„Siehst du das große Gebäude dort drüben?", fragte Moralès und deutete mit einem Kopfnicken auf ein massives, kastenförmiges Bauwerk auf der anderen Seite des Platzes. „Das ist die Real Fábrica de Tabacos. Die königliche Tabakfabrik. Dort arbeiten über vierhundert Frauen."

José folgte seinem Blick. Er hatte das imposante Gebäude natürlich schon bemerkt – es war unmöglich, es zu übersehen –, doch er hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, was darin vor sich ging.

„Vierhundert Frauen?", wiederholte er.

„Cigarreras", nickte Moralès. „Zigarettenmacherinnen. Sie rollen den Tabak von Hand – Zigarren, Zigaretten, alles Mögliche. Es ist harte Arbeit, aber sie werden anständig bezahlt. Für eine einfache Frau aus dem Volk ist es eine der besten Möglichkeiten, Geld zu verdienen."

Er grinste breit. „Und das Beste daran? Jeden Mittag, wenn die Glocke zur Pause läutet, kommen sie alle auf einmal heraus. Dann kann man sie sehen – die hübschesten Mädchen von Sevilla, alle an einem Ort."

José runzelte die Stirn. „Wir sollten bei der Arbeit nicht über Frauen reden."

„Bei der Arbeit?" Moralès lachte laut auf. „Amigo, hier zu stehen und nichts zu tun – das ist keine Arbeit. Das ist Zeitvertreib. Und was sollten wir sonst tun? Über die Politik diskutieren? Über den Krieg in den Kolonien? Nein, danke. Ich rede lieber über hübsche Frauen."

In diesem Moment läutete eine Glocke vom Turm der Fabrik. Moralès richtete sich auf, seine Augen leuchteten.

„Da! Jetzt kommen sie!"

Und tatsächlich – die großen Tore der Fabrik öffneten sich, und ein Strom von Frauen ergoss sich auf den Platz. Sie trugen einfache Kleider, die meisten in dunklen Farben, doch viele hatten sich bunte Tücher ins Haar gebunden oder trugen Blumen hinter dem Ohr. Sie lachten und plauderten, bildeten kleine Gruppen, und einige zündeten sich sofort Zigaretten an – ein Privileg der Arbeiterinnen, die Zugang zum Tabak hatten.

José beobachtete das Schauspiel mit gemischten Gefühlen. In Elizondo hätten anständige Frauen niemals auf offener Straße geraucht. Seine Mutter wäre in Ohnmacht gefallen bei dem Gedanken. Doch hier in Sevilla schien es völlig normal zu sein.

„Siehst du die dort?", flüsterte Moralès und deutete unauffällig auf eine Gruppe junger Frauen. „Das sind Gitanas. Sie arbeiten auch in der Fabrik, obwohl die meisten aus ihrem Volk eigentlich nicht gerne feste Arbeit annehmen. Aber das Geld ist zu gut."

José folgte seinem Blick und sah eine Handvoll Frauen, die sich durch ihr Aussehen von den anderen unterschieden. Ihre Haut war dunkler, ihre Bewegungen freier, und sie trugen mehr Schmuck – Ohrringe, die in der Sonne blitzten, Armreifen, bunte Röcke. Eine von ihnen hatte ein karmesinrotes Tuch im Haar und eine weiße Blume hinter dem Ohr.

„Diese da", sagte Moralès mit ehrfürchtiger Stimme, „das ist Carmen. Sie ist die Schönste von allen. Und die Gefährlichste."