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Venedig, 1623. Zwei Geschwister. Zwei Welten. Eine unmögliche Liebe. Vitelli und Paulina Grimaldi verlassen das goldene Venedig, um im fernen Tunis Handelsbeziehungen aufzubauen. Doch was als diplomatische Mission beginnt, wird zu einer Reise, die ihr Leben für immer verändert. In den verschlungenen Gassen der nordafrikanischen Stadt begegnet Vitelli der rätselhaften Prinzessin Donusa einer Frau von außergewöhnlicher Klugheit, gefangen in einem goldenen Käfig. Ihre heimlichen Treffen entfachen eine Leidenschaft, die alle Grenzen von Religion und Tradition sprengt. Doch in einer Welt, in der Liebe zwischen einem Christen und einer Muslimin als Verrat gilt, wird jedes gestohlene Gespräch zur tödlichen Gefahr. Während Vitelli zwischen Begierde und Pflicht zerrissen wird, findet seine Schwester Paulina im Hospital der Stadt ihre eigene Berufung – und ihre eigenen Zweifel am Glauben ihrer Väter. Als Donusa eine radikale Entscheidung trifft, um ihre Freiheit zu erkämpfen, müssen die Geschwister erkennen, dass manche Lieben mit dem höchsten Preis bezahlt werden. Von den Kanälen Venedigs über die weißen Mauern von Tunis bis zu den prächtigen Kuppeln Konstantinopels – eine epische Geschichte über die Suche nach Identität in einer zerrissenen Welt, über Opfer und Hoffnung, über die Frage, was es bedeutet, wirklich frei zu sein. Basierend auf Philip Massingers klassischem Drama "The Renegado", neu erzählt für unsere Zeit.
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Seitenzahl: 174
Veröffentlichungsjahr: 2025
Anno Stock
The Renegado - Kein Drama nach Philip Massinger
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Inhaltsverzeichnis
Titel
The Renegado – Kein Drama nach Philip Massinger
Kapitel 1: Venezianische Schatten
Kapitel 2: Entscheidungen
Kapitel 3: Über das Meer
Kapitel 4: Tunis
Kapitel 5: Verbotene Blicke
Kapitel 6: Gefährliche Nähe
Kapitel 7: Zweifel und Verlangen
Kapitel 8: Schatten über dem Licht
Kapitel 9: Am Abgrund
Kapitel 10: Der Preis der Freiheit
Kapitel 11: Auf dunklen Wassern
Kapitel 12: Heimkehr
Kapitel 13: Das Jahr der Verwandlung
Kapitel 14: Die Stadt der Welten
Kapitel 15: Die letzte Versuchung
Kapitel 16: Heimat
Epilog
Nachwort des Autors
Impressum neobooks
Die Morgensonne tanzte auf den Kanälen Venedigs, als Vitelli Grimaldi vom Balkon seines Familienpalazzos auf die geschäftige Wasserstraße hinabblickte. Gondeln glitten vorüber wie schwarze Schwäne, ihre Gondolieri sangen jene melancholischen Weisen, die das Herz der Serenissima seit Jahrhunderten bewegten. Doch Vitelli hörte sie kaum. Seine Gedanken waren anderswo, in fernen Ländern, wo das Morgengebet nicht von christlichen Glocken, sondern vom Ruf des Muezzins verkündet wurde.
„Bruder, du stehst schon wieder da wie eine Statue." Die sanfte Stimme seiner Schwester Paulina riss ihn aus seinen Gedanken. Sie trat zu ihm auf den Balkon, ihr Morgenkleid von jenem schlichten Blau, das ihre Frömmigkeit so deutlich zum Ausdruck brachte wie ihre Worte. „Vater sucht dich. Es geht um die Handelsverträge mit den Osmanen."
Vitelli wandte sich zu ihr um und betrachtete seine jüngere Schwester mit jener Mischung aus Zuneigung und leichtem Neid, die er stets empfand, wenn er ihre unerschütterliche Ruhe sah. Paulina war zweiundzwanzig Jahre alt, drei Jahre jüger als er, und doch schien sie eine Weisheit zu besitzen, die ihm selbst nach all seinen Reisen und Studien fehlte. Ihr Gesicht war von klassischer Schönheit – hohe Wangenknochen, dunkle, intelligente Augen, ein Mund, der zum Lächeln geschaffen schien, auch wenn er es selten tat.
„Die Verträge", wiederholte er mit einem bitteren Lachen. „Immer die Verträge. Als ob Papier und Siegel ausreichten, um Welten zu überbrücken."
Paulina legte ihm eine Hand auf den Arm. „Was quält dich, Vitelli? Seit deiner Rückkehr aus Konstantinopel bist du nicht mehr derselbe."
Er schwieg einen Moment, ließ seinen Blick über die Dächer Venedigs schweifen. Die Stadt der Dogen, die mächtigste Handelsrepublik der christlichen Welt, erhob sich vor ihm in all ihrer Pracht. Die Kuppeln von San Marco glänzten im Morgenlicht, der Campanile ragte wie ein Finger gen Himmel, und überall wimmelte es von Menschen – Kaufleuten, Aristokraten, Bettlern, Kurtisanen. Venedig war ein Universum für sich, ein Schmelztiegel der Kulturen, und doch fühlte Vitelli sich hier eingeengt wie ein Falke im goldenen Käfig.
„Ich habe in Konstantinopel Dinge gesehen", begann er schließlich, „die mich an allem zweifeln lassen, was man uns gelehrt hat. Die Osmanen sind nicht die Barbaren, als die man sie uns darstellt. Ihre Paläste übertreffen unsere an Pracht, ihre Bibliotheken an Wissen, ihre Moscheen an—"
„Vitelli!" Paulina zog ihre Hand zurück, ihre Stimme enthielt nun einen scharfen Unterton. „Du sprichst gefährlich. Solche Worte könnten als Ketzerei ausgelegt werden."
„Ketzerei", wiederholte er müde. „Ein bequemes Wort für jene, die nicht denken wollen."
„Ich denke sehr wohl", entgegnete sie mit ruhiger Bestimmtheit. „Aber ich denke innerhalb der Grenzen, die Gott und unsere heilige Kirche uns gesetzt haben. Du hingegen scheinst entschlossen, diese Grenzen zu überschreiten."
Vitelli wollte antworten, doch in diesem Moment erschien ihr älterer Diener Francesco in der Tür zum Balkon. Der alte Mann, der der Familie Grimaldi seit über vierzig Jahren diente, verbeugte sich steif.
„Verzeiht die Störung, Herr Vitelli, Madonna Paulina. Euer Vater erwartet Euch beide im Empfangssaal. Es sind Gäste eingetroffen."
„Gäste?" Vitelli runzelte die Stirn. „Vater erwähnte nichts davon."
Francesco zögerte, ein Zeichen, das Vitelli kannte. Der alte Diener wusste mehr, als er sagen durfte. „Herren aus dem Osten, junger Herr. Sie sind gestern Abend nach Einbruch der Dunkelheit eingetroffen."
Vitelli und Paulina wechselten einen Blick. Besucher, die nach Sonnenuntergang kamen, brachten selten gute Nachrichten. Sie folgten Francesco durch die prachtvollen Korridore des Palazzo Grimaldi, vorbei an Gemälden flämischer Meister und venezianischer Künstler, vorbei an Möbeln aus Mahagoni und Ebenholz, an Teppichen aus Persien und Seide aus China. Der Reichtum der Familie Grimaldi basierte auf drei Generationen erfolgreichen Handels mit dem Osten, doch dieser Reichtum hatte seinen Preis.
Der Empfangssaal war einer der prächtigsten Räume des Palazzo. Hohe Fenster ließen das Licht der Lagune herein und ließen die Goldverzierungen an Decke und Wänden aufleuchten. Dort, auf den burgunderfarbenen Sesseln, saßen drei Männer in orientalischer Kleidung – weite Hosen, bestickte Kaftane, Turbane auf den Häuptern. Ihr Anführer, ein Mann mittleren Alters mit einem sorgfältig gestutzten schwarzen Bart, erhob sich bei ihrem Eintreten.
Vitelli und Paulinas Vater, Marcantonio Grimaldi, stand ebenfalls auf. Er war ein großer Mann Anfang sechzig, dessen einst schwarzes Haar nun von Silberfäden durchzogen war. Sein Gesicht zeigte die Spuren eines Lebens voller Sorgen und Verantwortung, doch seine Augen besaßen noch immer jenen scharfen Blick, der ihn zu einem der erfolgreichsten Kaufleute Venedigs gemacht hatte.
„Vitelli, Paulina, kommt herein", sagte er mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. „Darf ich vorstellen: Mustapha Aga, Sondergesandter des Bey von Tunis, und seine Begleiter."
Mustapha Aga verbeugte sich mit der Eleganz eines Hofmannes. „Die Ehre ist ganz auf meiner Seite, einen so erleuchteten Gentleman und seine bezaubernde Schwester kennenzulernen. Euer Ruf, Signor Vitelli, eilt Euch voraus. Man spricht in Konstantinopel noch immer von Euren theologischen Disputationen mit dem Mufti."
Vitelli erwiderte die Verbeugung, wenn auch steifer. „Ihr überschätzt die Bedeutung jenes Gesprächs, Mustapha Aga. Es war nichts als ein Austausch zwischen Gelehrten."
„Bescheidenheit ist eine Tugend", sagte Mustapha mit einem kaum merklichen Lächeln. „Doch in diesem Fall fehl am Platz. Aber kommen wir zur Sache." Er wandte sich an Marcantonio. „Signor Grimaldi, wie ich Eurem verehrten Vater bereits erläutert habe, befindet sich mein Herr, der Bey von Tunis, in einer delikaten Lage. Die Handelsbeziehungen zwischen unseren Ländern sind von größter Wichtigkeit für beide Seiten. Doch in letzter Zeit haben sich... Komplikationen ergeben."
„Komplikationen?" Marcantonio setzte sich wieder, ein Zeichen für die anderen, es ihm gleichzutun. Paulina nahm auf einem Stuhl nahe der Wand Platz, wie es für eine unverheiratete Frau bei Geschäftstreffen üblich war. Vitelli blieb stehen, eine bewusste Entscheidung, die seinen inneren Widerstand ausdrückte.
„Piraten", sagte Mustapha schlicht. „Korsaren aus Malta und Sizilien überfallen unsere Küsten, plündern unsere Schiffe. Sie behaupten, im Namen der Christenheit zu handeln, doch in Wahrheit sind sie nichts als Räuber. Diese Angriffe gefährden den Handel, schaffen Misstrauen."
„Und was erwartet Ihr von uns?" fragte Marcantonio.
„Vermittlung. Diplomatie. Die Grimaldis haben Einfluss im Senat, Verbindungen zum Dogen selbst. Wenn Venedig seinen Einfluss geltend machte, um diese Überfälle zu stoppen, würde dies ein Zeichen guten Willens sein. Im Gegenzug bietet mein Herr außergewöhnliche Handelskonzessionen. Exklusivrechte für venezianische Händler in Tunis, reduzierte Zölle, Schutz für christliche Kaufleute in unseren Häfen."
Vitelli konnte nicht schweigen. „Schutz für christliche Kaufleute? Das ist eine interessante Formulierung, angesichts dessen, dass christliche Sklaven auf Euren Märkten verkauft werden wie Vieh."
Ein angespanntes Schweigen senkte sich über den Raum. Mustapha Agas Lächeln verschwand nicht, wurde aber kälter. „Die Institution der Sklaverei existiert auf beiden Seiten des Mittelmeers, Signor Vitelli. Eure christlichen Galeeren werden von muslimischen Sklaven gerudert, oder irre ich mich?"
„Mein Sohn spricht manchmal voreilig", unterbrach Marcantonio hastig. „Ihr müsst seine Jugend verzeihen."
„Es gibt nichts zu verzeihen", sagte Mustapha mit einer Handbewegung. „Im Gegenteil, solche Offenheit ist erfrischend. Und sie bringt mich zu einem weiteren Punkt." Er lehnte sich vor, seine dunklen Augen fixierten Vitelli. „Mein Herr, der Bey, wünscht sich einen persönlichen Abgesandten Venedigs, der nach Tunis reist, um die Details dieser neuen Handelsvereinbarung auszuarbeiten. Jemanden mit Kenntnissen der orientalischen Sprachen und Gebräuche. Jemanden wie Euch, Signor Vitelli."
Die Worte trafen Vitelli wie ein Blitz. Tunis. Die legendäre Stadt an der nordafrikanischen Küste, Tor zur Sahara, Zentrum osmanischer Macht im Westen. Ein Ort, den er seit Jahren besuchen wollte, doch die familiären Verpflichtungen und sein Vaters Widerstand hatten es verhindert.
„Das ist unmöglich", sagte Marcantonio sofort. „Mein Sohn ist hier in Venedig unverzichtbar. Unsere Geschäfte—"
„Würden enorm profitieren", unterbrach Mustapha. „Die Konzessionen, von denen ich sprach, wären exklusiv für das Haus Grimaldi. Keine andere venezianische Familie hätte solchen Zugang. Der Gewinn würde alles übertreffen, was Ihr bisher erzielt habt."
„Und das Risiko?" Es war Paulina, die sprach. Alle Köpfe wandten sich ihr zu. Sie errötete leicht, doch ihre Stimme blieb fest. „Vergebt meine Kühnheit, aber Tunis ist weit von Venedig entfernt. Die Reise ist gefährlich, die politische Lage unsicher. Was, wenn meinem Bruder etwas zustößt?"
Mustapha betrachtete sie mit unverhohlenem Interesse. „Madonna, Eure Sorge um Euren Bruder ehrt Euch. Doch ich kann versichern, dass mein Herr für die Sicherheit des Signors persönlich garantiert. Er würde als Gast des Bey residieren, unter dem Schutz des Hofes."
„Das beruhigt mich nicht unbedingt", murmelte Paulina, doch nur Vitelli hörte es.
Marcantonio erhob sich, ein Zeichen, dass die Audienz zu Ende ging. „Wir werden Euren Vorschlag sorgfältig überdenken, Mustapha Aga. Doch solch eine Entscheidung kann nicht überstürzt werden. Gewährt uns Zeit zur Beratung."
„Natürlich." Mustapha und seine Begleiter erhoben sich ebenfalls. „Wir verweilen noch drei Tage in Venedig. Mein Herr hofft auf eine positive Antwort." Er verbeugte sich vor Paulina. „Madonna, es war ein Privileg, Eure Bekanntschaft zu machen. Eure Schönheit wird nur von Eurer Klugheit übertroffen."
Als die Gäste gegangen waren, explodierte Marcantonio. „Tunis! Als ob ich nicht genug Sorgen hätte! Vitelli, du wirst nicht gehen. Das ist meine letzte Entscheidung."
„Vater—"
„Nein!" Marcantonio schlug mit der Faust auf die Armlehne seines Sessels. „Ich weiß, was in deinem Kopf vorgeht. Du siehst dies als Abenteuer, als Gelegenheit, deine orientalischen Fantasien auszuleben. Doch du verstehst nicht die Gefahren. Tunis ist nicht Konstantinopel. Es gibt dort keine venezianische Kolonie, keine christlichen Viertel. Du wärst allein, umgeben von Ungläubigen."
„Vielleicht ist das genau das, was ich brauche", sagte Vitelli leise.
Marcantonio starrte seinen Sohn an, als sähe er ihn zum ersten Mal. „Was meinst du damit?"
Vitelli rang mit sich selbst. Wie sollte er seinem Vater erklären, was er selbst kaum verstand? Die Unruhe, die ihn seit Monaten plagte? Das Gefühl, dass sein Leben in vorgezeichneten Bahnen verlief, ohne Sinn, ohne Zweck? Die Faszination für eine Welt, die ihm verboten war, gerade weil sie verboten war?
„Ich meine", begann er vorsichtig, „dass diese Reise nicht nur dem Geschäft dienen würde. Sie könnte mir helfen zu verstehen, wer ich bin, was ich will."
„Du bist ein Grimaldi", sagte sein Vater hart. „Das sollte genügen."
„Sollte es", wiederholte Vitelli. „Aber es genügt nicht."
Paulina erhob sich und trat zwischen Vater und Sohn. „Vielleicht sollten wir alle eine Nacht darüber schlafen", sagte sie beschwichtigend. „Morgen sehen die Dinge klarer aus."
Doch als Vitelli später in seinem Zimmer stand und erneut auf die Kanäle Venedigs hinabblickte, wusste er, dass keine Nacht der Welt seine Entscheidung ändern würde. Tunis rief ihn, mit einer Stimme, die er nicht ignorieren konnte.
Was er nicht wusste, während er dort in der hereinbrechenden Dämmerung stand, war, dass auch Paulina nicht schlafen konnte. In ihrem Zimmer kniete sie vor dem kleinen Altar, den sie selbst errichtet hatte, und betete. Sie betete für ihren Bruder, für seine Seele, für seine Sicherheit.
Und sie betete, dass Gott ihr die Kraft geben möge, ihn nicht allein gehen zu lassen.
Die Nacht war unruhig für alle Bewohner des Palazzo Grimaldi. Vitelli lag wach in seinem Bett, starrte auf die Schatten, die das Mondlicht durch die hohen Fenster auf die bemalte Decke warf. Bilder von fernen Städten, goldenen Kuppeln und endlosen Wüsten tanzten vor seinem inneren Auge. Tunis. Der Name klang wie eine Verheißung.
In den frühen Morgenstunden, als die ersten Gondolieri ihre Boote zu Wasser ließen, erhob er sich und kleidete sich an. Er musste hinaus, musste die stickige Luft des Palazzo hinter sich lassen. Leise verließ er sein Zimmer und stieg die Marmortreppe hinab zum Haupteingang.
Doch er war nicht der Einzige, der nicht schlafen konnte. Im Innenhof, bei dem kleinen Brunnen, dessen Plätschern die nächtliche Stille durchbrach, saß Paulina auf einer Steinbank. Sie trug noch immer ihr Nachtgewand, darüber einen dunklen Umhang. Ihr langes schwarzes Haar fiel offen über ihre Schultern, was Vitelli überraschte – normalerweise trug sie es streng zurückgebunden.
„Du gehst schon?", fragte sie, ohne sich umzudrehen.
Vitelli trat zu ihr. „Ich wollte nur spazieren gehen. Nachdenken. Und du? Warum bist du hier?"
„Aus demselben Grund." Sie hob den Kopf und sah ihn an. Im schwachen Licht der Morgendämmerung sah sie jünger aus, verletzlicher. „Vitelli, du wirst gehen, nicht wahr? Nach Tunis."
Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Vitelli setzte sich neben sie. „Vater wird es nie erlauben."
„Vater ist ein alter Mann, der Angst hat." Paulinas Stimme war sanft, aber bestimmt. „Angst vor Veränderung, Angst davor, die Kontrolle zu verlieren. Aber du bist nicht wie er. Du warst es nie."
„Und du?" Er musterte seine Schwester. „Du scheinst dich mit deinem Leben abgefunden zu haben. Die fromme Tochter, die betet und wartet, bis Vater einen passenden Ehemann für dich findet."
Paulina lächelte schwach. „Ist das wirklich, was du siehst, wenn du mich anschaust?"
„Was soll ich sonst sehen?"
Sie schwieg einen Moment, ihre Finger spielten mit dem Stoff ihres Umhangs. „Als Mutter starb, war ich zwölf Jahre alt. Erinnerst du dich?"
„Natürlich." Vitelli spürte einen Stich im Herzen. Ihre Mutter, die sanfte Lucrezia, war an einem Fieber gestorben, das damals halb Venedig heimgesucht hatte.
„In der Nacht vor ihrem Tod", fuhr Paulina fort, „rief sie mich zu sich. Vater und du, ihr wart beim Dogen, irgendein wichtiges Treffen. Es war nur sie und ich. Sie hielt meine Hand und sagte: 'Paulina, du wirst eine Wahl treffen müssen. Du kannst entweder leben, wie andere es von dir erwarten, oder du kannst leben, wie Gott es von dir erwartet. Das ist nicht dasselbe.'"
„Was meinte sie damit?"
„Damals verstand ich es nicht. Jetzt schon." Paulina stand auf und trat zum Brunnen, tauchte ihre Hand ins Wasser. „Vater will, dass ich hier in Venedig bleibe, einen reichen Kaufmann heirate, Kinder bekomme, eine ehrenhafte Matrone werde. Die Gesellschaft erwartet das. Aber Gott..." Sie hielt inne, suchte nach Worten. „Gott flüstert mir andere Dinge zu. In meinen Gebeten, in meinen Träumen. Er zeigt mir Orte, die ich nie gesehen habe, Menschen, denen ich helfen soll."
Vitelli erhob sich ebenfalls, trat zu ihr. „Paulina, was sagst du da?"
Sie drehte sich zu ihm um, und in ihren Augen sah er etwas, das er dort noch nie gesehen hatte – eine wilde Entschlossenheit, die der seinen ähnelte. „Ich komme mit dir. Nach Tunis."
„Das ist unmöglich!"
„Warum? Weil ich eine Frau bin?" Ihr Ton wurde schärfer. „Weil fromme Jungfrauen nicht in heidnische Länder reisen? Bruder, wenn Gott mich an einen Ort führt, dann gehe ich dorthin, egal wie unmöglich es scheint."
„Vater wird niemals—"
„Vater wird nicht gefragt." Paulina sprach nun mit einer Autorität, die Vitelli verblüffte. „Du bist der Erbe, der Sohn. Er kann dich unter Druck setzen, aber nicht wirklich hindern. Bei mir ist es anders. Aber wenn ich mit dir zusammen gehe, als deine Begleiterin, um für deine Sicherheit zu beten und dich zu unterstützen, wird er nachgeben müssen."
„Du verstehst nicht, was du sagst. Tunis ist gefährlich, fremd, eine Welt, die unserer völlig entgegengesetzt ist."
„Umso mehr brauchen die Christen dort unsere Gebete." Paulinas Stimme wurde weicher. „Vitelli, ich habe keine Angst. Oder vielmehr, ich habe Angst, aber ich vertraue auf Gott. Und ich vertraue dir. Lass mich nicht hier zurück, während du deine Bestimmung suchst. Vielleicht liegt meine eigene auf demselben Weg."
Bevor Vitelli antworten konnte, erschien eine weitere Gestalt im Innenhof. Es war ihr Vater, noch im Morgenmantel, sein Gesicht grau vor Müdigkeit.
„Ihr seid beide wach", stellte Marcantonio fest. „Gut. Dann können wir diese Angelegenheit jetzt klären."
Sie gingen gemeinsam in die Bibliothek, jenen Raum, in dem die wichtigsten Familienentscheidungen getroffen wurden. Die Wände waren bedeckt mit Büchern – Handelsverträge, Schifffahrtskarten, philosophische Werke, religiöse Texte. Marcantonio hatte sein Leben dem Studium und dem Handel gewidmet, und dieser Raum war das Herz seines Universums.
Er schenkte sich Wein ein, trank, setzte sich schwer auf seinen Stuhl hinter dem massiven Schreibtisch. „Ich habe die ganze Nacht nachgedacht", begann er. „Über das Angebot der Tunesier, über unsere Familie, über die Zukunft."
„Vater—" begann Vitelli, doch Marcantonio hob die Hand.
„Lass mich sprechen. Ich bin alt, Vitelli. Das merke ich jeden Morgen, wenn meine Knochen schmerzen, wenn mein Atem kurz wird beim Treppensteigen. Ich habe dieses Geschäft aufgebaut, habe unseren Namen zu einem der geachtetsten in Venedig gemacht. Und ich dachte immer, du würdest es übernehmen, es weiterführen, es bewahren."
„Das kann ich noch immer—"
„Nein." Marcantonio schüttelte den Kopf. „Das ist es ja. Du willst es nicht. Nicht wirklich. Ich sehe es in deinen Augen, habe es immer gesehen. Du bist nicht wie ich. Du bist wie deine Mutter." Seine Stimme wurde weicher bei der Erwähnung seiner verstorbenen Frau. „Lucrezia wollte auch immer hinaus in die Welt, wollte mehr als das, was Venedig ihr bieten konnte. Ich habe sie hier festgehalten, aus Liebe, wie ich mir einredete. Aber es war Angst. Angst vor dem Unbekannten."
„Vater", sagte Paulina sanft, „was willst du uns sagen?"
Marcantonio sah sie an, dann Vitelli. „Ich werde Mustapha Aga mitteilen, dass du die Einladung annimmst. Du wirst nach Tunis reisen, als unser Gesandter."
Vitelli konnte kaum glauben, was er hörte. „Wirklich?"
„Unter Bedingungen." Marcantonios Ton wurde geschäftsmäßig. „Du reist nicht allein. Ich werde einen unserer vertrauenswürdigsten Kapitäne beauftragen, dich zu begleiten – Antonio Donato, du kennst ihn. Sein Schiff ist schnell und gut bewaffnet. Außerdem wird Pater Francisco mitreisen."
„Pater Francisco?" Vitelli runzelte die Stirn. „Der Jesuit?"
„Genau der. Er hat Jahre in orientalischen Ländern verbracht, spricht Arabisch, kennt ihre Sitten. Und er ist ein Mann Gottes – das wird dich vor Versuchungen schützen."
Vitelli wollte protestieren, doch er erkannte die Weisheit dieser Vorkehrung. Pater Francisco de Leone war tatsächlich eine bemerkenswerte Persönlichkeit – ein Spanier von Geburt, der den Jesuiten beigetreten war und sein Leben der Mission in islamischen Ländern gewidmet hatte. Vitelli hatte ihn einige Male getroffen und seine Gelehrsamkeit respektiert, wenn auch nicht immer seine Ansichten.
„Es gibt noch etwas", sagte Paulina. Beide Männer sahen sie an. „Ich möchte mit Vitelli gehen."
Die Stille, die folgte, war absolut. Marcantonio starrte seine Tochter an, als hätte sie Häresie gesprochen. „Das ist absurd."
„Nein, das ist notwendig." Paulinas Stimme blieb ruhig, aber fest. „Bruder wird Monate, vielleicht ein Jahr fort sein. Wer soll für seine Seele beten? Wer soll ihn an seine christlichen Pflichten erinnern, wenn er umgeben ist von Ungläubigen?"
„Pater Francisco—"
„Ist ein Priester, kein Familienmitglied. Vitelli braucht jemanden, der ihn wirklich kennt, der ihn liebt." Paulina trat näher an den Schreibtisch heran. „Vater, ich bin keine naive Jungfrau mehr. Ich bin zweiundzwanzig Jahre alt, unverheiratet, und ich werde es wahrscheinlich bleiben. Gott hat mir keine Berufung zur Ehe gegeben, das weiß ich jetzt. Aber vielleicht hat er mir eine andere Berufung gegeben – meinem Bruder zu helfen, seinen Weg zu finden."
„Du weißt nicht, was du verlangst", sagte Marcantonio, doch seine Stimme klang weniger sicher. „Tunis ist kein Ort für christliche Frauen. Die Gefahren—"
„Sind die gleichen, ob ich hier oder dort bin." Paulina lächelte schwach. „Jüngst erst wurde die Tochter des Dogen auf offener Straße überfallen. Venedig ist nicht sicherer als Tunis, nur vertrauter."
Vitelli mischte sich ein, obwohl Teil von ihm Paulina zurückhalten wollte. „Wenn sie wirklich kommen will, Vater, und wenn es Gottes Wille ist, wie sie sagt, wer sind wir, sie aufzuhalten?"
Marcantonio vergrub sein Gesicht in den Händen. „Ihr werdet noch mein Tod sein, ihr beiden. Lucrezia, wo immer du bist, vergib mir."
„Dann dürfen wir?" Paulina konnte ihre Aufregung kaum verbergen.
„Unter noch strengeren Bedingungen." Marcantonio hob den Kopf. „Paulina, wenn du wirklich gehst, dann nur unter dem Schutz eines heiligen Gelübdes. Du wirst dich formal der Obhut der Kirche unterstellen, als Laienschwester. Pater Francisco wird dafür sorgen, dass du in Tunis in einem christlichen Haushalt oder einem geschützten Quartier untergebracht wirst. Kein Kontakt mit muslimischen Männern, keine riskanten Unternehmungen."
„Ich akzeptiere diese Bedingungen", sagte Paulina sofort.
„Und du, Vitelli." Marcantonio fixierte seinen Sohn mit hartem Blick. „Du bist verantwortlich für deine Schwester. Ihr Leben liegt in deinen Händen. Sollte ihr etwas zustoßen durch deine Nachlässigkeit, werde ich dich enterben und verstoßen. Verstehst du?"
Die Worte trafen Vitelli wie Peitschenhiebe. „Ich verstehe. Ich schwöre, sie zu beschützen."
„Schwöre es nicht mir", sagte Marcantonio und deutete auf das Kruzifix an der Wand. „Schwöre es vor Gott."
Vitelli und Paulina knieten gemeinsam vor dem Kruzifix. Mit erhobenen Händen sprachen sie den Eid, einander zu schützen, ihrem Glauben treu zu bleiben, und sicher nach Venedig zurückzukehren.
Als sie sich erhoben, fühlte Vitelli eine Mischung aus Triumph und Furcht. Er hatte bekommen, was er wollte – die Freiheit, nach Tunis zu reisen. Aber zu welchem Preis?
