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Wien, 1930. Eine Liebe. Eine Flucht. Eine Tragödie. Marianne Zauner führt ein Leben, das andere für sie bestimmt haben: Tochter eines Spielwarenhändlers, verlobt mit dem soliden Fleischhauer Oskar, eingebettet in die engen moralischen Grenzen der Wiener Vorstadt. Doch als sie dem charmanten Musiker Alfred begegnet, erwacht eine Sehnsucht, die alles in Frage stellt.Für die Liebe riskiert Marianne alles – und verliert alles. Die Flucht mit Alfred führt sie nicht in die erträumte Freiheit, sondern in den Abgrund der Großstadt. Verlassen, mittellos, schwanger, durchlebt sie die dunkelsten Seiten des Wiens der Wirtschaftskrise: Das Magdalenenheim, die Straßen des Rotlichtviertels, die gesellschaftliche Ächtung. Eine Rückkehr scheint unmöglich, doch die Verzweiflung lässt keine Wahl. In einer arrangierten Ehe mit Oskar sucht Marianne Zuflucht – aber die Geister der Vergangenheit lassen sich nicht bannen. Und im Wiener Wald wartet das Schicksal auf seine letzte, tragische Wendung. Diese packende Roman-Adaption von Horváths zeitlosem Volksstück erzählt die Geschichte einer Frau, die zwischen gesellschaftlichen Zwängen und persönlicher Freiheit zerrieben wird – ein bewegendes Porträt der Unmöglichkeit, in einer gnadenlosen Welt zu lieben.
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Seitenzahl: 197
Veröffentlichungsjahr: 2025
Anno Stock
Geschichten aus dem Wiener Wald - Kein Drama nach Ödön von Horváth
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Geschichten aus dem Wiener Wald – Kein Drama nach Ödön von Horváth
Kapitel 1: Das Spielwarengeschäft
Kapitel 2: Der stille Bräutigam
Kapitel 3: Melodien am Ufer der Donau
Kapitel 4: Verbotene Blicke
Kapitel 5: Der Heurigenabend
Kapitel 6: Zwischen zwei Welten
Teil II: Die Großstadt
Kapitel 7: Im Schatten der Ringstraße
Kapitel 8: Verblassende Träume
Kapitel 9: Das verstoßene Kind
Kapitel 10: Im Abgrund
Kapitel 11: Die Rückkehr
Kapitel 12: Falsche Versöhnung
Kapitel 13: Unter falscher Maske
Kapitel 14: Der Heurigenabend – Ein Jahr später
Kapitel 15: Im Wiener Wald
Kapitel 17: Im Wiener Wald
Kapitel 18: Das Verbrechen
Nachwort zur Roman-Adaption
Teil I: Der Duft der Akazien
Frühling 1930
Teil III: Heimkehr und Abrechnung
Winter 1930/31
Impressum neobooks
Der Geruch von frisch gebackenen Apfelstrudel zog durch die Wachau, vermischt mit dem süßlichen Duft der Akazienblüten, die entlang der Donau ihre weißen Rispen in den Maiwind hielten. In der Hauptstraße von Nußdorf, dort wo die Häuser noch eng beieinanderstanden und die Fassaden in jenem verblichenen Gelb leuchteten, das die kaiserliche Zeit überdauert hatte, knarrte ein hölzernes Schild im Wind: „Spielwaren – Leopold Zauner – Seit 1898".
Der Zauberkönig – so nannte man Leopold Zauner hier, weil er als junger Mann einmal auf einem Volksfest Zauberkunststücke vorgeführt hatte – stand hinter seiner Ladentheke und polierte eine Bleisoldatenfigur. Seine fleischigen Finger bewegten sich überraschend behutsam über das bemalte Metall, als könnte er dem preußischen Grenadier Leben einhauchen. Er war ein Mann Mitte Fünfzig, dessen Bauch gegen die Weste drückte und dessen Stirn bereits weit zurückgewichen war. Aber seine Augen, klein und wachsam wie die eines Raubvogels, verrieten den Geschäftsmann, der er über all die Jahre geworden war.
„Marianne!" Seine Stimme schnitt durch die Stille des Ladens. „Wo bleibst du denn? Die Frau Hofrat wartet!"
Aus dem Hinterzimmer erschien seine Tochter. Marianne war einundzwanzig Jahre alt und trug das dunkle Haar in jener strengen Frisur, die der Zauberkönig für anständig hielt – zurückgekämmt, im Nacken zu einem Knoten gebunden. Ihr Gesicht war schmal, die Züge fein, aber in ihren Augen lag eine Unruhe, die sie nicht verbergen konnte. Sie hatte das graue Kleid an, das ihre Mutter noch genäht hatte, bevor die Spanische Grippe sie 1918 holte. Zwölf Jahre war das her, aber der Zauberkönig bestand darauf, dass nichts verschwendet werden durfte.
„Verzeihung, Vater." Marianne senkte den Blick und trat hinter die Theke, wo die Frau Hofrat – eine corpulente Dame in Schwarz, deren verstorbener Mann tatsächlich Hofrat gewesen war, zu einer Zeit, als es noch einen Hof gab – ungeduldig mit ihrem Regenschirm auf den Holzboden tippte.
„Die Puppe für meine Enkelin", schnappte die Frau Hofrat. „Die französische, mit den echten Haaren. Sie haben sie mir versprochen, Herr Zauner!"
Der Zauberkönig setzte sein Geschäftslächeln auf, jenes breite, falsche Lächeln, das Marianne so gut kannte. „Aber selbstverständlich, gnädige Frau! Marianne, die Puppe aus dem Schaufenster."
Während Marianne die Porzellanpuppe vorsichtig aus ihrer Auslage nahm, beobachtete sie durch das Schaufenster das Leben auf der Straße. Ein Straßenbahnwagen ratterte vorbei, auf dem in großen Lettern „Grinzing" stand. Zwei junge Männer in hellen Sommeranzügen schlenderten vorüber, lachend, mit Strohhüten auf den Köpfen. Einer von ihnen warf einen Blick ins Schaufenster, und für einen Moment trafen sich ihre Blicke.
„Marianne!" Die Stimme ihres Vaters riss sie zurück.
„Ja, Vater." Sie wickelte die Puppe in Seidenpapier, band sie mit einer rosa Schleife zu. Ihre Finger bewegten sich mechanisch, wie sie es hunderte Male zuvor getan hatten.
Als die Frau Hofrat endlich gegangen war – nicht ohne sich über den Preis beschwert zu haben, obwohl jeder wusste, dass die Hofratswitwe ein Vermögen auf der Bank hatte – ließ sich der Zauberkönig auf den Stuhl hinter der Kasse fallen und zog seine goldene Taschenuhr hervor.
„Bald fünf Uhr", murmelte er. „Oskar wird gleich kommen."
Marianne spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Oskar. Der Fleischhauer von der Alserbachstraße. Seit drei Monaten war sie mit ihm verlobt, und jedes Mal, wenn sein Name fiel, wurde ihr übel.
„Du könntest ein bisschen freundlicher schauen", sagte der Zauberkönig und musterte sie kritisch. „Ein Mädchen in deinem Alter sollte dankbar sein. Oskar ist ein solider Mann. Ein Geschäft, eine Wohnung, eine Zukunft. Was willst du mehr?"
Liebe, dachte Marianne, aber sie schwieg. Man sprach nicht über Liebe. Nicht in der Familie Zauner. Man sprach über Vernunft, über Sicherheit, über anständige Verhältnisse.
Die Tür zum Hinterzimmer öffnete sich, und die Großmutter schlurfte herein. Sie war dreiundachtzig Jahre alt, eine zusammengeschrumpfte Gestalt in Schwarz, die sich auf einen Stock stützte. Ihr Gesicht war ein Netz aus Falten, aber die Augen, so trübe sie auch geworden waren, sahen alles.
„Der Oskar kommt also", sagte sie und ließ sich auf einen Schemel fallen. „Der mit den Blutwurstfingern."
„Mutter!" Der Zauberkönig fuhr herum. „Ich verbitte mir das!"
„Was verbitest du dir?" Die Alte kicherte. „Die Wahrheit? Der Bub riecht nach Schlachthaus, das ist ein Faktum. Aber er hat Geld, das ist auch ein Faktum. Und unsere Marianne ist keine Zwanzig mehr."
„Ich bin einundzwanzig, Großmutter", sagte Marianne leise.
„Eben. Eine alte Jungfer."
Marianne wandte sich ab und begann, die Soldatenfiguren neu zu sortieren. Ihre Finger zitterten. Einundzwanzig. Eine alte Jungfer. In der neuen Republik, wo die Frauen angeblich frei waren, wo manche sogar studierten und alleine lebten – aber nicht hier, nicht in der Wachau, nicht in der Familie Zauner.
Die Ladenglocke klingelte.
„Guten Abend die Herrschaften!"
Oskar stand in der Tür. Er war vierunddreißig Jahre alt, ein kräftiger Mann mit breiten Schultern und einem roten Gesicht, das aussah, als wäre es permanent in der Julisonne verbrannt. Sein Anzug war neu, wahrscheinlich zu neu, und roch tatsächlich – Marianne konnte es nicht leugnen – leicht nach Fleisch und Blut, trotz des Rasierwassers, mit dem er sich offensichtlich überschüttet hatte.
„Oskar! Mein lieber Schwiegersohn!" Der Zauberkönig war auf den Beinen, die fleischige Hand ausgestreckt. „Pünktlich wie immer!"
„Geschäft ist Geschäft, Herr Zauner." Oskar schüttelte die Hand mit jener übertriebenen Herzlichkeit, die Marianne so fremd war. „Guten Abend, Großmutter. Guten Abend, Marianne."
Er trat auf sie zu, nahm ihre Hand und drückte einen feuchten Kuss darauf. Marianne zwang sich zu lächeln, aber es fühlte sich an, als würde ihr Gesicht aus Porzellan zerbrechen.
„Ich dachte, wir könnten heute einen Spaziergang machen", sagte Oskar. „Im Türkenschanzpark. Das Wetter ist so schön."
„Eine ausgezeichnete Idee!" Der Zauberkönig nickte eifrig. „Marianne, hol deinen Mantel. Die frische Luft wird dir guttun. Du bist so blass in letzter Zeit."
„Aber der Laden—"
„Ich schließe ab. Geh nur, geh!"
Fünf Minuten später stand Marianne neben Oskar auf der Straße. Die Abendsonne warf lange Schatten, und aus den Höfen drangen die Geräusche des Feierabends – Frauen, die riefen, Kinder, die spielten, irgendwo übte jemand auf einem verstimmten Klavier einen Walzer.
„Du bist so still", sagte Oskar, als sie die Straßenbahn zur Währinger Straße nahmen. „Ist etwas nicht in Ordnung?"
„Nein, alles ist gut."
„Ich habe heute ein Schwein geschlachtet", erzählte er und seine Augen leuchteten. „Ein prächtiges Tier, hundertfünfzig Kilo. Der Speck wird hervorragend. Ich dachte, zu unserer Hochzeit könnten wir—"
Marianne hörte nicht mehr zu. Sie starrte aus dem Fenster der Straßenbahn, während die Häuser vorbeizogen. Im Türkenschanzpark würde Oskar wieder über die Hochzeit sprechen, über die Wohnung über der Fleischhauerei, über die Kinder, die sie haben würden. Drei, hatte er gesagt. Mindestens drei.
Und sie würde nicken und lächeln, weil das von ihr erwartet wurde. Weil sie die Tochter des Zauberkönigs war, weil sie keine Ausbildung hatte, kein Geld, keine Aussichten. Weil das Leben für ein Mädchen wie sie so aussah: ein Spielwarenladen, eine arrangierte Verlobung, eine Zukunft, die bereits geschrieben stand.
Der Park war voller Menschen an diesem milden Maiabend. Familien mit Kinderwagen, alte Herren auf Bänken, Liebespaare, die Arm in Arm unter den Kastanien spazierten. Oskar führte sie zu einer Bank mit Blick auf den Teich, wo die Enten im letzten Licht des Tages ihre Kreise zogen.
„Im September", sagte Oskar und nahm ihre Hand. Seine Finger waren dick und warm. „Da sollten wir heiraten. Die Geschäfte laufen im Herbst wieder besser, und dann haben wir Zeit für eine kleine Hochzeitsreise. Nach Graz vielleicht. Oder Innsbruck."
„Oskar—"
„Ich weiß, du bist aufgeregt." Er drückte ihre Hand fester. „Aber du musst keine Angst haben. Ich werde gut zu dir sein, Marianne. Du wirst ein schönes Leben haben. Und dein Vater, der wird stolz sein auf uns."
Marianne sah ihn an, diesen fremden Mann, der ihr Ehemann werden sollte. Er meinte es gut, das wusste sie. Er war nicht grausam, nicht böse. Nur... er war nicht das, was sie sich erträumt hatte in den schlaflosen Nächten, wenn sie aus dem kleinen Dachfenster ihrer Kammer die Sterne betrachtete.
„Ja", sagte sie leise. „Im September."
Und als Oskar lächelte, zufrieden und siegesgewiss, wusste Marianne, dass sie log. Sie wusste nur noch nicht, dass eine andere Zukunft bereits auf sie wartete, eine Zukunft, die alles zerstören würde, was sie kannte – und die mit einem Mann begann, den sie noch nicht getroffen hatte.
Aber das war an einem anderen Abend, in einem anderen Leben, das noch nicht begonnen hatte.
Die Fleischhauerei Huber in der Alserbachstraße öffnete jeden Morgen um sechs Uhr, und Oskar war immer schon um halb fünf da. Das war seine Zeit, die stille Stunde vor dem Ansturm der Kundschaft, wenn nur das Summen der neuen elektrischen Kühlanlage zu hören war – eine Anschaffung, auf die er stolz war wie auf wenig anderes in seinem Leben.
An diesem Morgen, zwei Tage nach dem Spaziergang im Türkenschanzpark, stand er in der Kühlkammer und betrachtete die Fleischseiten, die an den Haken hingen. Das Licht der nackten Glühbirne warf harte Schatten auf das marmorierte Rot des Fleisches. Hier, in dieser Kälte, zwischen Rippen und Keulen, fühlte Oskar sich zu Hause. Hier verstand er die Welt.
Ein Schwein war ehrlich. Man wusste, was man bekam. Zweihundert Pfund Tier ergaben hundertfünfzig Pfund verwertbares Fleisch, zehn Pfund Speck, fünf Pfund Schmalz. Man konnte es ausrechnen, planen, verkaufen. Keine Überraschungen, keine Enttäuschungen.
Mit Frauen war das anders.
„Chef! Die erste Lieferung ist da!" Johann, sein Lehrling, steckte den Kopf durch die Tür. Der Bursche war sechzehn, dünn wie eine Bohnenstange, aber fleißig. Das zählte.
„Ich komme."
Die nächsten zwei Stunden vergingen mit Arbeit. Fleisch auspacken, sortieren, im Schaufenster drapieren. Oskar hatte ein Auge dafür, wie man die Waren präsentierte – die Würste in ordentlichen Reihen, das Selchfleisch auf weißem Papier, die Leberstreichwurst in der neuen Emailschüssel. Präsentation, hatte ihm der alte Meister Huber beigebracht, ist der halbe Verkauf.
Um acht Uhr öffnete er die Ladentür. Die Alserbachstraße erwachte zum Leben. Straßenbahnen klingelten, Lastenwagen rumpelten über das Kopfsteinpflaster, Hausmädchen eilten mit Einkaufskörben von Geschäft zu Geschäft. Die erste Kundin war die Frau Doktor Steiner, eine hagere Frau mit scharfer Stimme.
„Zwei Kilo Rindschnitzel, Herr Huber. Und schauen Sie, dass sie mager sind! Letztes Mal war zu viel Fett dran."
„Selbstverständlich, Frau Doktor." Oskar schnitt die Schnitzel mit geübten Bewegungen, klopfte sie, wog sie ab. „Zwei Kilo, exakt. Darf es sonst noch etwas sein?"
„Das wäre alles. Ach, und Herr Huber – ich habe gehört, Sie heiraten bald?"
Oskar spürte, wie seine Wangen sich röteten. „Im September, Frau Doktor."
„Die Tochter vom Zauberkönig, nicht wahr? Aus der Wachau?" Die Frau Doktor musterte ihn mit jenem Blick, den Oskar kannte – halb neugierig, halb abschätzig. „Na, dann gratuliere ich. Sie wird sich an die Arbeit in einer Fleischhauerei gewöhnen müssen. Die feinen Fräuleins aus den Spielwarengeschäften sind das ja nicht gewohnt."
Als sie gegangen war, ballte Oskar die Fäuste. Die feinen Fräuleins. Als wäre Marianne etwas Besseres. Als wäre eine Fleischhauerei weniger wert als ein Spielwarenladen. Sein Vater hatte ihm das Geschäft 1925 überlassen, als er nach einem Schlaganfall nicht mehr arbeiten konnte. Oskar hatte es aus den Schulden geholt, modernisiert, die Kundschaft verdoppelt. Er war jemand. Ein Geschäftsmann. Ein Mann mit Zukunft.
Und doch.
Wenn er an Marianne dachte, beschlich ihn eine Unsicherheit, die er nicht einordnen konnte. Sie war schön, das war unbestritten. Nicht auf diese laute, geschminkte Art, wie die Mädchen, die abends vor den Tanzlokalen standen, sondern still, zurückhaltend, fast zerbrechlich. Wenn sie ihn ansah mit diesen dunklen Augen, war es, als würde sie durch ihn hindurchschauen, als suche sie etwas, das er nicht geben konnte.
„Chef, die Frau Kowalski möchte was Besonderes für Sonntag." Johann riss ihn aus seinen Gedanken.
Der Tag zog sich hin wie ein zähes Stück Fleisch. Kunde nach Kunde, Bestellung nach Bestellung. Um zwei Uhr, als er die Mittagspause machte, saß Oskar in der kleinen Küche hinter dem Laden und aß die Selchfleisch-Semmel, die ihm die Wirtshausköchin von gegenüber gemacht hatte. Durch die offene Tür konnte er Johann im Laden hantieren hören.
Seine Gedanken wanderten zurück zu dem Abend, als der Zauberkönig ihn angesprochen hatte. Das war im Februar gewesen, beim Faschingsfest der Gewerbetreibenden im Gasthaus Zum Goldenen Hirschen. Oskar war allein gekommen – er kam immer allein zu solchen Veranstaltungen – und hatte an der Theke gestanden, als der Zauberkönig sich neben ihn gesellte.
„Ein erfolgreicher Mann wie Sie, Herr Huber", hatte der Zauberkönig gesagt und dabei sein Bierglas geschwenkt, „ein Mann in den besten Jahren, mit einem florierenden Geschäft – sagen Sie, haben Sie nie daran gedacht zu heiraten?"
Oskar hatte sich gewunden. Natürlich hatte er daran gedacht. Ständig. Er war vierunddreißig, die meisten Männer in seinem Alter hatten längst Familie. Aber die Frauen, die er getroffen hatte, hatten ihn entweder gelangweilt oder abgelehnt. Die Wirtshausköchin von gegenüber hatte deutlich gemacht, dass sie für einen Fleischhauer zu fein war. Die Tochter des Schuhmachers hatte ihn ausgelacht, als er ihr einen Antrag machte.
„Ich habe eine Tochter", hatte der Zauberkönig fortgefahren. „Marianne. Einundzwanzig Jahre alt, anständig erzogen, gut im Haushalt. Sie würde eine ausgezeichnete Ehefrau abgeben."
Und dann hatte er Oskar eine Photographie gezeigt. Ein ovales Gesicht, dunkle Augen, ein scheuer Blick. Oskar hatte sofort gewusst: Das war sie. Die Frau, auf die er gewartet hatte.
Die Verlobung war schnell arrangiert worden. Der Zauberkönig hatte keine Mitgift anzubieten – „Die Zeiten sind schwer, Herr Huber, Sie verstehen" – aber das war Oskar egal gewesen. Er verdiente genug für zwei. Für drei, für vier. Für eine ganze Familie.
Als er Marianne zum ersten Mal begegnete, im Spielwarenladen, hatte sie so klein gewirkt zwischen all den Puppen und Holzspielzeugen. Sie hatte ihm die Hand gereicht, leicht wie ein Vogel, und etwas in ihrem Blick hatte ihn erschreckt. Eine Traurigkeit, die er nicht verstand.
„Freust du dich nicht?", hatte er gefragt.
„Doch", hatte sie geantwortet. „Natürlich."
Aber ihre Stimme hatte wie Glas geklungen, kalt und zerbrechlich.
„Chef!" Johann stand in der Tür. „Der Herr Zauberkönig ist da. Er möchte Sie sprechen."
Oskar erhob sich rasch, wischte sich die Hände an der Schürze ab und ging in den Laden. Der Zauberkönig stand vor dem Schaufenster, die Hände auf dem Rücken verschränkt, und betrachtete die ausgestellten Würste mit der Miene eines Kunstkenners.
„Herr Zauner! Was für eine Ehre!"
„Herr Huber." Der Zauberkönig wandte sich um und lächelte sein Geschäftslächeln. „Ich war gerade in der Gegend und dachte, ich schaue vorbei. Haben Sie einen Moment Zeit?"
Sie setzten sich in die kleine Küche. Oskar bot Kaffee an, aber der Zauberkönig winkte ab.
„Ich komme gleich zur Sache", sagte er und seine Stimme wurde ernst. „Es geht um Marianne."
Oskars Herz setzte einen Schlag aus. „Ist etwas nicht in Ordnung?"
„Sie ist... wie soll ich sagen... ein wenig nervös. Die Hochzeit, verstehen Sie. Ein junges Mädchen, zum ersten Mal von zu Hause weg. Ich dachte, es wäre gut, wenn Sie beide mehr Zeit miteinander verbringen. Damit sie Sie besser kennenlernt."
„Natürlich! Ich würde—"
„Am Sonntag", unterbrach ihn der Zauberkönig, „findet in Grinzing der erste Heurigenabend der Saison statt. Die ganze Familie geht hin. Es wäre schön, wenn Sie uns begleiten würden. Marianne würde sich freuen."
Würde sie das?, dachte Oskar, sagte aber: „Mit Vergnügen, Herr Zauner. Es wäre mir eine Ehre."
Als der Zauberkönig gegangen war, lehnte sich Oskar gegen die Wand und schloss die Augen. Marianne. Jeden Tag dachte er an sie, und jeden Tag wuchs die Unsicherheit. Liebte sie ihn? Würde sie ihn jemals lieben? Oder war sie mit ihm nur aus Pflicht verlobt, weil ihr Vater es so wollte?
„Chef?" Johann stand wieder in der Tür. „Soll ich schon zuschließen?"
Oskar blickte auf die Uhr. Halb sechs. Die Zeit war davongeflogen.
„Ja, mach das. Ich komme nach."
Allein im Laden, zwischen dem Geruch von Fleisch und Blut, gestand sich Oskar etwas ein, das er vor sich selbst verborgen hatte: Er liebte Marianne. Nicht mit der ruhigen Zuneigung, die man für eine passende Ehefrau empfand, sondern mit einer verzehrenden Leidenschaft, die ihn nachts wach hielt. Er träumte von ihr, von ihrem dunklen Haar, von ihren schmalen Händen, von der Art, wie sie den Kopf senkte, wenn sie verlegen war.
Aber er wusste auch: Sie liebte ihn nicht.
Nicht jetzt. Vielleicht niemals.
An diesem Abend, als er die Stiege zu seiner Wohnung über der Fleischhauerei hinaufstieg, machte Oskar sich ein Versprechen. Er würde geduldig sein. Er würde sie gut behandeln, ihr alles geben, was sie brauchte. Und eines Tages, vielleicht, würde sie ihn ansehen und wirklich lächeln, nicht nur mit dem Mund, sondern mit den Augen.
Die Wohnung war klein, aber sauber. Zwei Zimmer, eine Küche, ein Bad mit fließendem Wasser – Luxus für einen Handwerker. Er hatte schon begonnen, sie herzurichten für Marianne. Neue Vorhänge in der Küche, ein Teppich im Schlafzimmer, ein Bild an der Wand – eine Reproduktion von Klimts „Der Kuss", weil er gehört hatte, dass Frauen so etwas mochten.
Er trat ans Fenster und blickte hinaus auf die Alserbachstraße. Die Gaslaternen waren angezündet, und in den Fenstern gegenüber flackerte warmes Licht. Familien beim Abendessen. Kinder bei den Hausaufgaben. Das normale Leben, nach dem er sich sehnte.
Im September würde Marianne hier einziehen. Sie würde neben ihm schlafen, in dieser Wohnung leben, seine Frau sein. Der Gedanke erfüllte ihn mit gleichermaßen mit Hoffnung und Angst.
Was, wenn er nicht genug war? Was, wenn sie eines Morgens aufwachte und erkannte, dass sie einen schrecklichen Fehler gemacht hatte?
„Du bist ein Narr, Oskar", murmelte er zu sich selbst. „Ein reicher, erfolgreicher Narr."
Aber Geld konnte keine Liebe kaufen. Das wusste selbst ein einfacher Fleischhauer.
Der Sonntag kam, strahlend und warm. Oskar zog seinen besten Anzug an – den dunkelgrauen aus englischem Tuch, den er für besondere Anlässe aufhob – und machte sich auf den Weg nach Grinzing. Die Straßenbahn war voll mit Ausflüglern, alle in Feiertagsstimmung. Junge Paare, Familien mit Kindern, Gruppen von Bekannten, die schon auf der Fahrt Lieder anstimmten.
Der Heurigenabend fand im Gasthaus „Zur schönen Aussicht" statt, einem weitläufigen Lokal mit Holzbänken unter alten Kastanien. Als Oskar ankam, hatte die Musik bereits begonnen. Ein Schrammel-Quartett spielte auf, und der Wein floss in Strömen.
Er fand die Familie Zauner an einem langen Tisch in der Ecke. Der Zauberkönig, die Großmutter, und Marianne, die ein weißes Kleid mit blauen Blumen trug. Als sie ihn sah, lächelte sie – ein höfliches, einstudiertes Lächeln.
„Oskar! Da sind Sie ja!" Der Zauberkönig stand auf und klopfte ihm auf die Schulter. „Setzen Sie sich, setzen Sie sich! Der Wein ist ausgezeichnet heuer."
Oskar nahm neben Marianne Platz. Sie roch nach Lavendel und etwas anderem, Süßlichem, das er nicht einordnen konnte. Ihre Hände lagen gefaltet im Schoß, die Knöchel weiß vor Anspannung.
„Wie geht es dir?", fragte er leise.
„Gut, danke." Sie sah ihn nicht an, sondern starrte auf den Tisch.
„Marianne, schau nicht so griesgrämig!" Die Großmutter beugte sich über den Tisch, das Weinglas bereits halb geleert. „Der Oskar ist extra gekommen. Sei ein bisschen freundlicher!"
„Großmutter, bitte—"
„Lass sie, Mutter", sagte der Zauberkönig scharf. „Marianne ist nur müde. Die Hitze, verstehst du."
Die Musik wurde lauter. Paare begannen zu tanzen auf dem Holzboden zwischen den Tischen. Oskar beobachtete sie – die schwingenden Röcke, die lachenden Gesichter, die Leichtigkeit, mit der sich die Menschen bewegten.
„Möchtest du tanzen?", fragte er Marianne.
Sie zögerte. „Ich bin keine gute Tänzerin."
„Das macht nichts. Ich auch nicht."
Sie tanzten, oder versuchten es zumindest. Oskar führte unbeholfen, und Marianne folgte steif. Aber für einen kurzen Moment, als die Musik sanfter wurde und die Sonne durch die Kastanienblätter fiel, legte sie ihren Kopf an seine Schulter. Nur für einen Augenblick.
Und Oskar dachte: Vielleicht. Vielleicht wird alles gut.
Aber er wusste nicht, dass an diesem Abend, an einem anderen Tisch unter denselben Kastanien, ein Mann saß, der Mariannes Leben für immer verändern würde. Ein Mann mit einem charmanten Lächeln und leeren Versprechungen.
Noch nicht. Noch hatte Oskar Hoffnung.
Der Mai verwandelte Wien in eine Stadt der Versprechungen. Die Kastanien blühten entlang der Ringstraße, die Cafés stellten ihre Tische auf die Gehsteige, und an den Wochenenden strömten die Menschen zur Donau, als könnten sie dort etwas finden, das die graue Wochentags-Wirklichkeit ihnen verweigerte.
Marianne stand an einem Samstagmittag am Kai und beobachtete die Dampfschiffe, die flussaufwärts tuckerten, ihre Schornsteine qualmend gegen den blauen Himmel. Sie war mit ihrer Freundin Emma hier, der Tochter des Apothekers aus der Nachbarstraße. Emma war das einzige Mädchen ihres Alters, mit dem sie noch Kontakt hatte – die meisten anderen waren längst verheiratet oder fortgezogen.
„Schau dir das an!" Emma deutete auf ein Vergnügungsboot, das gerade anlegte. „Der neue Tanzpavillon! Alle reden davon. Sie haben eine richtige Kapelle, und Donnerstags gibt es Tanzunterricht!"
Das Boot war frisch gestrichen, weiß und blau, mit bunten Wimpeln, die im Wind flatterten. Auf dem Oberdeck war eine Plattform aufgebaut, und man konnte bereits die Musiker sehen, die ihre Instrumente stimmten. „Donaumelodien" stand in geschwungenen Lettern auf der Seite des Bootes.
„Lass uns hingehen!" Emma zog Marianne am Arm. „Nur schauen. Wir müssen ja nicht tanzen."
„Ich weiß nicht—"
„Komm schon! Wann hast du das letzte Mal etwas Aufregendes gemacht?"
Marianne ließ sich ziehen. Es stimmte – ihr Leben war eine endlose Wiederholung derselben Tage geworden. Der Spielwarenladen, Oskar, die Sonntagsspaziergänge, die Abendessen mit dem Zauberkönig und der Großmutter. Wie in einem Uhrwerk, das unaufhaltsam tickte.
Das Dampfboot war voller junger Leute. Mädchen in kurzen Röcken, wie sie jetzt Mode waren – die Säume kaum noch unter dem Knie. Junge Männer mit zurückgekämmtem Haar und hellen Sommeranzügen, die Zigaretten rauchten und lachten. Die Musik begann – ein schwungvoller Foxtrott, modern und ein bisschen frech.
„Das ist ja großartig!" Emma strahlte. „Siehst du? Ich hatte recht!"
Sie fanden einen Platz an der Reling. Das Boot legte ab, und Wien glitt an ihnen vorbei – die Kirchtürme, die Brücken, die grünen Ufer. Das Wasser glitzerte in der Sonne, und für einen Moment vergaß Marianne alles: die Verlobung, die Pflicht, die Zukunft, die auf sie wartete wie ein verschlossener Raum.
„Entschuldigen Sie, gnädiges Fräulein."
Die Stimme kam von rechts. Marianne drehte sich um und sah in das Gesicht eines jungen Mannes, der sie anlächelte. Er war Mitte Zwanzig, schlank, mit gewelltem blonden Haar und Augen, die so blau waren wie der Himmel über ihnen. Sein Anzug war tadellos, der Hut in die Stirn geschoben, und er hielt eine Zigarette zwischen den Fingern, die er mit einer lässigen Geste hielt, als wäre er in einem amerikanischen Film.
„Alfred Klinger", sagte er und verbeugte sich leicht. „Ich konnte nicht umhin zu bemerken, wie schön Sie aussehen in diesem Licht."
Emma kicherte. Marianne spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss.
„Das ist... sehr freundlich von Ihnen", stammelte sie.
„Freundlich?" Alfred lachte, ein leichtes, melodisches Lachen. „Nein, gnädiges Fräulein. Das ist ehrlich. Ich bin ein ehrlicher Mensch. Manchmal zu ehrlich, sagen meine Freunde."
