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Eine Frau. Eine Vergangenheit. Eine unmögliche Liebe. Paula Ray hat alles verloren: ihre Unschuld, ihren guten Ruf, ihre Hoffnung. Als gefallene Frau im London der 1870er Jahre scheint ihr Schicksal besiegelt – bis der wohlhabende Witwer Aubrey Tanqueray ihr einen Ausweg bietet: eine respektable Ehe. Doch Respekt und Anerkennung lassen sich nicht erkaufen. In Highercoombe, fernab von London, wird Paula zur zweiten Mrs. Tanqueray – eine Rolle, die sie niemals ausfüllen kann. Die Gesellschaft schneidet sie, die Bediensteten verachten sie, und Aubreys Tochter Ellean sieht in ihr nur die Beschmutzung des Andenkens ihrer "heiligen" Mutter. Als ein Mann aus Paulas Vergangenheit auftaucht und um Elleans Hand anhält, droht alles zu zerbrechen. Gefangen zwischen ihren Geheimnissen und dem Wunsch, Ellean zu schützen, muss Paula eine Entscheidung treffen: Schweigen und zusehen, wie die Tragödie sich wiederholt – oder die Wahrheit sagen und alles zu verlieren. Basierend auf Arthur Wing Pineros berühmtem Drama erzählt dieser Roman die ungekürzte Geschichte einer Frau, die gegen die Doppelmoral ihrer Zeit kämpft. Ein eindringliches Porträt über Schuld, Vergebung und die Frage: Kann eine gefallene Frau jemals wieder aufstehen?
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Seitenzahl: 178
Veröffentlichungsjahr: 2025
Anno Stock
The second Mrs. Tanqueray - Kein Drama nach Arthur Wing Pinero
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Inhaltsverzeichnis
Titel
The Second Mrs. Tanqueray
Kapitel 1: Die Töchter des Pfarrers
Kapitel 2: Die Illusion von London
Kapitel 3: Die Jahre der Schande
Kapitel 4: Eine unmögliche Verlobung
Kapitel 5: Der Abschiedsabend
Kapitel 6: Highercoombe
Kapitel 7: Die Rückkehr der Tochter
Kapitel 8: Fragile Hoffnung
Kapitel 9: Gesellschaft und Isolation
Kapitel 10: Das Gift der Vergangenheit
Kapitel 11: Die Belagerung
Kapitel 12: Die Scharade
Kapitel 13: Die Wahrheit ans Licht
Kapitel 14: Die leeren Räume
Kapitel 15: Abschied
Epilog
Nachwort
Impressum neobooks
Ein historischer Roman nach dem Drama von Arthur Wing Pinero
Das Pfarrhaus von St. Michael in Wiltshire stand wie ein Wächter am Rande des Dorfes, seine grauen Steinmauern vom Efeu überwuchert, seine Fenster stets ein wenig zu dunkel, als ob das Licht der Welt draußen bleiben sollte. Im Frühling des Jahres 1868 war Paula Ray siebzehn Jahre alt, und sie hasste dieses Haus mit einer Leidenschaft, die sie vor ihrem Vater, dem Reverend Thomas Ray, sorgfältig verbarg.
Sie stand an ihrem Schlafzimmerfenster und blickte hinaus auf die sanften Hügel von Wiltshire, die sich im Morgendunst verloren. Ihre ältere Schwester Margaret bewegte sich hinter ihr im Raum, ordnete Wäsche, faltete Hemden mit der präzisen Sorgfalt, die sie allem widmete.
"Du wirst zu spät zum Frühstück kommen", sagte Margaret, ohne aufzublicken. Ihre Stimme trug jenen leicht tadelnden Ton, den Paula so gut kannte.
"Ich komme schon." Paula wandte sich nicht vom Fenster ab. Draußen auf der Straße fuhr eine Kutsche vorbei, elegant und schnell, und Paula fragte sich, wie es wohl wäre, einfach einzusteigen und fortzufahren, irgendwohin, wo das Leben mehr bot als endlose Sonntagspredigten und Teestunden mit den Damen des Wohltätigkeitsvereins.
"Papa wird verärgert sein."
"Papa ist immer verärgert." Die Worte waren heraus, bevor Paula sie zurückhalten konnte. Sie spürte, wie sich Margaret hinter ihr versteifte.
"Paula! So etwas darfst du nicht sagen."
Paula drehte sich um und sah ihre Schwester an. Margaret war fünfundzwanzig, acht Jahre älter, und schon hatte sich um ihren Mund jene verbitterte Linie eingegraben, die alte Jungfern zeichnete. Ihr braunes Haar war streng zurückgekämmt, ihr Kleid grau und praktisch. Sie würde das Pfarrhaus nie verlassen, das wusste Paula. Margaret würde hier bleiben, würde ihren Vater pflegen, bis er starb, und dann würde sie in einem noch kleineren Haus sterben, umgeben von Erinnerungen an ein ungelebtes Leben.
"Es tut mir leid", sagte Paula, ohne es wirklich zu meinen. Sie griff nach ihrem Schal und folgte ihrer Schwester die knarrende Treppe hinunter.
Das Frühstück war, wie jeden Morgen, eine stille Angelegenheit. Reverend Ray saß am Kopfende des Tisches, seine Bibel neben dem Teller, seine buschigen Augenbrauen über einem missmutig verzogenen Gesicht zusammengezogen. Er war ein großer, hagerer Mann, dessen schwarzer Gehrock stets zu groß wirkte, als habe sein Körper sich im Laufe der Jahre zurückgezogen, während seine Strenge gewachsen war.
"Du bist spät dran", stellte er fest, ohne von seiner Zeitung aufzusehen.
"Ich bitte um Verzeihung, Papa."
Er grunzte nur. Paula setzte sich und begann mechanisch ihr Porridge zu essen. Die Küche war kalt – ihr Vater hielt Wärme für eine unnötige Extravaganz –, und Paula konnte ihren eigenen Atem sehen, wenn sie ausatmete.
"Mrs. Weatherby war gestern hier", sagte Margaret in die Stille hinein. "Sie fragte, ob Paula bei der Organisation des Herbstbasars helfen könnte."
"Natürlich wird sie das", antwortete ihr Vater, immer noch ohne aufzusehen. "Es ist ihre Pflicht."
Paula schwieg. Was hätte sie auch sagen sollen? In diesem Haus, in dieser Welt, hatte sie keine Stimme. Sie war die Tochter eines Landpfarrers, und ihr Leben war vorgezeichnet: sie würde helfen bei Wohltätigkeitsveranstaltungen, würde kranke Gemeindemitglieder besuchen, würde vielleicht – wenn sie Glück hatte – einen anderen Pfarrer heiraten oder einen Lehrer, und dann würde sie ihr eigenes Pfarrhaus haben, ihre eigenen Töchter, die am Fenster standen und sich nach einem anderen Leben sehnten.
Aber Paula wollte mehr. Sie wollte die glitzernden Ballsäle, von denen sie in den Romanen gelesen hatte, die sie heimlich aus der Dorfbibliothek auslieh. Sie wollte Musik und Tanz und Männer, die ihr Komplimente machten. Sie wollte leben, wirklich leben, nicht nur existieren in dieser grauen, kalten Welt der Pflicht und Entsagung.
Nach dem Frühstück entkam sie in den Garten. Es war ein kleiner, verwilderter Garten, den niemand richtig pflegte. Paula setzte sich auf die alte Steinbank unter dem Apfelbaum und zog eines ihrer verbotenen Bücher aus der Tasche – eine Ausgabe von "Jane Eyre", die sie vor ihrer Familie versteckte.
Sie hatte gerade zu lesen begonnen, als sie Schritte auf dem Kiesweg hörte. Sie blickte auf und sah einen jungen Mann auf sich zukommen, den sie nicht kannte. Er war groß und schlank, mit dunklem Haar und einem Lächeln, das ihr Herz schneller schlagen ließ.
"Miss Ray?" fragte er und verbeugte sich leicht. "Verzeihen Sie die Störung. Ich bin auf der Suche nach dem Reverend Ray. Man sagte mir, ich würde ihn hier finden."
"Mein Vater ist im Haus." Paula stand auf, plötzlich verlegen bewusst über ihr einfaches Kleid, ihre ungepflegten Haare. "Ich kann ihn holen."
"Bitte, bemühen Sie sich nicht. Ich bin früh dran für unsere Verabredung." Er sah sie mit unverhüllter Bewunderung an. "Darf ich mich vorstellen? George Bellingham, der neue Kurator in Salisbury. Ich werde Ihren Vater in einigen archäologischen Fragen konsultieren."
George Bellingham. Der Name würde sich in Paulas Gedächtnis einbrennen, würde Jahre später noch nachklingen, wenn alles andere verblasst war.
"Paula Ray", sagte sie und reichte ihm ihre Hand. Er nahm sie und hielt sie einen Moment länger, als es sich gehörte.
"Die Freude ist ganz meinerseits, Miss Ray."
Sie sprachen eine Weile – über Bücher, über das Dorf, über das Wetter. Es waren belanglose Worte, aber für Paula fühlte es sich an, als öffne sich eine Tür zu einer anderen Welt. George hatte in London studiert, hatte das British Museum gesehen, die Theater, die Parks. Er erzählte von Gaslampen, die die Straßen erhellten, von Menschenmassen und Lärm und Leben.
"Es muss wunderbar sein", sagte Paula, und ihre Augen leuchteten.
"Es ist laut und schmutzig", antwortete George lachend. "Aber ja, es ist wunderbar. Haben Sie London nie gesehen?"
"Ich bin nie weiter gekommen als nach Salisbury."
"Das ist eine Schande. Eine junge Dame wie Sie sollte die Welt sehen."
Ihre Unterhaltung wurde unterbrochen durch das Erscheinen von Reverend Ray, der aus dem Haus kam, sein Gesicht eine Maske des Misstrauens. "Mr. Bellingham", sagte er kühl. "Sie sind früh."
"Ich bitte um Verzeihung, Reverend. Ihre charmante Tochter hat mich unterhalten."
"Paula, geh ins Haus. Margaret braucht deine Hilfe."
Es war eine Lüge, und alle wussten es. Aber Paula gehorchte. Sie warf einen letzten Blick auf George Bellingham und ging. Doch in ihrem Herzen hatte sich etwas verändert. Eine Flamme war entzündet worden, die nicht mehr gelöscht werden würde.
In den folgenden Wochen kam George Bellingham regelmäßig ins Pfarrhaus. Offiziell waren es geschäftliche Besuche – er konsultierte Reverend Ray über alte Kirchenregister und römische Funde in der Gegend. Aber Paula wusste es besser. Sie sah, wie seine Augen sie suchten, wenn er ankam. Sie spürte die elektrische Spannung, wenn sie im selben Raum waren.
Sie begannen sich heimlich zu treffen. Es war zunächst harmlos – zufällige Begegnungen auf dem Weg zur Kirche, kurze Gespräche hinter dem Schuppen, wo niemand sie sehen konnte. George brachte ihr Bücher mit aus Salisbury, Gedichtbände, die ihr Vater nie genehmigt hätte. Sie lasen zusammen Byron und Shelley, und Paula fühlte sich lebendig auf eine Weise, die sie nie gekannt hatte.
"Lauf mit mir fort", sagte George eines Nachmittags im September. Sie saßen an ihrem geheimen Ort, einem kleinen Wäldchen am Rande des Dorfes.
Paula starrte ihn an, das Herz rasend. "Was?"
"Lauf mit mir fort. Nach London. Wir können dort heiraten. Ich habe eine kleine Wohnung, eine Anstellung am Museum. Es reicht nicht für Luxus, aber es reicht."
"George..." Sie wollte ja sagen. Gott, wie sie ja sagen wollte. Aber die Realität drängte sich zwischen sie. "Mein Vater würde es nie erlauben."
"Deshalb müssen wir fortlaufen. Paula, ich liebe dich. Ich kann nicht ohne dich leben."
Die Worte waren berauschend. Niemand hatte ihr je gesagt, dass er sie liebte. In der Welt ihres Vaters war Liebe eine Pflicht, keine Leidenschaft. Aber hier war ein Mann, der sie wollte, der bereit war, alles zu riskieren für sie.
"Ich brauche Zeit", flüsterte sie. "Zeit zum Nachdenken."
"Natürlich." Er küsste ihre Hand. "Aber nicht zu lange. Ich werde bald nach London zurückkehren müssen."
In jener Nacht lag Paula wach in ihrem kalten Schlafzimmer und starrte an die Decke. Neben ihr schlief Margaret, ihr Atem regelmäßig und friedlich. Margaret, die nie rebelliert hatte, die ihr Schicksal akzeptiert hatte. War das der richtige Weg? Gehorchen, sich fügen, langsam welken wie eine Blume ohne Sonne?
Oder sollte sie das Risiko wagen? Mit George fortlaufen, ein neues Leben beginnen in London, wo niemand sie kannte, wo sie sein konnte, wer sie wollte?
Die Entscheidung kam schneller, als sie erwartet hatte. Zwei Tage später hörte sie, wie ihr Vater mit Margaret sprach. Die Tür zu seinem Arbeitszimmer stand einen Spalt offen, und Paula blieb auf dem Flur stehen, lauschte.
"Der Vikar in Dorset sucht eine Frau", sagte ihr Vater. "Ein Witwer, fünfzig Jahre alt, drei Kinder. Ich habe ihm von Paula geschrieben. Er ist interessiert."
"Aber Papa, Paula ist erst siebzehn..."
"Alt genug zum Heiraten. Und es ist eine gute Partie. Er hat ein eigenes Haus, ein bescheidenes Einkommen. Paula sollte dankbar sein."
Paula wartete nicht, um mehr zu hören. Sie ging in ihr Zimmer, packte eine kleine Tasche mit dem Nötigsten. Sie schrieb einen kurzen Brief an Margaret – nicht an ihren Vater, er hatte kein Abschiedswort verdient – und verließ das Pfarrhaus in der Dämmerung.
George erwartete sie an der vereinbarten Stelle mit einer gemieteten Kutsche. "Bist du sicher?" fragte er, als sie einstieg.
Paula sah zurück auf das Pfarrhaus, die dunklen Fenster, die grauen Mauern. "Ich war mir nie sicherer", sagte sie.
Die Kutsche setzte sich in Bewegung, und Paula blickte nicht zurück. Sie war siebzehn Jahre alt, verliebt und auf dem Weg nach London. Sie glaubte, dass ihr Leben nun beginnen würde, das richtige Leben, das Leben voller Freude und Liebe und Möglichkeiten.
Sie konnte nicht wissen, dass sie gerade den ersten Schritt auf einem Weg tat, der sie in die Dunkelheit führen würde. Sie konnte nicht ahnen, dass die Entscheidung dieser Nacht – diese mutige, verzweifelte, hoffnungsvolle Entscheidung – sie für immer zeichnen würde, sie zu einer Ausgestoßenen machen würde in genau jener Gesellschaft, nach der sie sich sehnte.
Aber in jenem Moment, während die Kutsche durch die Nacht fuhr und George ihre Hand hielt, war Paula Ray glücklich. Zum ersten und vielleicht letzten Mal in ihrem Leben war sie vollkommen, bedingungslos glücklich.
London empfing Paula Ray mit einem Regen, der wie Nadelstiche auf ihrer Haut fühlte. Die Kutsche hatte sie am frühen Morgen an der Waterloo Station abgesetzt, und als Paula ausstieg, wurde sie fast von der Menschenmenge überrollt. Überall waren Menschen – mehr Menschen, als sie je in ihrem Leben gesehen hatte. Sie strömten aus Zügen und in Züge, riefen, schrien, lachten, fluchten. Der Lärm war überwältigend.
"Hierher", sagte George und nahm ihre Hand. Er führte sie durch das Chaos, seine andere Hand fest um ihre kleine Tasche geklammert. Paula klammerte sich an ihn, verängstigt und aufgeregt zugleich. Dies war London. Die große Stadt. Die Stadt ihrer Träume.
Die Realität sah anders aus als ihre Träume.
Georges Wohnung lag in Bloomsbury, in einem schmalen Haus in einer Seitenstraße, die Paula auf den ersten Blick heruntergekommen erschien. Die Fassade war rußgeschwärzt, die Fenster schmutzig, und aus einem der unteren Stockwerke drang der Geruch von Kohl und billigem Gin.
"Es ist nicht viel", sagte George, während er sie die enge Treppe hinaufführte in den dritten Stock. "Aber es ist unser."
Die Wohnung bestand aus zwei kleinen Räumen – einem Wohn- und Schlafzimmer und einer winzigen Küche, die kaum mehr als ein Schrank war. Die Möbel waren spärlich und abgenutzt: ein schmales Bett, ein Tisch mit zwei wackeligen Stühlen, ein zerkratzter Schrank. Das Fenster blickte auf eine Mauer.
Paula versuchte zu lächeln. "Es ist schön."
George zog sie in seine Arme. "Ich werde dir ein besseres Leben geben, ich verspreche es. Sobald ich befördert werde, sobald ich mehr verdiene. Du wirst alles haben, was du willst."
Sie küssten sich, und in diesem Moment glaubte Paula ihm. Sie glaubte, dass die Liebe genug sein würde, dass sie zusammen alles schaffen könnten.
Die ersten Wochen waren tatsächlich glücklich. George ging jeden Morgen zur Arbeit im British Museum, und Paula blieb in der kleinen Wohnung, versuchte ein Zuhause daraus zu machen. Sie putzte und kochte – schlecht, denn niemand hatte ihr je beigebracht, wie man kocht –, und wartete auf Georges Rückkehr am Abend.
An den Wochenenden erkundeten sie die Stadt. George zeigte ihr das Museum, wo er zwischen antiken Vasen und ägyptischen Sarkophagen arbeitete. Er führte sie durch Hyde Park, wo elegante Damen in Kutschen fuhren und Gentlemen auf ihren Pferden ritten. Sie besuchten die Markthallen, wo Paula staunte über die Fülle an Waren – exotische Früchte, glitzernde Stoffe, Gewürze aus fernen Ländern.
Aber allmählich, wie Nebel, der sich langsam verdichtet, begann die Realität durchzusickern.
Das Geld reichte kaum. Georges Gehalt als Junior-Kurator war bescheiden, und die Miete fraß den größten Teil davon auf. Paula musste lernen, mit ein paar Pennies einzukaufen, musste lernen, wie man alte Kleider flickte statt neue zu kaufen. Das Essen war eintönig – meist Brot und Käse, manchmal ein Stück billiges Fleisch.
Und dann war da die Isolation. Paula kannte niemanden in London außer George. Sie hatte keine Freunde, keine Familie. Die anderen Bewohner des Hauses ignorierten sie – eine junge Frau, die mit einem Mann zusammenlebte, ohne verheiratet zu sein, war suspekt.
"Wann werden wir heiraten?" fragte Paula eines Abends im November. Sie saßen am Tisch, aßen den wässrigen Eintopf, den sie gekocht hatte.
George sah auf, überrascht. "Bald", sagte er. "Wir müssen nur noch ein wenig sparen. Eine Hochzeit kostet Geld, weißt du."
"Wir könnten einfach zum Standesamt gehen. Das ist nicht teuer."
"Nein." Seine Stimme war schärfer, als er beabsichtigt hatte. "Ich meine... ich möchte, dass es richtig ist. Eine richtige Hochzeit. Du verdienst das."
Aber Paula sah etwas in seinen Augen flackern, etwas, das sie nicht deuten konnte. Zweifel? Angst? Sie ließ das Thema fallen, aber eine kleine, kalte Stimme in ihrem Inneren begann zu flüstern: Er will dich nicht heiraten.
Die Wochen vergingen. Winter kam nach London, kalt und nass und grau. Die kleine Wohnung war eisig – sie konnten sich Kohle kaum leisten –, und Paula verbrachte die Tage in Schichten von Kleidern gehüllt, zitternd am Fenster sitzend, während draußen der Regen fiel.
George kam später nach Hause. Er hatte Überstunden, erklärte er. Das Museum hatte ein neues Projekt. Aber manchmal roch er nach Gin, und seine Augen vermieden ihre.
Eines Nachts im Dezember kam er nicht nach Hause. Paula wartete die ganze Nacht, saß im Dunkeln, zu ängstlich, um zu schlafen, zu ängstlich, um die Gaslampe anzuzünden und Geld zu verschwenden. Als die Morgendämmerung kam, hörte sie seine Schritte auf der Treppe, schwer und unregelmäßig.
Er war betrunken. Sie roch es, sobald er die Tür öffnete. Sein Hemd war zerknittert, seine Krawatte fehlte.
"Wo warst du?" Ihre Stimme klang klein, verängstigt.
"Bei Freunden." Er schwankte zum Bett, ließ sich darauf fallen. "Lass mich schlafen."
"George, wir müssen reden."
"Nicht jetzt, Paula. Bitte."
Aber sie konnte nicht mehr warten. Die Worte brachen aus ihr heraus, alle Ängste und Zweifel der letzten Monate. "Wann werden wir heiraten? Du sagst immer bald, aber es wird nie bald. Die Leute reden über mich, sie sehen mich an, als wäre ich... als wäre ich..."
"Was?" Er richtete sich auf, und in seinen Augen lag plötzlich Wut. "Als wärst du was? Sag es."
"Eine Gefallene. Eine Frau ohne Moral."
"Und was bist du denn?" Die Worte trafen sie wie Schläge. "Du bist mit mir fortgelaufen. Du hast dein Zuhause verlassen, deine Familie. Glaubst du, irgendeine respektable Kirche wird uns trauen?"
Paula starrte ihn an, Tränen brannten in ihren Augen. "Aber du hast gesagt... du hast versprochen..."
"Ich habe versprochen, dass ich dich liebe. Und das tue ich." Seine Stimme wurde weicher, und er streckte die Hand nach ihr aus. "Paula, es ist kompliziert. Meine Familie... wenn sie erfahren, dass ich eine Pfarrerstochter entführt habe, werden sie mich enterben. Ich würde meine Stelle verlieren. Wir müssen vorsichtig sein."
"Wie lange noch?"
"Ein Jahr. Vielleicht zwei. Bis sich die Dinge beruhigt haben."
Zwei Jahre. Paula nickte stumm, aber sie wusste bereits, tief in ihrem Herzen, dass aus zwei Jahren mehr werden würden, dass aus mehr irgendwann nie werden würde.
Die Wochen nach dieser Nacht waren angespannt. George war häufiger weg, kam später nach Hause. Paula versuchte sich nicht zu fragen, wo er war, mit wem er war. Sie versuchte die Wohnung schön zu halten, versuchte zu lächeln, wenn er zurückkam, versuchte die perfekte Gefährtin zu sein.
Aber etwas in ihr brach. Die Paula, die aus dem Pfarrhaus geflohen war, voller Hoffnung und Träume, verblasste. An ihre Stelle trat eine andere Paula – härter, misstrauischer, desillusionierter.
Im Januar geschah es zum ersten Mal. George kam nach Hause und gestand, dass er Geld verloren hatte. "Karten", sagte er knapp. "Nur ein bisschen. Ich dachte, ich könnte gewinnen, könnte uns mehr Geld verschaffen."
Paula sagte nichts. Was hätte sie auch sagen sollen?
Das zweite Mal war im Februar. Und dann im März. Georges Gehalt reichte nicht mehr. Sie hatten Schulden – beim Vermieter, beim Krämer, beim Kohlenhändler.
"Ich weiß nicht, was ich tun soll", sagte George eines Abends, den Kopf in den Händen. Er sah plötzlich alt aus, besiegt. "Ich habe versagt. Ich habe dich hierher gebracht, und ich kann dich nicht versorgen."
Paula kniete sich neben ihn, nahm seine Hände. "Wir finden einen Weg", sagte sie, obwohl sie selbst nicht daran glaubte.
"Vielleicht... vielleicht solltest du nach Hause zurückkehren. Zu deinem Vater. Er würde dich wieder aufnehmen."
"Nein." Die Antwort kam schnell, panisch. Zurück ins Pfarrhaus? Zurück zu ihrem Vater, der sagen würde ich habe es dir gesagt, zurück zu Margaret und ihrem mitleidigen Blick? Niemals. "Ich bleibe bei dir."
Aber Georges Gesicht zeigte Erleichterung, und Paula erkannte die schreckliche Wahrheit: Er wollte, dass sie ging. Er hatte genug von ihr, von der Verantwortung, von der Last, die sie darstellte.
In jener Nacht, als George schlief, stand Paula am Fenster und blickte hinaus auf die dunkle Straße. Irgendwo dort unten hörte sie eine Frau lachen, ein hohes, schrilles Lachen. Dann Schritte, die sich entfernten.
Paula dachte an ihr Leben vor einem Jahr – das Pfarrhaus, die Langeweile, die Enge. Sie hatte das alles aufgegeben für diese triste Wohnung, für einen Mann, der sie nicht mehr wollte, für eine Liebe, die sich als Illusion erwiesen hatte.
Aber es gab keinen Weg zurück. Das verstand sie jetzt. Sie hatte eine Grenze überschritten, und diese Grenze konnte nicht rückgängig gemacht werden. In den Augen der respektablen Gesellschaft war sie gefallen. Ob sie Georges Frau war oder seine Geliebte, spielte keine Rolle mehr. Der Schaden war angerichtet.
Eine Woche später kam das Ende. Schneller und brutaler, als Paula erwartet hatte.
George kam nach Hause, bleich und zitternd. "Ich bin entlassen worden", sagte er.
Paula spürte, wie ihr Magen sich zusammenzog. "Was?"
"Das Museum. Sie haben... jemand hat ihnen erzählt. Über uns. Über unsere... Situation." Er konnte ihr nicht in die Augen sehen. "Sie sagten, ich sei eine Schande für die Institution. Ich soll bis morgen meine Sachen packen."
"Aber das können sie nicht..."
"Sie können. Sie haben." Er setzte sich schwer auf einen Stuhl. "Ich muss zurück nach Hause. Zu meiner Familie in Somerset. Vielleicht kann mein Vater mir helfen, vielleicht..."
"Und ich?" Paulas Stimme war ein Flüstern.
George schwieg lange. Zu lange. "Du kannst nicht mitkommen", sagte er schließlich. "Meine Familie würde... sie würden dich nicht akzeptieren."
"Also lässt du mich einfach hier? Allein? Ohne Geld, ohne irgendetwas?"
"Ich habe ein wenig gespart. Ich kann dir genug geben für ein paar Wochen Miete. Bis du... bis du etwas findest."
Paula lachte, ein bitterer, verzweifelter Laut. "Etwas finden? Was soll ich finden? Ich bin eine Frau allein in London, ohne Familie, ohne Referenzen. Wer würde mich einstellen?"
"Es tut mir leid." Er stand auf, trat auf sie zu, versuchte sie zu berühren. "Paula, es tut mir so leid. Ich habe dich geliebt. Ich liebe dich noch. Aber ich kann nicht... ich bin zu schwach. Ich kann nicht gegen meine ganze Familie kämpfen."
Sie stieß seine Hand weg. "Geh", sagte sie kalt. "Geh zurück zu deiner Familie. Zu deinem schönen Leben. Vergiss mich."
"Paula..."
"Geh!"
Er ging. Am nächsten Morgen, früh, bevor die Sonne aufging. Er ließ einen kleinen Stapel Münzen auf dem Tisch zurück und einen Brief, den Paula niemals öffnen würde. Sie hörte seine Schritte auf der Treppe, hörte die Haustür schließen, und dann war er weg.
Paula blieb drei Tage in der Wohnung, aß nichts, trank nur Wasser. Sie lag im Bett und starrte an die Decke und fragte sich, was sie jetzt tun sollte. Sterben wäre einfach. Das Fenster öffnen, hinausspringen. Drei Stockwerke. Es würde schnell gehen.
