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Paris, 1664. Ein Heiliger kommt ins Haus – und bringt das Verderben. Orgon ist ein wohlhabender Kaufmann, der nach dem Tod seiner ersten Frau nach Sinn sucht. Als er dem frommen Tartuffe begegnet, glaubt er, endlich Erlösung gefunden zu haben. Er nimmt den scheinbar demütigen Mann in sein Haus auf – und liefert sich damit einem Meister der Manipulation aus. Während Orgon zunehmend unter Tartuffes Einfluss gerät, erkennt seine Familie die Gefahr: Seine Frau Elmire sieht hinter die Maske der Frömmigkeit. Seine Tochter Mariane soll gegen ihren Willen den Betrüger heiraten. Sein Sohn Damis wird verstoßen, weil er die Wahrheit ausspricht. Und die kluge Zofe Dorine beobachtet, wie ein Scharlatan systematisch eine Familie zerstört. Als Orgon sein gesamtes Vermögen an Tartuffe verschenkt, scheint es zu spät. Doch Elmire fasst einen verzweifelten Plan, um den Scheinheiligen zu entlarven – ein Plan, der sie und ihre Familie alles kosten könnte. Eine zeitlose Geschichte über blinden Glauben, gefährliche Manipulation und die Kraft der Familie – Molières Meisterwerk neu erzählt als psychologisch packender Roman. "Wahre Tugend ist leise. Sie schreit nicht. Sie prahlt nicht."
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Seitenzahl: 182
Veröffentlichungsjahr: 2025
Anno Stock
Tartuffe - Kein Drama nach Molière
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Inhaltsverzeichnis
Titel
TARTUFFE - Eine Chronik der Verblendung
Kapitel 1: Das Haus Orgon
Kapitel 2: Stimmen der Vernunft
Kapitel 3: Erinnerungen an eine Begegnung
Kapitel 4: Der Hausherr kehrt heim
Kapitel 5: Cleantes vergebliche Vernunft
Kapitel 6: Tartuffes tägliche Inszenierung
Kapitel 7: Damis' Wut
Kapitel 8: Marianes zerrissenes Herz
Kapitel 9: Dorine, die kluge Magd
Kapitel 10: Valères Verzweiflung
Kapitel 11: Laurent, Tartuffes Schatten
Kapitel 12: Die Kassette
Kapitel 13: Der Offizier des Königs
Kapitel 14: Gerechtigkeit
Kapitel 15: Epilog: Ein neuer Morgen
Nachwort des Autors
TEIL I: Die Ankunft des Frommen
TEIL II: Die Maske des Heiligen
TEIL III: Der Fall ins Verderben
Impressum neobooks
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Das Morgenlicht fiel durch die hohen Fenster des Salons und zeichnete helle Rechtecke auf den polierten Parkettboden. Staub tanzte in den Sonnenstrahlen, und irgendwo im Haus klapperten Töpfe – die Küche erwachte zum Leben. Es war ein gewöhnlicher Donnerstagmorgen im Hause Orgon, im Jahr des Herrn 1664, und doch lag etwas in der Luft, das diese Gewöhnlichkeit Lügen strafte.
Elmire saß am Fenster ihres Boudoirs im ersten Stock und betrachtete die Rue Saint-Honoré unter sich. Sie war eine Frau von dreißig Jahren, mit jenem ruhigen Selbstbewusstsein, das aus Klugheit und nicht aus Eitelkeit erwuchs. Ihr dunkles Haar hatte sie locker hochgesteckt, einige Strähnen fielen ihr in die Stirn. Sie trug ein Morgenkleid aus hellblauem Damast, schlicht geschnitten, wie es ihre Art war. Prunkvoll musste man nicht sein, wenn man wusste, wer man war.
Draußen bewegte sich Paris im gewohnten Rhythmus. Händler zogen mit ihren Karren vorüber, ein Bettelmönch humpelte die Straße entlang, zwei Damen in prächtigen Roben steckten die Köpfe zusammen und tuschelten. Das Leben floss, gleichgültig gegenüber den kleinen Dramen, die sich hinter den Fassaden der großen Häuser abspielten.
Und doch, dachte Elmire, während sie ihre Hand gegen die kühle Fensterscheibe legte, gab es kaum ein Drama, das so absurd war wie das, welches sich in den letzten Monaten in ihrem eigenen Heim entfaltet hatte.
„Madame?"
Elmire wandte sich um. In der Tür stand Dorine, die Kammerzofe – oder vielmehr: die Kammerzofe, die sich längst zur Vertrauten, zur zweiten Stimme der Vernunft in diesem zunehmend unvernünftigen Haushalt entwickelt hatte. Dorine war eine Frau Mitte vierzig, mit einem Gesicht, das von Erfahrung und Mutterwitz gleichermaßen geprägt war. Ihre Augen blitzten vor Intelligenz, und ihre Zunge war scharf wie eine gut gewetzte Klinge.
„Madame Pernelle ist schon wach", sagte Dorine mit einem vielsagenden Blick. „Und in bester Form, wenn ich das so sagen darf."
Elmire seufzte. „Hat sie schon begonnen?"
„Wie ein Sturmwind im Hafen, Madame. Sie hat bereits Flipote dreimal zurechtgewiesen, Mariane Leichtfertigkeit vorgeworfen und Damis als Tunichtgut bezeichnet. Und das Frühstück ist noch nicht einmal serviert."
„Natürlich." Elmire erhob sich mit jener Anmut, die ihr zur zweiten Natur geworden war. „Dann sollten wir wohl hinuntergehen, bevor sie das ganze Haus auf den Kopf stellt."
Die beiden Frauen verließen das Boudoir und stiegen die breite Treppe hinab. Das Haus Orgon war eines der schöneren Stadthäuser im Marais-Viertel, mit hohen Decken, getäfelten Wänden und Möbeln, die von Wohlstand zeugten, ohne protzig zu sein. Orgon, der Hausherr, war ein erfolgreicher Kaufmann gewesen, bevor er sich zunehmend von seinen Geschäften zurückgezogen hatte. Seine erste Frau, die Mutter von Mariane und Damis, war vor fünf Jahren gestorben. Elmire hatte er vor drei Jahren geheiratet, und sie hatte diese Ehe mit jener praktischen Güte angetreten, die eine vernünftige Frau aufbringt, wenn sie einen Mann heiratet, der sie respektiert und gut behandelt, auch wenn die große Leidenschaft vielleicht ausbleibt.
Im Salon herrschte bereits lebhafter Betrieb. Madame Pernelle, Orgons Mutter, thronte in einem der großen Sessel wie eine alte Königin auf ihrem Thron. Sie war über siebzig, doch ihre Stimme hatte nichts von ihrer Kraft verloren. Ihr hageres Gesicht war von tiefen Falten durchzogen, und ihre Augen, klein und stechend, verfehlten nichts. Sie trug Schwarz, wie immer, und ihr graues Haar war streng unter einer Haube verborgen.
Neben ihr stand, oder vielmehr kauerte, ihre Dienerin Flipote, eine verschreckte kleine Person, die aussah, als würde sie am liebsten im Boden versinken.
Mariane, Orgons Tochter aus erster Ehe, saß auf einem Stuhl am Fenster. Sie war neunzehn Jahre alt, und ihre Schönheit war von jener zarten, fast zerbrechlichen Art, die Männer dazu brachte, sie beschützen zu wollen. Ihr blondes Haar fiel in weichen Wellen über ihre Schultern, und ihre blauen Augen hatten etwas Träumerisches. Doch heute lag in diesen Augen auch Trotz, eine stille Rebellion, die sie nur mühsam zu verbergen versuchte.
Damis, ihr Bruder, stand am Kamin. Er war zweiundzwanzig, groß und kräftig gebaut, mit dem dunklen Haar seines Vaters und einem Temperament, das zwischen Hitze und Kälte keine Mitte kannte. Seine Hände waren zu Fäusten geballt, und sein Kiefer war fest zusammengepresst.
„Ah, da kommt sie ja", verkündete Madame Pernelle, als Elmire den Raum betrat. „Die gnädige Frau des Hauses. Endlich. Es ist fast neun Uhr, wissen Sie."
„Guten Morgen, Mutter", sagte Elmire mit jener höflichen Kühle, die sie perfektioniert hatte. Sie nannte ihre Schwiegermutter „Mutter", wie es die Sitte verlangte, doch beide Frauen wussten, dass zwischen ihnen keine mütterliche Wärme herrschte.
„Guten Morgen", brummte die alte Dame. „Wenn man denn von einem guten Morgen sprechen kann, in diesem Haus der Ausschweifung und Gottlosigkeit."
Dorine, die hinter Elmire stand, presste die Lippen zusammen, um nicht laut aufzulachen.
„Ausschweifung?", wiederholte Damis mit schneidender Stimme. „Großmutter, wir führen ein bescheidenes, anständiges Leben. Was genau wirfst du uns vor?"
„Bescheiden?", echote Madame Pernelle. „Du nennst es bescheiden, wie ihr hier lebt? Theater besucht ihr, Bälle und Gesellschaften! Mariane zeigt sich in Kleidern, die kaum mehr als Vorhänge sind! Und du, mein Junge, treibst dich in Wirtshäusern herum, spielst Karten und verschwendest das Geld deines Vaters!"
„Ich spiele keine Karten!", protestierte Damis, doch seine Großmutter fuhr ungerührt fort.
„Und das Schlimmste ist, dass ihr alle den einzigen wahrhaft frommen Mann in diesem Haus verspottet und verleumdet!"
Ein Schweigen senkte sich über den Raum. Es war, als hätte jemand einen Namen ausgesprochen, der nicht ausgesprochen werden durfte.
„Du meinst Tartuffe", sagte Dorine mit flacher Stimme.
„Monsieur Tartuffe!", korrigierte Madame Pernelle scharf. „Zeige wenigstens den Anstand, den Titel zu verwenden, Mädchen!"
„Monsieur Tartuffe", wiederholte Dorine mit einer Ironie, die so subtil war, dass die alte Dame sie nicht bemerkte. „Vergebt mir."
Elmire setzte sich bedächtig auf einen Stuhl und faltete die Hände im Schoß. „Niemand verspottet Monsieur Tartuffe, Mutter", sagte sie ruhig. „Wir stellen lediglich fest, dass sein Einfluss auf meinen Gemahl... bemerkenswert ist."
„Bemerkenswert!", rief Madame Pernelle aus. „Natürlich ist er bemerkenswert! Dieser Mann ist ein Heiliger! Ein lebendes Beispiel wahrer Frömmigkeit! Mein Sohn hatte das Glück, ihn zu begegnen, und seitdem ist er ein neuer Mann geworden!"
„Das", murmelte Damis, „ist genau das Problem."
„Was hast du gesagt?", fuhr die Großmutter herum.
„Nichts, Großmutter."
Mariane, die bisher geschwiegen hatte, hob den Kopf. Ihre Stimme war leise, aber bestimmt: „Vater ist tatsächlich verändert, Großmutter. Er verbringt kaum noch Zeit mit uns. Alle seine Gedanken drehen sich nur noch um Monsieur Tartuffe."
„Wie es sich gehört!", triumphierte die alte Dame. „Endlich hat dein Vater einen spirituellen Führer gefunden, der ihm den Weg zur Erlösung zeigt! Was vorher in diesem Haus geschah – Eitelkeit, Vergnügungssucht, weltliche Torheiten –, all das wird nun durch Tartuffes Anwesenheit geheilt!"
Elmire betrachtete ihre Schwiegermutter mit einem Blick, in dem sich Mitleid und Frustration mischten. Die alte Frau glaubte wirklich, was sie sagte. Sie war nicht böswillig, nur verblendet. Doch diese Verblendung war gefährlich.
„Mutter", begann Elmire vorsichtig, „niemand bezweifelt die Bedeutung der Frömmigkeit. Aber findest du nicht, dass es möglich ist, dass jemand Frömmigkeit vortäuscht, um—"
„Vortäuscht?", unterbrach Madame Pernelle empört. „Du wagst es, Tartuffe der Heuchelei zu bezichtigen? Dieser Mann, der täglich betet, der fastet, der sich jeder weltlichen Versuchung entsagt?"
„Der sich dem Braten beim Abendessen nicht entsagt", warf Dorine ein. „Oder dem Wein. Oder dem zweiten Gang. Oder—"
„Schweig!", donnerte Madame Pernelle. „Wie kannst du es wagen, so über einen Mann Gottes zu sprechen?"
„Einen Mann Gottes?", Damis trat vor, seine Stimme bebte vor Zorn. „Großmutter, dieser Mann ist ein Schwindler! Ein Betrüger! Er hat sich in unser Haus geschlichen wie eine Schlange und hat meinen Vater so vernebelt, dass er nichts mehr sieht!"
„Damis!", warnte Elmire, doch der junge Mann war nicht mehr zu bremsen.
„Er gibt vor, arm und bescheiden zu sein, trägt aber feinste Stoffe! Er predigt Askese, speist aber wie ein König! Er spricht von Demut, behandelt uns aber wie Diener in unserem eigenen Haus!"
Madame Pernelle erhob sich, zitternd vor Empörung. „Ich höre mir diese Blasphemie nicht länger an! Flipote! Wir gehen!"
Die kleine Dienerin, die froh war, endlich fliehen zu können, eilte herbei mit dem Umhang ihrer Herrin.
„Ihr seid alle verblendet!", verkündete die alte Dame, während sie sich den Umhang umwerfen ließ. „Ihr könnt wahre Tugend nicht erkennen, wenn sie vor euch steht! Eines Tages werdet ihr bereuen, wie ihr mit diesem heiligen Mann umgegangen seid! Eines Tages—"
Sie brach ab, denn in der Tür war eine Gestalt erschienen. Es war ein Mann mittleren Alters, groß und schlank, gekleidet in einfache, aber tadellos saubere schwarze Kleidung. Sein Gesicht war blass und schmal, mit hohen Wangenknochen und einer langen, geraden Nase. Seine Augen waren dunkel und hatten einen intensiven, fast hypnotischen Blick. Die Hände hielt er vor der Brust gefaltet, als wäre er gerade im Gebet gewesen.
„Madame Pernelle", sagte er mit sanfter, melodischer Stimme. „Ihr wollt uns verlassen? An einem so schönen Morgen, den der Herr uns geschenkt hat?"
„Monsieur Tartuffe!", rief die alte Dame aus, und ihr Gesicht verwandelte sich. Die Härte wich einer fast mädchenhaften Bewunderung. „Ach, wenn doch alle in diesem Haus nur ein Zehntel Ihrer Weisheit besäßen!"
Tartuffe neigte demütig den Kopf. „Ihr seid zu gütig, Madame. Ich bin nur ein armseliger Sünder, der versucht, dem Pfad der Rechtschaffenheit zu folgen."
Elmire beobachtete die Szene mit zusammengekniffenen Augen. Es war immer dasselbe. Die Art, wie er sprach, wie er sich bewegte – alles war perfekt orchestriert. Zu perfekt.
„Ich muss gehen", sagte Madame Pernelle, nun mit weicherer Stimme. „Aber es tröstet mich, zu wissen, dass Sie hier sind, Monsieur Tartuffe. Sie sind das einzig Gute in diesem Haus der Torheit."
„Der Herr schütze Eure Schritte", sagte Tartuffe und küsste die Hand der alten Dame mit einer Ehrerbietung, die beinahe theatralisch wirkte.
Als Madame Pernelle mit Flipote im Schlepptau das Haus verließ, senkte sich erneut Stille über den Salon. Tartuffe stand noch immer in der Tür, die Hände gefaltet, ein mildes Lächeln auf den Lippen.
„Verzeiht die Störung", sagte er schließlich. „Ich wollte nur nach Laurent sehen – mein Diener, er ist ein wenig kränklich heute."
„Natürlich", sagte Elmire kühl.
Tartuffe ließ seinen Blick durch den Raum schweifen, über Mariane, die den Kopf senkte, über Damis, dessen Kiefer mahlte, über Dorine, die ihn mit unverhohlenem Misstrauen betrachtete.
„Ein gesegneter Tag euch allen", sagte er dann und zog sich zurück, leise wie ein Schatten.
Kaum war er verschwunden, explodierte Damis: „Dieser Heuchler! Diese falsche Schlange!"
„Leiser", zischte Elmire. „Er könnte dich hören."
„Soll er doch!", Damis schlug mit der Faust auf den Kaminsims. „Ich ertrage das nicht länger! Dieser Mann hat unser Haus übernommen, und mein Vater ist so verblendet, dass er es nicht sieht!"
Mariane begann zu weinen, leise, aber herzzerreißend. Dorine eilte zu ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter.
„Was sollen wir nur tun?", flüsterte das Mädchen. „Vater spricht davon, dass ich Monsieur Tartuffe heiraten soll. Ich – ich kann das nicht, Madame. Ich liebe Valère!"
Elmire stand auf und ging zu ihrer Stieftochter. Sie kniete neben ihr nieder und nahm ihre Hände. „Das wird nicht geschehen", sagte sie mit fester Stimme. „Ich verspreche es dir, Mariane. Ich werde nicht zulassen, dass dein Vater einen solchen Fehler begeht."
„Aber wie?", fragte Damis verzweifelt. „Wie können wir ihn aufhalten? Vater hört auf niemanden mehr, nur noch auf Tartuffe!"
Das war die Frage, die Elmire seit Wochen beschäftigte. Wie konnte man einen Mann überzeugen, der sich weigerte, die Wahrheit zu sehen? Wie konnte man eine Maske abreißen, die so perfekt saß?
„Wir werden einen Weg finden", sagte sie, mehr zu sich selbst als zu den anderen. „Wir müssen einen Weg finden."
Draußen zogen Wolken auf. Das Licht im Salon wurde matter, gedämpfter. Irgendwo im Haus hörte man eine Tür schließen, Schritte auf der Treppe. Das Leben im Hause Orgon ging weiter, Augenblick für Augenblick, doch über allem lag der Schatten eines Mannes, der sich als Heiliger ausgab und im Begriff war, eine ganze Familie zu zerstören.
Die Uhr im Flur schlug neun. Der Tag hatte gerade erst begonnen.
Die Stille, die Madame Pernelles Abreise hinterließ, war von jener bedrückenden Art, die schwerer wog als jedes Wort. Elmire stand noch immer neben Mariane, ihre Hand auf der Schulter des weinenden Mädchens. Dorine hatte sich an das Fenster begeben und beobachtete, wie die Kutsche der alten Dame die Straße hinunterrollte.
„Endlich", murmelte sie. „Drei Stunden Frieden, bevor sie wiederkommt."
Damis lachte bitter auf. „Frieden? In diesem Haus? Solange dieser Scharlatan hier ist, wird es keinen Frieden geben."
„Damis", sagte Elmire warnend. „Beherrsche dich. Cholerische Ausbrüche werden uns nicht helfen."
„Was soll uns denn helfen?", fuhr der junge Mann auf. „Höflichkeit? Geduld? Wir sind höflich und geduldig gewesen, Madame, und wohin hat es uns geführt? Tartuffe sitzt fester im Sattel als je zuvor, und mein Vater – mein eigener Vater! – ist völlig blind geworden!"
Er trat ans Fenster und starrte hinaus, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. „Ich erinnere mich noch an die Zeit, als Vater ein vernünftiger Mann war. Als er sich um seine Geschäfte kümmerte, um uns, um das Haus. Jetzt? Jetzt interessiert ihn nichts mehr außer diesem verdammten Heuchler und seinen endlosen Predigten!"
Mariane schluchzte leiser. Elmire reichte ihr ein Taschentuch und setzte sich neben sie.
„Erzähl mir von Valère", sagte sie sanft.
Das Mädchen hob den Kopf, und trotz der Tränen erschien ein zaghaftes Lächeln auf ihrem Gesicht. „Er ist... er ist wunderbar, Madame. Gütig und aufrichtig. Er liebt mich, und ich liebe ihn. Wir haben uns versprochen, dass wir heiraten würden, sobald Vater seine Zustimmung gibt. Und Vater mochte ihn! Vor... vor Tartuffe kam, mochte er Valère sehr."
„Und jetzt?", fragte Dorine, obwohl sie die Antwort bereits kannte.
„Jetzt sagt Vater, Valère sei ein Lebemann, ein Verschwender, ein Mann ohne wahre Tugend." Marianes Stimme brach. „Stattdessen soll ich Monsieur Tartuffe heiraten. Einen Mann, den ich kaum kenne. Einen Mann, der... der mich ansieht, als wäre ich..."
Sie vollendete den Satz nicht, aber Elmire verstand. Sie hatte Tartuffes Blicke bemerkt – diese langen, intensiven Blicke, die er auf Mariane richtete, wenn er glaubte, unbeobachtet zu sein. Es waren keine Blicke spiritueller Bewunderung. Es waren Blicke eines Mannes, der nach Besitz giert.
„Du wirst ihn nicht heiraten", wiederholte Elmire mit Nachdruck. „Das schwöre ich dir."
„Aber wie?", fragte Mariane verzweifelt. „Vater hat es bereits beschlossen. Er spricht davon, als wäre es eine heilige Pflicht. Als wäre es Gottes Wille."
„Gottes Wille", spottete Damis. „Tartuffes Wille, meinst du! Dieser Bastard hat meinen Vater so manipuliert, dass er nicht mehr zwischen Frömmigkeit und Fanatismus unterscheiden kann!"
„Damis!", mahnte Elmire schärfer. „Deine Sprache!"
„Verzeiht, Madame, aber—"
„Nein." Elmire stand auf. Ihre Stimme war ruhig, aber es lag eine Autorität darin, die selbst Damis verstummen ließ. „Ich verstehe deine Wut. Wir alle sind wütend. Aber Wut allein wird uns nicht helfen. Wir müssen klug vorgehen. Überlegt handeln."
„Und wie?", fragte Dorine. „Was können wir tun?"
Elmire trat ans Fenster und blickte auf die Straße hinaus. Paris pulsierte vor Leben. Händler priesen ihre Waren an, Kinder liefen lachend durch die Gassen, ein Straßenmusikant spielte eine melancholische Melodie auf seiner Flöte. Die Welt drehte sich weiter, gleichgültig gegenüber den Nöten einer einzelnen Familie.
„Wir müssen Orgon die Augen öffnen", sagte sie schließlich. „Aber nicht durch Angriffe oder Vorwürfe. Das wird ihn nur dazu bringen, Tartuffe noch mehr zu verteidigen. Wir müssen ihn dazu bringen, selbst zu sehen, wer Tartuffe wirklich ist."
„Und wie sollen wir das anstellen?", fragte Damis skeptisch.
„Ich weiß es noch nicht", gestand Elmire. „Aber es muss einen Weg geben. Tartuffe ist ein Mensch, kein Heiliger. Menschen machen Fehler. Sie lassen Masken fallen, wenn sie sich unbeobachtet fühlen."
Dorine nickte langsam. „Ihr meint, wir sollten ihn beobachten. Auf einen Moment warten, in dem er sich verrät."
„Genau."
„Das könnte Wochen dauern", wandte Damis ein. „Monate sogar. Und in der Zwischenzeit wird Vater Mariane mit diesem Schurken verheiraten!"
„Nein", sagte eine neue Stimme von der Tür. „Das wird nicht geschehen."
Alle drehten sich um. In der Tür stand ein Mann um die vierzig, elegant gekleidet in grauer Seide, mit einem Gesicht, das Intelligenz und Wohlwollen ausstrahlte. Sein Haar begann an den Schläfen zu ergrauen, was ihm ein distinguiertes Aussehen verlieh. Seine Augen, hell und klar, glänzten vor Humor und Verstand.
„Cleante!", rief Elmire erleichtert. „Du bist es!"
Cleante, Elmires Bruder, trat in den Salon und küsste seine Schwester auf beide Wangen. „Ich kam gerade an und sah Madame Pernelle in ihrer Kutsche davonbrausen. Sie sah aus, als hätte sie gerade eine Schlacht gewonnen."
„Oder verloren, je nachdem, wie man es betrachtet", murmelte Dorine.
Cleante lächelte. „Ich sehe, die Atmosphäre hier ist so entspannt wie immer." Sein Blick fiel auf Mariane, deren tränenverschmiertes Gesicht alles sagte. „Meine arme Nichte. Kommen Sie, setzen Sie sich. Erzählen Sie mir alles."
Mit Cleantes Ankunft veränderte sich die Stimmung im Raum. Es war, als hätte jemand ein Fenster geöffnet und frische Luft hereingelassen. Cleante war ein Mann der Aufklärung, ein Verfechter der Vernunft, ohne kalt zu sein. Er glaubte an Gott, aber er glaubte auch an den menschlichen Verstand. Und vor allem glaubte er nicht an Scheinheilige.
Sie setzten sich alle, und Mariane, unterstützt von Dorine und Elmire, erzählte die ganze Geschichte. Wie Orgon sich verändert hatte. Wie Tartuffe allmählich die Kontrolle über das Haus übernommen hatte. Wie die geplante Hochzeit mit Valère plötzlich abgesagt und stattdessen eine Ehe mit Tartuffe arrangiert worden war.
Cleante hörte aufmerksam zu, ohne zu unterbrechen. Sein Gesicht wurde ernster, aber er behielt seine Ruhe.
„Ich habe befürchtet, dass es so weit kommen würde", sagte er schließlich. „Als Orgon mir vor einigen Monaten von diesem außergewöhnlichen Mann erzählte, den er getroffen hatte, hörte ich bereits den Alarm. Ein Heiliger, sagte er. Ein lebendes Beispiel göttlicher Tugend. Solche Worte sind gefährlich, wenn sie einen Menschen beschreiben."
„Ihr kennt Tartuffe nicht, Onkel", sagte Damis. „Ihr habt nicht gesehen, wie er sich benimmt, wie er spricht. Es ist, als würde er eine Rolle spielen, jeden Moment des Tages."
„Oh, ich kenne seinen Typ", erwiderte Cleante. „Ich habe viele solcher Männer gesehen. Paris ist voll von ihnen – Scharlatane, die Frömmigkeit als Deckmantel für ihren Egoismus nutzen. Sie beten laut, damit alle sie hören. Sie fasten ostentativ, damit alle es bemerken. Sie sprechen von Demut, während sie nach Macht greifen."
„Genau!", rief Damis. „Ihr versteht es!"
„Aber", fuhr Cleante fort, „das Problem ist nicht Tartuffe allein. Das Problem ist dein Vater, Damis. Orgon ist ein guter Mann, aber er hat einen fatalen Fehler: Er kennt keine Mäßigung. Als er sich weltlichen Vergnügungen hingab, tat er es mit ganzer Kraft. Jetzt, da er sich der Religion zugewandt hat, tut er es genauso extrem."
„Was schlägst du vor?", fragte Elmire.
Cleante lehnte sich zurück und verschränkte die Finger. „Wir müssen vorsichtig vorgehen. Orgon ist kein Narr, auch wenn er sich momentan wie einer verhält. Wenn wir zu direkt sind, wird er sich verschließen. Aber wenn wir geschickt vorgehen, können wir vielleicht Zweifel in ihm säen."
„Zweifel?", wiederholte Dorine. „Monsieur Orgon zweifelt an nichts, was Tartuffe betrifft."
„Noch nicht", sagte Cleante. „Aber jeder Mensch hat einen Punkt, an dem sein Glaube erschüttert werden kann. Wir müssen diesen Punkt finden."
„Und was ist mit Mariane?", fragte Elmire. „Die Hochzeit – Orgon spricht davon, sie noch diesen Monat zu arrangieren."
Cleantes Gesicht wurde hart. „Das werden wir verhindern. Zur Not durch rechtliche Mittel. Mariane ist noch nicht volljährig nach dem Gesetz, und eine Zwangsheirat ist—"
„Nein", unterbrach Mariane leise. „Ich möchte nicht gegen meinen Vater prozessieren. Ich liebe ihn. Trotz allem, was geschehen ist, liebe ich ihn."
Die Worte waren einfach, aber sie trafen ins Herz. Das war das Tragische an der ganzen Situation – Orgon war kein böser Mann. Er war ein verblendeter Mann, und das war vielleicht noch schlimmer.
„Dann", sagte Cleante sanft, „müssen wir einen anderen Weg finden. Wir müssen Tartuffe dazu bringen, seine Maske fallen zu lassen, in einer Weise, die Orgon nicht ignorieren kann."
„Aber wie?", fragte Damis zum dritten Mal an diesem Morgen.
Bevor jemand antworten konnte, öffnete sich die Tür erneut. Ein Diener trat ein, ein junger Mann namens Laurent, der erst vor wenigen Monaten ins Haus gekommen war – auf Tartuffes Empfehlung hin, wie Elmire sich erinnerte.
„Verzeiht die Störung", sagte Laurent mit einer Verbeugung. „Aber Monsieur Tartuffe möchte wissen, ob Madame Elmire ihm die Ehre erweisen würde, ihn in der Bibliothek zu treffen. Er möchte ihr etwas zeigen – ein neues religiöses Traktat, das er erworben hat."
Elmire und Cleante tauschten einen Blick.
„Sag Monsieur Tartuffe, dass ich in einer halben Stunde zu ihm komme", sagte Elmire mit neutraler Stimme.
Laurent verbeugte sich erneut und verschwand.
„Die Bibliothek", murmelte Dorine. „Natürlich. Der perfekte Ort für einen 'zufälligen' privaten Moment."
„Was meinst du?", fragte Mariane.
„Nichts, mein Kind", sagte Elmire schnell. Aber ihr Blick verdunkelte sich.
Cleante hatte es auch bemerkt. „Hat Tartuffe schon früher versucht, dich allein zu sprechen?"
„Ein paar Mal", gab Elmire zu. „Immer unter einem Vorwand. Ein Buch, ein Gebet, ein spirituelles Gespräch. Bisher habe ich es vermieden, aber..."
„Aber?", drängte ihr Bruder.
