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Volker Ebersbach

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Beschreibung

Diese Frau war eine ganz und gar ungewöhnliche, sehr selbstbewusste und emanzipierte Frau – Caroline Michaelis-Böhmer-Schlegel-Schelling. Sie hat ein sehr bewegtes Leben geführt, war dreimal verheiratet, zuletzt von 1803 bis zu ihrem Tode 1809 mit dem Philosophen Friedrich Schelling, die einzige Liebesheirat. Wie der Autor in einer Vorbemerkung zu seinem Historischen Roman anführt, müsse ein Buch, das von Caroline Michaelis-Böhmer-Schlegel-Schelling erzählt, auch eine lange Reihe mehr oder weniger bekannter Zeitgenossen berühren, die ihr auf unterschiedlichste Weise nahekamen. Wie sie aussehen, sich bewegen, sprechen, denken, fühlen, das kommt, soweit Briefe und andere Zeugnisse nicht eindeutig darüber Auskunft gegeben haben, aus dem Ermessen des Verfassers, der weder die ganze Objektivität einer Biografie anstreben noch die volle Freiheit eines Romans ausschöpfen wollte. Die Erfindung lässt sich von Vermutungen leiten, wo verbürgte Überlieferung stumm oder verschwommen bleibt. Es sind die Vermutungen eines Menschen, der rund zwei Jahrhunderte später lebt, und es bleiben bei aller Einfühlung die eines Mannes. Hier ein kurzer Ausflug in das Jahr 1793, als Caroline auf der Flucht aus der von Preußen eroberten Jakobiner-Republik Mainz verhaftet und festgesetzt wird: „Visitieren!“, brüllt der Posten. „Name!“ Preußische Soldaten sind hinter den Strohballen hervorgesprungen, umzingeln mit vorgehaltenen Gewehren das Gefährt, zerren den Kutscher vom Bock. Forkel, Böhmer, zweimal Wedekind. Der Offizier lässt sich ein abgegriffenes Heft bringen. Auch im winzigen Feldlager eines Vorpostens auf der feindlichen Seite des Rheins funktioniert die Amtsstube. Er leckt bedächtig den Finger an, blättert, schielt zu den Damen, zu den Kindern, blättert, zieht ungeniert Rotz in der Nase hoch, streicht die Schnauzbartenden trocken, hält einen Finger zwischen die Seiten, noch einen. „Wedekind! Verwandt mit dem Erzklubisten?“ Schon öffnet die alte Sophia Magdalena devot den Mund. Caroline schneidet ihr das Ja ab: „Wir antworten nur einer ordentlichen Amtsperson.“ Der Preuße grinst infam. „Werden wir gleich haben.“ Die Seite aufschlagend, in der sein erster Finger steckt, fasst er Caroline ins Auge: „Böhmer! Frau des Erzklubisten, wat?“ Caroline staunt selbst über die Ruhe, mit der sie trotz pochenden Herzens antwortet, und wird dabei noch ruhiger. Sie sei die Witwe des Bergmedikus Franz Böhmer, vor fünf Jahren in Clausthal gestorben. „Es gibt viele Böhmers. Eine Verwechslung.“

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Seitenzahl: 579

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Impressum

Volker Ebersbach

Caroline

Historischer Roman

ISBN 978-3-96521-578-8 (E-Book)

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

Das Buch erschien 1987 im Mitteldeutschen Verlag Halle - Leipzig.

© 2021 EDITION digital Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.de

Für Schneewittchen

Ein Buch, das von Caroline Michaelis-Böhmer-Schlegel-Schelling erzählt, muss auch eine lange Reihe mehr oder weniger bekannter Zeitgenossen berühren, die ihr auf unterschiedlichste Weise nahekamen. Wie sie aussehen, sich bewegen, sprechen, denken, fühlen, das kommt, soweit Briefe und andere Zeugnisse nicht eindeutig darüber Auskunft gegeben haben, aus dem Ermessen des Verfassers, der weder die ganze Objektivität einer Biografie anstreben noch die volle Freiheit eines Romans ausschöpfen wollte. Die Erfindung lässt sich von Vermutungen leiten, wo verbürgte Überlieferung stumm oder verschwommen bleibt. Es sind die Vermutungen eines Menschen, der rund zwei Jahrhunderte später lebt, und es bleiben bei aller Einfühlung die eines Mannes.

I. DIE UNIVERSITÄTSMAMSELLEN

Kritische Nachbarschaften

Die Kerzenflamme blendet. Ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe hält das Auge beliebig lange aus. Der blaue Morgenschimmer dahinter verbirgt, ob der Tag wolkig oder heiter wird. Caroline ist im Dunkeln aufgewacht. Ein großer Hund war mit rollenden Augen von der Straße hereingekommen und hatte mit wenigen gierigen Bissen ihren Geburtstagskuchen aufgefressen. In ihren Schrecken fielen fünf dunkle Glockenschläge von der Johanniskirche, die helleren von der Marienkirche folgten, die harten der Jakobikirche wehten aus der Ferne herüber. Da hat sie die Kerze angesteckt und über den Traum nachgedacht. Der gefräßige Hund bedeutet, dass sie ihren Geburtstag zu wichtig nimmt. Sich selber zu wichtig zu nehmen, davor warnt die Mutter sie oft. Sie soll sich nicht so lebhaft ausmalen, wer zu Besuch kommt und was man ihr schenken wird. Besonders ein Mädchen soll sich nicht wichtig nehmen. „Die Leute kommen nicht nur zu dir!“

Sie rätselt aber doch, wer ihr zuerst gratuliert. Die Geschwister schlafen. Lotte hat sich, als das Zündholz aufleuchtete, zur Wand gedreht. Philipp atmet kaum merklich; manchmal zucken seine Fäustchen. Louise, die Jüngste, schläft noch drüben bei der Mutter. Oben knarren die Dielen. Macht sich der Vater schon zwischen seinen Bücherstapeln zu schaffen? Ein Fuhrwerk rumpelt über die Straße Vor der Mühlenpforte, entfernt sich in Richtung Lederhof; hohl tönt unter den Rädern die Brücke über die Neue Leine. In den Höfen auf der Marsch krähen die Hähne.

Die Tür geht auf. Eine zerknitterte Nachthaube, der verschlafene unfreundliche Morgenblick der Mutter: „Feierst du schon allein?“

„Mir war bange im Dunkeln.“ Sie löscht die Kerze, liegt, wartet, zählt die Stundenschläge der Kirchturmuhren, steht am Fenster, wie gewohnt den Eingang zum Kollegienhof im Auge, das schmiedeeiserne Zaungitter, die beiden Torpfeiler mit den gemeißelten Vasen. Studenten kommen heraus, Lieferanten drängen herein. Man rempelt sich an, ein Schimpfwort fordert das andere heraus: „Pass auf, Sauwedel!“ - „Schandbalg!“ - „Beiseite, Gelbschnabel!“ - „Lies deine Arschwische selber auf, Flöhbeutel!“ Eine Kutsche rattert dazwischen.

Alles Wörter, die man nicht sagen darf. Und doch hört man sie jeden Tag von morgens bis abends. Die Studenten, die im Haus wohnen, werfen sie einander an den Kopf, wechseln sie mit den Dienstboten. Der Student, der Caroline und Lotte unterrichtet, flucht gern, so lästerlich er kann, wenn es der Vater nicht hört. Aber auch dem Vater geht manches Unwort leicht heraus.

Die Mutter hat wieder hereingeschaut und die Tür offengelassen. Das heißt: Jetzt komm, wasch dich, zieh dich an, hilf mir, du bist die Älteste, wenn du Geburtstag hast, gibt es viel zu tun. Gratuliert hat sie nicht. Das Wort Liebe kennt Caroline nur aus der Kirche. Es hat mit dem lieben Gott zu tun, der aber sehr streng ist.

Lotte sitzt im Bett, reibt sich die Augen, Philipp rekelt sich. Luischen steht in der Tür, den Saum des Nachthemdes unter den Füßen, lächelt: „Hast du jetzt Geburtstag?“ Die Kleinste denkt daran!

Da hängt ihr Lotte am Hals: „Alles Gute, alles Gute! Mein Gott, nun bist du schon zwölf!“

Wie sich die kleine Heuchlerin vordrängt. Gestern noch wollte sie Caroline den Geburtstag auf drei Jahre verbieten, um aufzuholen.

Philipp vergisst die Floskel, die ihm eingeschärft worden ist. Er stellt sich breitbeinig hin: „Ich bin sieben!“

Louise klammert sich an Carolines Hüften: „Ich will auch Geburtstag haben!“ Sie stolpert über ihr zu langes Hemd, fällt, weint. Caroline nimmt sie auf den Arm. Es ist eine Plage, Geburtstag zu haben. Die Kleinste ist ihr die liebste. Und gern denkt sie an die anderen, die gesichtslosen Geschwister, die, eilig getauft am Tag nach der Geburt, schon gestorben sind.

Die Zeit, Puppen herumzuschleppen, Puppen zu kleiden, Zuckerwerk zu naschen, ist gerade vorbei. Mit der Kleinen auf dem Arm geht Caroline in Mutters Ankleidezimmer, wo auch ihre Sachen liegen. Die Kinderfähnchen aus gestärktem Leinen sind rasch übergestreift. Aber die Umstände, die Mutter und ihre Zofe mit Reifrock und Brusttüchern, gesteifter Taille und Korsett machen, das Auswählen von Schoßjäckchen und Schleife sind so respektabel, dass auch das Mädchen sich beim Ankleiden Zeit nimmt, in den Spiegel schaut, jedes Fältchen und Bändchen nutzt, um eine Zeremonie daraus werden zu lassen. Der Spiegel ist eine prickelnde Versuchung, aber auch ein schrecklicher Drache. Das Gesicht der Mutter, dem sie darin begegnet, wird ungeduldig, und mit dem eigenen ist sie nicht zufrieden: zu breit, zu rund, die Brauen zu schwach, das Näschen zu flach, die Augen zu feucht, die Lippen zu leicht, die Unterlippe nur etwas voller als die obere. Vom Unterlid bis an die Mundwinkel werden die großen Wangen immer gleich rot, wenn sie sich erregt. Der Ärger über ihr Spiegelbild macht es noch hässlicher. Gilt Mutters mürrischer Blick der Zofe, die ihr mit dem Kamm im Blondhaar die hochgewölbte Stirn nach hinten reißt, ehe sie ihr das Spitzenhäubchen aufdrückt, oder der Tochter, die ihre dunkelbraunen schulterlangen Locken noch einmal und noch einmal zurechtschüttelt? Caroline geht, ehe sie ermahnt wird. Sie kann auch die Puderquaste nicht ausstehen, die gleich ihre weißen Wölkchen durchs Boudoir stäuben wird.

Mutter kleidet sich mehr französisch, Vater mehr englisch. Mutter ist nie gereist und versetzt sich bei ihrer Morgentoilette gern nach Paris. Vater hat lange in London und Oxford gelebt. Seine englischen Manieren sind so geübt wie zwanglos. Er kann eine gewisse Lässigkeit und Großartigkeit nicht verleugnen und will es auch nicht. Aber es käme ihm nie in den Sinn, herauszustellen, dass das englisch ist. Er spottet über Mutters Garderobe, doch er bezahlt sie immer gern, denn der Professor mit dem größten und prächtigsten Haus in Göttingen will wenigstens hoffen, man halte seine Frau für die bestgekleidete. Wenn die Eltern einander morgens im Salon begegnen, geht er manchmal schmunzelnd um sie herum. „Steht ja mal wieder mächtig weit ab, dein cul de Paris! Da könnte der Teufel drauf reiten, und du merkst gar nicht, wen du auf der Weender Straße spazieren führst.“ Einmal hat Caroline ihn über die rückwärtige Erweiterung des Reifrockes philosophieren hören: „Bei anderen Frauenzimmern soll man nicht wissen, was sie damit verbergen, einen Kaninchenpopo oder einen fetten Arsch. Aber du“ – und er nannte sie bei allen ihren Vornamen: Louise Philippine Antoinette – „du hast doch einen ordentlichen Hintern.“

Die kleine Louise ist schon von der Waschschüssel weg zum Vater vorausgelaufen, die knarrende Treppe hinauf in den ersten Stock. Hofrat Johann David Michaelis, Ordinarius für orientalische Sprachen an der Universität, mächtig des Hebräischen und Aramäischen, des Persischen und des Arabischen wie andere des Lateinischen und Griechischen, sitzt, noch unfrisiert, mit langer weißer Tonpfeife und knisternder Zeitung allein am Frühstückstisch. Das Dienstmädchen zieht fast lautlos den Krümelteller, die Tasse, die Kanne und den Brotkorb vom Tisch aufs Tablett; die Konfitüre bleibt wie üblich noch stehen. Der Professor nascht, wenn die Pfeife aus ist.

Caroline wüsste gern, was am 2. September des Jahres 1775 in der Zeitung steht. An manchem Morgen hat sie schon gefragt und ein paar Worte über ein fernes, weites, schwaches Land gehört, Polen, das sich die Großen Europas teilen, anerkennende, ja bewundernde Bemerkungen über den Preußenkönig Friedrich, den Zweiten seines Namens, seine tapferen, disziplinierten Soldaten. Dass der Friede von Hubertusburg, das für Preußen glorreiche Ende des Siebenjährigen Krieges, in ihr Geburtsjahr fiel, hat der Vater ihr schon eingeschärft: „Kind, du bist in einen Frieden hineingeboren. Hoffentlich in einen langen.“ Das Französischtun der Göttinger Damen ist ein Relikt aus den Tagen der Besatzung und zu verschmerzen angesichts der militärischen Erfolge Friedrichs, weil sie die Kaiserin Maria Theresia in die Schranken wiesen, das Klatschweib in Wien, das nicht haushalten kann mit ihrem Sohn Joseph, inzwischen als kaiserlicher Mitregent gleichfalls der Zweite seines Namens, ein lasches Muttersöhnchen, das Ohrenbläsern nachgibt, weil es nur gelernt hat, brav zu sein. Der Effekt: In Böhmen werden die Bauern rebellisch. Außer den Nachrichten aus England, die gleichbleibend angenehm sind, interessieren den Vater die aus Berlin am meisten. Mitunter lässt er an der Abendtafel, wenn Gäste da sind, sonst hört nur die Mutter gehorsam zu, Neuigkeiten über die preußische Rangliste verlauten und zieht dazu ein Geheimkabinettsgesicht, als kennte er jeden Genannten persönlich. Über die Unruhen in den amerikanischen Kolonien der Engländer spricht er nur höhnisch. Die Siedler, die in der Nachbarschaft der Wilden verwildern, werden sich noch wundern, was sie davon haben, gegen die schützende Macht ihres noblen Mutterlandes aufzubegehren.

Wenn der Professor eine Weltstadt ehrt, indem er sie zuletzt beachtet, so ist das Paris, bewundert für seine Gabe, an Krawallen, Skandalen, Mätressenwirtschaft, Modetorheiten und politischen Trotteleien, die jede Macht längst ihre Existenz gekostet hätten, nicht unterzugehen. Kanada und Louisiana verlor Frankreich schon an England, gleichfalls im Geburtsjahr Carolines, und es geht weiter abwärts, das Volk hungert und prügelt sich herum in einem „Mehlkrieg“. Es gibt Namen von Franzosen, die Vater geradezu mit Ehrfurcht ausspricht: Voltaire, Diderot, d’Alembert. Andere nennt er nur mit Verachtung. Rousseau ist immer dabei. Ihn macht er verantwortlich für den Schwarmgeist, der unter den Studenten umgeht. Ein Laffe, ein Bauer, ein Trampel, ein Lausewenzel und Hosenhuster. Und der König ein gefährlicher Dummkopf, der sein Volk nicht leben lässt, eine Bande von Irrenhäuslern der Adel, der seine Alfanzereien nachäfft und überbietet. Das bringt den Mob in Rage, und das Unterste wird noch nach oben wollen. Des Französischen bedient sich Vater mit einer Art von traurigem Mitleid und einer Achtung, um die man sich noch bemüht, wenn einer Frau von Stand Fehltritte nachgesagt werden, während ihn der Gebrauch des Englischen mit Stolz erfüllt, als wäre Göttingen nur der Ort seines Exils. Nennt er die Mutter Antoinette statt Antonie, klingt es herablassend, und sagt er zur Kleinsten, die außer dem „Luischen“ oft nur das Lieschen ist, mit französischem Hauch „Louise“, hört man ihn herausstreichen, dass auch sie, so winzig sie ist, zur albernen Gattung der Weiber zählt. Caroline hingegen, seine Älteste, spricht er manchmal, als hielte er sie für eine Ausnahme, von der er anderes erwartet, Mannhaftigkeit vielleicht, auf Englisch mit „Kärolein“ an. Sie lässt sich das gern gefallen. Sie hat schon Englisch gesprochen, als sie noch ihr Bett nass machte: „There is no harm.“

Heute wagt Caroline keine Frage. Man macht nicht vorlaut auf sich aufmerksam. Luischen folgt der Kinderfrau, die sie in die Küche zum Füttern holt. In diesem Haus isst jeder, wann und wo er will, außer abends. Irgendwo muss doch ein Geschenk auf Caroline warten. Die Unordnung dieses Professorenhaushaltes birgt tausend Gefahren, dass man ihren Geburtstag vergisst. Sie muss sich doch bemerkbar machen.

„Ach du bist es, Kindchen. Hast du nicht Geburtstag? Bleib gesund und freu dich, bleib ein braves Mädchen mit deinen elf Jahren!“

„Zwölf!“

„Ah, dann habe ich doch nicht das Falsche gekauft! Hol dir die Schachtel von nebenan, aber lass dir erst einen Kuss geben.“

Der Vater spricht mit kratziger Stimme. Vielleicht hat der englische Pfeifentabak sie zerstört, nach dem sein Atem riecht.

Die runde Schachtel in seinem Ankleidezimmer enthält einen gelben Hut mit Bändern und künstlichen Blumen. Ihr Wunsch fand Vaters Ohr!

„Aber Vater, er wird nur auf hochfrisiertes Haar passen.“

Der Professor erscheint in der Tür, ein Manuskriptbündel unterm Arm; hinter ihm schmunzelt, soeben eingetroffen, der Friseur. Man solle nur zu ihm schicken, mit Toupets und anderem, Gestellen aus Draht und Fischbein, könne er aushelfen. Einer der Studenten, die im Seitenflügel des Michaelisschen Hauses am Leinekanal wohnen, hält sich für Botengänge in Rufweite. Caroline bleibt, den Hut in der Hand, oben in der Männerwelt. Mutter, die ihr so kalt begegnet ist, mag sie rufen; vorerst will sie sich unten nicht zeigen. Der Friseur seift Vater ein und rasiert ihn. Den Schaum streift er am Rand seines Rasierbeckens vom Messer. „Keine Perücke heute!“, befiehlt der Professor. Der Friseur löst den Zopf vom Vortag, nimmt Bündel aus dem dunklen, grau durchwachsenen Haar und kämmt die durch, schmiert Pomade hinein, flicht einen neuen Zopf, dreht auf Pflöcken die Schläfenlocken. Der Professor blättert in einem Wälzer mit hebräischen Schriftzeichen und geht seine Vorlesung noch einmal durch, wird unterbrochen von der Puderwolke, in die der Friseur ihn hüllt, bevor er die Schleife in den Zopf bindet, die er zwischen den Zähnen hält.

Wenn das Wetter schön werde, solle man die Geburtstagsschokolade im Garten trinken, meint der Vater, und wenn ihn niemand festhalte, werde er auch kommen. „Wen hast du denn eingeladen, Töchterchen?“

„Therese!“

Vater verzieht das Gesicht, vielleicht nur wegen des Pudermessers, mit dem ihm der Friseur das Mehl von der Haut schabt. Die Tochter seines Kollegen sieht er nicht gern. Die meisten Universitätsprofessoren mögen einander nicht. Sie führen, wie Vater oft auf Lateinisch sagt, ein „bellum omnium contra omnes“, einen Krieg aller gegen alle. Die Professoren werden Hofräte oder nicht, und wo zwei Hofräte sind, gibt es noch Unterschiede in der Herkunft. Professor Heynes Vater war ein hungernder Weber. Und dann sind da noch die Grade der Beliebtheit bei Obrigkeit und Untergebenen, die Orden, die Beziehungen. Caroline weiß sehr früh, wovon Vater spricht, wenn sie Ohrenzeugin seiner Selbstgespräche wird. An ihnen hat sie gelernt, sich in der Welt, die erst einmal Göttingen heißt, zurechtzufinden. Mit seinen nicht einmal zehntausend Einwohnern gehört es nicht zu den großen Städten, und seine Universität ist noch keine fünfzig Jahre alt. Desto mehr fällt auf, wie viele gescheite, aber auch eigensinnige und verfeindete Leute da in kurzer Zeit auf kleinem Raum zusammengefunden haben. Nie gibt Vater zu, dass er sich von dem Altphilologen Heyne, der mit seinen Griechen und Römern mehr in Mode ist, belächelt fühlt. Heynes Übersetzung des Pindar, in der Göttinger Verlagsbuchhandlung Dieterich erschienen, ist unvergleichlich weiter verbreitet als die „Dogmatik“ des Professors Michaelis, seine Zeitschriftenartikel über Witwenkassen, Blatternimpfung, Kindesmord, Todesstrafe, die Rechtsstellung der Juden, die Beschäftigung der Soldaten in Friedenszeiten und die Ausrottung der Diebesbanden. Unausgesetzt wird er in Journalen dafür angegriffen. Aber Pindars Oden, verdeutscht von Heyne, werden bei den studentischen Schwarmgeistern gelesen, die zum Fenster heraus die Dichter des Hainbundes und Klopstock vortragen, aber ihr Pensum nicht durcharbeiten. Recht hat der bucklige Lichtenberg, wenn er das „rasende Odengeschnaube“ verlästert. Freilich, die Buckligen sind von Natur aus frech, weil sie glauben, sie müssten jedem Spott zuvorkommen, oft sind sie bissig und ungerecht, und niemand, auch der nüchterne, redliche Michaelis nicht, kann sich vor ihnen sicher fühlen. Aber jetzt reist Lichtenberg durch England und schreibt den Göttinger Kollegen sehr verständige Briefe. Jedem klugen Kopf bekommt England gut.

Nichts gegen Oden, aber sie machen bei den Studenten zu leicht beliebt, während ein Orientalist sich ihren Beifall sauer verdienen muss mit bis zur Unanständigkeit offenherzigen Bibelauslegungen und allerlei zotigen Anspielungen, möglichst am Schluss der Vorlesung, um in ähnlichem Triumph den Hörsaal zu verlassen wie der umjubelte Kollege, der auf der nächsten Sitzung nur ein mokantes Lächeln hat für die neueste Frucht Michaelisscher „Zotologie“. Wer wartet schon auf eine neue, erläuterte Übersetzung des Alten Testaments, mit der ein Kenner des Hebräischen sich abmüht Jahr um Jahr, außer den ungelehrten, ungelehrigen Pfaffen, die dem aufgeklärten Universitätslehrer dann doch nicht glauben, dass Luther irrte.

Caroline setzt sich aus aufgeschnappten Bemerkungen, Frozzeleien, Tiraden ihr Bild zusammen. Sie weiß auch, dass Vater von seinem Ärger mit dem Kollegen ablenken möchte, wenn er Thereses Mutter schmäht, sie eine Kanaille, Schlampe, Trulle, Vettel, Regimentshure nennt, weil ihr Liebschaften mit dem gothaischen Theaterdichter Gotter und mit dem Göttinger Universitätsmusikdirektor Forkel nachgesagt werden. Auf Moral pocht sein Mundwerk nur, wenn es um Künstler geht. Wenn seine Schadenfreude gegen den gehörnten Professor Heyne beredt wird, muss ihn die Mutter bitten, die Ohren der Kinder zu schonen.

Aber Caroline besteht auf ihrer Mädchenfreundschaft, gerade weil die Hofrätin Heyne unlängst an der Schwindsucht gestorben ist. Therese ist viel allein. Niemand soll zur Geburtstagsschokolade kommen, wenn sie nicht darf. „Vielleicht sehen wir uns das letzte Mal, denn sie wird noch eher als ich Göttingen verlassen.“

Sie genießt es, dass Vater fragen muss, weshalb. Der Friseur empfiehlt sich. „Soll sie auch in eine Mädchenpension?“ Der Vater errät es. Die Universitätsmamsellen sind alle frühreif.

„Ja. Aber nach Hannover, zu den französischen Fräuleins.“

„Da wird sie was Rechtes lernen.“ Vater lächelt süffisant.

„Mit dir nach Gotha kann sie freilich nicht gehen, weil dort der Gotter sich mit den Hörnern ihres Vaters brüstet.“

„Was für Hörner meinst du da eigentlich immer?“

„Vergiss das, Mädchen.“ Vater lauscht auf das Rumoren im Haus, als versuche er die Störung zu bannen, die er immer gewärtigen muss. Türen klappen, Treppen knarren, Studenten rufen, die Waschfrau keift dazwischen. Das Lieschen schreit, Lotte schreit zurück, Philipp beklagt sich, die Mutter schilt mit der scheppernden Stimme, die sie stets bekommt, wenn ihr die Schnürbrust zu eng wird.

„Therese wird wohl nicht kommen, Kind, ihr Vater lässt sie nicht.“

„Ich weiß, er neidet dir den Nordstern-Orden.“

Der Professor schmunzelt geschmeichelt. Der König von Dänemark weiß seine Arbeit zu schätzen. Mögen sie hinter seinem Rücken sich die Mäuler zerreißen: Der muss alles haben! Wo hat man das je erlebt, dass einer zum Ritter geschlagen wird, weil er eine Dogmatik geschrieben hat und ein Monarch sich dafür schämt, dass sie unter seinem Vorgänger verboten war. Der Gesandte Gustavs III. ist noch nicht lange aus dem Haus. „Das wäre kleinlich. Aber so ist der Heyne.“

Jemand steht in der Tür. Der Student bringt auf einem Drahtkorb das bestellte Toupet. Caroline rafft ihr Haar zusammen, um es zu probieren. Es fehlt ihr an Geschick; wäre der Friseur noch da. Aber sieh an, der Student kann damit umgehen! Vater krönt es mit dem Hut. Sie erscheint sich im Spiegel, und Vater findet sie entzückend. Sie erblickt neben ihrem Mondlärvchen sein alterndes Gesicht. Auch das dunkle, braun eingesprenkelte Graublau der Augen hat sie vom Vater. Mit diesen Augen kann man nicht schön werden. Der Hut mag manchen täuschen. Wäre sie doch ein Junge geworden.

Wieder steht jemand in der Tür, noch ehe das Dienstmädchen ihn melden kann. Ein armer Student bittet um „collegia frei“ und fragt, ob er im Hinterhaus ein Stübchen bekomme. Er streicht heraus, dass er aus Halle hergewandert ist, wissend, es ist die Vaterstadt des Professors, nennt auch gleich siegessicher sein Fach, Theologie, gesteht dann erst, dass er zuvor in Jena studiert hat, aber fort musste und auch in Halle nicht weiterkam. Er hat Briefe von der Michaelisverwandtschaft. Man muss ihm verraten haben, so bekomme man ihn weich, denn des Professors Vater Christian Benedikt Michaelis ist Theologe in Halle gewesen.

Der Professor nimmt den Studenten freundlich beim Oberarm. Warum denn das teure Göttingen? Warum kam er denn in Jena und Halle nicht weiter? Scherereien? „Dies Haus, wohlgemerkt, ist zwar belebt und laut und war, bevor ich’s kaufte, die ‚Londonschenke’. Aber gesoffen und duelliert wird hier nicht! Das Duell vor neun Jahren mit einem Toten war genau eins zu viel. Hier ist nicht Jena und nicht Gießen!“

„Ein armer Theologe, Herr Professor, duelliert sich nicht. Er macht nur Schulden.“

Die gefallen dem Professor auch nicht. „Für ihre Kost kommen meine Gäste selber auf. Wem nach was Warmem ist, der geht zu einer Witwe und verdient sich sein Schürzenstipendium und seinen Schwanzdukaten.“

Caroline weiß, welche Kammer leer steht. Doch der Vater verweist alles an die Mutter. Dann wendet er sich, obwohl er den Hörsaal im eigenen Haus hat, seinen sporenklirrenden Reitstiefeln, seinem Ausgehhabit und seinem Degen zu, ruft den Studenten, der zum Stiefeldienst bereitsteht, und brummt: „So verdient man frei collegia!“

Die Mutter bearbeitet im Hausflur die Leuchter mit Woodstockschen Lichtputzern aus England. „Wo hast du gesteckt, Caroline? Lass dir alles Gute wünschen fürs neue Lebensjahr und für Gotha!“

„Gotha ist trefflich!“, sagt der Student. „Da stamme ich her. Ich heiße Blumenbach und möchte …“

Die Mutter bedeutet ihm zu warten und zieht die Tochter in die Wäschekammer. Dort hat sie, wie erwartet, neue Stücke für Carolines Aussteuer ausgebreitet, die gebührend bewundert werden müssen. Es ist das dritte Geburtstagsgeschenk dieser Art. „Die Jahre, Mädchen, bis einer kommt und dich heiratet, sind schnell dahin.“

Da steht sie und erwartet Freude, die helläugige, gepuderte Blondine mit der gewölbten Stirn, den herrischen Fettpölsterchen unter den Brauen und dem Ansatz zum selbstgefälligen Doppelkinn, Frau Hofrätin und Frau Professor, die sich dennoch bestimmten Besuchern gegenüber als geborene Schröder zu erkennen gibt, weil sie ihren Vater, den Oberpostkommissär, für mehr hält als einen Gelehrten. Und sie erwartet, dass Caroline den gelben Hut, den sie noch aufhat, übertrieben findet und Vaters Geschmack herabsetzt. „Der hat gefehlt! Dem Michaelis ist, glaub ich, der Ritter zu Kopf gestiegen, und er will unbedingt ein Fräulein aus dir machen, ein Prinzesschen. Wie in den englischen Romanen, die er übersetzt!“ Die Prinzessinnen in Samuel Richardsons Romanen sind kokett und lasterhaft. Caroline weiß nicht, was das ist, aber schlecht ist es, und das Herz des Lesers schlägt stets für die einfachen, unschuldigen Bürgermädchen.

Irgendein unangenehmes Gefühl quält die Mutter. Aber Caroline hat kein Mitleid: „Ein Fräulein findet leichter einen Mann.“

Die Mutter ist ihr über: „Ein Hut macht noch kein Fräulein!“

Bis zum Mittag, wenn jeder, den hungert, auf seine Weise einen Imbiss nimmt, hat Caroline Unterricht bei Studenten ihres Vaters, die im Haus wohnen, gelehrte Handlanger, genannt Amanuensen, Latein und Griechisch bei Borchers, Englisch, Französisch und Mathematik bei Kleuker. Nächstens wird sie Italienisch hinzubekommen. Der arme Student, dem sie noch zu Kammer und Bettzeug verhelfen konnte, hat es den Eltern angeboten.

Der Tag spannt einen blassblauen Spätsommerhimmel über Göttingen. Nach kurzer Ruhe geht die Mutter mit den Kindern spazieren, durch die Allee Auf der Marsch vor zur Langen Marschstraße und bis zum Groner Tor, dann auf dem Stadtwall hinüber zum Weender Tor und die Weender Straße zurück. Vater musste in die Universität, Verwaltungsdinge. Die Mutter trägt einen himmelblauen Redingote und einen Sonnenschirm mit selbstgefertigter Stickerei. „Dafür bekommt man keinen Studenten“, murrt sie, den schweren Stab aus der einen Hand in die andere wechselnd, ein Schweißtuch zerknüllend. Der Dunst hüllt die hufeisenförmig um die Stadt gescharten Waldhügel und die Weiden mit ihren Kuhherden in Schleier. Von der Höhe des Walls, der mit Linden bepflanzt ist, schaut man in Hausgärten, Höfe, Winkel voller Gerümpel, auf eine Gänseweide, in einen stinkenden Graben. Über den Dachfirsten zeigen die Kirchtürme gen Himmel. Auf der Weender Straße muss man auf Kuhfladen achten und auf die ehrfürchtigen Grüße von Handwerkern, Ladenbesitzern und Studenten.

Das Wetter hat entschieden: Die Geburtstagsschokolade wird im Garten gereicht. Eine Kinderfrau bringt das kleine Dortchen Schlözer, damit es mit dem Luischen spiele; im Nachbargarten tauchen die Böhmerschen Kinder auf. Es versteht sich, dass sie herüberkommen. Mutter Böhmerin gratuliert fröhlich über den Zaun und gibt ihren Sprösslingen eine Schüssel Pflaumen mit. Charlotte Dorothea ist in Carolines Alter, und sie sind sonst gern beieinander. Aber der brennende Wunsch, dass Therese Heyne kommt, den Eltern zum Trotz, macht Caroline wortkarg. Sie spannt auf das Klappen der Haustür. Es ist aber Fritz, der große Bruder, schon über die Zwanzig, Student der Medizin. Caroline schaut zu ihm auf; an ihm gefällt ihr alles, auch das Fremde, das er vielleicht von seiner anderen Mutter hat. Er kleidet sich sorgfältig und modisch, lärmt und trinkt nicht, hält sich allem studentischen Kommers fern, ist nie schroff zu seinen Halbgeschwistern, immer gut aufgelegt. Seine Mutter starb, als er fünf Jahre alt war. Wie ist diese Friederike wohl gewesen? Jung Verstorbenen sagt man Gutes nach. In Gotha, denkt Caroline, werde ich mich prüfen können, ob ich meine Mutter liebe.

Wieder klappt die Haustür, wieder ist es nicht Therese.

Der Vater bringt seinen Kollegen, den Historiker Gatterer, mit, den seine Tochter Philippine begleitet. Das stadtbekannt gescheite, aber nicht hübsche Mädchen hat keine gleichaltrige Freundin und macht sich aus jungen Männern nichts. Viel lieber hat sie Caroline und Therese bei Spaziergängen und Handarbeiten um sich, und wer ihr nachsagt, sie sei ein wenig kindlich zurückgeblieben, weiß nicht, dass sie Gedichte schreibt und daran denkt, sie bei Dieterich drucken zu lassen. Sie zeigt ihr weit vorfahrendes Wurzelnäschen, während sie, die Röcke ausbreitend, Platz nimmt, grüßend am Tisch herum, und ihr Lächeln macht das große Kinn noch größer. Sie trägt ein Geburtstagsgedicht vor, genießt den Beifall und hört, während die Kinder spielen gehen, unabkömmlich mit Caroline den Vätern zu. Bei der Obrigkeit in Hannover wisse die eine Hand nicht, was die andere tue, weil der Landesherr, der Kurfürst, viel lieber König von England sei und nur prätentiöse junge Adlige nach Göttingen schicke, um die Professoren zu ärgern. Was denn zu halten sei von Johann Kaspar Lavaters „Physiognomischen Fragmenten zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe“, von der ein erster Band erschienen. Ob sie nicht Misstrauen und Vorurteil nähren, Unschuldige zu Verbrechern stempeln und Lumpen Komplimente machen, so dass sie das Gegenteil von dem bewirken, was sie zu befördern vorgeben. Alle Welt lasse sich die Silhouette schneiden, um sie entweder verschämt in der Schublade verschwinden zu lassen oder aufdringlich herumzuzeigen und zu verschenken. Philippine Gatterer weiß von einem neuen Roman Christoph Martin Wielands, von den Abderiten handelnd, sprichwörtlichen Tölpeln, deren auch in Göttingen nicht wenige herumliefen; vielleicht dürfe sich jede deutsche Stadt in Abdera wiedererkennen. Christoph Friedrich Nicolai, bemerkt Vater Michaelis, bringe einen sehr aufgeklärten Roman über einen von der Orthodoxie verfolgten Geistlichen heraus, mit Namen Sebaldus Nothanker. Goethe wolle nach Weimar gehen. „Er hat den Herzog erhört“, sagt Gatterer. – „Oder eine schöne Frau ihn“, entgegnet Michaelis und lacht mit kratziger Stimme. Das Pfänderspiel, das er vorschlägt, kommt nicht in Gang.

Fritz unterhält sich am Zaun mit Franz, dem Ältesten der Böhmerschar, der, gleichfalls angehender Medikus, aber ein Jahr weiter, mit ihm aus dem Kolleg gekommen ist, über chirurgische Dinge, fährt Caroline, die sich hinzugesellt, sanft übers Haar und sagt, sie brauche sich nicht zu genieren. Einen Menschen aufschneiden und wieder zunähen könne ihm das Leben retten. Sie wendet sich ab.

Im Garten steht Therese Heyne, den Arm voll Blumen, ein Päckchen mit Schleife obenauf, vermutlich ein Buch. Ja, Vater wollte sie nicht lassen, aber sie hat ihren Kopf durchgesetzt. Caroline, starr vom Warten, lässt sich umarmen, erwärmen, führt sie herum, weil Therese gut knicksen kann, das macht Stimmung für sie. Dabei erscheint ihr Professor Heynes lauernder Einsiedlerblick: Ich weiß, was für eine du bist, bei so einem Vater. Ich weiß, was für eine du wirst. Den Blick wird sie nicht los, seit sie einmal arglos aus ihres Vaters Zotologie zitiert hat. Auch der Geheime Justizrat Böhmer mag Professor Michaelis nicht sonderlich. Aber seine Kinder dürfen herüber, sooft sie wollen. Müssen denn kritische Nachbarschaften auch die Kinder entzweien?

Philippine bittet Therese, ein Gedicht aufzusagen. Sogar lateinische und griechische Verse lernt das Mädchen unglaublich schnell. Carolines Freude trübt sich: Auch sie wird Philippine auffordern, und sie wird es nicht so gut machen. Vater Heyne nennt sein gelehriges Äffchen in Ermangelung eines Sohnes sein „Ruschelhänschen“. Therese ziert sich nicht. Wie sie sich zurechtstellt und wartet, bis alle zuhören. Sie weiß, schon ihre melodiöse Stimme gefällt.

„Des Waldes Tiere sind dem Löwen untertan;

Der Eber schäumt und droht mit groß gewachsnem Zahn

Des Jägers stark gewordnen Gliedern:

Ich bin ein schwaches Weib und wehre mich mit Liedern.“

Das hat Philippine ihr ausgesucht! denkt Caroline. Denken die beiden bei dem Löwen und dem Eber etwa an unsere Väter? Abscheulich. Dann wäre Therese besser nicht gekommen. Caroline ist verstimmt, und ihr erscheint wieder der Hund, der den Geburtstagskuchen auffrisst. Hat sie sich zu heftig, zu trotzig auf Therese gefreut? Hat sie zu lange warten müssen, zu tief gezweifelt?

Die Verse sollen von der Karschin in Berlin sein, der berühmten Dichterin.

„Dem Vorbild aller Weiber, die mit Literatur glänzen möchten, weil sie sonst über keine Reize verfügen“, sagt die Mutter kalt.

Philippine Gatterer, in ihrer Erklärung unterbrochen, blickt erstaunt, macht aber keine Miene, die Bosheit auf sich zu beziehen, und bleibt sitzen. Caroline schaut sie dankbar an. Philippine ist in allen Journalen belesen und kennt jede neue Bucherscheinung. Und was Therese schon verschlungen hat. Caroline beschließt, in Gotha noch mehr zu lesen. Aber sie hofft auch, dort neue Freundinnen zu finden.

Die gescheiten Windbeutel

Zwölf Kinder machen gesellig. Mutter Böhmerin und ihr Gatte, der Geheime Justizrat, laden an manchem Sonnabend zu einem Ball ein und achten leidlich darauf, dass sich Paare für den Tanz fügen, zu dem Studenten aufspielen, Mitglieder des „Collegium musicum“ der Georgia Augusta, geleitet von dem Universitätsmusikdirektor Johann Nicolaus Forkel.

Solange es hell ist und nicht zu kühl, der Frühling ist weit genug fortgeschritten, dass die Abende lang werden und mild bleiben, sitzt man im Garten. Nahe bei der geöffneten Flügeltür locken die Musiker mit Geigen, Oboe, Fagott zu Menuett und Gavotte auf die frischgewachsten Dielen des Böhmerschen Hörsaals, dessen geweißte Wände sonst von der verschrienen „Pandektenseligkeit“ des Juristen, von den Satzungen des kanonischen Rechts, des Kirchenrechts, des römischen Rechts und ihren Erläuterungen widerhallen. Es geht familiär zu. Zwei Elternpaare lassen ihre Söhne und Töchter wie im Spiel einander den Hof machen, damit sie Manieren lernen. Auch gute Freunde sind zugelassen. Aus dem Spiel kann, wenn es sich ergibt, auch Ernst werden. Der elfjährige Philipp Michaelis und das neunjährige Dortchen Schlözer bemühen sich noch mehr um ihre Füßchen als umeinander. Aber Meta Wedekind, noch keine vierzehn, und der Musikdirektor machen einander Augen. Überhaupt sind auf der Damenseite in seltener Vollzähligkeit die unzertrennlichen Professorentöchter beieinander, die Göttingen als „Universitätsmamsellen“ kennt, unzertrennlich und doch oft getrennt durch Internatsjahre, Reisen, elterliche Gegnerschaft, eigenen Zank.

Philippine Gatterer, die Älteste, geht am Arm ihres Verlobten, eines Beamten aus Kassel. Ihr erstes Gedichtbüchlein ist seit gut einem halben Jahr unter den Leuten. Nicht jeder findet das schicklich, doch ihr Verlöbnis nahm keinen Schaden. Aus dem Wurzelnäschen ist eine Wurzelnase geworden. Die Tanzerei wirft auf ihr Lächeln den Schatten einer unerfreulichen, aber notwendigen Mühe.

Therese Heyne und ihre Schwester Marianne verdrehen angestrengt ihre Augen, als wünschten sie sich größere, um jedem Herrn, mit dem eine Figur sie zusammenbringt, den Kopf zu verdrehen. Das haben die mageren, kaum sechzehnjährigen Hühnchen der Sängerin Mara abgesehen, die im Vorjahr zwei Konzertabende in Göttingen gab. Nur Charlotte Böhmer, an die Caroline sich hält, wenn Therese sie ärgert, bewegt sich, sie ist ja zu Hause, natürlich.

Caroline wünscht sich, ebenso natürlich zu wirken. Aber etwas nachtun, um zu imponieren, ist nicht mehr natürlich. Wem auch imponieren, da der, den sie still ihren Auserwählten nennt, nicht dabei ist, da die Eltern, die ihn nicht präsentabel finden, ihr den Menschen auszureden versuchen. Sie langweilt sich und genießt es, das Gehabe der Feindinnen, mit denen sie befreundet ist, zu durchschauen. Sie hat allen etwas voraus. Ein heimliches Treffen ist eingefädelt; man wird es nicht bemerken, wenn sie ein Weilchen fehlt.

Ihr langes braunes Haar ist jetzt straff aus der Stirn zurückgenommen. Das Toupet verlängert ihren rundlichen Kopf nach hinten. Wenn Mutter sie tadelt, sie schaue zu oft in den Spiegel, erwidert sie, ein ordentliches Frauenzimmer müsse auf sich achten. Sie betrachtet sich ohne Nachsicht, auch wenn sie den zweiten Spiegel hinzunimmt, um ihr Profil zu sehen, die hochgewölbte Stirn, die leider zu flache Nase, das Mündchen. Männer mögen dickere Lippen, breitere Münder, auch wenn sie es nicht zugeben. Bruder Fritz, nun Doktor der Medizin, hat es ihr verraten, ohne zu ahnen, dass sie danach zweifelt, ob sie so küssen könne, wie es Männern gefällt. Thereses Lippen sind voller.

Sie achtet auch auf ihren Gang. Er soll nicht schlaksig sein, wie man es Marianne Heyne nachsagt. Und das gezierte Kopfwerfen versagt sie sich. Die Locken, die dazugehören, enthält ihr die Frisur, von der Mutter befohlen, ohnehin vor. Therese aber darf sich diese verführerischen Schläfenkringel drehen. Da sag einer, eine Stiefmutter sei böse. Und dieses übertriebene Zucken und Schütteln der Schultern beim Lachen. Albern. Hübsche neue Kleider sind nicht zu verachten. Sie lenken die Blicke auf das, was man ist, und wären es nur die der befreundeten Feindinnen. Denn Freundinnen, gibt es die? Man kann niemandem alles sagen. Sich selbst darf man nichts verschweigen. Sonst bleibt man dumm und tollpatschig. Sogar Mutter verstellt sich. Das gehorsame Eheweib, die fürsorgliche Mutter will nicht immer nur Vater gefallen haben: „Französische Offiziere machten mir den Hof, als ich schon mit dir schwanger ging.“ Erfolgreich verstellt sich nur, wer seine Eitelkeit bezähmt und sich nicht über sich selber täuscht. Man müsse sich selbst erkennen, sagen die alten Griechen. Caroline seufzt: Wir Weiber nasführen uns immer selbst, wenn wir uns erkennen wollen.

Philippine hat gut Männer ignorieren, sie ist unter der Haube. Ist man unter der Haube, kann es einem gleich sein, ob man eine Wurzelnase hat oder ein flaches, spitzes Näschen, das keck genannt wird. Wer der Männerwelt nie gefallen hat, nennt alle Männer fade. Kann eine Wurzelnase von ihrem Gatten Treue erwarten? Wenn sie das Dichten nicht lässt, wird sie es nicht leicht haben mit ihrem Beamten. Nur keine gehässige Nachrede! Die Mèdisance sieht das glänzende Los. Aber es ist noch gar nicht ganz aufgerollt.

Diese Männerwelt verdient ja auch kaum Beachtung. Weshalb finden sich diese dummen, eitlen Laffen unwiderstehlich? Nichts als Flausen unterm Haarbeutel, faul, versoffen, korrupt, ohne Achtung fürs weibliche Geschlecht. Die Fleißigen, die etwas werden wollen und sich pflegen, sind wählerisch. Höfliche Tändeleien, anspruchsvoll im Nehmen, voller Ausflüchte im Geben, außer wenn es nichts kostet, und die Gescheiten sind allenfalls gescheite Windbeutel.

Bei dem armen, gewitzten Blumenbach hat Caroline im Italienischen raschere Fortschritte gemacht als im Englischen und Französischen. Sie ließ sich ermuntern, vor Jahresfrist, ein Stück von Goldoni zu übersetzen, gewissermaßen unter seiner Aufsicht, und auf dem Papier kam seine korrigierende Hand der ihren oft recht nahe, Berührungen waren unvermeidlich. Ihm ihre Hand zu überlassen, fand sie noch angenehm und unverfänglich; als er ihren Handrücken küsste, hat sie ihm groß ins Gesicht gesehen, das zu leiden schien. Ohne Empörung, mit einem Ausdruck des Mitleids fast, hat sie sich gewehrt. In der nächsten Stunde blieb er ganz kalt, bis sie ihm ihre Hand aufdrängte. Das Grinsen, mit dem er jeden Finger einzeln abküsste, war ihr nicht geheuer. Als sein Mund näher kam, musste sie tun, was sie spielerisch mit Therese durchprobiert hatte: Lärvchen abwenden, aufspringen, sich entrüsten. Aber es lief nicht wie eingeübt, sein Mund fand ihren Hals, der spürte seine Lippen, wurde heiß und unbeweglich, seine großen Hände hielten ihre Schultern, glitten ihr unter die Achseln. Ein kaltes Zucken entriss sie wie von selbst seinen Fingern. Sie hatte sich schon verloren geglaubt, ohne recht zu wissen, was das sei. Doch der Magister, der die Theologie längst verabschiedet und sich naturkundlichen Fächern zugewandt hatte, der, seit er des emeritierten Professors Büttner Naturalienkabinett ordnete und daneben eine Kammer bewohnte, auf eine Professur zu hoffen wagte, Magister Blumenbach war eher an der Flügeltür als die flüchtende Caroline und keuchte krebsrot: „Kätzchen, wolltest du baden, ohne nass zu werden?“

Seither hat sie diesen Wurm im Herzen, den sich krümmenden, ringelnden, schlängelnden, den nagenden Wurm, der sich regt, sobald ein Mann ihr nicht unbefangen gegenübertritt. Sie will immer nur wissen, wie sie auf Männer wirkt, erfahren, auf wen sie Eindruck macht, denn das ist wichtig für ihre Zukunft. Aber nun ahnt sie auch: Was solch ein Mann mit ihr machen möchte, ist betörend süß. Und das darf sie nicht zulassen.

Sie kam an Blumenbach noch vorbei; aber es war schon zu viel, um es der Mutter zu sagen. Den Vater bat sie, die Italienischstunden zu beenden; ihre Kenntnisse rechtfertigten das. Nur eins fürchtet sie noch: dass er unter Freunden herumerzählt, was sie mit sich machen ließ, und einiges dazutut. Wenn sie durch Göttingen geht, argwöhnt sie wissende Blicke, spöttische, verächtliche. Wenn sie Therese glaubt, ist sie schon ganz unmöglich: Denkst du, dich nimmt noch einer, wenn dich ein anderer gehabt hat? – Was ist das: gehabt hat? – Man ist eben entehrt und unwürdig. Die Ehre hin, die Ehe hin. – Und seine Ehre? – Bei einem Mädchen lässt sich nachprüfen, ob es unbescholten ist, bei einem Mann denkt niemand daran, Männer dürfen eben mehr. Therese, obschon ein Jahr jünger, weiß mehr über geheime Weibersachen. Warum bleibt ihr nur diese vertraute Feindin, um darüber zu sprechen? Und dann sagt Therese nicht einmal alles, um noch etwas vorauszubehalten. Das Blut im Bett, von dem sie in Gotha überrascht wurde, musste ihr die Pensionatsmutter Schläger erklären. Von der eigenen Mutter kein Wort, und Therese hatte längst alles gewusst. Vater sagt noch immer Anzügliches über Thereses verstorbene Mutter, doch ein selbstdenkendes Frauenzimmer wird ihm nichts nachplappern. Hätte sie nur nicht immer Thereses anzügliches Geschwätz in den Ohren. Göttingen runzelte die Stirnen, und wer davon sprach, tat es mit einem Räuspern, als der bucklige Lichtenberg das zwölfjährige Blumenmädchen Maria Dorothea Stechard in sein Haus nahm. Therese sagte in ihrer Kammer hochnäsig schmunzelnd zu Caroline: „Du denkst doch nicht etwa, er will eine Philosophin aus ihr machen? Er macht mit ihr das und das.“ Gern hätte Caroline gefragt, was das und das sei, aber lieber gab sie vor, es längst zu wissen. Inzwischen weiß sie es von der Mutter, konnte es aus Umschreibungen mit abgewandtem Gesicht, als wäre der Ofen zu belehren, zusammenreimen. In ihrer Erregung hat sie kaum zuhören können, und ihr ist, als hätte sie das Wichtigste gleich wieder vergessen.

Ob Therese daran denkt, wenn sie jetzt Meyer anschielt bei der Figur, die sie im Tanz einander zuführt zu Verbeugung, Knicks, Drehung? Meyer in seinem Zebrarock, der ihm so steht, ist oft mit ihr gesehen worden, auf dem Wall, im Garten, ein langer, stattlicher Mann, weit gereist und selbstbewusst, gesellig, belesen, reich an Kenntnissen, überall gern gesehen als unterhaltsamer Causeur, wohl der gescheiteste unter den Windbeuteln und ein Dichter dazu. Als Jurist absolviert er sein Praktikum bei Pütter, in dessen Salon Konzerte gegeben werden, und immer hat Therese einen Platz in der ersten Reihe. Wahrhaftig, der Theseus, den Meyer in Bendas „Ariadne auf Naxos“ sang, wirkte hinreißend in seinem blinkenden Brustharnisch. Nur sollte Therese sich vor einem wackelnden Helmbusch hüten, heiße er nun Theseus oder Friedrich Wilhelm Ludwig Meyer, der aus dem rauen, treuherzigen Norden kommt, wo man mit verhaltener Polterstimme „übern spitzen Stein stolpert“. Vielleicht lässt er sich von Ariadnes rotem Faden durch die Labyrinthe der Göttinger Universität geleiten, um sie, hat er seine Ziele erreicht, gleich zu vergessen? Therese sollte sich ihm nicht so anbieten! Sie sollte Gott fürchten! O gäbe es ihn, man wüsste, woran man sich halten kann, hätte verlässliche Urteile über andere, über sich selbst.

Die Kopfverdreher lauern überall. Lotte mit ihren dreizehn Jahren, Caroline sieht sie in unbeweglicher Melancholie bei der Mutter sitzen, verwindet es nicht, dass ihr Pedro auf Böhmers Ball nicht zugelassen ist. Welcher Wind hat auch den Portugiesen aus Lissabon hergeweht, den Kaufmannssohn mit deutschen Verwandten, die ihn an Professor Michaelis empfahlen. Kaum hatte Blumenbach die Kammer überm Leinekanal geräumt, bezog sie Pedro Hockel, der sich auch Hocquel zu schreiben beliebt, weil ihm die deutsche Abkunft weniger bedeutet als der Verkehr mit englischen und französischen Gecken. Er hat Geld, ist hübsch und verschlagen und kann gute Manieren heucheln. Das genügt, dass Lottchen, kaum von den Puppen weg, ihm an den Hals fliegt; und er lässt sich genüsslich um den Bart gehen. Die kleine Lügnerin belügt sich selbst, wenn sie dem pomadisierten Südländer ernste Absichten zutraut. Wer sich mit ernsten Absichten trägt, hält es für schicklich, zu warten, bis aus dem Kind ein Mädchen geworden ist, mit dem man sich verloben kann, ohne dass alle Welt die Stirn runzelt und sich räuspert wie über Lichtenberg und die Stechard, lässt sich nicht dabei erwischen, wie er das frühreife Ding hinter einen Vorhang zieht, lässt sich nicht Briefe schreiben von der Art, wie Caroline einen in seiner Rocktasche fand: „Ich bin mit Leib und Seele Dein!“ Das im Kommers beim „Generaldampf“ herumgezeigt, und die Familie Michaelis ist hinten runter. Blumenbach würde nicht nur Pfeifenqualm beisteuern.

Caroline, aus dem Tanz entlassen, fühlt sich von ihrer Verantwortung für den Ruf der Michaelistöchter peinlich berührt. Täuscht nicht auch sie sich bei ihrem „Auserwählten“, der, da es dämmert, schon zwischen Papendiek und Petersilienstraße hin und her geht? Hört sie auf Mutter, die ihr die jüngeren Geschwister schamlos vorzieht, darf sie keinem Mannsbild trauen. Doch was kann ihr Vater über Männer sagen? Er will ein gelehrtes Frauenzimmer aus ihr machen. Richardsons Romane hat sie gelesen und Johann Martin Millers „Siegwart“. Von Christoph Friedrich Nicolais „Leben und Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker“ liest sie schon den dritten Band. Doch Goethes „Werther“, ein schmales Buch, das sich so mühelos und mit viel schöner Empfindung las, nennt er unzüchtig.

Jeder glaubt ihm, dass er viel weiß, nur wenn er schwadroniert, ziehen manche Gäste ein Gesicht, als gönnten sie ihm sein Wissen so wenig wie seine Titel. Er merkt nie, wenn er lästig wird, und hinter seinem Rücken nennen ihn die Studenten den „Erzengel“, den „Araber“. Und „Ritter Michaelis“ klingt wie Hohn. Er hört sich selber zu gern reden und lässt den andern nur das Wort, um besserwisserisch zu widersprechen oder noch eins draufzusetzen. Über seiner Geburtstagstorte letzten Februar meinte sein Kollege Schlözer, die Aufklärung bringe es mit sich, dass wir den glücklichen Zeiten immer näher kommen, wo hochgelahrt und gemeinnützig reine Synonyme werden. Vater, als hätte er die Huldigung des Jüngeren, der sein Schüler gewesen, nicht verstanden, belehrte ihn, wer in einem Zeitalter der Aufklärung lebe, sei gleichwohl noch nicht aufgeklärt, sondern bemühe sich lediglich darum, es zu werden, und der gemeine Nutzen einer Gelehrsamkeit könne nicht alsobald erkannt werden, dass man gleich von ihm aus urteilen dürfe. Er sei überhaupt nicht bloß Bibelkenner, bringe nicht nur Licht in jüdische Altertümer, sondern trage auch zur Philosophie etwas bei, so gut wie Lichtenberg, so gut wie Heyne. Ebenso redet er nun auf seinen Gastgeber ein. Weil Böhmer friedfertig ist und nicht widerspricht, fühlt Vater sich von dem Justizrat verehrt, hält ihm einen Vortrag über preußisches Festungswesen. „Wer von der Fortifikation nichts versteht, kann Europa nicht politisch kennen.“ Böhmer nickt missmutig. Er mag die Preußen und den Alten Fritzen nicht.

Caroline bleibt trotzdem in der Pfeifenqualmwolke des Debattiertisches. Neben ihrem großen Halbbruder ist ein Platz frei. Vaters Gescheitheit fehlt die Anmut der jungen Windbeutel. Fritz ist gescheit und jung und doch fern aller Windbeutelei. Sie will nichts sagen, und niemand erwartet es. Aber um die junge Dame, der Eigensinn und eine gewisse Wildheit nachgesagt werden, entsteht eine kurze Stille. Franz, der älteste der Böhmersöhne, bezieht ihr verlegenes Lächeln – eine Frauensperson hat sich zurückzuhalten – auf sich. Fritz empfiehlt ihr seinen Freund unverblümt, und er macht sich Hoffnungen. Das Glas Bowle, um das sie Fritz bittet, holt ihr Franz. Der Wurm im Herzen bleibt still, wenn der Doktor der Medizin für sie aufsteht. Es beschämt sie sogar.

Fritz ist noch kein Jahr aus England zurück. Vater rügt, dass er die englischen Manieren zu weit treibt. Diese Allüren nenne man Anglomanie. „Wir Deutschen mit unserem unselbstständigen Geschmack haben uns in Sonderheit davor zu hüten.“ Ein bisschen fürchtet Vater auch, sein Ältester könne den Debattiertisch an sich reißen. Fritz ändert den Ton, gibt aber das Wort nicht ab. Er würde ganz gern nach Amerika gehen. Die Hessen werben um ihn. Wenn ein neuer Trupp Landeskinder für den Krieg in den Kolonien beisammen ist, nähme man ihn als Medikus mit. Ein paar Jährchen nahe bei den Wilden, und er wäre versorgt auf Lebenszeit. Wer versorgt ist, kann heiraten.

Nun kommen die Kontretänze. Caroline entfernt sich mit einem höflichen Lächeln, das jede Frage abweist, wohin sie wolle. Im Garten tritt ihr eine Gestalt entgegen, an der alles lang ist, Beine, Arme, Kinn, Nase, lang und windig: Wilhelm Meyer. Vor ihm fühlt sie sich viel zu klein. Er nimmt Mädchen gern beim Kinn und sagt ihnen etwas Lustiges. Versucht man ihn in ein Thema zu verwickeln, zieht er ein Gesicht. Davon ist jetzt nichts zu sehen. Neben seiner Stirn steht der abnehmende Mond. Nicht weit wartet Therese. Wenn sie sich jetzt gezankt hätten und in der Petersilienstraße wäre nicht der andere, was für eine Gelegenheit, der befreundeten Feindin eins auszuwischen. Aber ein gescheiter Windbeutel dächte nur: Ziert sich die eine Universitätsmamsell, will mich die andere.

Caroline huscht durch den elterlichen Garten, ins elterliche Haus, findet die Schlüssel, tritt auf die leere Straße. Bei Heynes ist Licht. Zu gegebener Zeit wird die neue junge Frau des Professors seine Töchter vom Böhmerschen Ball abholen, eine Tochter von Hofrat Brandes, der die Universität bei der Obrigkeit in Hannover vertritt. Mag es dem Vater nachgeplappert sein: Der Heyne weiß, wen man heiratet, wenn man noch einmal kann. Der Blumenbach eben traf gleich die richtige Wahl, nahm kürzlich die andere Brandes, wurde unverzüglich Professor. Nun ist er Thereses Onkel.

Schlenderschritt, nicht eilig mit den Hacken trappeln, auch wenn das Herz hüpft. Die erleuchteten Fenster kommen ihr vor wie Heynes bohrender Einsiedlerblick: Ich weiß, was für eine du bist!

Da wartet „er“, Wilhelm Link, Jurist, aus Heidelberg vor zwei Jahren nach Göttingen gekommen. Ihr zuliebe trägt er Werthertracht, blauen Rock und gelbe Weste. Sie hat ein Fantasiebildnis des edlen Verzichtenden in ihrem Zimmer hängen, von dem sich Link gern erzählen ließ, immer den Abschnitt, den sie gerade gelesen hatte. Verlangen, das Buch selbst zu lesen, äußert er nie, und sie will es ihm nicht aufdrängen; es ist ihr schon nicht mehr geheuer, wie bedeutungsvoll er immer nickt, wie tief er sich in die Rolle des Schmachtenden versenkt. Er braucht doch nicht zu entsagen, Caroline ist ja frei, und keine Standesschranken senken sich zwischen ihre Liebe! Ein Wort von ihm, und sie sagt alles ihren Eltern!

Er tritt in den Schatten zurück, den der noch fast volle Mond in die Gasse wirft, nimmt sie in seine Arme. Bei ihm regt sich der Wurm in ihrem Herzen, und ein Kribbeln weitet sich aus bis in ihre Handflächen. Welches Mädchen wünschte sich nicht Lottens Rolle. Aber ist er einer, der sich eines Mädchens wegen erschießt? Der Anstand, mit dem er schmachtet, hat auch etwas Berechnendes. Fern von mir sei jede romanhafte Idee. Sie ist nicht so romanhaft, zu sagen, dass sie nie einen anderen heiraten wolle. Man müsste ihn noch empfindlicher schmachten lassen, vielleicht erklärt er sich dann. Er hat was, sagt er, gegen Empfindelei. Er kann sich nicht wie andere in poetischen Schwung werfen. Bei einer unverhofften Begegnung auf dem Ball im langen, schmalen Saal des Concilienhauses, wo Flüchten schwierig war, erschrak er geradezu vor ihr, geriet ins Stammeln, zitterte. Da verbot sich ein liebes Wort, und auf ein Kompliment war er nicht vorbereitet. Doch nun, allein …

Sie küsst ihn unbefangen und tapfer zurück. Sie will wissen, ob ihr Mund ihm gefällt. Sie genießt es, zu gefallen, mehr nicht. Sie ist fünfzehn. Er küsst sie lange auf den Mund. Wird er danach von der Verlobung sprechen? Eine Galanteriekrankheit hat er wohl nicht. Woher weiß Therese, das kleine Miststück, so viel darüber? Man ist dumm und bleibt dumm, wenn man alles, was man liest, die Eltern sehen lässt. Therese ist wie ihr Vater: Alle sind dumm oder sittenlos oder hässlich oder falsch, nur ich nicht. Die lasterhaften Damen in Samuel Richardsons Romanen wissen mehr, als dasteht, man spürt es. Aber man erfährt nur, dass man ihr Treiben verdammen muss. Wie es aussieht, darüber schweigt sich der Verfasser aus wie auch der Vater, der einem die Bücher hinlegt, die Geschichte der Clarissa in eigener Übersetzung.

Mutters Eifer, sie unter die Haube zu bringen, ist ihr lästig. Aber Verlobte dürfen mehr. Wenn Link in aller Form fragte – warum nicht mit fünfzehn? Wäre es für Lotte nicht gar zu früh, Mutter würde sogar den Portugiesen dulden, das hat sie angedeutet.

Link nimmt ihren Arm, geht mit ihr durch die Petersilienstraße auf die Levenau und über die Wiesen an der Kuhleine. Er greift das Thema Verlobung wie erwartet auf, als Ziel. Heimlich will er nicht. Da wäre Blumenbach vielleicht nicht zimperlich gewesen. Aber das spricht für Links Ehrlichkeit. Denn da Verlobte mehr dürfen, wäre Heimlichkeit nicht gut für sie, das Weib. Aber Link, obgleich er weder Vater noch Mutter hat, ist nicht Herr seiner Entschlüsse. Ein Vormund könne tyrannischer sein als ein Vater. Sein Oheim, der das bisschen Habe des Wilhelm Link verwaltet, wolle, dass er ledig bleibe. Ein Mann muss eine Frau versorgen können.

„Ich kann vorerst nicht einmal mich selbst versorgen.“

Nur wer versorgt ist, kann heiraten. Ist man mit einer Michaelistochter nicht gut versorgt? Auch der Blumenbach hat sich besser versorgt. Link ist ehrlich und gut. Aber er will hoch hinaus.

Sie kehren um. Sie machen einen Bogen um die Reihe betrunkener Studenten, die vor dem Haus, wo ein schlecht beleumundetes Frauenzimmer wohnt, unter misstönendem Gepfeif „Generalstallung“ abhalten. Sie „stallen“ wie die Hengste: pissen an die Wand, in die Haustür.

Caroline hofft, dass sie auf Gott vertrauen kann. Eine Leidenschaft kann man sich auch einreden. Also muss man sie sich ausreden. Die Zeit schwächt sein Andenken in meiner Seele, und es beunruhigt mich immer weniger. Sie kehrt zu ihren Büchern zurück, nicht auf den Ball bei Böhmers. Einer Frau kann unwohl werden, wann sie will. Das ist ihre Freiheit. In Millers „Siegwart“ findet man unglückliche Liebe breit ausgewalzt mit wechselnden Paaren. Man geht am Ende in ein Kloster und stirbt an Herzeleid. In Romanen liest sich das gut, auch wenn man allem Katholischen abhold ist. Im wirklichen Leben ist man aufgeklärt und fügt sich ins Unabänderliche. Auch Treue ist etwas Unabänderliches. Gern ließe sie sich wie der Elfenkönig Oberon in Wielands Versepos und wie Titania davon überzeugen. Liebe und Treue müssen zusammenfinden. Denkt sie an Vater, erscheint ihr Aufklärung wie griesgrämige Zweifelsucht. Es muss doch auch Glauben geben und Gefühl. Wer die hat, ist auch gut versorgt.

Sie liest nicht lange. Bücher ersetzen ihr keine Menschen. Sie setzt sich an ihr Tischchen, legt die Feder zur Tinte, schneidet Papier auf, schreibt Briefe nach Gotha. Dort hatte sie Vertraute, die nicht Feindinnen waren, Luise Stieler und Julie von Studnitz, beide von Stand und doch bescheiden, keine Universitätsmamsellen, eines Bürgermeisters und Hofrats Tochter die eine, eines herzoglichen Kanzlers Tochter die andere. Doch die Bescheidenheit der beiden – Caroline hält im Schreiben inne – hieß auch: Komm nicht zu nah heran! Therese darf sie nicht alles sagen; die beiden wollten nie alles wissen. Erst die Entfernung macht sie zu Freundinnen.

Sie liest weiter, um Therese zu verstehen, Link, sich selber.

Mit sich selbst hat sie Umgang fürs ganze Leben.

Männer fordern Opfer

„Nimm dieses Tuch, Mädchen. Ich schenke es dir. Es ist von der Art, welche die Frauen des Königs von Otaheiti tragen.“

Der Gast hat ein breites, doch auch hohes Gesicht mit großen hellen Augen, die seinem Blick viel Offenheit geben. Es ist ein Gesicht, geschaffen für Heiterkeit, immer auf Neues aus.

„Caroline heißt du? Wie vertraut das meinen Ohren klingt! Ich lehre Naturkunde am Collegium Carolinum in Kassel!“

Es dunkelt. Spärlicher rattern draußen die Kutschen.

„Frauen?“, fragt Caroline. „Wie viele besitzt dieser König?“

„Ich habe sie nicht gezählt. Ich habe nicht einmal alle sehen dürfen“, antwortet George Forster.

„Wie sieht der König von Otaheiti aus?“

„Etwa wie ein Mischling aus Neger und Chinese.“

„Das stelle ich mir nicht hübsch vor. Und seine Frauen?“

„Ich bin nicht sicher, ob er uns hübsch findet, dich und mich und alle Europäer. Die Insulaner bekamen keine Weißen je zu Gesicht, bevor Bougainville und dann Kapitän Cook seinen Palmenstrand betraten. Als göttliche Wesen sahen sie uns an, aber kaum aus Liebe zu unserer hellen Haut, sondern eher aus Angst vor unseren für ihre Begriffe riesigen Schiffen – die ‚Resolution’ und die ‚Adventure’ – und vor dem Knall unserer Büchsen.“

George Forster, der sich noch daran gewöhnen muss, dass man ihn in Deutschland Georg nennt, nimmt an der Tafel Platz, und nun setzen sich auch die Gastgeber, das Ehepaar Michaelis und seine Kinder. Georg Christoph Lichtenberg, der den Gast, seinen langjährigen Freund aus der Londoner Zeit, ins Haus Vor der Mühlenpforte gebracht hat, sonst aber selten kommt, obwohl er wenige Schritte entfernt auf der Gotmarstraße wohnt, missgestaltet und gebrechlich, den guten Ton wenig achtend und immer zu Sarkasmen neigend, was ihn für Michaelis kaum erträglich macht, Lichtenberg sitzt schon, sei es, um sich nicht allzu lange vor den Frauenzimmern stehend zu zeigen, sei es, weil ihm Manieren nichts bedeuten.

„Überall auf unserem Erdball“, berichtet Forster, die Serviette entfaltend, „wohnen Menschenwesen, deren enge Verwandtschaft untereinander außer Zweifel steht. Mögen sie im Aussehen weit verschieden sein, nirgends sind sie, wie manche meinen, auf einer Stufe tierischer Natur zurückgeblieben. Es gibt auch auf der anderen Seite des Globus weder Riesen noch Zwerge noch Affenartige.“

Caroline hat mit Lottes und Luises Hilfe das otaheitische Tuch bewundernd ausgebreitet und sich von dem Gast zeigen lassen, in welchem Faltenwurf es zu tragen sei. Die Mutter meinte aber, ein ordentliches Kleid müsse daraus geschneidert werden. Forsters Miene drückte Bedauern aus, doch er sagte nichts. Forster hatte nur gewusst, im Haus Michaelis sind Töchter. Caroline bekam das Tuch als die Älteste; für die Hofrätin wäre es vielleicht kein schickliches Geschenk gewesen. Fast wird die Suppe kalt, während Forster spricht.

Den gänzlich naturkundlichen Zweck der beiden Reisen James Cooks rund um die Welt legt er dar, Fragen der Navigation erwähnend, Wassertemperaturen in noch ungemessenen Tiefen, Meeresströmungen, klimatische Beobachtungen, Studien zur eigenartig ähnlichen Tier- und Pflanzenwelt weit voneinander entfernter Inseln, die Beschaffenheit antarktischen Eises und tropischer Korallenriffe.

Lichtenberg nickt oft still; so sollen die „Mittelländer“ Göttingens einen Begriff von der Welt bekommen. Von der Londoner Reede brachte er ein von Cooks Schiff „Resolution“ geschnittenes Holzstück mit, und sechs Bouteillen Nordseewasser reichten gerade aus, die Kollegen, die das Meer nie gesehen hatten, es riechen und schmecken zu lassen. Seine Einwürfe rufen beim Gastgeber Zeichen des Unwillens hervor wie über ein Kind, das Erwachsene nicht ausreden lässt. Forster hingegen erzählt von seiner und seines Vaters Teilnahme an Cooks zweiter Weltumseglung ganz unaufgeblasen, erwähnt die seltsamsten Dinge beiläufig, besinnt sich, um Verzeihung bittend, auf Erklärungen. Die Rückkehr liegt fast vier Jahre zurück, die Abreise acht, doch seine Worte klingen, als wäre er gestern gelandet. Jahre, die andere angehende Gelehrte in Hörsälen und Bibliotheken versitzen, hat Forster in enger Kajüte, auf windigem Deck zwischen harten Seeleuten, strengen Offizieren zugebracht, in allen wichtigen Kenntnissen vom Vater unterwiesen, an seinen Forschungen teilnehmend, die Lebewesen ferner Eilande aquarellierend. Und so genau nun seine Nachrichten über Natur und Geografie der berührten Weltgegenden sind – Fritz und Philipp werden ins Arbeitskabinett geschickt und entrollen eine Karte mit beiden Hälften der Erdkugel –, so kundig der Gast in die weißen Flecken des Pazifik Inselwelten tippt, immer streben seine Worte den Menschen zu, die er angetroffen. Wenn er beschreibt, wie wenig der König von Otaheiti europäischen Monarchen zu vergleichen sei, und die natürliche Gleichheit des Inselvölkchens an Beispielen erhellt, aber auch ihr sorgloses Leben von der Hand in den Mund, das die verschmitzte und diebische Natur entschuldige, die in den im Übrigen schönen Herzen dieser nackten Südländer beim Anblick mancher europäischer Dinge erwacht sei, dann hört Caroline, die sich auf Sehnsucht versteht, heraus, dass sich der Weltreisende von den eigenen Worten aus der martialisch ertragenen Enge seiner Gegenwart erinnernd unter die geblähten Segel, in die durchsonnten Weiten des Stillen Ozeans, zu den wogendonnernden Riffen und immergrünen Palmenstränden entführen lässt. In der gleichmäßigen Wärme der weichen Inselluft, in ihrem immerwährenden Blütenfrühling, den sie schon zu riechen meint, unter dem Flöten und Schreien fremdartiger Vögel wäre das einfache Leben der Südseevölker leicht zu teilen. In dem Loch, das sie vorhin zwischen die Eisblumen des Januars gekratzt hat, erkennt sie, dass sich das Schneetreiben verdichtet. Die Wagen rattern nicht mehr.

Man speist. Der Handel verschlug bei der Winterkälte einen großen Seefisch bis Göttingen. Vater und Fritz haben wenigstens den Ärmelkanal überquert. Caroline ist nie gereist, außer nach Gotha. Felder, Wälder, Gehöfte im Kutschenfenster sahen nirgends anders aus als im Weichbild Göttingens bei einem Ausflug, wenn man „zu Dorfe“ stieg. Im Pensionat ist sie so gut wie eingesperrt gewesen. Auch Mutter kam kaum je aus Göttingen heraus. In den Straßen der Universitätsstadt kommt die halbe Welt zusammen, Briten, Dänen, Balten, Schweden, Russen, Polen, seltener Italiener und Franzosen. Das Fernweh wächst im umgekehrten Verhältnis zur Aussicht auf seine Befriedigung. Wie fade ist doch die Nachspeise aus Eingemachtem. Traurig nimmt sie die Träume vorweg, die sie in den Kissen ihres Alkovens zu finden hofft, während der Sturm ums Haus heult. Was hat sie zu erwarten? Gelehrte Assembleen, zu denen sie vom Vater mitgenommen wird wie die dichtende Philippine Gatterer, das siebengescheite Dortchen Schlözer, die naseweise Therese Heyne, um unter der Aufsicht gelehrter Gaukler das gelehrte Äffchen zu spielen, denn Bildung steht eigentlich allem, was eine Frau ihre Zukunft nennt, im Weg. Konzerte bei Pütter oder im Saal des Dieterichschen Hauses. Aus Musik macht sich Caroline aber nichts, es sei denn, sie kann danach tanzen. Bälle bei Böhmers oder in Graetzels Haus. Gutes Theater findet sie nur in Büchern. Göttingen ist dem Thespiskarren nicht hold, die Theologische Fakultät findet ihn voller Versuchungen zur Unzucht, zu geldfressendem Müßiggang und Verschwendung, also verwerflich. Geleitet vom Urteil des berüchtigten Pastors Goeze, dem Lessing so kühn wie wirkungslos die Stirn geboten, haben Dekan Leß und andere Professoren einschränkende Verfügungen unterschrieben. Für Vater ist das ein Beweis, wie langsam Aufklärung vorankomme, er meint sogar, wer nie im Leben gute Komödie gesehen, bleibe in jetziger Zeit ein sehr unvollkommener Mensch, wäre auch bereit, hätte er Einfluss genug, aus bemittelten Studenten eine Schauspielertruppe zusammenzustellen, und der lange Wilhelm Meyer würde sich sofort dafür ins Zeug legen, doch muss auch er der Zeit und der Geduld der anderen vertrauen. Will man die Abtsche Truppe sehen, muss man eine Stunde Weges ins hessische Bovenden zurücklegen, wo ein vergnügungshungriger Landesherr die Musen gewähren lässt, doch nur die leichteren und allzuleichten. Die „Agnes Bernauerin“ eines Grafen Törring, „Lanassa“, ein Trauerspiel des Berliners Plümicke, „Johann von Schwaben“ von Meißner haben einigen Ernst. Lessing, Goethe, Schiller, von denen die literarischen Journale Widersprüchliches und Aufregendes melden, bleiben Bettlektüre. Auf zweifelhaften Brettern macht sich in Göttingen windiges Gelichter die fromme Theaterflaute zunutze, Zauberkünstler, Jongleure, Taschenspieler. Der scharfblickende Lichtenberg hat einen jüngst entlarvt und zum Tor hinausjagen lassen. Eine wahrhaft aufklärerische Tat, meinte Professor Michaelis.

Der kann es nun nicht länger ertragen, wieder auf der Hörerbank zu sitzen. Er zündet seine Pfeife am Leuchter an, pafft, wartet sichtlich auf eine Pause Forsters. Es sei doch auch dies ein bemerkenswerter Zug der Aufklärung, die das Jahrhundert präge, die Ausweitung des Weltbildes, die Erkundung des Unbekannten, die Erschließung des Ungenutzten. „Wie Captain Cook die Wasserwüsten der Ozeane durchpflügt hat, so überwand in den sechziger Jahren auf meine Anregung hin mein Freund Karsten Niebuhr zu Lande die Sandwüsten des Orients. Hier saß er, Caroline, du warst kaum drei Jahre alt, und erzählte von den Katarakten des Nil, von den öden Ufern des Roten Meeres, von den Städten Jemens im tiefsten, unbekannten Arabien, wo man mit Lehm, nur mit Lehm die Häuser hoch wie Türme baut, von den Ruinen Ninives, Babylons und der alten Residenz Persepolis. Fünf seiner Gefährten fanden unterwegs den Tod.“

Doch was er an Vermessungen, Funden, sprachlichen und schriftlichen Altertümern dem dänischen König heimgebracht habe, beschäftige noch heute die Gelehrsamkeit von Akademien und Universitäten. Ob Georg Forster sich nicht mit dem Gedanken trage, seine Beobachtungen, Gedanken und Erkenntnisse schriftlich niederzulegen.

O ja, er sei dabei und werde seinen Bericht aus Respekt vor dem Vater, der auf eine Professur in Halle warte, „Johann Reinhold Forsters Reise um die Welt“ nennen.

Die Welt ist so weit, wie der Blick der Väter reicht. Caroline, aufgerufen, sich den Titel zu notieren, ist noch bemüht, zu fassen, was Männer von sich selbst verlangen. Cook habe von vierzig Lebensjahren zwanzig auf den Ozeanen zugebracht, in der Kargheit und den Gefahren des Seelebens. Vater hat, an Niebuhrs Reise durch den Orient erinnernd, Menschenleben gegen Schätze für die Wissenschaft abgewogen. Männer fordern Opfer.

Nicht anders meint es Forster, wenn er nun Cooks Charakter umreißt, wie er bei scheinbarer Bedrohung seiner Schiffe ruhig schlief und nicht eher an Deck kam, als seine Entscheidung erforderlich war, wie er bei anscheinend sicherer Fahrt früher als jeder andere die Gefahr witterte, sein hartes und gerechtes Regiment über das grobe Schiffsvolk, seinen zähen, unbeugsamen Willen. Vom hitzigen, despotischen Alten auf dem Quarterdeck ist auch die Rede, der bisweilen nicht schlechter tobt als ein enragierter Insulaner. Gegenwärtig, auf seiner dritten Reise, habe er keinen literarisch Gebildeten an Bord, der sein raues, aufbrausendes, im Umgang mit Untergebenen wie Eingeborenen oft störendes Temperament mäßige. „Die Wilden sehen bald, dass weiße Götter sterblich sind; dann scheuen sie sich nicht mehr, eine Misshelligkeit mit Waffen beizulegen. Das Schicksal seines Vorgängers Magellan könnte auch ihn ereilen.“

So sei, fragt Michaelis, das Wesen dieser Eingeborenen nicht so unschuldig, wie Rousseau wahrhaben wolle. Ob nicht naiv sei, was Rousseau zum Naturrecht meine. Man ist sich einig. „Weltfremd“, bestätigt der Weltreisende, und Lichtenberg merkt an, mit englischen Schiffen fände auch die Unersättlichkeit des Zeitalters zu den liebenswerten Naturkindern. Man habe in Amerika gesehen, was dann aus ihnen werde.

„Ich fürchte auch“, sagt Forster, „die zarten, anmutigen, zumeist friedfertigen und anhänglichen Geschöpfe werden aus ihrem Traum erwachen müssen. Der Bequemlichkeit wird die Fron, der Anspruchslosigkeit wird Mangel folgen. Es ist wie mit dem Erwachsenwerden unserer Kinder.“

Caroline schaut ihm erschrocken in den hellen, offenen Blick. So ist es also auch, wenn Mädchen Frauen werden?

Lichtenberg nimmt zweiflerisch die Hände auseinander. Mit der Erschließung des Ungenutzten habe es seine eigene Bewandtnis. „Was wird der Mensch nicht noch mit einer Magnetnadel, einer Harrisonschen Uhr und einer Ladung von saurem Kohl ausrichten? Mit Cook segelt nicht nur die Naturkunde um die Welt, nicht nur die Gelehrsamkeit, sondern auch der weltumspannende, weltauspumpende englische Geschäftssinn.“

Darüber wird bis in den Abend noch gesprochen. England ist für die Männer an der Tafel, und fast nur sie reden, ein unerschöpfliches Thema. Fritz kann mithalten. Auch dass Frauen schweigen müssen, obschon ihnen niemand das Wort verbietet, ist ein Opfer, das Männer fordern. Sie wüsste – was sonst hätten gelehrte Assembleen bewirkt – manches beizusteuern, weiß aber, dass es nicht zählt. Entweder stimmt es nicht ganz, oder sie wissen es schon, die Männer. Forster, dessen Vorfahren von Oliver Cromwell aus England vertrieben wurden, behält unausgesprochen den Vorsitz der Debatte. Lichtenberg erinnert sich lebhaft der schmauchenden und fauchenden, stampfenden und schnaubenden, ruckenden und spuckenden Dampfmaschinen englischer Kohlebergwerke. Rückständig, hört Caroline, sei nicht nur Göttingen, sondern ganz Deutschland, so zersplittert wie knechtisch. Es scheint ein Vorrecht der Männer, besonders aufgeklärter, darüber zu klagen. Wenn es einmal gelingen sollte, sich mit Hilfe der Vernunft aus beklagenswerten Zuständen zu reißen, so wird auch das, denn Frauen sind unvernünftig, Männersache sein.

Das alles beschäftigt sie Monate. Forster macht noch viele Besuche im gelehrten Göttingen. Ins Haus Michaelis kommt er nicht noch einmal. Caroline sieht ihn des Öfteren das Haus Heyne betreten, und an seinem Arm kommt ihre Freundin Therese heraus, und auch sie hat ein Tuch aus Otaheiti bekommen. Ohnehin sprechen sie kaum noch miteinander, machen sich keine Besuche mehr, gehen sich aus dem Weg. In der Entfernung kann die vertraute Feindin eine Freundin sein. Freundinnen hat man viele. Es gibt keinen Streit, keinen Wortwechsel, von dem her ein Bruch zu datieren wäre. Haben die Vorurteile der Väter die beiden entzweit? Forster will Caroline nicht in ihre Gefühle gegen Therese mischen. Sie hofft noch auf Link. In Forsters Gesicht hat sie etwas Fremdes, Unstetes erhascht, als fühle er sich durch die Nähe von Menschen schnell beengt, als hätte er Angst, festgesetzt, festgelegt zu werden. Außerhalb Deutschlands herangewachsen, muss er sich erst zurechtfinden. Therese, die in Carolines Augen weder hübsch noch gefühlvoll noch gebildet ist, hat ihn nur aus besserem Wissen um Liebesdinge und Frauengeheimnisse umgarnen können und wird ihn, hält er die Augen offen, verlieren. So offene Augen können sich nicht lange täuschen. Oder sind sie zu sehr ins Weite gerichtet und sehen die Nähe nicht? In Kassel, heißt es, gehöre Forster dem theosophisch-alchimistischen Geheimbund der Rosenkreuzer an. Lernt man dort, sich eines anderen Menschen mit magischen Kräften zu bemächtigen? Sonst, meint Caroline still bei Handarbeiten mit der Mutter, während des Unterrichts beim Vater oder seinen Amanuensen, hätte sie ihn längst vergessen müssen. Durch die Journale fliegt die Nachricht, Kapitän Cook sei im Februar 1779, kaum dass er die Hawaii-Inseln entdeckt hatte, beim Landgang in der Kealakekua-Bay von aufgebrachten Eingeborenen getötet worden. Das ist wenige Wochen nach Forsters sorgenvollen Worten gewesen. Schöpfte er sie aus dem Okkultismus der Rosenkreuzer? Männer haben andere Geheimnisse als Frauen, und je mehr, desto beharrlicher gehen die einem im Kopf herum. Die Schwester Lotte, die in Gotha lernt, wie sich eine Dame benimmt, schreibt Caroline, Luise Stieler sei dem Theaterdichter Gotter gut. Ob Luise das Geheimnis seiner Göttinger Jahre kennt, das Verhältnis mit Thereses Mutter?

Forster ist längst wieder in Kassel, da richtet Therese Heyne auf der Straße, man hat einander noch gegrüßt, wieder das Wort an Caroline: „Denk dir, die Schlözern reist mit ihrem Vater nach Süden.“

„Was! Ganz ohne weiblichen Schutz?“

„Nach Italien! Die Ärmste. Mit elf Jahren.“

„Männer fordern Opfer“, sagt Caroline. Welches wird Forster von Therese fordern? Sie schränkt ein: „Ich meine Väter.“

Therese brächte solch ein Opfer ohne Zögern. „Ich reiste auch gern nach Italien.“ Das findet Caroline, die ihre Reiselust mit Mühe bezähmt hat – zu Hause lebt man sicherer, bequemer, nutzbringender, das Reiseleben bringt Strapazen und Situationen, die sich für Mädchen so wenig schicken wie für Frauen –, doch verletzend deutlich. Sie hat sich selbst der Mutter nach dem Munde zugeredet. Ein selbstdenkendes Wesen plappert nichts nach.