Das Versprechen des Duke - Julie Garwood - E-Book

Das Versprechen des Duke E-Book

Julie Garwood

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine Liebesgeschichte voller Überraschungen ...

Verwaist und im Kloster aufgewachsen sieht Prinzessin Alesandra keinen anderen Ausweg, als einen Engländer zu heiraten, um den Unruhen in ihrem Heimatland zu entgehen. Ihr Vormund Colin Cainewood beobachtet zunächst amüsiert, wie die dunkelhaarige Schönheit die Londoner Gesellschaft im Sturm erobert. Doch als Alesandra beinahe entführt wird, erwacht sein Beschützerinstinkt, und er überredet sie zu einer Scheinehe. Aber dann entfacht Alesandras erster Kuss eine solche Leidenschaft in ihm, dass er jede Gefahr auf sich nimmt, um sie nie wieder zu verlieren ...

Dieser historische Liebesroman ist in einer früheren Ausgabe unter dem Titel "Erwachende Leidenschaft" erschienen.

eBooks von beHEARTBEAT - Herzklopfen garantiert.


Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 560

Veröffentlichungsjahr: 2021

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Cover

Titel der Autorin bei beHEARTBEAT

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

Titel der Autorin bei beHEARTBEAT

Schottische Hochzeit – Die Braut-Reihe

Die stolze Braut des Highlanders

Die Hochzeit des Highlanders

Die königlichen Spione – Regency Romance

Der Schwur des Marquis

Das Geheimnis des Gentleman

Das Versprechen des Duke

Romane (Einzeltitel)

Geliebter Barbar

Die Braut des Normannen

Melodie der Leidenschaft

Weitere Titel in Planung.

Über dieses Buch

Eine Liebesgeschichte voller Überraschungen ...

Verwaist und im Kloster aufgewachsen sieht Prinzessin Alesandra keinen anderen Ausweg, als einen Engländer zu heiraten, um den Unruhen in ihrem Heimatland zu entgehen. Ihr Vormund Colin Cainewood beobachtet zunächst amüsiert, wie die dunkelhaarige Schönheit die Londoner Gesellschaft im Sturm erobert. Doch als Alesandra beinahe entführt wird, erwacht sein Beschützerinstinkt, und er überredet sie zu einer Scheinehe. Aber dann entfacht Alesandras erster Kuss eine solche Leidenschaft in ihm, dass er jede Gefahr auf sich nimmt, um sie nie wieder zu verlieren ...

eBooks von beHEARTBEAT – Herzklopfen garantiert.

Über die Autorin

Julie Garwood (*1946 in Kansas City, Missouri) gilt als Grande Damen der historischen Liebesromane. Mit einer Gesamtauflage von über 40 Millionen Exemplaren weltweit und mehr als 15 New-York-Times-Bestsellern zählt sie zu den beliebtesten und erfolgreichsten Vertreterinnen ihres Genres.

Dabei kam sie erst nach einer Ausbildung als Krankenschwester zum Schreiben, als ihr jüngstes Kind eingeschult wurde. Seit Erscheinen ihres ersten Romans Mitte der Achtzigerjahre hat sie mehr als 30 Bücher veröffentlicht.

Garwoods Liebesgeschichten zeichnen sich durch sinnliche Leidenschaft aus, gepaart mit einem Augenzwinkern und historischer Detailtreue. Dabei ist sie im mittelalterlichen Schottland ebenso heimisch wie im England der Regentschaftszeit. Ihr Anspruch lautet: »Ich möchte meine Leserinnen zum Lachen und zum Weinen bringen und hoffe, dass sie sich verlieben.«

Die Autorin lebt in Leawood, Kansas. Sie ist verheiratet und hat drei Kinder.

Für weitere Informationen besuchen Sie Julie Garwoods Homepage unter: https://juliegarwood.com/.

Julie Garwood

Das Versprechen des Duke

Aus dem amerikanischen Englisch von Kerstin Winter

Digitale Erstausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:

Copyright © 1993 by Julie Garwood

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Castles«

Published by Arrangement with Julie Garwood.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Für diese Ausgabe:

Copyright © 1994/2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Titel der deutschsprachigen Erstausgabe: »Erwachende Leidenschaft«

Covergestaltung: Guter Punkt, München

unter Verwendung von Motiven © Maria Chronis, VJ Dunraven Productions, PeriodImages.com © Tryaging/GettyImages ABO © April Wong/AdobeStock ABO © ba888/iStock ABO

eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 978-3-7517-0334-5

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Für Sharon Felice Murphy, die so gut zuhört, mich inspiriert und mir eine stete Quelle der Freude ist. Was sollte ich ohne Dich tun?

Prolog

England, 1819

Er war wirklich ein Ladykiller.

Die dumme Frau hatte keine Chance gehabt. Sie hatte weder bemerkt, dass sie verfolgt wurde, noch geahnt, welche Absichten ihr heimlicher Bewunderer wirklich hegte.

Er war der Meinung, dass er sie sehr freundlich behandelt hatte, und darauf war er stolz. Es hätte schließlich auch grausam sein können. Das Verlangen, das ihn verzehrte, musste gestillt werden, und obwohl ihn der erregende Gedanke an Folter fast bis ins Unerträgliche aufpeitschte, hatte er diesem primitiven Bedürfnis nicht nachgegeben. Er war ein Mensch, kein Tier. Er suchte Befriedigung. Das junge Ding hatte den Tod gewiss verdient, und doch hatte er Mitgefühl gezeigt. Er war sehr freundlich gewesen ... rücksichtsvoll!

Sie war immerhin lächelnd gestorben. Er hatte sie absichtlich so überrascht, dass das Entsetzen in ihren braunen Kuhaugen nur kurz aufzucken konnte, bevor es zu spät war. Dann hatte er ihr eine Melodie vorgesummt, wie es jeder gute Herr mit seinem verwundeten Tier tun würde, um es zu trösten. Also summte er, während er sie würgte, und er hörte erst auf, bis er sicher war, dass sie ihn nicht mehr hören konnte, weil sie tot war.

Nein, er war nicht ohne Erbarmen gewesen. Selbst als er sicher war, dass in ihr kein Leben mehr steckte, hatte er ihr Gesicht noch sanft zur Seite gedreht, bevor er sich ein Lächeln erlaubte. Am liebsten hätte er vor Erleichterung laut aufgelacht, weil es endlich vorbei war, und vor Zufriedenheit, dass alles so glattgelaufen war. Aber er wagte nicht, irgendeinen Laut von sich zu geben, denn irgendwo in seinem Unterbewusstsein lauerte der Gedanke, dass ein solches Verhalten ihn als ein Ungeheuer brandmarkte, aber das war er nicht. Nein, er hasste die Frauen nicht, er bewunderte sie – zumindest die meisten. Und jene Frauen, die er für ehrbar hielt, behandelte er weder grausam noch herzlos.

Allerdings war er auch schrecklich klug – und es war keine Schande, das zuzugeben. Die Jagd war anstrengend gewesen, doch von Anfang bis Ende hatte er jede einzelne ihrer Reaktionen voraussagen können. Zugegeben, ihre Eitelkeit hatte ihm gewaltig geholfen. Sie war ein naives Ding, das sich für weltgewandt hielt – eine gefährliche Fehleinschätzung –, und er hatte sich als weitaus gerissener als sie und ihresgleichen herausgestellt.

In der Wahl seiner Waffen hatte süße Ironie gelegen. Ursprünglich hatte er seinen Dolch benutzen wollen, um sie zu töten. Er wollte spüren, wie die Klinge tief in sie drang, verzehrte sich nach dem Gefühl des heißen Blutes, das über seine Hand rinnen würde, wenn er das Messer wieder und wieder in ihre weiche, zarte Haut rammte. Schneide das Übel heraus. Schneide das Übel heraus, hallte es in seinem Kopf wider. Dennoch hatte er dem Befehl nicht nachgegeben, denn er war immer noch stärker als seine innere Stimme. In einer plötzlichen Sinneswandlung hatte er beschlossen, den Dolch überhaupt nicht zu benutzen. Das Diamantenkollier, das er ihr geschenkt hatte, lag um ihren Hals. Er hatte das teure Schmuckstück gepackt und den letzten Lebenshauch aus ihr herausgequetscht. Es war eine höchst passende Waffe, fand er. Frauen liebten Schmuck und jene besonders. Er hatte sogar überlegt, ob er das Kollier mit ihr begraben sollte, aber als er den Kalk, den er von den Klippen geholt hatte, über sie rieseln lassen wollte, damit ihre Leiche sich schneller zersetzte, änderte er seine Absicht. Er nahm ihr das Halsband ab und steckte es in seine Tasche.

Dann verließ er ihr Grab, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Er empfand keine Reue, keine Schuld. Sie hatte ihm gut gedient, und nun war er zufrieden.

Dichter Nebel waberte über den Boden. So bemerkte er den Kalkstaub auf seinen Schuhen erst, als er die Hauptstraße erreichte. Aber es berührte ihn nicht sonderlich, dass seine neuen Wellingtons nun vermutlich ruiniert waren. Nichts konnte den Glanz seines Sieges trüben. Ihm war, als wären alle Lasten von ihm abgefallen. Und noch mehr – dieses ekstatische Gefühl, als er sie endlich erwischt hatte ... O ja, diesmal war es noch besser gewesen als das letzte Mal.

Durch sie fühlte er sich wieder lebendig. Die Welt bot einem starken, virilen Mann wie ihm endlich wieder Möglichkeiten.

Von der Erinnerung an diese Nacht konnte er lange, lange zehren. Und wenn der Glanz zu schwinden begann, würde er wieder auf die Jagd gehen.

1

Die Ehrwürdige Mutter Oberin Mary Felicity hatte immer schon an Wunder geglaubt, doch in all den siebenundsechzig langen Jahren, die sie auf dieser schönen Erde weilte, war sie, bis eines kalten Tages im Februar 1820 der Brief aus England kam, niemals Zeuge eines solchen Phänomens geworden.

Anfangs hatte die Oberin noch nicht gewagt, die beglückenden Neuigkeiten zu glauben, denn sie befürchtete, es könnte eine tückische List des Teufels sein, der ihr Hoffnungen machen wollte, nur um sie kurz darauf grausam zu zerschlagen. Doch nachdem sie pflichtbewusst die Botschaft beantwortet und eine zweite Bestätigung mit dem Siegel des Duke of Williamshire bekommen hatte, nahm sie das Geschenk als das, was es wirklich war.

Ein Wunder.

Endlich konnten sie diesen Satansbraten loswerden. Die Oberin teilte den anderen Nonnen die gute Nachricht am nächsten Morgen bei der Frühmette mit. Am Abend feierten sie mit Entensuppe und frischgebackenem Schwarzbrot. Schwester Rachael war ausgesprochen aufgedreht und albern und musste zweimal wegen lauten Lachens während der Vesper getadelt werden.

Der Teufelsbraten – oder genauer Prinzessin Alesandra – wurde am folgenden Nachmittag in das karge Büro der Oberin gerufen. Während man ihr mitteilte, dass sie den Konvent verlassen würde, packte Schwester Rachael bereits eifrig ihre Sachen zusammen.

Die Oberin saß auf dem Stuhl hinter dem riesigen Schreibtisch, der genauso alt und verwittert wie sie selbst war. Die Nonne befingerte geistesabwesend die dicken Holzperlen ihres Rosenkranzes, der an ihrem schwarzen Habit befestigt war, während sie darauf wartete, dass ihr Schützling reagierte.

Prinzessin Alesandra war entsetzt über die Nachricht. Nervös verschränkte sie die Finger ineinander und ließ den Kopf sinken, damit die Oberin ihre Tränen nicht sehen konnte.

»Setz dich, Alesandra. Ich möchte nicht mit deinem Scheitel reden.«

»Wie Sie wünschen, Ehrwürdige Mutter.« Sie setzte sich auf die äußerste Kante des harten Stuhles, straffte ihre Haltung, um es der Oberin recht zu machen, und faltete brav die Hände im Schoß.

»Nun, was sagst du zu den Neuigkeiten?«, fragte die Oberin.

»Es war das Feuer, nicht wahr, Ehrwürdige Mutter? Sie haben mir dieses kleine Missgeschick noch nicht verziehen!«

»Unsinn«, antwortete die Oberin. »Ich habe dir schon vor einem Monat deine Gedankenlosigkeit vergeben.«

»War es dann Schwester Rachael, die Sie überredet hat, mich fortzuschicken? Dabei habe ich ihr doch schon gesagt, wie leid es mir tut, und ihr Gesicht ist längst nicht mehr so grün.«

Die ältere Frau schüttelte den Kopf. Doch die Erinnerung an die vergangenen Missetaten des Mädchens ließ den Ärger erneut aufkeimen, so dass sie die Stirn in tiefe Falten legte.

»Wieso du geglaubt hast, diese furchtbare Paste würde Sommersprossen entfernen können, ist mir immer noch ein Rätsel. Wie auch immer, Schwester Rachael hat sich ja freiwillig darauf eingelassen, und sie gibt dir keine Schuld ... jedenfalls nicht übermäßig viel«, setzte sie dann noch hastig hinzu, damit die Lüge, die sie ausgesprochen hatte, in Gottes Augen nur eine nebensächliche Sünde wäre. »Alesandra, ich habe deinem Vormund nicht geschrieben, damit er dich hier wegholt. Er hat mir den Brief geschickt. Hier ist er. Lies, und du wirst sehen, dass ich die Wahrheit sage.«

Alesandras Hand zitterte, als sie nach der Botschaft griff. Dann überflog sie schnell den Inhalt, bevor sie ihn der Oberin zurückgab.

»Du siehst, wie dringend es ist, nicht wahr? Dieser General Ivan, den dein Vormund erwähnt, scheint mir einen üblen Ruf zu haben. Kannst du dich an ihn erinnern?«

Alesandra schüttelte den Kopf. »Wir sind einige Male in Vaters Heimat gewesen, aber da war ich noch sehr klein. Ich weiß nicht, ob ich ihn kennengelernt habe. Warum in Gottes Namen soll er mich heiraten wollen?«

»Dein Vormund versteht die Beweggründe des Generals«, antwortete die Oberin. Sie trommelte mit den Fingern auf dem Brief herum. »Die Untertanen deines Vaters haben dich nicht vergessen. Du bist immer noch ihre geliebte Prinzessin. Der General hofft, dass er mit Hilfe der Massen das Königreich übernehmen kann, wenn er dich heiratet. Der Plan ist klug.«

»Aber ich will ihn nicht heiraten«, flüsterte Alesandra.

»Und das möchte dein Vormund auch nicht«, sagte die Oberin. »Dennoch befürchtet er, dass der General sich mit einem Nein nicht zufriedengibt, sondern dich stattdessen entführen würde, um seinen Erfolg zu garantieren. Aus diesem Grund hat der Duke of Williamshire eine Eskorte befohlen, die dich nach England begleiten soll.«

»Ich will hier nicht fort, Ehrwürdige Mutter. Wirklich nicht.«

Die Furcht in Alesandras Stimme rührte das Herz der Oberin. Für einen Moment vergaß sie all die Missetaten, in die Prinzessin Alesandra in den letzten Jahren verwickelt war, und erinnerte sich nun wieder an die Verletzbarkeit und die Angst in den Augen des kleinen Mädchens, als es damals mit seiner kranken Mutter angekommen war. Alesandra war noch so schrecklich jung gewesen, gerade zwölf, und ihr Vater war sechs Monate zuvor gestorben. Und doch hatte sie gewaltige Kraft gezeigt und sich Tag und Nacht um die Pflege ihrer Mutter gekümmert, obwohl es nicht einmal auch nur einen Hoffnungsschimmer gab, dass die Frau je wieder gesund werden würde. Die Krankheit fraß ihren Körper und ihren Geist auf. Am Ende, als die Schmerzen sie wahnsinnig machten, war Alesandra ins Krankenbett ihrer Mutter geklettert, hatte die zerbrechliche Frau in ihre Arme genommen und sie sanft gewiegt. Dabei hatte sie ihr mit engelhafter Stimme Balladen vorgesungen. Es war fast schmerzlich schön gewesen zu beobachten, wie sehr das Kind seine Mutter geliebt hatte. Und als die Qualen endlich ein Ende hatten, war die Mutter in den Armen ihrer Tochter verschieden.

Alesandra hatte sich von niemandem trösten lassen. Allein in ihrer Zelle weinte sie in den Stunden der Nacht, und durch die weißen Vorhänge ihres Bettes im großen Schlafsaal drangen ihre Schluchzer zu den Postulantinnen.

Ihre Mutter war hinter der Kapelle in einer wunderschönen, blumengesäumten Gruft begraben worden. Alesandra konnte den Gedanken nicht ertragen, ihre Mutter zu verlassen. Und obwohl das Grundstück des Klosters an Stone Haven, den zweiten Wohnsitz der Familie, grenzte, machte Alesandra dort nicht einen einzigen Besuch.

»Ich habe gedacht, ich würde für immer hierbleiben«, flüsterte sie jetzt.

»Du musst es als dein Schicksal ansehen, das nun seinen Lauf nimmt«, riet die Oberin. »Ein Kapitel deines Lebens ist abgeschlossen, ein anderes wird nun aufgeschlagen.«

Wieder senkte Alesandra den Kopf. »Ich würde aber lieber alle Kapitel hier verbringen, Ehrwürdige Mutter. Sie könnten doch die Bitte des Duke of Williamshire ablehnen oder ihn so lange mit Korrespondenz hinhalten, bis er mich vergessen hat.«

»Und der General?«

Alesandra hatte schon eine Antwort parat, was dieses Problem betraf. »Er würde es nicht wagen, in ein Heiligtum einzudringen. Ich bin sicher, solange ich hierbleibe.«

»Ein Mann, den es nach Macht gelüstet, wird sich nicht darum kümmern, ob er gegen die heiligen Regeln eines Klosters verstößt, Alesandra. Ganz sicher wird er hier eindringen. Im Übrigen – hast du nicht bemerkt, dass du vorschlägst, deinen Vormund zu betrügen?«

Die Stimme der Nonne klang vorwurfsvoll. »Nein, Ehrwürdige Mutter«, antwortete Alesandra mit einem kleinen Seufzer. Sie wusste nur zu gut, was die Oberin hören wollte. »Ich vermute, es wäre nicht richtig, jemanden zu täuschen ...«

Die Nonne schüttelte den Kopf über Alesandras sehnsuchtsvolle Stimme. »Ich werde dich da nicht unterstützen. Selbst wenn es einen wichtigen Grund gäbe ...«

Diese Chance ließ sich Alesandra nicht entgehen. »Aber es gibt einen!«, sagte sie begeistert. Sie holte tief Luft und verkündete: »Ich habe beschlossen, Nonne zu werden!«

Allein der Gedanke, dass Alesandra sich in ihre heiligen Rituale einfügen wollte, sandte einen kalten Schauder über den Rücken der Oberin. »Der Himmel möge uns beistehen«, murmelte sie.

»Es waren die Bücher, nicht wahr, Mutter? Sie wollen mich wegschicken wegen dieser kleinen ... kleinen Manipulation.«

»Alesandra ...«

»Ich habe ja nur deshalb einen zweiten Satz Bücher angefertigt, damit der Bankier Ihnen die Anleihe gibt. Sie wollten ja mein Vermögen nicht nehmen, und ich wusste doch, wie sehr Sie die neue Kapelle brauchten ... nach dem Feuer und so. Und schließlich haben Sie das Geld bekommen, oder? Gott hat mir diesen Betrug bestimmt verziehen. Er muss gewollt haben, dass ich die Zahlen auf den Konten ändere, ansonsten hätte Er mir doch nicht so ein Talent zum Rechnen geschenkt. Nicht wahr, Mutter Oberin? Tief in meinem Herzen weiß ich, dass Er mir diesen kleinen Trick verziehen hat.«

»Trick? Ich denke, das richtige Wort ist Diebstahl!«, fauchte die Oberin.

»Nein, Ehrwürdige Mutter«, berichtigte Alesandra sie. »Diebstahl bedeutet, etwas wegzunehmen, und ich habe nichts weggenommen, sondern nur verbessert, damit Sie etwas bekommen.«

Der finstere Gesichtsausdruck der alten Nonne sagte Alesandra, sie hätte besser nicht widersprochen. Und vor allem das Thema Buchhaltung gar nicht erst aufgebracht.

»Was das Feuer angeht ...«

»Ehrwürdige Mutter, ich habe doch schon gebeichtet, wie schrecklich unglücklich ich über diesen Vorfall war«, beeilte Alesandra zu versichern, und bevor die Nonne sich erneut aufregen konnte, wechselte sie hastig das Thema. »Ich meinte es ernst, als ich sagte, ich möchte Nonne werden. Ich glaube, ich bin berufen!«

»Alesandra, du bist nicht einmal katholisch.« »Ich konvertiere«, versprach das Mädchen inbrünstig. Ein langer Augenblick verstrich in Schweigen. Dann beugte sich die Oberin vor. Der Stuhl knarrte bei dieser Bewegung. »Sieh mich an.«

Alesandra gehorchte. Sie fuhr fort: »Ich denke, ich verstehe, worum es dir wirklich geht. Ich will dir etwas versprechen.« Die Stimme der Oberin klang nun weich und tröstend. »Ich werde mich persönlich um das Grab deiner Mutter kümmern. Wenn mir etwas zustoßen sollte, werden Schwester Justina oder Schwester Rachael die Aufgabe übernehmen. Deine Mutter wird nicht in Vergessenheit geraten. Wir werden sie weiterhin jeden Tag in unsere Gebete einschließen. Das ist mein Versprechen!«

Alesandra brach in Tränen aus. »Ich kann sie nicht verlassen.«

Die Oberin stand auf und eilte an Alesandras Seite. Sie legte ihr einen Arm um die Schultern und tätschelte sie beruhigend. »Du verlässt sie ja nicht. Sie wird immer in deinem Herzen bleiben. Und sie würde es sich wünschen, dass du beginnst, dein eigenes Leben zu leben.«

Tränen strömten über Alesandras Gesicht, und sie wischte sie mit dem Handrücken fort. »Ich kenne den Duke of Williamshire gar nicht, Ehrwürdige Mutter. Ich habe ihn bloß einmal getroffen, und ich weiß kaum, wie er aussieht. Was, wenn ich nicht mit ihm auskomme? Und was, wenn er mich nicht bei sich haben will? Ich möchte niemandem zur Last fallen. Bitte lassen Sie mich doch bleiben!«

»Alesandra, du scheinst wirklich davon überzeugt, dass ich in dieser Sache eine Wahl habe, aber das ist einfach nicht wahr. Ich muss doch auch der Bitte deines Vormunds gehorchen. Es wird dir in England sehr gut gehen. Der Duke of Williamshire hat selbst sechs Kinder. Eins mehr wird keine Last sein.«

»Ich bin kein Kind mehr«, sagte Alesandra trotzig. »Und mein Vormund ist wahrscheinlich schon sehr alt und müde.«

Die alte Nonne lächelte. »Der Duke of Williamshire wurde vor Jahren von deinem Vater als dein Vormund ernannt. Er hatte seine Gründe, warum er den Engländer gewählt hat. Du solltest Vertrauen in die Entscheidung deines Vaters haben.«

»Ja, Ehrwürdige Mutter.«

»Du kannst ein glückliches Leben führen, Alesandra. Solange du dir nur ein wenig Beherrschung auferlegst. Denk nach, bevor du handelst. Das sollte dein Motto sein. Du kannst es, denn du hast einen gesunden Verstand. Benutze ihn.«

»Danke, dass Sie das sagen, Ehrwürdige Mutter.«

»Hör auf, dich so demütig zu geben. Das sieht dir überhaupt nicht ähnlich. Ich habe dir noch einen Rat zu geben, und ich will, dass du mir ganz genau zuhörst. Jetzt sitz gerade. Eine Prinzessin lässt die Schultern nicht hängen.«

Wenn ich meinen Rücken noch mehr straffe, wird mein Rückgrat sich vermutlich verbiegen, dachte Alesandra. Aber sie drückte die Schultern noch ein Stück zurück, bis die Nonne zufrieden nickte.

»Wie ich schon sagte«, fuhr die Oberin fort, »hat es hier niemals eine Bedeutung gehabt, ob du eine Prinzessin bist oder nicht. In England wird das anders sein. Du wirst ständig Haltung bewahren müssen. Du kannst dein Tun nicht von spontanen Eingebungen leiten lassen. Und jetzt sag mir, Alesandra, wie lauten die zwei Wörter, die ich dir immer wieder gepredigt habe, damit du sie dir zu Herzen nimmst?«

»Würde und Haltung, Ehrwürdige Mutter.«

»Richtig.«

»Darf ich zurückkommen ... wenn ich feststellen muss, dass ich mein neues Leben nicht mag?«

»Du wirst bei uns immer willkommen sein«, versprach die Oberin. »Geh jetzt und hilf Schwester Rachael beim Packen. Du wirst vorsichtshalber in der Dunkelheit dieser Nacht abreisen. Ich werde dich in der Kapelle verabschieden.«

Alesandra stand auf, knickste und verließ das Zimmer. Die Oberin stand mitten in ihrer kleinen Kammer und starrte lange Zeit hinter dem Mädchen her. Sie hatte es für ein Wunder gehalten, dass die Prinzessin abreisen sollte. Die Oberin hatte immer einen strengen Zeitplan eingehalten, doch als Alesandra in das Kloster gekommen war, schienen all diese Regeln außer Kraft gesetzt. Die Nonne mochte Chaos nicht, aber Alesandra und Chaos schienen Hand in Hand zu gehen. Und doch ... in dem Moment, als das willensstarke Mädchen das Zimmer verließ, spürte die Nonne Tränen in den Augen. Es war, als hätte sich soeben eine dicke Wolke vor die Sonne geschoben.

Gott mochte ihr helfen, aber sie würde den Satansbraten und ihren Unsinn vermissen.

2

London, England, 1820

Sie nannten ihn den Delphin. Er nannte sie das Balg! Prinzessin Alesandra hatte keine Ahnung, warum Colin, der Sohn ihres Vormunds, diesen Spitznamen trug, aber sie war sich durchaus bewusst, warum sie ihren bekommen hatte. Sie hatte ihn verdient. Sie war als kleines Kind wirklich ein Biest gewesen, und das einzige Mal, dass sie mit Colin und seinem älteren Bruder Caine zusammen gewesen war, hatte sie sich gründlich danebenbenommen. Zugegeben, sie war verwöhnt, da sie ein Einzelkind war und von Verwandten und Bediensteten gleichermaßen verhätschelt wurde. Ihre Eltern waren beide geduldige Menschen gewesen, die über ihre Ungezogenheit hinwegsahen, bis sie schließlich selbst lernte, dass ein bisschen Zurückhaltung manchmal angebrachter war.

Alesandra war noch sehr jung gewesen, als sie mit ihren Eltern auf einen kurzen Besuch nach England reiste. So hatte sie nur noch eine verschwommene Erinnerung an den Duke und die Duchess of Williamshire, erinnerte sich gar nicht mehr an deren Töchter und nur wenig an die beiden Söhne. Colin und Caine. In ihrem Geist sah sie die zwei Riesen, aber sie war ja schließlich sehr klein gewesen, während die beiden bereits herangewachsen waren. Vermutlich hatte sie in ihrer Erinnerung die Größe übertrieben. Ganz sicher würde sie keinen von beiden in einer Menschenmenge wiedererkennen. Sie hoffte nur, dass Colin nicht nur ihre Schandtaten vergessen, sondern auch, dass er sie das Balg genannt hatte. Wenn sie mit ihm zurechtkam, würde es leichter für sie sein. Die zwei Aufgaben, die sie zu erledigen hatte, würden schwer werden, und sie konnte einen sicheren Hafen am Ende jeden Tages gebrauchen.

Sie war an einem trüben Montagmorgen in England angekommen und sofort zum Landhaus des Duke of Williamshire gebracht worden. Alesandra hatte sich nicht besonders wohl gefühlt, aber sie führte das flaue Gefühl in ihrem Magen auf ihre Furcht zurück. Sie hatte sich schnell erholt, denn die Familie hieß sie erfreut und herzlich willkommen. Der Duke und seine Frau behandelten sie wie eine der ihren, so dass Alesandras Unbehagen sich schnell in nichts auflöste. Man gab ihr keine bestimmten Anweisungen, und sie durfte ihre Meinung sagen, wann immer sie wollte. Es gab nur eine einzige ernsthafte Meinungsverschiedenheit zwischen Alesandra und ihrem Vormund. Er und seine Frau wollten Alesandra nach London in ihr Stadthaus mitnehmen, um die Saison zu eröffnen. Alesandra hatte bereits eine große Anzahl von Verabredungen getroffen, doch kurz vor dem Tag, an dem die Abreise vorgesehen war, wurde das Ehepaar ernsthaft krank.

Alesandra wollte alleine fahren. Sie bestand darauf, niemandem zur Last zu fallen, und machte den Vorschlag, sich ein eigenes Haus für die Saison zu mieten. Allein bei dem Gedanken an etwas Derartiges bekam die Duchess Herzklopfen, aber Alesandra ließ sich nicht beirren. Sie erinnerte die beiden daran, dass sie ein erwachsener Mensch war, der auf sich selbst aufpassen konnte. Der Duke wollte nichts davon hören, und so zog sich die heftige Diskussion über Tage hin, bis sie sich schließlich darauf einigten, dass Alesandra in London bei Caine und seiner Frau Jade wohnen würde.

Unglücklicherweise ereilte die beiden einen Tag vor Alesandras Ankunft die gleiche mysteriöse Krankheit, die auch den Duke und die Duchess und ihre vier Töchter niedergestreckt hatte.

Die einzige Möglichkeit für sie war nun Colin. Wenn Alesandra nicht schon so viele Verabredungen mit den Gesellschaften ihres Vaters getroffen hätte, wäre sie bis zur Genesung ihres Vormundes auf dem Land geblieben. Sie wollte Colin keine Unannehmlichkeiten bereiten, schon gar nicht, nachdem ihr der Duke von den schrecklichen zwei letzten Jahren Colins erzählt hatte. Das letzte, was Colin gebrauchen konnte, war Chaos. Dennoch: Der Duke hatte darauf bestanden, dass sie die Gastfreundschaft seines Sohnes in Anspruch nahm, und es wäre nicht besonders höflich gewesen, sich den Wünschen ihres Vormunds zu widersetzen. Im Übrigen konnten ein paar Tage des Zusammenlebens mit Colin es für sie leichter machen, ihn um etwas zu bitten, was ihr am Herzen lag.

Kurz nach der Abendbrotzeit stand sie also auf Colins Türschwelle. Er war bereits ausgegangen. Alesandra, ihre neue Zofe und zwei treue Wachen drängten sich in dem schmalen, schwarzweiß gekachelten Foyer, um dem Butler, einem jungen, gutaussehenden Mann namens Flannaghan, den Brief des Duke of Williamshire zu übergeben. Ihre überraschende Ankunft hatte ihn offensichtlich aus dem Konzept gebracht, denn er verbeugte sich immer wieder, während er bis an die Wurzeln seines weißblonden Haares errötete. Sie wusste nicht, wie sie ihm sein Unbehagen nehmen konnte.

»Es ist uns eine Ehre, eine Prinzessin in unserem Haus zu haben«, stammelte er. Er schluckte heftig und stellte dasselbe dann noch einmal fest.

»Ich hoffe nur, dass Ihr Herr genauso denkt wie Sie, Sir«, antwortete sie. »Ich möchte Ihnen keine Unannehmlichkeiten bereiten.«

»Nein, nicht doch«, versicherte ihr Flannaghan, der von der Idee allein schon entsetzt schien, »Sie könnten niemals Unannehmlichkeiten verursachen.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen.«

Flannaghan schluckte noch einmal. Mit bekümmerter Stimme sagte er: »Nur befürchte ich, Prinzessin, dass wir nicht genug Platz für Ihre Begleitung haben.« Sein Gesicht glühte vor Verlegenheit.

»Es wird schon gehen«, entgegnete sie und lächelte, um ihn ein wenig zu beruhigen. Der arme Mann sah richtig krank aus. »Der Duke of Williamshire bestand darauf, dass ich die Eskorte mitnehme, und ich kann ohne meine neue Zofe nirgendwohin reisen. Sie heißt Valena, und die Duchess hat sie persönlich für mich ausgesucht. Valena hat in London gelebt, aber sie ist in der Heimat meines Vaters aufgewachsen. Ist es nicht ein wunderbarer Zufall, dass ausgerechnet sie sich für die Stelle beworben hat?« Und sie beantwortete die Frage, bevor Flannaghan eine Chance dazu bekam: »Ja, das ist es wirklich. Und weil sie doch gerade erst angestellt wurde, kann ich sie nicht schon wieder entlassen. Das wäre schrecklich unhöflich, nicht wahr? Das verstehen Sie doch, Flannaghan?«

Flannaghan hatte den Faden verloren. Er hatte keine Ahnung, was sie ihm erklären wollte, nickte aber, nur um es ihr recht zu machen. Endlich konnte er seinen Blick von der wunderschönen Prinzessin losreißen. Er verbeugte sich vor ihrer Zofe, verdarb dann jedoch die würdevolle Begrüßung, als er herausplatzte: »Sie ist noch ein Kind!«

»Valena ist ein Jahr älter als ich«, erklärte Alesandra. Sie wandte sich an die blonde Zofe und sprach zu ihr in einer Sprache, die Flannaghan nie zuvor gehört hatte. Es klang wie Französisch, aber er wusste, dass es das nicht war.

»Spricht einer von Ihren Dienern Englisch?«, fragte er.

»Wenn sie es wollen«, antwortete Alesandra. Sie band die Kordel ihres pelzbesetzten, burgunderroten Umhangs auf, und ein großer, muskulöser Wachmann mit schwarzem Haar und einem drohenden Blick trat vor, um ihn ihr abzunehmen. Sie dankte ihm und wandte sich dann wieder an Flannaghan. »Ich würde mich jetzt gerne zur Nacht einrichten. Die Reise hierher hat durch den Regen fast den ganzen Tag gedauert, Sir, und ich bin bis auf die Knochen durchgefroren. Es ist grässliches Wetter draußen. Der Regen fühlte sich an wie eisige Nadeln, nicht wahr, Raymond?«

»Allerdings, Prinzessin«, stimmte die Wache mit überraschend sanfter Stimme zu.

»Wir sind alle schrecklich erschöpft«, sagte sie zu Flannaghan.

»Natürlich, das müssen Sie ja sein«, antwortete Flannaghan eifrig. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen.« Er begann, an der Seite der Prinzessin die Treppe hinaufzusteigen. »Im zweiten Stock befinden sich vier Zimmer, Prinzessin Alesandra, darüber noch drei für die Diener. Wenn Ihre Wachen vielleicht zusammen ...«

»Raymond und Stefan teilen sich gerne ein Zimmer«, sagte sie, als er nicht fortfuhr. »Sir, dieses Arrangement ist wirklich nur für kurze Zeit. Sobald Colins Bruder und seine Frau wieder gesund sind, ziehen wir zu ihnen.«

Flannaghan nahm Alesandras Ellenbogen, um sie die restlichen Stufen hinaufzugeleiten. Er schien so begierig darauf, ihr zu helfen, dass sie nicht das Herz hatte, ihm zu sagen, sie benötigte seine Stütze nicht. Wenn es ihn glücklich machte, sie wie eine alte Frau zu behandeln, dann sollte es so sein.

Sie hatten den Absatz erreicht, als Flannaghan bemerkte, dass die Wachen nicht hinter ihnen waren. Alesandra erklärte dem Butler, dass sich die Männer mit den Räumlichkeiten und Ausgängen des unteren Stockwerks vertraut machen wollten und danach heraufkommen würden.

»Aber warum sollten sie ein Interesse ...«

Sie ließ ihn nicht ausreden. »Um unsere Sicherheit zu gewährleisten, Sir.«

Flannaghan nickte, obwohl er keinen Schimmer hatte, wovon sie sprach.

»Würde es Ihnen etwas ausmachen, diese Nacht das Zimmer meines Herrn zu nehmen? Die Laken sind heute Morgen gewechselt worden, und die anderen Räume sind nicht für Besucher bereitet. Sehen Sie, durch die finanziellen Umstände, die mein Herr durchlitten hat, gibt es momentan hier nur die Köchin und mich, und ich sah keine Notwendigkeit, die anderen Betten zu beziehen, denn ich ahnte ja nicht, dass wir ...«

»Machen Sie sich bitte nicht solche Sorgen«, unterbrach Alesandra. »Es wird schon gehen, das verspreche ich.«

»Sie sind sehr verständnisvoll. Ich werde Ihr Gepäck morgen früh in das größere Gästezimmer bringen.«

»Und Colin? Haben Sie ihn nicht vergessen?«, fragte sie. »Ich könnte mir denken, dass er verärgert reagieren wird, wenn er mich in seinem Bett findet.«

Flannaghan konnte sich durchaus genau das Gegenteil vorstellen und wurde augenblicklich feuerrot bei dem schändlichen Gedanken. Ich bin offenbar noch ganz durcheinander durch den unerwarteten Besuch, überlegte er. Warum sonst benehme ich mich wie ein Volltrottel? Dennoch, wenn er ehrlich war, musste er zugeben, dass es an der Prinzessin lag. Sie war die umwerfendste Frau, die er je gesehen hatte. Jedes Mal, wenn er sie ansah, vergaß er, woran er gerade gedacht hatte. Ihre Augen waren vom erstaunlichsten Blau, und sie hatte bestimmt die längsten und schwärzesten Wimpern, die eine Frau haben konnte. Dazu kam ein makelloser, reiner Teint, der nur durch ein paar Sommersprossen auf dem Nasenrücken beeinträchtigt wurde. Aber Flannaghan fand diesen kleinen Schönheitsfehler absolut entzückend.

Er räusperte sich, um seine Gedanken zu ordnen. »Ich bin sicher, dass es meinem Herrn nichts ausmachen wird, heute Nacht in einem anderen Zimmer zu schlafen. Zudem ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass er erst morgen früh zurückkehrt. Er ist noch mal zur Emerald Shipping Company gegangen, um einige Papiere zu bearbeiten, und oft sitzt er die ganze Nacht dort. Die Zeit rinnt ihm durch die Finger, wissen Sie?«

Nach dieser Erklärung begann Flannaghan, sie durch den Flur zu ziehen. Es gab vier Zimmer im ersten Stock. Die erste Tür stand weit offen. »Das ist das Arbeitszimmer, Prinzessin«, verkündete Flannaghan. »Es ist etwas unordentlich, aber mein Herr erlaubt mir nicht, irgendetwas anzurühren.«

Alesandra lächelte. Es war mehr als ein bisschen unordentlich, denn überall stapelten sich Papiere und Akten. Dennoch war es ein warmes, einladendes Zimmer. Der Tür gegenüber stand ein Mahagonischreibtisch, zur Linken ein kleiner Ofen, rechts ein brauner Ledersessel mit dazu passendem Schemel. Dazwischen lag ein wunderschöner Läufer in Burgunderrot und Braun. Die Regale an den Wänden waren voller Bücher, und aus dem Aktenschrank, der in eine Ecke gequetscht war, quollen Dokumente und Schriftstücke.

Das Arbeitszimmer wirkte ausgesprochen männlich. Der Geruch von Brandy und Leder erfüllte die Luft, und Alesandra fand den Duft sehr angenehm. Sie stellte sich vor, wie sie vor dem Ofen in ihren Morgenmantel eingekuschelt saß und die letzten Finanzberichte ihrer Vermögenswerte studierte.

Flannaghan zog sie weiter durch den Flur. Die zweite Tür führte zu Colins Schlafzimmer. Er hastete an ihr vorbei, um sie ihr aufzumachen.

»Arbeitet Colin oft so lange?«, fragte Alesandra.

»Ja, allerdings«, antwortete Flannaghan. »Er hat die Gesellschaft vor einigen Jahren mit seinem guten Freund, dem Marquis of St. James, gegründet, und die Gentlemen haben zu kämpfen, um sich zu tragen. Die Konkurrenz ist sehr hart.«

Alesandra nickte. »Die Emerald Shipping Company besitzt einen ausgezeichneten Ruf.«

»Tatsächlich?«

»O ja. Colins Vater würde gerne Anteile kaufen. Für Investoren würde die Gesellschaft sicher gewinnbringend sein, aber die Gesellschafter wollen keine Aktien verkaufen.«

»Sie wollen die gesamte Kontrolle über die Geschäfte in ihren Händen behalten«, erklärte Flannaghan. Dann grinste er. »Genau das habe ich ihn zu seinem Vater sagen hören.«

Sie nickte und trat dann in das Schlafzimmer. Flannaghan stellte fest, dass es kalt war, und eilte zum Ofen hinüber, um ein Feuer anzuzünden. Valena wieselte um ihre Herrin herum, um die Kerzen anzuzünden.

Colins Schlafzimmer wirkte genauso maskulin wie das Arbeitszimmer. Das große Bett stand der Tür gegenüber, darüber war eine schokoladenbraune Überdecke gebreitet. Die Wände waren in einem satten Beige gestrichen und bildeten einen geeigneten Hintergrund für die schönen Mahagonimöbel.

Zwei Fenster gingen zur Straße hinaus. Valena band die beigen Satinvorhänge los und zog sie vor die Scheiben, so dass der Raum von draußen nicht mehr einsehbar war.

Links befand sich eine Tür, die zum Arbeitszimmer führte, rechts, neben einem großen Sekretär, war eine zweite. Alesandra durchquerte den Raum und öffnete sie weit. Hinter der Tür fand sie ein weiteres Schlafzimmer vor, das in denselben Farben gehalten, dessen Bett jedoch viel kleiner war.

»Ein wunderschönes Haus«, bemerkte sie. »Colin hat gut gewählt.«

»Es gehört ihm nicht«, erklärte Flannaghan. »Sein Agent hat ihm einen guten Mietpreis ausgehandelt. Wir werden am Ende des Sommers umziehen müssen, wenn die Besitzer aus Amerika zurückkehren.«

Alesandra versuchte, sich das Lächeln zu verbeißen. Sie bezweifelte, dass Colin entzückt darüber wäre, dass sein Butler all seine finanziellen Geheimnisse ausplauderte. Flannaghan war wirklich der engagierteste Diener, der ihr je begegnet war. Er gab sich so erfrischend ehrlich, und Alesandra mochte ihn auf Anhieb.

»Ich bringe Ihre Sachen morgen früh in das Nebenzimmer«, rief er, als er bemerkte, dass sie in den zweiten Raum blickte. Dann wandte er sich wieder dem Kamin zu, warf ein weiteres Scheit in das knisternde Feuer und richtete sich dann auf. Er wischte sich die Hände an den Seiten seiner Hose ab und sagte: »Dies hier sind die größeren Zimmer. Die anderen beiden sind ziemlich klein. Der Raum hier hat ein Schloss an der Tür.«

Raymond klopfte an die offene Tür. Alesandra ging zu ihm hinüber und lauschte seinen geflüsterten Erklärungen.

»Raymond hat mir eben gesagt, dass der Riegel an einem der Fenster unten im Salon kaputt ist. Er bittet um die Erlaubnis, ihn reparieren zu dürfen.«

»Sie meinen ... jetzt?«

»Ja«, antwortete sie. »Raymond ist ein echter Krieger. Er würde keine Ruhe geben, bis das Haus nicht sicher ist.«

Sie wartete nicht auf Flannaghans Erlaubnis, sondern nickte der Wache als Zustimmung zu. Inzwischen hatte Valena das Nachthemd und den Morgenmantel ihrer Herrin ausgepackt. Als Alesandra sich umwandte, um ihr zu helfen, gähnte sie gerade herzhaft.

»Valena, sieh zu, dass du schlafen gehst. Wir können die Sachen auch morgen noch auspacken.«

Die Zofe verbeugte sich, und Flannaghan schlug eilig vor, das Mädchen im letzten Zimmer im Flur unterzubringen. Es wäre der kleinste Raum, wie er erklärte, das Bett jedoch wäre bequem und die Ausstattung sehr gemütlich. Bestimmt würde Valena sich dort wohl fühlen. Und so sagte er der Prinzessin gute Nacht und begleitete Valena hinaus.

Alesandra war kurze Zeit später eingeschlafen. Wie immer schlief sie einige Stunden sehr tief, wachte dann jedoch prompt gegen zwei Uhr morgens wieder auf. Seit sie nach England zurückgekehrt war, hatte sie keine Nacht durchgeschlafen und war bereits daran gewöhnt. Sie zog den Morgenmantel über, warf ein weiteres Scheit ins Feuer und stieg dann mit der Tasche voller Papiere wieder ins Bett. Sie würde zuerst die neuesten Finanzberichte ihres Börsenmaklers über Lloyd’s of London lesen, und wenn sie das nicht müde machte, würde sie sich die Aufstellung ihrer eigenen Besitztümer vornehmen.

Laute Stimmen, die von unten heraufdrangen, störten ihre Konzentration. Sie erkannte Flannaghan und schloss aus seinem aufgeregten Tonfall, dass dieser versuchte, seinen eben heimgekehrten Herrn zu besänftigen.

Sie konnte ihre Neugier nicht bezähmen. Sie stand auf, schlang einen Gürtel um den Mantel und trat leise auf den Flur hinaus. Im Schatten des Treppenabsatzes blieb sie stehen und blickte hinunter ins Foyer, das in hellem Kerzenlicht erstrahlte. Als sie Raymond und Stefan dort unten sah, die Colin den Weg versperrten, seufzte sie leise. Colin konnte sie nicht sehen, aber Raymond drehte sich zufällig um und entdeckte sie. Alesandra machte ihm augenblicklich ein Zeichen, sich zurückzuziehen. Also stieß Raymond Stefan leicht an, verbeugte sich vor Colin, und die beiden verließen die Eingangshalle.

Flannaghan bemerkte gar nicht, dass die Wachen fort waren, genauso wenig bemerkte er Alesandra. Niemals hätte er weitergeredet, wenn er gewusst hätte, dass sie dort oben stand und lauschte.

»Sie ist genauso, wie ich mir eine Prinzessin vorgestellt hatte«, schwärmte er begeistert seinem Herrn vor. »Sie hat mitternachtsschwarzes Haar, das in weichen Locken um ihre Schultern zu fließen scheint. Ihre Augen sind blau, aber von einem Blau, wie ich es noch nie gesehen habe ... so strahlend und klar. Sie ist so klein und zierlich, dass sogar ich mich wie ein Riese gefühlt habe, als sie zu mir aufgeschaut hat, Mylord.« Flannaghan hielt lange genug inne, um Atem zu holen. »Sie ist wirklich ein Traum.«

Colin kümmerte sich kaum um das Gerede seines Butlers. Er hatte gerade seine Faust in das Gesicht eines der beiden Fremden rammen und sie dann auf die Straße werfen wollen, als Flannaghan heruntergeschossen kam und ihm erklärte, dass die beiden Männer vom Duke of Williamshire kamen. Colin hatte also den größeren der beiden Männer losgelassen und erneut begonnen, die Papiere in seiner Hand durchzublättern. Er suchte den Bericht, den sein Partner fertiggeschrieben hatte, und hoffte nur inbrünstig, dass er ihn nicht im Büro gelassen hatte, denn er war entschlossen, die Zahlen noch in seine Unterlagen zu übertragen, bevor er ins Bett ging.

Colin war ausgesprochen schlecht gelaunt. Tatsächlich war er ein wenig enttäuscht, dass sich der Butler eingemischt hatte. Eine anständige Prügelei hätte ihm helfen können, seinen Ärger abzureagieren.

Gerade als Flannaghan wieder ansetzte, fand er das fehlende Blatt in seinem Stapel Papiere.

»Prinzessin Alesandra ist eher dünn, aber man muss trotzdem feststellen, dass sie eine wirklich reizende Figur hat.«

»Das reicht«, befahl Colin mit sanfter, doch entschiedener Stimme.

Der Diener verstummte augenblicklich, doch seine Enttäuschung war nicht zu übersehen. Er hatte doch gerade erst begonnen, Prinzessin Alesandras Vorzüge aufzuzählen, und er wusste, er hätte das durchaus noch fortführen können. Ja, er hatte noch nicht einmal ihr Lächeln erwähnt oder ihre königliche Haltung, ihr ...

»Also gut, Flannaghan«, riss Colin den Butler aus den Gedanken. »Versuchen wir, der Sache auf den Grund zu gehen. Vorhin hat eine Prinzessin sich entschlossen, bei uns einzuziehen, ist das so korrekt?«

»Ja, Mylord.«

»Warum?«

»Warum was, Mylord?«

Colin seufzte. »Warum, vermutest du, will ...«

»Es steht mir nicht an, zu vermuten«, unterbrach Flannaghan ihn.

»Hat dich das jemals davon abgehalten?«

Flannaghan grinste. Er nahm dies durchaus als Kompliment. Colin gähnte. Himmel, er war so müde. Zudem war er wirklich nicht in der Stimmung, sich diese Nacht noch mit Besuch zu beschäftigen. Er war erschöpft von der vielen Arbeit, frustriert, weil es ihm nicht gelungen war, die verdammten Zahlen zu einem vernünftigen Gewinn zusammenzurechnen, und ausgesprochen müde, sich mit der ganzen Konkurrenz herumzuschlagen. Es kam ihm vor, als würde jeden Tag eine neue Reedereigesellschaft gegründet.

Zu seinen finanziellen Sorgen kamen noch die körperlichen Schmerzen hinzu. Sein linkes Bein, das bei einem Unfall auf See vor mehreren Jahren verletzt worden war, pochte heftig. Er wollte nur noch mit einem heißen Brandy ins Bett fallen.

Aber er konnte seiner Müdigkeit noch nicht nachgeben, es gab noch zu tun. Er drückte Flannaghan seinen Umhang in die Hand, stellte seinen Stock in den Schirmhalter und legte den Papierstapel auf einen Beistelltisch.

»Mylord, soll ich Ihnen etwas zu trinken bringen?« »Ich nehme einen Brandy im Arbeitszimmer«, antwortete er.

»Und warum nennst du mich eigentlich Mylord? Ich habe dir doch erlaubt, Colin zu sagen.«

»Aber das war doch davor.«

»Wovor?«

»Bevor wir eine echte Prinzessin zu Besuch bekamen«, erklärte Flannaghan. »Es gehört sich doch nicht, Sie vor ihr Colin zu nennen. Oder soll ich Sir Hallbrook zu Ihnen sagen?«

»Ich würde Colin vorziehen.«

»Wie ich schon erklärte, Mylord, das gehört sich jetzt nicht.«

Colin musste lachen. Flannaghan hatte sich richtig aufgeblasen angehört. Er benahm sich immer mehr wie Sterns, der Butler seines Bruders, und Colin hätte wirklich nicht überrascht sein sollen. Sterns war Flannaghans Onkel und hatte den jungen Mann am Anfang der Saison in Colins Haushalt untergebracht.

»Du wirst langsam genauso hochnäsig wie dein Onkel«, neckte Colin.

»Das ist gut, Mylord.«

Colin musste wieder lachen. Dann schüttelte er den Kopf. »Also, kommen wir wieder auf die Prinzessin zurück, ja? Was will sie hier?«

»Sie hat sich mir nicht anvertraut«, antwortete Flannaghan. »Und ich habe mir nicht herausgenommen, sie danach zu fragen.«

»Du hast sie also einfach reingelassen?«

»Sie hatte einen Brief Ihres Vaters dabei.«

Endlich hatte er des Rätsels Lösung. »Wo ist der Brief?«

»Ich habe ihn in den Salon gelegt ... oder vielleicht ins Esszimmer?«

»Geh und hol das Ding«, befahl Colin. »Vielleicht kann uns die Nachricht erklären, warum die Frau diese zwei Kerle mit sich herumschleppt.«

»Es sind ihre Wachen, Mylord«, erklärte Flannaghan mit abweisender Stimme. »Ihr Vater hat sie ihr mitgegeben.« Dann setzte er noch mit einem bekräftigenden Nicken hinzu: »Und eine Prinzessin reist nicht mit Kerlen.«

Flannaghans Miene wirkte in seiner Bewunderung für die Prinzessin fast komisch. Diese Frau schien ihn wirklich aus der Fassung gebracht zu haben.

Der Butler hastete durch die unteren Räume, um den Brief zu suchen. Colin blies die Kerzen auf dem Tisch aus, nahm seine Papiere auf und wandte sich der Treppe zu.

Langsam verstand er, weshalb Prinzessin Alesandra hier war. Natürlich steckte sein Vater dahinter. Seine Kuppeleiversuche wurden immer unverhohlener, und Colin hatte wirklich keine Lust, mal wieder Hauptperson in seinen Spielchen zu sein.

Als er die Hälfte der Treppe hinter sich hatte, entdeckte er sie. Das Geländer half ihm, die Würde zu bewahren. Colin war ziemlich sicher, dass er rückwärts hinuntergestürzt wäre, wenn er nicht etwas zum Festhalten gehabt hätte.

Flannaghan hatte nicht übertrieben. Sie sah wirklich wie eine Prinzessin aus. Wie eine schöne zudem. Ihr Haar floss über ihre Schultern, und es erinnerte tatsächlich an Mitternacht. Sie war in Weiß gekleidet, und, gütiger Gott, sie schien eine Vision zu sein, die der Himmel geschickt hatte, um seine Entschlossenheit auf die Probe zu stellen.

Er versagte. Obwohl er es angestrengt versuchte, war er nicht in der Lage, seine äußeren Reaktionen unter Kontrolle zu halten.

Diesmal hatte sein Vater sich wirklich selbst übertroffen. Colin durfte nicht vergessen, ihm zu seinem guten Geschmack zu gratulieren ... nachdem er das Mädchen zurückgeschickt hatte, natürlich.

So standen sie da, starrten einander an und schwiegen. Alesandra wartete darauf, dass er sie ansprach. Colin wartete darauf, dass sie ihre Gegenwart erklärte.

Alesandra gab zuerst nach. Sie trat ein paar Schritte vor, bis sie an der obersten Stufe stand, senkte kurz den Kopf und sagte: »Guten Abend, Colin. Schön, dich wiederzusehen.«

Ihre Stimme klang sehr anziehend. Colin versuchte, sich auf das zu konzentrieren, was sie soeben gesagt hatte. Es war albernerweise ziemlich anstrengend.

»Wiederzusehen?«, fragte er unbeabsichtigt grob.

»Ja. Wir haben uns schon einmal gesehen, als ich noch klein war. Du hast mich das Balg genannt.«

Ihre Bemerkung entlockte ihm ein Lächeln, obwohl er sich nicht daran erinnern konnte. »Warst du denn ein Balg?«

»O ja«, antwortete sie. »Man hat mir erzählt, dass ich dich getreten habe ... übrigens wohl öfter. Aber es ist wirklich lange her. Inzwischen bin ich älter geworden, und ich glaube nicht, dass der Spitzname noch zu mir passt. Ich habe schon länger niemanden mehr getreten.«

Colin lehnte sich gegen das Geländer, um sein verletztes Bein ein wenig zu entlasten. »Wo haben wir uns denn kennengelernt?«

»Im Landhaus deines Vaters«, erklärte sie. »Meine Eltern haben mich auf einen Besuch mitgenommen, und du warst aus Oxford gekommen. Dein Bruder hatte gerade seinen Abschluss gemacht.«

Colin konnte sich immer noch nicht erinnern. Das überraschte ihn allerdings nicht, denn seine Eltern hatten stets Besuch im Haus, und er hatte sich nur selten darum gekümmert. Die meisten Gäste waren, wie er sich erinnerte, finanziell am Ende gewesen, denn Vaters fast krankhafte Gutherzigkeit ließ nicht zu, jemandem Hilfe zu verweigern.

Alesandras Hände waren gefaltet, und sie wirkte auf ihn sehr entspannt. Doch Colin bemerkte, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Sie presste die Hände entweder aus Angst oder aus Nervosität zusammen. Sie war also doch nicht so gelassen, wie sie ihn glauben machen wollte. Plötzlich war er sich ihrer Verletzlichkeit überdeutlich bewusst und stellte fest, dass er sie gerne beruhigen wollte.

»Und wo sind deine Eltern jetzt?«, fragte er.

»Mein Vater starb, als ich elf war«, antwortete sie. »Meine Mutter starb den Sommer danach. Kann ich dir helfen, deine Papiere wieder aufzusammeln?«, versuchte sie, das Thema zu wechseln.

»Welche Papiere?«

Ihr Lächeln war entzückend. »Die, die du fallen gelassen hast.«

Er sah zu Boden und entdeckte seine Papiere über die ganze Treppe verstreut. Er fühlte sich wie ein Vollidiot, wie er dastand und Luft festhielt, musste aber über sich selbst grinsen. Ich bin wirklich nicht besser als mein Butler, dachte er, und Flannaghan hatte immerhin noch eine akzeptable Entschuldigung für sein dusseliges Verhalten. Er war jung, unerfahren und wusste es einfach nicht besser.

Colin hätte es jedoch besser wissen müssen. Er war um einiges älter als sein Diener, sowohl an Jahren als auch an Erfahrung. Doch schließlich war er heute Nacht übermüdet, und das musste einfach der Grund dafür sein, dass er sich wie ein Narr benahm.

Außerdem war sie wirklich eine unglaubliche Schönheit. Er seufzte laut. »Ich sammle die Papiere später auf«, sagte er. »Warum bist du hier, Prinzessin Alesandra?«

»Dein Bruder und seine Frau sind krank«, erklärte sie. »Ich sollte bei ihnen wohnen, solange ich in London bin. Im letzten Moment sind sie jedoch unpässlich geworden, und man hat mir gesagt, ich soll bei dir einziehen, bis sie sich erholt haben.«

»Wer hat dir das gesagt?«

»Dein Vater.«

»Und was hat er für ein Interesse daran?«

»Er ist mein Vormund, Colin.«

Nun konnte er seine Überraschung nicht mehr verbergen. Sein Vater hatte niemals ihm gegenüber ein Mündel erwähnt, obwohl Colin annahm, dass ihn das auch nichts angehen musste. Sein Vater kümmerte sich stets selbst um seine Angelegenheiten und vertraute sich selten einem seiner Söhne an.

»Bist du zur Saison nach London gekommen?«

»Nein«, sagte sie. »Obwohl ich mich darauf freue, zu ein paar Partys zu gehen und die Sehenswürdigkeiten Londons zu besuchen.«

Colins Neugier wurde stärker. Er trat noch einen Schritt auf sie zu.

»Ich möchte dir wirklich keine Unannehmlichkeiten bereiten«, sagte sie nun. »Ich hatte vorgeschlagen, mir ein eigenes Haus zu mieten oder das Haus deiner Eltern in London zu beziehen, aber dein Vater wollte nichts davon hören. Er sagte, es würde sich nicht schicken.« Sie seufzte. »Ich habe wirklich versucht, ihn zu überreden. Doch leider waren seine Argumente stärker.«

Himmel, ihr Lächeln war wirklich hübsch. Und ansteckend. Er stellte fest, dass er es erwiderte. »Niemand kann die Argumente meines Vaters entkräften«, stimmte er zu. »Du hast mir aber immer noch nicht gesagt, warum du hier bist.«

»Ja, ich weiß. Es ist so kompliziert«, antwortete sie. »Es war bisher nicht nötig, nach London zu kommen, jetzt aber schon.«

Er schüttelte den Kopf. »Halbe Erklärungen machen mich wahnsinnig. Ich habe eine echte Schwäche ... man sagt, ich soll sie von meinem Partner übernommen haben. Ich bewundere vollkommene Ehrlichkeit, weil sie heutzutage so selten geworden ist. Und solange du Gast im meinem Haus bist, würde ich es zu schätzen wissen, wenn wir offen miteinander umgehen. Können wir uns darauf einigen?«

»Ja, natürlich.«

Wieder rang sie die Hände. Offenbar hatte er ihr Angst eingejagt. Wahrscheinlich hatte er sich wie ein Ungeheuer angehört. Und plötzlich fühlte er sich auch wie eins. Es tat ihm zwar leid, dass er sie verunsichert hatte, aber er freute sich auch, dass er seinen Willen bekommen hatte. Sie hatte weder versucht, mit ihm zu streiten noch kokett zu sein. Er konnte Koketterie nicht ausstehen.

Er zwang sich zu einem freundlicheren Tonfall. »Darf ich dir ein paar sachliche Fragen stellen?«

»Sicher. Was möchtest du wissen?«

»Was sollen die beiden Wachen bei dir? Jetzt, wo du dein Ziel erreicht hast, kannst du sie doch entlassen. Oder meinst du, ich könnte dir meine Gastfreundschaft doch versagen?«

Sie beantwortete die letzte Frage zuerst. »Oh, ich habe nie daran gedacht, dass du mir eine Unterkunft verweigern würdest. Dein Vater hat mir versichert, dass du mich großzügig aufnehmen wirst. Flannaghan hat eine Nachricht für dich.« Sie hielt kurz inne. »Dein Vater hat ebenfalls darauf bestanden, dass ich die Wachen behalte. Raymond und Stefan sind von der Mutter Oberin des Klosters, wo ich bisher gelebt habe, engagiert worden. Sie haben mich nach England eskortiert, und dein Vater wollte, dass ich sie auch weiterhin in Anspruch nehme. Keiner von beiden hat Familie, und sie werden gut bezahlt. Du brauchst dir wirklich keine Sorgen darum zu machen.«

Er versuchte, sich in Geduld zu fassen. Sie blickte ihn so treuherzig an. »Ich habe mir keine Sorgen um sie gemacht«, sagte er. Dann grinste er und schüttelte wieder den Kopf. »Weißt du, es ist gar nicht leicht, vernünftige Antworten aus dir herauszubekommen.«

Sie nickte. »Die Mutter Oberin hat dasselbe gesagt. Es soll angeblich meine größte Schwäche sein. Tut mir leid, wirklich. Ich wollte dich nicht verwirren.«

»Alesandra, da steckt doch mein Vater dahinter, nicht wahr? Er hat dich zu mir geschickt.«

»Ja und nein.«

Schnell hob sie die Hand, um ihn zu beruhigen. »Ich versuche nicht, dir neue Rätsel aufzugeben. Ja, dein Vater hat mich hergeschickt, aber erst, nachdem Caine und seine Frau krank geworden waren. Tatsächlich sollte ich eigentlich auf dem Land bleiben, bis sich deine Eltern wieder genug erholt haben, um mich nach London zu begleiten. Ich hätte es auch getan, wenn ich nicht schon so viele Verabredungen getroffen hätte.«

Sie klang ehrlich. Dennoch konnte er noch nicht wirklich glauben, dass sein Vater keinen Plan gemacht hatte, ihn zu verkuppeln. Er hatte ihn noch vor einer Woche im Club getroffen, und da wirkte er absolut gesund und munter. Colin konnte sich noch bestens an den unvermeidlichen Streit erinnern, den sie miteinander hatten. Vater hatte natürlich wieder, ach so zufällig, das Thema aufs Heiraten gelenkt und dann, direkter, Colin gedrängt, sich endlich eine Frau zu nehmen. Colin hatte getan, als hörte er zu, und, als sein Vater seine Litanei endlich beendet hatte, ihm wie immer mitgeteilt, dass er allein bleiben wolle.

Alesandra hatte keine Ahnung von dem, was Colin im Kopf herumging. Dennoch machte seine finstere Miene sie langsam nervös. Er schien wirklich einer von der misstrauischen Sorte zu sein. Sie musterte ihn und fand, dass er gut aussah. Er hatte dichtes, kastanienbraunes Haar und eher grüne als haselnussbraune Augen, die funkelten, wenn er lächelte, und ein Grübchen in der linken Wange. Aber, Himmel, sein Stirnrunzeln war wirklich düster. Er wirkte auf sie sogar beängstigender als die Mutter Oberin, und das wollte schon etwas heißen.

Sie konnte das Schweigen nicht länger ertragen. »Dein Vater hatte vor, dir meine ungewöhnliche Lage zu erklären«, flüsterte sie. »Er wollte die Sache ganz direkt und unverhüllt angehen.«

»Wenn es um Vater und seine Pläne geht, ist nichts direkt und unverhüllt.«

Sie straffte die Schultern und sah ihn ärgerlich an. »Dein Vater ist der ehrenwerteste Mann, den ich je die Ehre hatte kennenzulernen. Er war sehr freundlich zu mir und hat nur die besten Absichten für meine Zukunft.«

Colin musste über die Empörung in ihrer Stimme grinsen. »Du musst ihn mir gegenüber nicht verteidigen. Ich weiß, wie ehrbar er ist. Das ist einer der etwa hundert Gründe, warum ich ihn liebe.«

Ihre Haltung entspannte sich etwas. »Du kannst dich glücklich schätzen, einen solchen Mann zum Vater zu haben.«

»Warst du es auch?«

»O ja«, antwortete sie. »Mein Vater war wunderbar.«

Sie begann zurückzuweichen, als Colin die letzten Stufen heraufkam. Dann stieß sie an die Wand, wandte sich um und ging den Flur entlang zu ihrem Zimmer.

Colin verschränkte die Hände hinter dem Rücken und passte sich ihrem Schritt an. Flannaghan hatte recht gehabt. Er überragte sie wirklich um einiges. Vielleicht schüchterte sie seine Größe ein.

»Du musst keine Angst vor mir haben.«

Sie blieb wie angenagelt stehen und drehte sich zu ihm um. »Angst? Wie in Gottes Namen kommst du auf die Idee, ich könnte Angst vor dir haben?«

Colin zuckte die Schultern. »Du bist ziemlich hastig zurückgewichen, als ich hochkam.« Über die Furcht, die er in ihren Augen bemerkt hatte, oder die Art, wie sie die Hände rang, schwieg er. Wenn sie so tun wollte, als hätte sie keine Angst, dann sollte sie ihren Willen haben.

»Nun ... ich habe keine große Angst«, gab sie zu. »Ich bin es einfach nicht gewöhnt ... im Morgenmantel Besuch zu empfangen. Tatsächlich fühle ich mich sehr sicher hier, Colin. Das ist ein angenehmes Gefühl. In letzter Zeit war ich vielleicht etwas schreckhaft.«

Sie errötete, als würde ihr Geständnis sie in Verlegenheit bringen.

»Warum warst du schreckhaft?«, fragte er.

Statt seine Frage zu beantworten, wechselte sie das Thema. »Möchtest du gerne wissen, warum ich in London bin?«

Fast hätte er laut losgelacht. Hatte er sich nicht die letzten zehn Minuten darum bemüht, genau das herauszufinden? »Wenn du es mir sagen willst«, antwortete er zurückhaltend.

»In Wirklichkeit habe ich zwei Gründe für die Reise gehabt«, begann sie. »Aber beide sind gleich wichtig. Zum Ersten geht es um ein Geheimnis, das ich aufdecken will. Vor einem Jahr traf ich eine junge Dame, die Victoria Perry hieß. Sie war mit ihren Eltern auf einer Reise durch Österreich gewesen und sehr krank geworden. Die Schwestern im Kloster zum Heiligen Kreuz sind für ihre Kenntnisse bei der Krankenpflege bekannt. Und als einmal feststand, dass Victoria sich erholen würde, ließen ihre Eltern sie unbesorgt bei uns, damit sie sich erholen konnte. Sie und ich schlossen schnell Freundschaft, und als sie schließlich nach England zurückkehrte, schrieb sie mir mindestens einmal monatlich einen Brief, manchmal sogar öfter. Ich wünschte, ich hätte die Briefe aufbewahrt, denn in zweien der dreien erwähnte sie einen heimlichen Bewunderer, der ihr den Hof machte. Sie fand das alles sehr romantisch.«

»Perry ... wo habe ich diesen Namen denn schon einmal gehört?«, überlegte Colin laut.

»Ich weiß nicht.«

Er lächelte. »Aber ich hätte dich nicht unterbrechen sollen. Bitte sprich weiter.«

Sie nickte. »Der letzte Brief, den ich von ihr bekam, war auf den ersten September datiert. Ich schrieb sofort zurück, hörte aber nichts mehr von ihr. Natürlich begann ich, mir Sorgen zu machen. Als ich bei deinen Eltern ankam, erzählte ich ihnen, ich wollte einen Boten schicken, um Victoria um eine Verabredung zu bitten. Ich konnte es kaum erwarten, alle Neuigkeiten von ihr zu hören, denn sie führt ein sehr aufregendes Leben, und ihre Briefe haben mir immer viel Spaß gemacht.«

»Und habt ihr euch verabredet?«

»Nein«, sagte Alesandra. Sie wandte sich um und schaute zu Colin auf. »Dein Vater erzählte mir von dem Skandal. Victoria soll angeblich mit einem Mann von niederem Stand davongelaufen sein und in Gretna Green an der schottischen Grenze geheiratet haben. Kannst du dir so etwas vorstellen? Ihre Familie glaubt es auch noch. Dein Vater hat mir erzählt, sie hätten sie sogar enterbt.«

»Jetzt erinnere ich mich wieder. Von dem Skandal habe ich gehört.«

»Aber das stimmt alles nicht.«

Er zog eine Augenbraue hoch. »Nicht?«

»Nein«, sagte sie bestimmt. »Ich kann Menschen gut einschätzen, Colin, und ich kann dir versichern, Victoria wäre nicht einfach weggelaufen. Sie ist nicht der Typ dafür. Ich will herausfinden, was wirklich passiert ist. Vielleicht steckt sie in Schwierigkeiten, und ich kann ihr helfen. Morgen schicke ich einen Boten zu ihrem Bruder Neil und bitte darum, empfangen zu werden.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Familie die Angelegenheit noch einmal aufrollen will.«

»Ich kann sehr diskret sein.«

Ihre Stimme klang ernst und aufrichtig. Sie hatte einen Hang zum Dramatischen, fand er, und sie war so verdammt schön, dass er Mühe hatte, ihren Worten zu folgen. Ihre Augen hypnotisierten ihn förmlich. Er hatte zwar wahrgenommen, dass sie die Hand auf dem Türknauf zu seinem Zimmer liegen hatte, aber ihr Duft verwirrte ihn noch mehr. Der Duft von Rosen hing zwischen ihm und ihr in der Luft. Sofort trat Colin einen Schritt zurück, um etwas Distanz zu schaffen.

»Macht es dir etwas aus, dass ich in deinem Bett schlafe?«

»Das wusste ich bisher noch nicht.«

»Flannaghan will meine Sachen morgen in das Nebenzimmer bringen. Er glaubte, du würdest heute Abend nicht mehr nach Hause kommen. Es ist nur für eine Nacht, weißt du, aber wenn er die Zeit gehabt hat, das Bett im Nebenzimmer zu machen, geb ich dir gerne deines zurück.«

»Wir können morgen früh tauschen.«

»Das ist lieb. Danke.«

Erst jetzt bemerkte Colin die dunklen Ringe unter ihren Augen. Die Frau war erschöpft, und er hielt sie mit seinen dummen Fragen von ihrem Schlaf ab!

»Du brauchst deine Ruhe, Alesandra. Es ist mitten in der Nacht.«

Sie nickte und öffnete dann die Tür zu seinem Zimmer. »Gute Nacht, Colin. Nochmals danke für deine Gastfreundschaft.«

»Ich kann doch keine Prinzessin abweisen, die vom Pech verfolgt ist«, sagte er.

»Wie bitte?« Sie hatte keine Ahnung, was er mit der Bemerkung sagen wollte. Wie war er nur auf die Idee gekommen, sie könnte vom Pech verfolgt sein?

»Alesandra, was war der zweite Grund, weswegen du nach London gekommen bist?«

Sie sah ihn verwirrt an. Der zweite Grund war wohl nicht sehr wichtig, entschied er. »Ich war nur neugierig«, sagte er mit einem Achselzucken. »Du sagtest, du hättest zwei Gründe, und ich habe mich gefragt  ... nun, egal. Geh ins Bett. Wir sehen uns morgen früh. Gute Nacht, Prinzessin.«

»Ich weiß wieder, was der zweite Grund war«, platzte sie plötzlich heraus.

Er wandte sich wieder zu ihr um. »Ja?«

»Soll ich ihn dir sagen?«

»Ich bitte darum.«

Sie starrte ihn eine lange Weile an. Ihr Zögern war offensichtlich. »Soll ich ganz offen zu dir sein?«

Er nickte. »Natürlich.«

»Also gut. Ich bin also ehrlich. Dein Vater meinte zwar, ich sollte nichts sagen, aber da du darauf bestehst, es zu erfahren und ich versprochen habe, ehrlich zu sein  ...«

»Ja?«, bohrte er nach.

»Ich bin nach London gekommen, um dich zu heiraten.«

Der Hunger kam ganz plötzlich wieder. Er fand es seltsam, wie unerwartet das Verlangen über ihn hereinbrach. Niemals gab es vorher eine Warnung. Eine lange, lange Zeit hatte er nicht an die Jagd gedacht. Doch nun, um Mitternacht, während er im Eingang von Sir Johnsons Bibliothek lehnte und mit seinem Brandy in der Hand dem neusten Klatsch über den Prinzregenten lauschte und die anderen seriösen Gentlemen im Zimmer betrachtete, überfiel ihn der Trieb mit fast überwältigender Dringlichkeit.

Er konnte spüren, wie ihn seine Kräfte verließen. Seine Augen brannten, sein Magen krampfte sich zusammen. Er war so leer, leer, leer.

Er brauchte wieder Nahrung.

3

Den Rest der Nacht schlief Alesandra nicht viel. Der Ausdruck auf Colins Gesicht, als sie mit dem zweiten Grund für ihr Kommen herausgeplatzt war, hatte ihr den Atem stocken lassen. Himmel, war er wütend gewesen! So sehr sie es auch versuchte, sie schaffte es nicht, seine zornige Miene lange genug aus ihrem Kopf zu verbannen, um einschlafen zu können.

Soweit zur Ehrlichkeit, dachte sie bei sich. Die Wahrheit hatte ihr keinen guten Dienst erwiesen. Besser, sie hätte den Mund gehalten. Alesandra seufzte laut. Nein. Sie hatte die Wahrheit sagen müssen. Die Mutter Oberin hatte ihr das nachdrücklich eingehämmert.

Augenblicklich kehrten ihre Gedanken zu Colin zurück. Wie konnte ein Mann mit so einem netten Grübchen in der Wange so eisige Augen haben? Wer wusste schon, ob Colin nicht gefährlich werden konnte, wenn er so wütend war? Sie wünschte sich, sein Papa hätte dieses wichtige Detail erwähnt. Dann hätte sie sich nicht so in Verlegenheit und Colin nicht in eine derartige Wut bringen müssen.

Sie fürchtete sich davor, ihn wiederzutreffen. Also nahm sie sich Zeit, sich anzuziehen. Valena half ihr und plauderte unentwegt, während sie ihrer Herrin die Haare bürstete. Sie wollte alle Einzelheiten von Alesandras Plänen wissen. Wollte sie heute ausgehen? Wünschte die Herrin, dass Valena sie begleitete? Alesandra gab, so gut sie konnte, Antwort.

»Möglicherweise müssen wir uns eine andere Unterkunft suchen«, bemerkte sie. »Ich sage dir, was ich vorhabe, sobald ich es selbst weiß, Valena.«

Die Zofe hatte soeben den letzten Knopf im Rücken von Alesandras blauem Stadtkleid zugemacht, als es an der Tür klopfte.

Flannaghan bat die Prinzessin, seinen Herrn so bald wie möglich im Salon zu treffen.

Alesandra hielt es für keine gute Idee, den Mann warten zu lassen. Es war keine Zeit mehr, ihr Haar flechten zu lassen, und sie mochte diesen Luxus ohnehin nicht. Im Konvent hatte sie niemals eine Kammerzofe gehabt, und sie hatte keine vermisst. Sie konnte durchaus für sich selbst sorgen.