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Eine gefährliche Reise ins schottische Hochland und eine Welt voller Leidenschaft
Judith Hampton reist nach Schottland, um ihrer Freundin aus Kindertagen bei der Niederkunft beizustehen - und weil sie endlich ihren eigenen Vater kennenlernen möchte. Zu ihrer Sicherheit wird Judith von Iain Maitland begleitet, dem Herrn eines mächtigen schottischen Clans. Anfangs erscheint er ihr wie ein Barbar, doch schon bald erliegt sie seiner Anziehungskraft. Und auch Iain, verblüfft über ihren anfänglichen Trotz, erfasst tiefe Zuneigung. Doch die schlimme Wahrheit über ihren Vater bedroht das junge Glück - ein dunkles Geheimnis mit verheerenden Folgen ...
Julie Garwood ist "eine der besten Liebesromanautorinnen der Welt. [...] Nicht nur Highland-Fans sollten dieses Buch unbedingt lesen!" Schnee, happy-end-buecher.de
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Seitenzahl: 548
Veröffentlichungsjahr: 2021
Cover
Titel der Autorin bei beHEARTBEAT
Über dieses Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
Prolog
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Schottische Hochzeit – Die Braut-Reihe
Die stolze Braut des Highlanders
Die Hochzeit des Highlanders
Die königlichen Spione – Regency Romance
Der Schwur des Marquis
Das Geheimnis des Gentleman
Das Versprechen des Duke
Romane (Einzeltitel)
Geliebter Barbar
Die Braut des Normannen
Melodie der Leidenschaft
Weitere Titel in Planung.
Eine gefährliche Reise ins schottische Hochland und eine Welt voller Leidenschaft
Judith Hampton reist nach Schottland, um ihrer Freundin aus Kindertagen bei der Niederkunft beizustehen – und weil sie endlich ihren eigenen Vater kennenlernen möchte. Zu ihrer Sicherheit wird Judith von Iain Maitland begleitet, dem Herrn eines mächtigen schottischen Clans. Anfangs erscheint er ihr wie ein Barbar, doch schon bald erliegt sie seiner Anziehungskraft. Und auch Iain, verblüfft über ihren anfänglichen Trotz, erfasst tiefe Zuneigung. Doch die schlimme Wahrheit über ihren Vater bedroht das junge Glück – ein dunkles Geheimnis mit verheerenden Folgen ...
eBooks von beHEARTBEAT – Herzklopfen garantiert.
Julie Garwood (*1946 in Kansas City, Missouri) gilt als Grande Damen der historischen Liebesromane. Mit einer Gesamtauflage von über 40 Millionen Exemplaren weltweit und mehr als 15 New-York-Times-Bestsellern zählt sie zu den beliebtesten und erfolgreichsten Vertreterinnen ihres Genres.
Dabei kam sie erst nach einer Ausbildung als Krankenschwester zum Schreiben, als ihr jüngstes Kind eingeschult wurde. Seit Erscheinen ihres ersten Romans Mitte der Achtzigerjahre hat sie mehr als 30 Bücher veröffentlicht.
Garwoods Liebesgeschichten zeichnen sich durch sinnliche Leidenschaft aus, gepaart mit einem Augenzwinkern und historischer Detailtreue. Dabei ist sie im mittelalterlichen Schottland ebenso heimisch wie im England der Regentschaftszeit. Ihr Anspruch lautet: »Ich möchte meine Leserinnen zum Lachen und zum Weinen bringen und hoffe, dass sie sich verlieben.«
Die Autorin lebt in Leawood, Kansas. Sie ist verheiratet und hat drei Kinder.
Für weitere Informationen besuchen Sie Julie Garwoods Homepage unter: https://juliegarwood.com/.
Julie Garwood
Geliebter Barbar
Aus dem amerikanischen Englisch von Kerstin Winter
Digitale Erstausgabe
»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgabe:
Copyright © by Julie Garwood
Titel der amerikanischen Originalausgabe: »The Secret«
Published by Arrangement with Julie Garwood.
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln
Covergestaltung: Guter Punkt, München
unter Verwendung von Motiven © PeriodImages.com; thekopmylife/Getty Images; sgar80/Getty Images; grafxart8888/Getty Images;
eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 978-3-7517-0335-2
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
England 1181
Sie wurden Freundinnen, bevor sie alt genug waren zu verstehen, dass sie sich hassen sollten.
Die zwei kleinen Mädchen lernten sich auf dem Sommerfest kennen, das jedes Jahr an der Grenze zwischen Schottland und England stattfand. Für Lady Judith Hampton war es das erste Mal, dass sie die schottischen Spiele miterlebte. Außerdem war sie noch nie so weit weg von ihrem einsamen Zuhause im Westen Englands gewesen. Das allein brachte schon Aufregungen genug, und Judith hatte Mühe, beim obligatorischen Mittagsschläfchen die Augen zuzuhalten. Für eine neugierige Vierjährige gab es so unglaublich viel zu sehen und zu tun. Und vor allen Dingen viel Unsinn anzustellen.
Das war Frances Catherine Kircaldy bereits gelungen. Ihr Vater hatte ihr einen kräftigen Klaps auf die Kehrseite gegeben, und trug sie nun – über die Schulter geworfen wie einen Futtersack – über das weite Feld. Schließlich setzte er sie auf einen runden Felsen, weitab von Gesang und Tanz, und befahl ihr, dort sitzenzubleiben, bis er sie abholen käme. Bis dahin sollte sie über ihre Sünden nachsinnen, vielleicht würde er ihr dann verzeihen.
Da Frances Catherine nicht die leiseste Ahnung hatte, was das Wort »nachsinnen« bedeutete, war es ihr nicht möglich, zu gehorchen. Zumal sie auf eine dicke Biene achtgeben musste, die hartnäckig ihren Kopf umschwirrte. Judith hatte beobachtet, wie der Vater seine Tochter bestrafte. Das lustige, sommersprossige Mädchen tat ihr leid. Sie, Judith hätte bestimmt geweint, wenn ihr Onkel Herbert sie geschlagen hätte. Aber das rothaarige Kind hatte bei dem Klaps noch nicht einmal das Gesicht verzogen.
Sie beschloss, das Mädchen kennenzulernen. Also wartete sie, bis der Vater aufgehört hatte, mit dem Zeigefinger vor der Nase seiner Tochter herumzuwedeln und fortgegangen war. Dann raffte sie den Saum ihres Kleidchens und rannte den langen Weg um das Feld herum, bis hinter den Felsen.
»Mein Vater hätte mich nicht gehauen«, platzte sie heraus, anstatt sich vorzustellen. Frances Catherine drehte sich nicht um. Sie wagte nicht, die Biene aus den Augen zu lassen, die dicht neben ihrem linken Knie auf dem Felsen herumkrabbelte.
Judith ließ sich dadurch nicht entmutigen.
»Mein Vater ist tot!«, verkündete sie. »Sogar schon, bevor ich überhaupt auf der Welt war.«
»Woher weißt du dann, ob er dich schlagen würde oder nicht?«
Judith zuckte die Schultern. »Ich weiß es einfach«, sagte sie. »Du redest so komisch. Hast du irgendetwas im Hals stecken?«
»Nein«, antwortete Frances Catherine. »Du redest doch auch komisch!«
»Wieso guckst du mich nicht an?«
»Geht nicht!«
»Und warum nicht?«, fragte Judith. Etwas verlegen drehte sie den Saum ihres Kleides zu einem Wulst, während sie auf eine Antwort wartete.
»Ich muss auf die Biene aufpassen«, sagte Frances Catherine. »Sie will mich stechen. Ich muss sie im richtigen Moment wegjagen!«
Judith beugte sich vor. Dann sah sie die Biene, die mittlerweile den linken Fuß des Mädchens umkreiste.
»Und warum jagst du sie nicht jetzt schon weg?«, flüsterte sie gespannt.
»Lieber nicht«, gab Frances Catherine zurück. »Womöglich treffe ich sie nicht, und dann sticht sie mich bestimmt!«
Judith dachte eine Weile über das Dilemma nach. »Soll ich es für dich tun?«
»Willst du das wirklich?«
»Vielleicht«, antwortete Judith. Und um Zeit zu gewinnen, fragte sie: »Wie heißt du?«
»Frances Catherine. Und du?«
»Judith. Wieso hast du zwei Vornamen? Alle Leute, die ich kenne, haben nur einen!«
»Das fragt mich jeder«, erwiderte Frances Catherine und seufzte. »Meine Mama hieß Frances. Sie ist bei meiner Geburt gestorben. Catherine ist der Name meiner Großmutter, und sie ist genauso gestorben. Sie durften nicht in geheiligter Erde begraben werden, weil die Kirche gesagt hat, sie sind nicht rein. Papa hofft, dass ich mich endlich gut benehme, denn dann komme ich in den Himmel. Und wenn Gott meine beiden Namen erfährt, denkt er an Mama und Großmutter.«
»Warum sagt die Kirche denn, dass sie nicht rein sind?«
»Weil sie ein Kind bekommen haben, als sie starben«, erklärte Frances Catherine. »Du weißt wohl gar nichts!«
»Doch. Ich weiß doch was!«, gab Judith trotzig zurück.
»Ich weiß alles!«, prahlte Frances Catherine. »Sogar, wie Babys in die Bäuche der Mütter kommen. Willst du’s wissen?«
»Oh, ja!«
»Also, wenn sie verheiratet sind, spuckt der Mann in seinen Weinkelch und gibt ihn seiner Frau. Sobald sie davon trinkt, hat sie ein Baby in ihrem Bauch.«
Judith verzog das Gesicht. So was Ekliges. Sie wollte ihre neue Freundin gerade um weitere Einzelheiten bitten, als Frances Catherine plötzlich anfing, laut zu jammern. Judith beugte sich noch ein Stückchen vor und stimmte augenblicklich in das Gejammer ein. Die Biene hatte sich auf der Schuhspitze des Mädchens niedergelassen. Und je länger Judith sie anstarrte, desto größer und bedrohlicher schien das Insekt zu werden.
Keine der beiden dachte mehr an Geburt und Kinderkriegen.
»Tust du’s? Jagst du sie weg?«, fragte Frances Catherine.
»Ja ... gleich!«
»Hast du Angst?«
»Nein«, log Judith. »Ich hab vor nichts Angst. Und ich dachte, du auch nicht.«
»Wieso?«
»Weil du nicht geweint hast, als dein Vater dich gehauen hat!«, erklärte Judith.
»Er hat nicht sehr fest geschlagen«, gab Frances Catherine zu. »Das tut er nie. Es schmerzt ihn nämlich mehr als mich. Jedenfalls sagen Gavin und Kevin das. Und sie sagen, Papa ruiniert mich für den Mann, der mich mal heiraten soll, weil Papa mich nämlich verwöhnt.«
»Wer sind Gavin und Kevin?«
»Meine Halbbrüder«, erklärte Frances Catherine. »Papa ist auch ihr Papa, aber sie haben eine andere Mama. Sie ist tot.«
»Weil sie ein Kind gekriegt hat?«
»Nein.«
»Warum ist sie dann gestorben?«
»Papa hat gesagt, sie war einfach erschöpft«, sagte Frances Catherine. »Ich mach jetzt die Augen ganz fest zu, und du jagst die Biene weg, ja?«
Judith war so fest entschlossen, ihre neue Freundin zu beeindrucken, dass sie nicht mehr über die Folgen nachdachte. Sie holte aus und schlug nach der Biene. Doch als sie das Flattern der kleinen Flügel an ihrer Handfläche spürte, machte sie intensiv eine Faust – und heulte auf.
Frances Catherine sprang vom Felsen und half auf die einzige Art, die ihr einfiel: Sie heulte mit.
Judith rannte immer um den Felsen herum und schrie dabei so laut, dass sie fast keine Luft mehr bekam. Frances Catherine lief hinterher und brüllte genauso laut – aus Mitgefühl und Angst.
Da kam auch schon Frances Catherines Vater über das Feld herbeigerannt. Er schnappte sich zuerst seine Tochter, und nachdem sie ihm stammelnd erzählt hatte, was geschehen war, fing er auch Judith ein.
In wenigen Augenblicken waren die beiden Mädchen getröstet. Frances Catherines Vater hatte den Stachel aus Judiths Hand gezogen und kühlenden Schlamm darauf gestrichen. Dann trocknete er ihre Tränen mit einem Zipfel seines wollenen Umhangs. Nun saß er auf dem Straf-Felsen, seine Tochter auf dem einen und Judith auf dem anderen Knie.
Niemand hatte je so viel Aufhebens um Judith gemacht. Die Zuwendung des fremden Mannes machte sie zwar verlegen, aber es gefiel ihr doch so gut, dass sie sich eng an ihn kuschelte.
»Ihr zwei seid vielleicht ein Paar«, brummte der Mann, als ihr Schluchzen so weit verstummte, dass sie ihn verstehen konnten. »Erst übertönt ihr mit eurem Geschrei die Fanfarenstöße, die die Wettkämpfe ankündigen, und dann rennt ihr herum wie zwei kopflose Hühner.«
Judith war sich nicht sicher, ob der Fremde wirklich böse war oder nicht. Seine Stimme klang zwar schroff, aber sein Blick war weiterhin freundlich. Als Frances Catherine kicherte, entschied Judith, dass der Vater wohl doch nur einen Scherz gemacht hatte.
»Es hat ihr richtig weh getan, Papa«, sagte Frances Catherine.
»Das glaub ich dir«, antwortete er. Dann wandte er sich Judith zu, die ihn fasziniert anstarrte.
»Es war sehr mutig von dir, meiner Tochter zu helfen«, lobte er sie. »Aber beim nächsten Mal fängst du die Biene besser nicht. Einverstanden?«
Judith nickte feierlich.
Er tätschelte ihren Arm. »Du bist ein hübsches, kleines Ding«, bemerkte er. »Wie heißt du?«
»Sie heißt Judith, Papa, und sie ist meine Freundin. Kann sie mit uns essen?«
»Das hängt von ihren Eltern ab«, erwiderte der Vater.
»Ihr Papa ist tot«, verkündete Frances Catherine. »Ist das nicht tragisch?«
»Das ist es allerdings«, stimmte er zu. Um seine Augen bildeten sich kleine Fältchen, aber sein Mund lächelte nicht. »Sie hat die hübschesten blauen Augen, die ich je gesehen habe.«
»Aber Papa. Hab ich denn nicht die schönsten Augen, die du je gesehen hast?«
»Doch, Frances Catherine. Du hast die hübschesten braunen Augen, die ich je gesehen hab.«
Zufrieden mit seiner Antwort, kicherte Frances Catherine erneut. »Ihr Papa ist schon totgegangen, bevor sie überhaupt auf der Welt war«, berichtete sie aufgeräumt. Es war ihr gerade wieder eingefallen, und sie war sicher, dass es ihren Vater interessieren würde.
Der nickte und sagte dann: »Hör mal, Tochter, ich möchte, dass du einen Moment mal ganz still bist, während ich mich mit deiner Freundin unterhalte.«
»Ja, Papa.«
Der Mann wandte sich wieder Judith zu. Die Art, wie sie ihn unentwegt anstarrte, brachte ihn ein wenig aus der Fassung. Was für ein ernsthaftes, junges Ding. Zu ernsthaft für ihr Alter, fand er.
»Wie alt bist du, Judith?«
Sie hielt vier Finger hoch.
»Papa! Genauso alt wie ich!«, rief Frances Catherine.
»Nein, Frances Catherine. Sie ist vier Jahre und du bist fünf. Oder hast du das vergessen?«
»Nein, Papa.«
Er lächelte seine Tochter an und versuchte noch einmal, mit Judith zu reden. »Du hast doch keine Angst vor mir, oder?«
»Sie hat vor nichts Angst, Papa.«
»Sei still, Tochter. Ich möchte ein paar Worte von deiner Freundin hören. Judith, ist deine Mutter hier?«
Judith schüttelte den Kopf und drehte nervös eine Locke ihres weißblonden Haares um ihre Finger, ohne jedoch den Blick von ihm abzuwenden. Der Mann hatte einen dichten roten Bart, und wenn er sprach, zitterten die einzelnen Barthaare. Judith hätte sie zu gern einmal angefasst. Wie sich das wohl anfühlte?
»Judith? Ist deine Mama hier?«, wiederholte der Mann.
»Nein. Mama ist bei Onkel Tekel. Sie weiß nicht, dass ich hier bin. Das ist ein Geheimnis, und wenn ich es verrate, darf ich nie wieder zu dem Fest kommen. Hat Tante Millicent gesagt.« Nun, da sie einmal angefangen hatte, sprudelten die Worte aus ihr heraus. »Onkel Tekel sagte, er ist genau wie ein Papa, aber er ist bloß Mamas Bruder, und ich darf nie auf seinem Schoß sitzen. Ich würde auch gar nicht wollen, wenn ich dürfte, aber ich darf ja nicht, also was macht das schon.«
Frances Catherines Vater hatte Schwierigkeiten, Judiths Wortschwall zu folgen, seine Tochter dagegen überhaupt nicht.
»Warum darfst du denn nicht auf seinem Schoß sitzen?«, fragte sie interessiert.
»Er hat beide Beine gebrochen.«
Frances Catherine stieß einen entsetzten Schrei aus.
»Papa, ist das nicht tragisch?«
Ihr Vater seufzte. Offensichtlich entglitt ihm die Unterhaltung.
»Ja, das ist es wirklich«, stimmte er zu. »Also, Judith, wenn deine Mutter zu Hause ist, mit wem bist du dann hier?«
»Mit Mamas Schwester«, antwortete Judith. »Ich hab immer bei Tante Millicent und Onkel Herbert gewohnt, aber jetzt darf ich das nicht mehr.«
»Wieso?«, fragte Frances Catherine.
»Weil Mama gehört hat, dass ich Onkel Herbert ‘Papa’ genannt habe. Darüber ist sie so wütend geworden, dass sie mich auf den Kopf gehauen hat. Dann hat Onkel Tekel gesagt, dass ich jetzt ein halbes Jahr bei ihm und Mama leben soll, damit ich weiß, wo ich hingehöre und meine Tante Millicent und mein Onkel Herbert sollen gefälligst ohne mich auskommen. Mama wollte mich auch das andere halbe Jahr behalten, aber Onkel Tekel hatte noch nichts getrunken, und dann weiß sie, dass er später noch weiß, was er gesagt hat. Er weiß das nämlich immer, wenn er nicht betrunken ist. Und Mama war wieder schrecklich wütend.«
»War deine Mama darum wütend, weil sie dich vermisst, wenn du nicht bei ihr bist?«, fragte Frances Catherine.
»Nein«, sagte Judith leise. »Mama sagt, ich bin lästig.«
»Warum lässt sie dich dann nicht fort?«
»Sie mag Onkel Herbert nicht«, erklärte Judith.
»Warum mag sie ihn denn nicht?«, fragte Frances Catherine weiter.
»Weil er mit den verdammten Schotten verwandt ist.« Judith wiederholte, was sie schon oft gehört hatte. »Mama sagt, ich darf noch nicht mal mit den verdammten Schotten reden.«
»Papa, bin ich ein verdammter Schotte?« Frances Catherine runzelte besorgt die kleine Stirn.
»Nein, ganz bestimmt nicht.«
»Ich denn?«, fragte Judith zaghaft.
»Du bist Engländerin, Judith«, erklärte ihr der Mann geduldig.
»Bin ich dann eine verdammte Engländerin?«
Nun wurde der Mann wirklich ärgerlich. »Niemand ist ein verdammter Irgendwer«, sagte er. Er wollte noch etwas hinzufügen, brach aber plötzlich in lautes Lachen aus. Sein mächtiger Bauch bebte vor Vergnügen.
»In Gegenwart von euch zwei kleinen Plappermäulchen sage ich lieber nichts, was ein Geheimnis bleiben sollte.«
»Warum nicht, Papa?«
»Mach dir darüber keine Gedanken«, gab er zurück. Er stand auf, seine Tochter auf dem einen, Judith auf dem anderen Arm. Beide Mädchen kreischten begeistert, als er so tat, als wollte er sie fallenlassen.
»Wir suchen jetzt deine Tante und deinen Onkel, bevor sie sich Sorgen machen. Judith, zeig mir den Weg zu eurem Zelt, mein Kind.«
Augenblicklich erstarrte Judith. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wo das Zelt stand! Und da sie ihr Wappen noch nicht kannte, konnte sie es Frances Catherines Vater noch nicht einmal beschreiben. Sie unterdrückte die Tränen und senkte den Kopf. »Ich hab’s vergessen«, flüsterte sie.
Ihr kleiner Körper spannte sich an. Sicher würde er sie nun anschreien, so wie es Onkel Tekel immer tat, wenn er betrunken war und sie etwas getan hatte, was ihm nicht passte.
Aber der Vater ihrer Freundin geriet nicht in Wut. Verstohlen blickte sie zu ihm auf und sah sein Lächeln. Und ihre Angst verschwand gänzlich, als er ihr versicherte, sie brauche sich keine Sorgen zu machen. Ganz sicher würden sie ihre Verwandten schon bald finden.
»Vermissen sie dich, wenn du nicht zurückkommst?«, erkundigte sich Frances Catherine.
Judith nickte. »Onkel Herbert und Tante Millicent würden bestimmt weinen«, sagte sie zu ihrer neuen Freundin. »Manchmal wünschte ich, sie wären meine Mama und mein Papa.«
»Wieso?«
Judith hob die Schultern. Es gab keine Worte, um das zu erklären.
»Nun, wünschen darf man sich schließlich alles«, sagte Frances Catherines Vater.
Judith war so glücklich über seine Zustimmung, dass sie ihren Kopf vertrauensvoll an seine Schultern legte. Sie spürte den rauen Stoff seines Umhangs an ihrer Wange.
Er war bestimmt der wunderbarste Vater der ganzen Welt, dachte Judith. Und da er sie jetzt nicht mehr ansah, fasste sie den Mut, ihre Neugier zu befriedigen: Sie streckte den Arm aus, griff in seinen Bart und musste kichern, als die Härchen sie in der Handfläche kitzelten.
»Papa, magst du meine neue Freundin?«, fragte Frances Catherine, als sie etwa die Hälfte des Feldes überquert hatten.
»Ja, Liebes.«
»Kann ich sie behalten?«
»Beim Barte meiner ... nein! Du kannst sie nicht behalten! Sie ist doch kein Hündchen. Aber du darfst ihre Freundin sein«, setzte er hastig hinzu, bevor seine Tochter mit ihm ins Diskutieren geraten konnte.
»Für immer, Papa?«
Sie hatte ihren Vater gefragt, doch Judith gab ihr eine Antwort.
»Für immer!«, flüsterte sie und nickte bestätigend dazu. Frances Catherine griff über die Brust ihres Vaters nach Judiths Hand. »Für immer!«, schwor sie feierlich.
So hatte es begonnen.
Von diesem Augenblick an waren die beiden Mädchen unzertrennlich. Das Fest dauerte drei volle Wochen, und die Clans kamen und gingen, bis die Meisterschaftsspiele wie immer am letzten Sonntag des Monats stattfanden.
Judith und Frances Catherine kümmerten sich nicht um die Wettkämpfe. Sie waren zu sehr damit beschäftigt, ihre Geheimnisse auszutauschen.
Es war eine perfekte Freundschaft. Frances Catherine hatte endlich jemanden gefunden, der ihr zuhörte, und Judith besaß nun eine Freundin, die sich mit ihr beschäftigte.
Indes strapazierten die beiden die Geduld ihrer Familien gewaltig. Frances Catherine begann, in jedem zweiten Satz das Wort ›verdammt‹ zu verwenden, während Judith fast alles ›tragisch‹ fand.
Eines Nachmittags, als beide eigentlich schlafen sollten, schnitten sie sich gegenseitig das Haar ab. Als Tante Millicent das asymmetrische Fiasko entdeckte, begann sie lauthals zu kreischen und hörte erst wieder damit auf, als der grässliche Anblick mit zwei weißen Käppchen verdeckt wurde. Sie war wütend auf Onkel Herbert, der ein Auge auf die beiden hätte haben sollen. Doch anstatt im Geringsten entsetzt über diese Katastrophe zu sein, lachte er Tränen. Sie befahl ihrem Mann, die beiden Mädchen über das Feld zum Straf-Felsen zu tragen, wo sie über ihr unmögliches Benehmen nachdenken sollten.
Die Kinder dachten über eine Menge nach – weniger allerdings über ihr Benehmen. Frances Catherine hatte die wunderbare Idee, Judith einen zweiten Vornamen zu geben, damit beide gleich ausgestattet wären. Sie brauchten lange, um sich über den Namen – Elizabeth – einig zu werden. Doch sobald sie es entschieden hatten, wurde aus Judith Judith Elizabeth. Von nun an hörte sie nur noch, wenn jemand sie mit beiden Namen rief – auf Judith allein reagierte sie nicht mehr.
Ein Jahr später, als sie sich wiedertrafen, war es, als wären sie bloß Stunden voneinander getrennt gewesen. Ungeduldig wartete Frances Catherine darauf, Judith endlich für sich allein zu haben, weil es erstaunliche neue Tatsachen zum Thema Geburt zu berichten gab. Sie hatte festgestellt, dass eine Frau gar nicht verheiratet sein musste, um ein Baby zu bekommen: Eine der Frauen aus dem Kircaldy Clan war schwanger geworden, ohne dass sie vorher getraut worden war. Und einige der alten Clansfrauen hatten Steine auf sie geworfen. Ihr Vater hatte jedoch noch das Schlimmste verhüten können. »Haben die Frauen auch Steine auf den Mann geworfen, der in ihren Kelch gespuckt hat?«, wollte Judith wissen.
Frances Catherine schüttelte den Kopf. »Die Frau wollte nicht sagen, wer es gewesen ist«, antwortete sie.
Frances Catherine schloss daraus, dass eine Frau den Kelch eines beliebigen Mannes austrinken konnte, um ein Kind zu bekommen. Und beide gaben sie sich gegenseitig das Versprechen, so etwas niemals zu tun.
Die Jahre der Kindheit verschmolzen in Judiths Erinnerung, und langsam drang der bestehende Hass zwischen Schotten und Engländern in ihr Bewusstsein. Es schien, als hätten ihre Mutter und Onkel Tekel schon immer eine Abneigung gegen die Schotten gehabt, aber Judith war sicher, dass sie es bloß nicht anders kannten. Schließlich sagte Onkel Herbert doch immer, dass Unwissenheit oft Hass erzeugte. Und was Onkel Herbert sagte, glaubte Judith unbesehen.
Eines Tages überlegte sie, dass Onkel Tekel und ihre Mutter bestimmt merken würden, was für liebevolle, gutherzige Menschen die Schotten waren, wenn sie nur einige Zeit mit ihnen zusammenleben könnten. Da küsste Onkel Herbert sie auf die Stirn und sagte, sie habe vermutlich recht.
Doch Judith sah die Traurigkeit in seinen Augen und wusste, dass er ihr nur zustimmte, um ihr nicht weh zu tun und um sie vor der Wahrheit zu schützen.
Als sie elf Jahre alt wurde und erneut auf der Reise zu den Spielen war, erfuhr sie, warum ihre Mutter die Schotten so hasste.
Sie war mit einem verheiratet.
Schottland, 1200
Iain Maitland konnte ziemlich unangenehm werden, wenn er verärgert war.
Und jetzt war es so weit. Die üble Laune packte ihn in dem Moment, als sein Bruder ihm von dem Versprechen erzählte, dass er seiner hübschen Frau Frances Catherine gegeben hatte. Wenn Patrick beabsichtigte, seinen Bruder zu verblüffen, so war das Ziel erreicht. Seine Erklärung hatte Iain die Sprache verschlagen.
Dieser Zustand dauerte allerdings nicht lange. Schnell verwandelte sich die Überraschung in Zorn. Tatsächlich war diese lächerliche Zusage, die Patrick seiner Frau gegeben hatte, mindestens so ärgerlich wie die Tatsache, dass Patrick den Rat einberief, um dessen offizielle Meinung dazu zu hören. Iain hätte seinem Bruder bestimmt verboten, die Alten in etwas hineinzuziehen, das er für eine reine Familienangelegenheit hielt. Aber er war unterwegs gewesen, um die Maclean-Bastarde zur Strecke zu bringen, die drei unerfahrenen Maitland-Kriegern aufgelauert hatten. Als er müde, aber siegreich zurückkehrte, war die Dummheit bereits begangen.
Typisch Patrick: Im Handumdrehen machte er aus einer Mücke einen Elefanten. Und es war offensichtlich, dass er die weitreichenden Auswirkungen seines Verhaltens nicht bedacht hatte. Von Iain wurde nun – als frischernanntem Clansherrn – erwartet, seine Pflichten und Loyalität seinen engsten Familienangehörigen gegenüber zugunsten seines Amtes zurückzustellen.
Er dachte allerdings nicht daran, diesen Erwartungen zu entsprechen. Natürlich würde er seinem Bruder zur Seite stehen, egal wie viel Widerstand der Rat dagegenzusetzen hatte. Er würde auch nicht zulassen, dass sie ihn bestraften. Und wenn es sein musste, war er bereit zu kämpfen.
Iain hatte Patrick seinen Entschluss nicht mitgeteilt, weil er ihn noch zappeln lassen wollte. Wenn seine Nerven dabei genug strapaziert wurden, würde Patrick vielleicht lernen, sich demnächst zurückzuhalten.
Der Rat der Fünf war bereits im großen Saal versammelt, als Iain den Hügel hinaufging. Patrick wartete auf dem Hof. Er wirkte entschlossen, sich in den Kampf zu stürzen. Breitbeinig, die Fäuste geballt, stand er da, und seine Miene war so finster wie der Gewittersturm, der sich über ihren Köpfen zusammenbraute.
Iain übersah die Haltung seines Bruders. Unbeeindruckt schob er ihn zur Seite und betrat die Stufen.
»Iain«, rief Patrick hinter ihm her. »Ich frage dich jetzt, denn ich will wissen, wo ich stehe, bevor wir da reingehen: Bist du in dieser Sache für oder gegen mich?«
Iain hielt an und drehte sich langsam zu seinem Bruder um. Sein Ärger war ihm anzumerken, aber seine Stimme klang dennoch täuschend sanft: »Und ich frage dich, ob du mich durch diese Frage absichtlich provozieren willst.«
Augenblicklich lockerte Patrick seine angespannte Haltung. »Ich wollte dich nicht beleidigen. Aber du bist gerade erst Clansführer geworden, und der Rat prüft dich immer noch auf Herz und Nieren. Bisher war mir nicht klar, in was für eine unangenehme Lage ich dich gebracht habe.«
»Hast du es dir anders überlegt? Nimmst du dein Versprechen zurück?«
»Nein«, grinste Patrick. »Ich weiß auch, dass du den Rat nicht hinzuziehen wolltest ... gerade jetzt, wo du sie dafür gewinnen willst, ein Bündnis mit den Dunbars gegen die Macleans einzugehen. Aber Frances Catherine wollte unbedingt seinen Segen bekommen. Sie möchte ihre Freundin hier willkommen wissen!«
Iain schwieg. Also fuhr Patrick fort: »Mir ist auch klar, dass du nicht verstehst, warum ich meiner Frau so ein Versprechen gegeben habe. Aber eines Tages, wenn du die richtige Frau getroffen hast, wirst du’s begreifen.«
Iain schüttelte erbittert den Kopf. »Gott weiß, Patrick, das werde ich nie verstehen. Es gibt keine ›richtige Frau‹. Eine ist so gut wie die andere.«
Patrick lachte. »Das dachte ich auch. Bis ich Frances Catherine begegnet bin.«
»Du redest schon selbst wie eine Frau«, gab Iain zurück.
Patrick fühlte sich nicht beleidigt. Er wusste, dass sein Bruder die Liebe zu Frances Catherine nicht nachvollziehen konnte, aber vielleicht würde er auch bald jemanden finden, dem er sein Herz schenkte. Und wenn dieser Tag kam, würde es ihm, Patrick, großes Vergnügen bereiten, Iain an seine rüde Einstellung zu erinnern.
»Duncan deutete an, dass sie vielleicht meine Frau befragen wollen«, kam Patrick wieder auf sein Hauptanliegen zurück. »Glaubst du, er hat sich einen Scherz mit mir erlaubt?«
Iain schüttelte den Kopf. »Keiner der Ratsherren erlaubt sich jemals Scherze, Patrick, da weißt du genauso gut wie ich.«
»Verdammt. Ich bin dafür verantwortlich.«
»Aye, das bist du allerdings.«
Patrick ignorierte die prompte Zustimmung seines Bruders.
»Ich werde nicht zulassen, dass der Rat Frances Catherine einschüchtert.«
Iain seufzte. »Ich auch nicht«, versprach er.
Das Zugeständnis überrascht Patrick trotz seiner Unsicherheit so sehr, dass er zu lächeln begann. »Die Älteren glauben offensichtlich, dass sie mich in meiner Arbeit umstimmen können«, sagte er. »Du solltest besser wissen, dass sie sich da täuschen. Ich habe meiner Frau mein Wort gegeben, und das halte ich. Gott sei mein Zeuge, Iain, für Frances Catherine würde ich durch die Hölle gehen.«
Iain wandte sich um und grinste seinen Bruder an. »Ein einfacher Gang in den großen Saal genügt im Moment«, sagte er gedehnt. »Bringen wir’s hinter uns.«
Patrick nickte und eilte voraus, um eine der Doppeltüren für seinen Bruder zu öffnen.
»Einen Rat noch, Patrick«, sagte Iain, »lass deinen Zorn hier draußen. Wenn sie sehen, wie aufgebracht du bist, springen sie dir an die Kehle. Trag deine Beweggründe mit ruhiger Stimme vor. Lass den Verstand die Worte leiten, nicht deine Gefühle.«
»Und dann?«
»Mach ich den Rest.«
Die Tür fiel hinter ihnen zu.
Zehn Minuten später schickte der Rat einen Boten, um Frances Catherine zu holen. Dem jungen Sean wurde die Aufgabe zuteil. Er fand Patricks Frau am Kamin in ihrem Haus sitzen und richtete ihr aus, sie solle kommen und vor der Tür warten, bis ihr Mann sie vor den Rat geleite.
Frances Catherines Herz begann heftig zu klopfen. Patrick hatte sie zwar gewarnt, dass man sie rufen könnte, aber sie hatte es nicht glauben wollen. Es schickte sich nicht für eine Frau, ihre Ansichten direkt dem Rat oder dem Clansführer mitzuteilen. Die Tatsache, dass der neue Clansführer der Bruder ihres Mannes war, beruhigte sie auch nicht. Nein, die Verwandtschaft bedeutete hierbei leider nichts.
Ihre angstvollen Gedanken überstürzten sich und versetzten sie in heillose Aufregung. Der Rat hielt sie offensichtlich für schwachsinnig. Ja, entschied sie, Patrick hatte ihnen wahrscheinlich von seinem Versprechen ihr gegenüber berichtet, und deshalb wurde sie jetzt in den großen Saal gerufen. Sie wollten sich bestätigen lassen, dass sie den Verstand verloren hatte, bevor sie sie für den Rest ihres Lebens in die Verbannung schickten.
Ihre einzige Hoffnung war der Clansführer. Frances Catherine kannte Iain Maitland nicht sehr gut. In den zwei Jahren, die sie mit Patrick verheiratet war, hatte sie nicht mehr als fünfzig Worte mit Iain gesprochen. Aber nach Patricks Ansicht war sein Bruder Iain ein Ehrenmann. Dann musste er ihre Bitte doch anerkennen.
Zuerst jedoch hieß es, den Rat über sich ergehen zu lassen. Da dies ein offizielles Zusammentreffen war, durften vier der Ratsmitglieder nicht direkt mit ihr sprechen. Sie würden die Fragen an ihren eigenen Anführer, Graham, stellen. Er hatte die entwürdigende Aufgabe, mit ihr zu reden. Schließlich war sie nur eine Frau und eine Außenseiterin dazu, denn sie war an der Grenze geboren und aufgewachsen, nicht aber im glorreichen Hochland. Andererseits spürte Frances Catherine eine Erleichterung, dass nur Graham sie befragen würde. Von den Ältesten schüchterte er sie am wenigsten ein. Der alte Krieger, ein friedfertiger Mann, den der Clan hoch schätzte, war über fünfzehn Jahre Clansführer gewesen, bevor er sich aus dieser Machtposition vor knapp drei Monaten zurückgezogen hatte. Graham würde ihr keine Angst einjagen – zumindest nicht absichtlich – aber er würde jeden Trick anwenden, um Patrick von seinem Versprechen zu entbinden.
Hastig schlug sie ein Kreuz und betete still, während sie auf den Hügel zueilte. Sie würde diese Prüfung bestehen! Und keinesfalls klein beigeben. Patrick Maitland hatte ihr das Versprechen einen Tag vor ihrer Hochzeit gegeben, und bei Gott, er würde es bestimmt einhalten.
Ein kostbares Leben hing davon ab.
Frances Catherine war oben auf dem Hügel angelangt. Ein paar Frauen, die über den Hof kamen, starrten sie neugierig an. Was hatte eine Frau auf der Schwelle der Clansführer herumzulungern? Frances Catherine hielt den Kopf abgewandt und betete, dass niemand sie ansprach. Sie wollte nicht, dass die Clansfrauen Bescheid wussten, bevor es entschieden war. Sicher – sie würden auch dann zetern und schimpfen, aber es würde zu spät sein.
Agnes Kerry, das alte Klatschweib, die stets damit prahlte, dass ihre hübsche Tochter die zukünftige Braut des Clansführers sein würde, hatte den Hof bereits zweimal umrundet, um zu erfahren, was vor sich ging. Und zwei ihrer Gefolgsfrauen näherten sich ebenfalls langsam, aber sicher.
Als Frances Catherine die Falten ihres Umhangs über ihrem Bauch glattstrich, bemerkte sie, wie sehr ihre Hände zitterten. Sofort riss sie sich zusammen und stieß einen lauten Seufzer aus. Normalerweise war sie nicht so leicht verunsichert, aber seitdem sie wusste, dass sie schwanger war, hatte sich ihr Verhalten geändert. Sehr empfindlich war sie geworden und brach über die unbedeutendste Kleinigkeit in Tränen aus. Zudem fühlte sie sich dick, unattraktiv und plump, was ihre Gemütsverfassung nicht gerade ausglich. Im siebten Monat machte das Gewicht des Babys ihre Bewegungen langsam und schwerfällig. Ihre Gedanken allerdings nicht. Die überstürzten sich wieder, als sie überlegte, was Graham sie fragen könnte.
Endlich schwang die Tür auf und Patrick trat heraus. Ihre Erleichterung war so groß, dass sie fast wieder in Tränen ausgebrochen wäre. Patrick hatte die Stirn gerunzelt, doch als er sah, wie blass und ängstlich sie sich fühlte, zwang er sich zu einem Lächeln. Er ergriff ihre Hand, drückte sie leicht und zwinkerte ihr zu. Diese zärtliche Geste empfand Frances Catherine als fast so wohltuend wie seine allabendliche Rückenmassagen.
»Oh Patrick«, platzte sie heraus. »Es tut mir so leid, dass ich dich in solch eine Lage gebracht habe!«
»Heißt das, du entbindest mich von meinem Versprechen?«, fragte er mit der tiefen, vollen Stimme, die sie so liebte.
»Nein.«
Er lachte über ihre Direktheit. »Das dachte ich mir.«
Frances Catherine ignorierte seine Neckerei. Sie wollte sich jetzt nur auf das konzentrieren, was vor ihr lag.
»Ist er da drin?«, fragte sie flüsternd.
Patrick wusste natürlich, wen sie meinte. Seine Frau hatte eine höchst unvernünftige Angst vor seinem Bruder. Wahrscheinlich lag es daran, dass Iain Clansführer war, dachte Patrick. Diese Machtposition ließ ihn für seine Frau fast überirdisch erscheinen.
»Bitte antworte mir«, bat sie nervös.
»Ja, Liebes, Iain ist bereits da.«
»Dann weiß er von dem Versprechen?« Sofort wurde ihr klar, wie dumm ihre Frage war. »Oh, Himmel, natürlich weiß er davon. Ist er wütend auf uns?«
»Mein Schatz, alles wird gut werden«, versprach er und versuchte, sie durch die geöffnete Tür zu ziehen. Sie widersetzte sich seinem sanften Drängen.
»Aber der Rat, Patrick«, stieß sie hervor. »Wie hat er auf deine Erklärung reagiert?«
»Sie schnappen noch nach Luft!«
»Oh Gott!« Sie versteifte sich in seinem Arm.
Patrick verfluchte sich, dass er so ehrlich zu ihr war. Er zog sie näher an sich heran. »Alles wird gut«, wiederholte er mit leiser, beruhigender Stimme. »Du wirst sehen. Und wenn ich selbst nach England reiten muss, um deine Freundin zu holen. Du vertraust mir doch?«
»Ja, ich vertraue dir. Sonst hätte ich dich nicht geheiratet. Oh Patrick, verstehst du, wie wichtig es für mich ist?«
Er küsste sie auf die Stirn und sagte: »Ja, und das weißt du. Willst du mir eins versprechen?«
»Alles, was du willst.«
»Wenn deine Freundin hier ist, wirst du dann wieder fröhlich sein?«
Sie lächelte. »Versprochen«, flüsterte sie. Dann schlang sie die Arme um seine Taille und drückte sich an ihn. So standen sie lange. Patrick wollte ihr Zeit lassen, ihre Fassung wiederzufinden, und sie versuchte, im Geist die Worte zu formulieren, mit denen sie den Rat überzeugen wollte.
Eine Frau mit einem Korb Wäsche blieb einen Moment stehen und betrachtete lächelnd die beiden Liebenden.
Patrick und Frances Catherine waren ein schönes Paar: Er war sehr dunkel, sie sehr rothaarig, beide schlank und groß gewachsen, obwohl Patrick seine Frau noch um gut einen Kopf überragte. Nur neben seinem Bruder wirkte Patrick klein; beide besaßen jedoch breite Schultern und das gleiche schwarzbraune Haar. Das Grau von Patricks Augen war etwas dunkler, und weitaus weniger Narben zeichneten sein schönes Gesicht.
Neben ihrem kräftigen Mann wirkte Frances Catherine zierlich. Sie hatte große braune Augen, und Patrick schwor, dass sie wie Feueropale funkelten, wenn sie lachte. Ihr Haar jedoch war ihr ganzer Stolz. Es reichte ihr bis zur Taille und schimmerte in einem satten, dunklen rot.
Zuerst war Patrick von ihrer Erscheinung fasziniert gewesen. Doch es war ihr Wesen, das ihn schließlich gefangen nahm. Sie verzauberte ihn immer wieder aufs Neue: ihre urwüchsige Art, das Leben zu betrachten und die innere, brennende Leidenschaft, die sie begierig machte auf jedes neue Abenteuer. Sie tat alles mit Haut und Haaren. Und so war auch ihre Liebe zu ihm ausschließlich.
Patrick spürte, wie sie schauderte, und fand, dass es höchste Zeit war, die Sache hinter sich zu bringen.
»Komm mit, Liebes. Sie warten auf uns.«
Sie holte tief Atem, wand sich aus seinem Arm und trat schnell ein. Patrick blieb mit einem langen Schritt an ihrer Seite. Als sie die Stufen erreichten, die in die Große Halle hinabführten, hielt sie ihn plötzlich zurück und flüsterte: »Dein Cousin Steven hat gesagt, dass Iains wütender Blick ein Herz zum Stillstand bringen kann. Also sollten wir wirklich alles vermeiden, was ihn wütend macht, ja?«
Nur weil sie so ernst und so ängstlich klang, lachte Patrick nicht laut auf. Aber seine Stimme konnte seine Ungeduld nicht verbergen. »Frances Catherine, wir müssen wirklich etwas gegen deine unsinnige Angst tun. Mein Bruder ...«
Sie drückte schnell seinen Arm. »Ja, Geliebter, das tun wir später«, brachte sie hervor. »Aber jetzt versprich es mir.«
»Einverstanden«, seufzte er. »Wir werden Iain nicht verärgern.«
Sofort entspannte sich ihre Haltung. Patrick schüttelte seufzend den Kopf. Sobald sie sich wieder besser fühlte, musste er ihr wirklich helfen, diese törichte Angst zu überwinden. Mit seinem Cousin Steven würde er allerdings sehr bald zu reden haben und ihm verbieten, den Frauen derartig schwachsinnige Geschichten einzureden.
Iain war allerdings auch ein geeignetes Objekt für die Entstehung solcher Schauermärchen. Er sprach nur selten mit Frauen, höchstens dann, wenn er gezwungen war, besondere Instruktionen zu geben. Sein harsches Benehmen wurde oft als Zorn missdeutet. Steven wusste genau, dass die meisten Frauen vor Iain Angst hatten, und es machte ihm Spaß, die Furcht von Zeit zu Zeit zu schüren.
Iain wusste nicht, welche Panik er Frances Catherine einjagte. Er stand allein vor der Feuerstelle, hatte die Arme vor seiner mächtigen Brust verschränkt und sah sie an. Seine Haltung war locker, entspannt, der scharfe Blick seiner grauen Augen und sein düsterer Gesichtsausdruck verrieten jedoch das Gegenteil.
Frances Catherine wollte gerade die Stufen hinabgehen, als sie quer durch den Raum seinen Blick auffing. Prompt stolperte sie. Patrick konnte sie gerade noch packen und vor dem Sturz retten.
Iain spürte ihre Angst, nahm aber an, dass der Rat der Grund dafür sei. Er machte Graham das Zeichen, die Befragung zu beginnen. Je zügiger das unvermeidliche Verfahren begann, desto eher konnte seine Schwägerin sich wieder beruhigen.
Die alten Clansmänner starrten die junge Frau an. Sie saßen da wie die Orgelpfeifen. Der älteste, Vincent, war gleichzeitig der kleinste. Er saß an dem einen Ende, während Graham, ihr Sprecher, das andere einnahm. Dazwischen besetzten Duncan, Gelfrid und Owen die Plätze. Ihr Haar war in unterschiedlichen Farbabstufungen ergraut, und ihre zahlreichen Narben berichteten von blutigen Waffengängen und Gefechten.
Frances Catherine konzentrierte sich auf Graham. Tiefe Falten gruben sich um seine Augen, und sie wollte glauben, dass sie vom vielen Lachen herrührten. Das gab ihr die Hoffnung, dass er ihre Bitte verstehen würde.
»Dein Mann hat uns oben eine erstaunliche Geschichte erzählt, Frances Catherine«, begann Graham. »Wenn sie wahr ist, haben wir Schwierigkeiten, sie zu verstehen.«
Der Anführer bekräftigte seine letzten Worte mit einem Nicken, dann schwieg er. Sie wusste nicht, ob man von ihr eine Antwort erwartete. Doch als Patrick ihr einen ermutigenden Blick zuwarf, sagte sie: »Mein Mann spricht immer die Wahrheit!«
Die vier anderen Ratsmitglieder runzelten einhellig die Stirn. Graham lächelte. Dann fragte er mit sanfter Stimme: »Dann erkläre uns, warum du verlangst, dass dieses Versprechen eingelöst wird.«
Frances Catherine zuckte zusammen, als hätte Graham sie angeschrien. Sie wusste sehr gut, dass er das Wort ›verlangen‹ als bewussten Angriff eingestreut hatte.
»Ich bin eine Frau und würde niemals etwas von meinem Mann verlangen. Ich kann nur bitten, und so bitte ich darum, dass Patricks Wort in Ehren behandelt wird.«
»Nun gut«, räumte Graham ein. »Du verlangst nicht, du bittest. Doch nun möchte ich, dass du dem Rat erklärst, wie du so eine schändliche Bitte stellen konntest.«
Frances Catherine erstarrte. Schändlich? Sie atmete tief ein. »Bevor ich Patrick mein Jawort gab, bat ich ihn, mir zu versprechen, dass er meine liebe Freundin, Lady Judith Elizabeth, zu mir bringt, wenn ich das erste Kind erwarte. Nun stehe ich vor der Niederkunft. Patrick gab mir damals das Versprechen, und wir beide möchten es so bald wie möglich einlösen.«
Grahams Gesichtsausdruck zeigte deutlich, dass er mit ihrer Erklärung nicht glücklicher war als vorher. Er räusperte sich und sagte: »Lady Judith Elizabeth ist Engländerin. Ich nehme an, das bedeutet dir nichts?«
»Nein, Mylord, das bedeutet mir überhaupt nichts.«
»Findest du, dass ein Versprechen wichtiger ist als der Aufruhr, den es erzeugen wird? Willst du vorsätzlich unser Leben durcheinanderbringen, Weib?«
Frances Catherine schüttelte den Kopf. »So etwas würde ich niemals tun.«
Graham seufzte leicht. Er schien anzunehmen, dass er nun einen Weg gefunden hatte, sie von ihrem Vorhaben abzuringen. »Es freut mich, das zu hören, Frances Catherine«, bemerkte er. Dann wandte er sich seinen Ratsmitgliedern zu. »Ich hatte auch nicht geglaubt, dass dieses Weib solch einen Tumult verursachen wollte. Nun, da sie diesen Unsinn fallen lässt ...«
Sie wagte nicht, ihn zu Ende reden zu lassen. »Lady Judith Elizabeth wird keinen Aufruhr erzeugen!«
Graham sackte in sich zusammen. Es war wohl doch nicht so leicht, Frances Catherine von ihrem Wunsch abzubringen. Mit finsterem Blick drehte er sich wieder zu ihr um. »Höre, Weib, kein Engländer ist jemals bei uns willkommen gewesen«, begann er. »Diese Frau würde ihre Mahlzeiten mit uns teilen müssen, sie ...«
Gelfrids Faust sauste mit lautem Krachen auf den Tisch. Er blickte zu Graham auf und sagte mit seiner rauen, tiefen Stimme: »Patricks Weib bringt Schande über den Namen der Maitlands!«
Tränen füllten Frances Catherines Augen. Sie spürte, wie sie langsam die Fassung verlor. Ihr fiel kein logisches Argument ein, das sie Gelfrid entgegenhalten konnte.
Patrick stellte sich vor seine Frau, und seine Stimme bebte vor Zorn, als er sich an das Ratsmitglied wandte.
»Gelfrid, wenn du dein Missfallen zeigen willst, dann tu es. Aber erhebe deine Stimme nicht gegen meine Frau!«
Frances Catherine linste um ihren Mann herum, um Gelfrids Reaktion zu sehen. Der Alte nickte. Dann bat Graham mit einer Geste um Ruhe.
Vincent, der Älteste des Rats, ignorierte das Zeichen. »Bis Frances Catherine zu uns kam, hatte ich noch nie von einer Frau gehört, die zwei Vornamen besitzt. Aber nun erfahre ich von einer weiteren Frau mit zwei Namen. Wie erklärst du dir das, Graham?«
Der Anführer seufzte. Vincents Geist schweifte immer öfter von den wichtigen Themen ab – eine ärgerliche Alterserscheinung. »Ich kann’s mir auch nicht erklären, Vincent«, sagte Graham. »Aber das ist jetzt unwichtig.«
Er wandte sich wieder Frances Catherine zu. »Ich frage dich noch einmal: Willst du vorsätzlich unser Leben durcheinanderbringen?«
Frances Catherine wollte nicht als Feigling erscheinen, also schob sie sich wieder an die Seite ihres Mannes. Dann sagte sie: »Ich verstehe nicht, warum Ihr glaubt, Lady Judith Elizabeth könnte Unruhe in den Clan bringen. Sie ist eine freundliche, herzliche Frau.«
Graham schloss die Augen. Ein Hauch von Belustigung lag in seiner Stimme, als er schließlich wieder sprach. »Frances Catherine, wir mögen die Engländer nicht besonders. Das hast du sicher schon in all den Jahren, die du bei uns bist, bemerkt.«
»Sie ist an der Grenze aufgewachsen«, gab Gelfrid zu bedenken und kratzte sich sein bärtiges Kinn. »Sie weiß es wahrscheinlich nicht besser!«
Graham nickte zustimmend. Plötzlich funkelte etwas in seinen Augen. Er drehte sich zu seinen Gefährten um und sprach mit leiser Stimme zu ihnen. Als er geendet hatte, murmelten die anderen ihre Zustimmung.
Frances Catherine verlor alle Hoffnung. Aus seinem siegessicheren Blick schloss sie, dass er einen Weg gefunden hatte, ihre Bitte abzuschmettern, bevor der Clansherr zu Rate gezogen worden war.
Patrick war offenbar zum gleichen Schluss gekommen. Sein Gesicht wurde zornesrot. Als er entschlossen einen Schritt nach vorne trat, packte sie ihn an der Hand. Sie wusste, er wollte sein Versprechen ihr gegenüber halten. Aber sie wollte nicht, dass der Rat ihn bestrafte. Die Bestrafung würde hart ausfallen. Und die Demütigung wäre ihm unerträglich.
Sie drückte seine Hand.
»Ihr habt beschlossen, für mich zu entscheiden, was das Beste für mich ist, da ich es ja offenbar nicht besser weiß. Ist das richtig?«
Graham war überrascht. Ihr scharfer Verstand wusste tatsächlich, was er soeben gedacht hatte. Er wollte gerade ihre Herausforderung annehmen, als Patrick das Wort ergriff.
»Nein. Das würde Graham nicht tun. Es wäre eine Beleidigung für mich, Frau.«
Der Sprecher des Rates starrte Patrick eine Augenblick an. Dann verkündete er mit kraftvoller Stimme: »Du wirst die Entscheidung des Rates akzeptieren, Patrick!«
»Ein Maitland hat sein Wort gegeben. Es muss gehalten werden.«
Iains laute Stimme erfüllte die Halle. Alle drehten sich zu ihm, während Iain den Sprecher fixierte. »Ihr kommt vom Kernpunkt ab«, sagte er bestimmt. »Patrick hat dieser Frau ein Versprechen gegeben, und es wird eingelöst werden.«
Einige Minuten lang sagte niemand ein Wort. Dann stand Gelfrid auf. Er stützte sich mit den Handflächen auf den Tisch und beugte sich vor, um Iain anzusehen. »Du bist hier nur ein Berater. Nichts weiter.«
Iain tat es mit einem Achselzucken ab. »Ich bin der Clansherr«, entgegnete er. »Durch eure Wahl. Und nun rate ich euch, Patrick die Einlösung seines Versprechens zu bewilligen. Nur die Engländer brechen ihr Wort, Gelfrid. Nicht wir Schotten.«
Widerstrebend nickte Gelfrid. »Du sprichst die Wahrheit«, gab er zu.
Nur noch drei, dachte Iain bei sich. Verdammt, wie er es verabscheute, diplomatisch vorzugehen, um seine Ziele zu erreichen. Er zog den Kampf mit den Fäusten dem mit Worten vor. Zudem hasste er es, für seine und seines Bruders Taten um Erlaubnis bitten zu müssen.
Mit einiger Anstrengung riss er sich zusammen und konzentrierte sich wieder auf das aktuelle Problem. Er wandte sich zu Graham. »Bist du ein so alter Mann geworden, Graham, dass dich eine solch unbedeutende Sache betroffen macht? Hast du etwa Angst vor einer englischen Frau?«
»Natürlich nicht«, murmelte Graham. Seine Empörung, dies überhaupt in Erwägung zu ziehen, war deutlich aus seiner Stimme herauszuhören. »Ich habe vor keiner Frau Angst!«
Iain grinste. »Das beruhigt mich ungemein«, gab er zurück. »Einen Augenblick habe ich mir wirklich Sorgen gemacht.«
Die intelligente List war an den Sprecher des Rates nicht vergeudet. Graham lächelte. »Du hast deinen Köder ausgeworfen, und meine Eitelkeit hat angebissen.« Iain erwiderte nichts. Immer noch lächelnd wandte sich Graham schließlich wieder Frances Catherine zu.
»Trotzdem verwirrt uns deine Bitte immer noch. Bitte erkläre uns, warum du diese Frau hier haben möchtest.«
»Sie soll uns sagen, was es mit den zwei Namen auf sich hat«, mischte sich Vincent ein.
Graham ignorierte den Einwurf des Älteren. »Würdest du uns jetzt endlich deine Gründe darlegen, Weib?«
»Ich heiße Frances nach meiner Mutter und Catherine nach meiner Großmutter, die ...«
Graham schnitt ihr mit einer ungeduldigen Geste das Wort ab. Dennoch behielt er sein Lächeln bei. Er wollte nicht, dass offenkundiger Ärger sie erneut einschüchterte.
»Nein, nein, Kind, deine zwei Namen interessieren jetzt nicht. Ich möchte wissen, warum die Engländerin so wichtig für dich ist.«
Was für ein peinlicher Patzer! Sie spürte, wie sie rot wurde.
»Lady Judith Elizabeth ist meine Freundin. Ich hätte sie so gern an meiner Seite, wenn das Baby zur Welt kommt. Und sie hat versprochen, dass sie kommen würde.«
»Eine Engländerin als Freundin? Wie ist denn so was nur möglich?«, fragte Gelfrid. Verwundert über diesen Widerspruch an sich, rieb er sich das Kinn.
Frances Catherine wusste, dass das Ratsmitglied sich nicht über sie lustig machen wollte. Er begriff es schlichtweg nicht. Und Frances Catherine glaubte nicht, dass sie irgendetwas vorbringen könnte, das ihn überzeugte. Sie bezweifelte sogar, dass Patrick die tiefe Vertrautheit nachempfinden konnte, die Judith und sie verband. Und dabei war Patrick in seinem Denken längst nicht so eingefahren wie Graham und die anderen des Rates. Wie auch immer, sie musste eine Erklärung abgeben.
»Wir lernten uns bei den jährlichen Spielen an der Grenze kennen«, begann sie. »Judith war erst vier, ich fünf Jahre alt. Wir wussten damals gar nicht, dass ... dass uns etwas unterschied.«
Graham seufzte erneut. »Und als ihr es schließlich begriffen hattet?«
Sie lächelte. »Da machte es keinen Unterschied.«
Graham schüttelte den Kopf. »Mag sein. Dennoch verstehe ich diese Freundschaft nicht«, gestand er. »Aber unser Clansherr hat uns zu Recht darauf hingewiesen, dass wir niemals unser Wort brechen. Wir werden deine Freundin also willkommen heißen, Frances Catherine.«
Vor Freude versagten der jungen Frau die Knie. Sie hielt sich an ihrem Mann fest und wagte einen Blick auf die Ratsmitglieder. Vincent, Gelfrid und Duncan lächelten. Aber Owen, von dem sie geglaubt hatte, er würde seit einer geraumen Weile schlafen, schüttelte nur bedächtig den Kopf.
Iain bemerkte es und fragte: »Bist du mit unserer Entscheidung nicht einverstanden, Owen?«
Der Ältere hielt seinen Blick auf Frances Catherine gerichtet, als er antwortete. »Doch, aber ich denke, wir sollten das Weib warnen. Es sollte sich keine zu großen Hoffnungen machen. Ich pflichte dir bei, Iain, denn ich weiß aus eigener Erfahrung, dass die Engländer ihr Wort brechen. Sie machen es alle wie ihr König, dieser Lump, der jede Minute seine Meinung ändert. Mag sein, dass die englische Frau mit den zwei Namen ein Versprechen gegeben hat ... nur wird sie es nicht halten!«
Iain stimmte mit einem Nicken zu. Er hatte sich schon gewundert, wie lange der Rat für diese Erkenntnis brauchte.
Die Alten sahen sich zufrieden an.
Frances Catherine lächelte immer noch. Sie schien nicht zu befürchten, dass ihre Freundin wortbrüchig werden könnte.
Iain empfand ein enormes Verantwortungsgefühl jedem einzelnen Mitglied seines Clans gegenüber. Aber er wusste, dass er seine Schwägerin kaum vor den rauen Tatsachen des Lebens schützen konnte. Mit ihrer Enttäuschung würde sie allein fertigwerden müssen, aber sicher war die Erfahrung nötig, damit sie begriff, dass man ausschließlich auf seine Familie zählen durfte.
»Wen schickst du auf die Reise, Iain?«, fragte Graham.
»Ich werde gehen«, sagte Patrick.
Iain schüttelte den Kopf. »Dein Platz ist an der Seite deiner Frau. Ihre Niederkunft ist nahe. Ich gehe.«
»Aber du bist der Clansherr«, wandte Graham ein. »Es ist unter deinem Status ...«
Iain unterbrach ihn barsch. »Es handelt sich um eine reine Familienangelegenheit, Graham. Und da Patrick seine Frau nicht alleinlassen kann, ist es nun meine Pflicht.« Und um jedes weitere Argument im Keim zu ersticken, setzte er mit finsterem Blick hinzu: »Mein Entschluss steht fest.«
Patrick grinste. »Ich kenne die Freundin meiner Frau nicht, Iain, aber ich könnte mir vorstellen, dass sie ihr Versprechen noch einmal überdenkt, wenn sie dich sieht.«
»Oh, Judith Elizabeth wird sich sehr über Iains Geleit freuen«, platzte Frances Catherine heraus. Sie schenkte ihrem Clansherrn ein Lächeln. »Sie hat bestimmt keine Angst vor dir. Ich danke dir für dein Angebot. In deiner Gegenwart wird sie sich sicher fühlen.«
Iain hob eine Augenbraue. Dann seufzte er laut. »Frances Catherine, ich bin überzeugt, dass sie freiwillig nicht mitkommen wird. Soll ich sie zwingen?«
Da sie Iain anstarrte, sah Frances Catherine nicht, wie Patrick seinem Bruder fast unmerklich zunickte. »Nein, nein, du wirst sie nicht zwingen müssen.«
Patrick und Iain gaben es auf, ihre unrealistischen Hoffnungen zunichte zu machen. Dann entließ Graham die junge Frau höflich, und Patrick führte Frances Catherine an der Hand zur Tür.
Begierig, endlich aus dem Saal zu kommen, damit sie Patrick umarmen und ihm versichern konnte, wie froh sie war, seine Frau zu sein, zog sie ihn hinter sich her. Er war so ... wundervoll gewesen, als er sich für sie einsetzte! Natürlich hatte sie nie daran gezweifelt, aber sie wollte ihm trotzdem ihre Bewunderung zeigen. Brauchten Männer nicht auch von Zeit zu Zeit die Anerkennung ihrer Ehefrauen?
Sie hatte gerade die oberste Stufe an der Eingangstür erreicht, als sie den Namen Maclean fallen hörte. Frances Catherine hielt an, um zu lauschen. Als Patrick sie vorwärtsschieben wollte, verlor sie ›versehentlich‹ einen Schuh und bat ihren Mann, ihn ihr anzuziehen. Es kümmerte sie nicht, ob er sie für schwerfällig hielt. Sie war viel zu neugierig, warum Grahams Stimme bei der Erwähnung dieses Namens so wütend geklungen hatte.
Der Rat bemerkte sie nicht. Gerade hatte Duncan das Wort. »Ich bin gegen jede Art Bündnis mit den Dunbars. Wir brauchen sie nicht!« Der Ältere brüllte es fast heraus.
»Und wenn die Dunbars ein Bündnis mit den Macleans eingehen?«, fragte Iain mit zornbebender Stimme. »Vergiss endlich die Vergangenheit, Duncan. Denke nur an die Folgen!«
Vincent sprach als Nächster. »Warum müssen es unbedingt die Dunbars sein? Sie sind so schlüpfrig wie ein nasser Lachs und so falsch wie die Engländer. Ich kann dieser Idee nicht zustimmen. Nay, wirklich nicht!«
Iain zwang sich zur Geduld. »Das Land der Dunbars liegt zwischen den Macleans und uns, wenn ich dich daran erinnern darf. Wenn wir uns nicht mit ihnen einigen, könnten sie diese Bastarde von Macleans um Schutz bitten. Das dürfen wir nicht zulassen. Es geht einfach um das geringere von zwei Übeln!«
Frances Catherine konnte der Diskussion nicht länger folgen. Patrick hatte ihr den Schuh wieder übergestreift, und schob sie nun entschlossen dem Ausgang zu.
Die Absicht, ihm zu danken, war im Moment vergessen. Sobald sich die schweren Türen hinter ihnen verschlossen, wandte sie sich zu ihm um: »Warum hassen die Maitlands die Macleans?«
»Die Fehde reicht lange zurück«, antwortete er. »Da war ich noch nicht auf der Welt.«
»Kann sie denn nicht beigelegt werden?«
Patrick zuckte die Schultern. »Warum interessieren dich die Macleans?«
Sie konnte ihm keine Antwort geben. Wenn sie es tat, würde sie ihr Wort Judith gegenüber brechen, und das Vertrauen ihrer Freundin war ihr heilig. Zudem würde Patrick wahrscheinlich einen Herzanfall bekommen, wenn er erfuhr, dass Clansführer Maclean Judiths Vater war. Ja, auch das musste man in Erwägung ziehen.
»Ich weiß, dass die Maitlands sich mit den Dunbars und den Macphersons befehden, aber von den Macleans wusste ich noch nichts. Deswegen frage ich. Patrick, warum kommen wir denn mit den anderen Clans nicht zurecht?«
Patrick lachte. »Es gibt einige, die wir Freunde nennen«, erklärte er ihr.
Sie beschloss, das Thema zu wechseln und ihm endlich für das zu danken, was er für sie getan hatte. Patrick brachte sie zurück nach Hause und nach einem langen Abschiedskuss wandte er sich wieder zum Gehen.
»Patrick, du weißt, dass ich dir immer treu ergeben bin, nicht wahr?«, fragte seine Frau.
Er wandte sich ihr noch einmal zu. »Natürlich.«
»Ich nehme stets Rücksicht auf deine Gefühle, oder?«
»Sicher.«
»Wenn ich also etwas wüsste, das dich beunruhigen würde, müsste ich es doch für mich behalten, nicht wahr?«
»Nein.«
»Aber wenn ich es täte, würde ich ein Wort brechen, das ich jemandem gegeben habe. Das kann ich nicht tun.«
Patrick kam zurück und stand nun direkt vor seiner Frau.
»He, Liebling – was versuchst du, mir nicht zu sagen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich will nicht, dass Iain Judith zwingt«, rief sie aus in der Hoffnung, ihn von ihrem Gerede über Versprechen und seine Gefühle abzulenken. »Wenn sie nicht herkommen kann, soll er sie nicht drängen.«
Wieder rang sie ihm ein Versprechen ab, dass er bereitwillig gab, um sie zu beruhigen. Doch diesmal hatte er nicht die Absicht, sein Wort zu halten. Er würde es keinesfalls zulassen, dass diese Engländerin seiner Frau das Herz brach. Dennoch gefiel es ihm nicht, Frances Catherine zu belügen, und so war seine Stimmung nicht die beste, als er wieder auf dem Hügel anlangte. Er wartete, bis sein Bruder hinauskam und rief ihm zu: »Iain! Wir müssen miteinander reden.«
»Himmel, Patrick, wenn es sich wieder um ein Versprechen handelt, dass du deiner Frau gegeben hast, warne ich dich von vornherein: Ich will’s nicht hören!«
Patrick lachte, ließ seinen Bruder herankommen und sagte dann: »Ich muss mit dir über diese Freundin reden. Es ist mir egal, was sie will oder nicht will. Schleif sie an den Haaren her, wenn nötig, Iain, hörst du? Ich will meiner Frau eine Enttäuschung ersparen. Sie wird genug Sorgen mit dem Baby haben.«
Iain schlug den Weg zu den Ställen ein. Er hatte seine Hände auf dem Rücken verschränkt und hielt den Kopf gesenkt. Patrick ging neben ihm her.
»Du bist dir doch darüber im Klaren, dass ich einen Krieg mit ihrer Familie vom Zaun breche, wenn ich diese Frau zwinge, nicht wahr? Und sollte da eine Verbindung zu König John bestehen, vielleicht sogar zu England ...«
Patrick sah seinen Bruder an, um herauszufinden, wie ernst es ihm war. Iain grinste, und so antwortete Patrick. »John mischt sich nur ein, wenn er Nutzen daraus ziehen kann. Ihre Familie könnte allerdings zum Problem werden. Sie wird sie sicher nicht ohne weiteres auf solch eine Reise gehen lassen.«
»Es könnte haarig sein.«
»Wäre das schlimm?«
»Nein.«
Patrick stieß einen erleichterten Seufzer aus. »Wann wirst du reisen?«
»Morgen früh, bei Sonnenaufgang. Heute Abend rede ich mit Frances Catherine. Ich will so viel wie möglich über diese Familie erfahren.«
»Da ist etwas, was Frances Catherine mir verheimlicht«, sagte Patrick zögernd. »Sie fragte mich über die Fehde mit den Macleans aus ...«
Er konnte nicht weitersprechen. Iain starrte ihn an, als hätte er den Verstand verloren. »Und du hast sie nicht gezwungen, dir zu verraten, was zum Teufel sie vor dir verbirgt?«
»So einfach ist das nicht«, erklärte Patrick. »Du musst mit einer Frau sehr ... behutsam umgehen. Irgendwann wird sie mir schon erzählen, was ihr Sorgen bereitet. Man muss Geduld haben ... Übrigens ziehe ich wahrscheinlich falsche Schlüsse. Meine Frau macht sich momentan über alles und nichts Sorgen.«
Aber Iains Blick blieb misstrauisch und Patrick bereute, dass er es überhaupt erwähnt hatte.
»Ich würde dir gerne danken, dass du die Reise machst, aber du wärest wohl nur beleidigt.«
»Es ist keine Pflicht, die ich freudig erledige«, gab Iain zu. »Ich werde sieben oder acht Tage bis dorthin brauchen. Mit einer zeternden Frau im Schlepptau also mindestens neun zurück. Hölle, lieber nahm ich es einhändig mit einer Armee der Macleans auf!«
Patrick hätte beinah über Iains frustrierten Tonfall gelacht. Er wagte es jedoch nicht, denn sein Bruder würde ihm wahrscheinlich einen Kinnhaken verpassen, wenn er auch nur den Mund verzog.
Für einige Minuten gingen die Brüder schweigend nebeneinander her, jeder in seinen Gedanken versunken.
Plötzlich hielt Patrick an. »Du kannst diese Frau nicht zwingen. Wenn sie nicht mitkommen will, lass sie in Ruhe!«
»Warum zum Teufel reite ich dann überhaupt los?«
»Meine Frau könnte recht haben«, sagte Patrick. »Vielleicht kommt Lady Judith Elizabeth freiwillig mit.«
Iain warf seinem Bruder einen harten Blick zu. »Freiwillig? Du bist verrückt, wenn du das glaubst. Sie ist Engländerin!« Er stieß einen langen Seufzer aus. »Freiwillig? Nie!«
Wartend stand sie auf der Türschwelle.
Natürlich war Lady Judith vorgewarnt worden. Zwei Tage zuvor hatte ihr Cousin Lucas vier schottische Krieger – nur einen Steinwurf entfernt vom Grenzübergang bei Horton Ridge – gesichtet. Lucas war nicht zufällig da gewesen, sondern hatte dort gemäß Tante Millicents Anweisungen ausgeharrt. Und nach einem Monat Däumchendrehen und Tagträumerei machte er schließlich die Schotten aus.
Lucas war beim Anblick der vier Vollblut-Highlander zunächst so überrascht gewesen, dass er fast vergessen hätte, was als Nächstes zu tun war. Er hatte sich jedoch schnell wieder gefasst und war im halsbrecherischen Tempo zu Lady Judiths Aufenthaltsort gejagt, damit sie sich auf ihre Besucher vorbereiten konnte.
Dazu brauchte Judith allerdings nicht lange. Seit sie durch das verzwickt-verschlungene Nachrichtensystem der Klatschgeschichten erfuhr, dass Frances Catherine schwanger war, hatte sie ihr Gepäck so gut wie vollständig gepackt und die Geschenke für ihre Freundin mit hübschen rosa Samtbändern versehen.
Frances Catherine hätte sich jedoch einen besseren Zeitpunkt aussuchen können. Judith war gerade wieder zu ihrem sechsmonatigem Zwangsaufenthalt auf Onkel Tekels Gut angelangt, als sie die Nachricht erreichte. Sie konnte schlecht einfach wieder zu Tante Millicent und Onkel Herbert zurückkehren, sondern war gezwungen, ihre Bündel auf dem Stallboden zu verstecken und zu warten, bis ihre Mutter, die auf einem ihrer seltenen, kurzen Besuche da war, sich genug gelangweilt hatte und wieder abreiste. Dann würde Judith mit ihrem Vormund über ihre Absicht reden, nach Schottland zu gehen. Der ältere Bruder ihrer Mutter war das genaue Gegenteil von seiner Schwester, Lady Cornelia – ein sanftmütiger, friedlicher Mann. Es sei denn, er hatte getrunken, dann konnte er sich in eine bösartige Schlange verwandeln.
Soweit Judith zurückdenken konnte, war Onkel Tekel ein Invalide gewesen, und in den ersten Jahren hatte er selten die Beherrschung verloren, auch wenn ihm an manchen Abenden seine malträtierten Beine unerträgliche Schmerzen bereiteten. Judith wusste, dass es wieder besonders schlimm war, wenn er begann, die Beine zu massieren und den Diener bat, ihm einen Kelch heißen Weins zu bringen. Mit der Zeit hatten die Diener gelernt, ihm gleich einen vollen Krug hinzustellen. An solchen Abenden gelang es Judith manchmal, sich in ihre Kammer fortzustehlen. Normalerweise befahl er ihr aber, sich neben ihn zu setzen und ihm zuzuhören, während er in der Vergangenheit versank. Dann ergriff er ihre Hand und erzählte von den Zeiten, als er noch jung und stark war – ein Krieger, mit dem man rechnen musste, – und erst 22 Jahre alt, als ein umstürzender Wagen seine Beine zermalmte. Wenn der Wein dann seine Schmerzen gelindert und seine Zunge gelöst hatte, fluchte er über die Ungerechtigkeit dieses sinnlosen Unfalls.
Er fluchte auch über Judith, die ihn nicht wissen ließ, wie sehr sein Zorn sie traf. Die Selbstbeherrschung, die sie an diesen langen Abenden aufbringen musste, kostete sie viel Kraft, und sie war jedes Mal erleichtert, wenn sie entlassen wurde und sich zu Bett legen konnte.
Tekels Trunksucht wurde mit den Jahren immer schlimmer. Er verlangte bald schon am Tag nach Wein, und mit jedem Kelch, den er hinuntergoss, verschlimmerte sich seine Gemütsverfassung. Bei Anbruch der Nacht war er dann so weit, dass er entweder in Selbstmitleid zerfloss oder ihr die widersinnigsten Beleidigungen an den Kopf warf, die ihr die Sprache verschlugen, als hätte sie einen Kloß im Hals.
Am nächsten Morgen wusste Tekel von nichts mehr. Judith dagegen konnte sich an jedes Wort erinnern und versuchte verzweifelt, ihm seine Brutalität ihr gegenüber zu vergeben. Sie wollte glauben, dass sein Schmerz unerträglicher war als der ihre. Onkel Tekel brauchte ihr Verständnis, ihr Mitleid, redete sie sich ein.
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