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Montana, Ende des 19. Jahrhunderts: Vom ersten Moment an ist Cole Clayborne fasziniert von Jessica Summers. Er mag es, wie sie sich bewegt, wie sie spricht: Sexy, lockend, verführerisch. Ja, Jessica ist genau die Frau, die sich ein Mann in seinem Bett wünscht. Aber Cole weiß auch, dass Jessica nicht in jedes Bett steigt. Sie ist eine Frau, die man heiratet. Blöderweise entspricht das so gar nicht Coles Vorstellung. Niemals, das hat er sich geschworen, würde er heiraten. Doch er kommt von Jessica einfach nicht los - und allmählich beginnt er sich zu fragen, ob ein Mann nicht auch einmal seine Meinung ändern darf ...
Liebe und prickelnde Leidenschaft in Rose Hill, Montana - die fesselnd-sinnliche Trilogie der Bestsellerautorin Julie Garwood um die Familie Clayborne:
Band 1: Die Tochter des Lords
Band 2: Verwirrspiel der Herzen
Band 3: Leg dein Herz in meine Hände
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Seitenzahl: 496
Veröffentlichungsjahr: 2023
Cover
Grußwort des Verlags
Über dieses Buch
Titel
ERSTER TEIL
1. KAPITEL
2. KAPITEL
3. KAPITEL
4. KAPITEL
5. KAPITEL
6. KAPITEL
7. KAPITEL
8. KAPITEL
9. KAPITEL
10. KAPITEL
11. KAPITEL
12. KAPITEL
ZWEITER TEIL
13. KAPITEL
14. KAPITEL
15. KAPITEL
16. KAPITEL
17. KAPITEL
18. KAPITEL
19. KAPITEL
20. KAPITEL
21. KAPITEL
22. KAPITEL
DRITTER TEIL
23. KAPITEL
24. KAPITEL
25. KAPITEL
26. KAPITEL
27. KAPITEL
28. KAPITEL
29. KAPITEL
30. KAPITEL
31. KAPITEL
32. KAPITEL
33. KAPITEL
34. KAPITEL
VIERTER TEIL
35. KAPITEL
36. KAPITEL
37. KAPITEL
38. KAPITEL
39. KAPITEL
EPILOG
Über die Autorin
Titel der Autorin bei beHEARTBEAT
Impressum
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Montana, Ende des 19. Jahrhunderts: Vom ersten Moment an ist Cole Clayborne fasziniert von Jessica Summers. Er mag es, wie sie sich bewegt, wie sie spricht: Sexy, lockend, verführerisch. Ja, Jessica ist genau die Frau, die sich ein Mann in seinem Bett wünscht. Aber Cole weiß auch, dass Jessica nicht in jedes Bett steigt. Sie ist eine Frau, die man heiratet. Blöderweise entspricht das so gar nicht Coles Vorstellung. Niemals, das hat er sich geschworen, würde er heiraten. Doch er kommt von Jessica einfach nicht los – und allmählich beginnt er sich zu fragen, ob ein Mann nicht auch einmal seine Meinung ändern darf ...
Julie Garwood
Leg dein Herz in meine Hände
Aus dem amerikanischen Englisch von Ulrike Moreno
Gottes Gnade und einem losen Schnürsenkel hatte sie es zu verdanken, dass sie an jenem Tag nicht mit den anderen starb. Sie betrat die Bank um Punkt zwei Uhr fünfundvierzig, um ihr Konto dort aufzulösen. Sie hatte damit absichtlich bis zur letzten Minute gewartet, weil die Erledigung dieser Aufgabe alles so endgültig machte. Danach gab es kein Zurück mehr. All ihre Sachen waren bereits verpackt, und bald würde sie Rockford Falls, Montana, verlassen. Für immer.
Sie wusste, dass Sherman MacCorkle, der Bankdirektor, in fünfzehn Minuten die Türen schließen würde. Es herrschte großer Andrang in der Bank, doch trotz der vielen Kunden arbeiteten statt der gewohnten drei nur zwei Kassierer an den Schaltern. Emmeline MacCorkle, Shermans Tochter, war offenbar noch immer zu Hause, um sich von der Magen- und Darmgrippe zu erholen, die seit zwei Wochen in der friedlichen kleinen Stadt grassierte.
Die Schlange vor Malcolm Wattersons Schalter war etwas kürzer als die andere, aber er war ein notorischer Schwätzer und würde ihr sicher Fragen stellen, auf die sie keine Antwort geben wollte.
Zum Glück arbeitete heute jedoch auch Franklin Carroll. In seiner Reihe stellte sie sich an. Er war schnell und zuverlässig und mischte sich nie in die Privatangelegenheiten anderer Leute ein. Und außerdem war er ein Freund. Sie hatte sich bereits am Sonntag nach dem Gottesdienst von ihm verabschiedet, doch nun dachte sie, dass sie nichts dagegen hatte, es noch einmal zu tun.
Sie hasste es zu warten. Ungeduldig klopfte sie mit der Fußspitze auf die alten Dielen, streifte ihre Handschuhe ab und zog sie wieder an. Bei jeder ihrer Bewegungen schwang der bestickte Beutel, der an einem Satinband um ihre Taille hing, vor und zurück. Er wirkte wie ein Pendel, das sich im monotonen Rhythmus des Tickens der Uhr bewegte, die an der Wand über den Schaltern hing.
Der Mann vor ihr trat einen Schritt vor, aber sie blieb, wo sie war, um etwas Abstand zwischen sie zu bringen, weil sie den Geruch nach saurem Schweiß und Alkohol, der den Kleidern dieses Mannes anhaftete, schlicht unerträglich fand.
Der Mann links von ihr in Malcolms Reihe lächelte sie an und entblößte dabei zwei große Zahnlücken. Um ihn nicht zu einer Unterhaltung zu ermutigen, nickte sie ihm nur flüchtig zu und richtete den Blick auf die Wasserflecken an der Decke.
Es war schwül, stickig und schrecklich heiß im Raum. Sie konnte fühlen, wie sich Schweiß in ihrem Nacken sammelte, und zupfte am Kragen ihrer gestärkten weißen Bluse. Mit einem mitleidigen Blick auf Franklin fragte sie sich, wie die Angestellten den ganzen Tag in einer so dumpfen und erstickend heißen Atmosphäre arbeiten konnten. Sie wandte den Kopf nach rechts und starrte sehnsüchtig auf die drei geschlossenen Fenster. Der Sonnenschein, der durch die fleckigen Scheiben drang, warf helle Flecken auf den alten Holzboden und ließ Staubpartikel in der verbrauchten Luft flimmern. Wenn sie noch viel länger warten musste, würde sie Sherman MacCorkles Ärger riskieren und die Fenster öffnen ... Sie verwarf die Idee jedoch sofort wieder, weil ihr klar war, dass der Bankdirektor die Fenster gleich wieder schließen und ihr eine Predigt über Sicherheitsvorschriften halten würde. Außerdem würde sie dann ihren Platz in der Schlange verlieren.
Endlich war sie an der Reihe. Sie trat so rasch vor, dass sie stolperte und mit dem Kopf gegen die Glasscheibe des Schalters stieß. Ihr Schuh war ihr entglitten. Sie schob den Fuß wieder hinein und spürte, wie die Lasche sich unter ihre Zehen schob. In dem kleinen Büro hinter den Kassierern, dessen Tür weit offenstand, war Sherman MacCorkles mürrisches Gesicht zu sehen. Er hörte die Geräusche und schaute von seinem Schreibtisch auf. Sie bedachte ihn mit einem schwachen Lächeln, bevor sie sich wieder Franklin zuwandte.
»Mein Schnürsenkel hatte sich gelöst«, erklärte sie, um ihre Ungeschicklichkeit zu entschuldigen.
Er nickte mitfühlend. »Alles bereit für Ihre Abfahrt?«
»Fast«, wisperte sie, damit Malcolm, dieses Klatschmaul, sich nicht in ihr Gespräch einmischte. Er beugte sich bereits zu Frank herüber, und sie wusste, dass er begierig war, noch mehr zu hören.
»Sie werden mir fehlen«, sagte Franklin leise.
Das Geständnis trieb ihm die Röte in die Wangen. Franklins Schüchternheit war eine liebenswerte Eigenschaft, und als der große, dünne Mann jetzt schluckte, hüpfte sein übergroßer Adamsapfel auf und ab. Franklin war mindestens zwanzig Jahre älter als sie, aber er verhielt sich wie ein kleiner Junge, wann immer sie in seiner Nähe war.
»Ich werde Sie auch vermissen, Franklin.«
»Wollen Sie jetzt Ihr Konto auflösen?«
Sie nickte und schob die zusammengefalteten Papiere durch die halbkreisförmige Öffnung in der Glaswand. »Ich hoffe, es ist alles in Ordnung.«
Er nahm die Papiere an sich und überprüfte Unterschriften und Zahlen, bevor er seine Kasse öffnete und das Geld abzählte. »Vierhundertzwei Dollar ist eine Menge Geld, um es mit sich herumzutragen.«
»Ja, das weiß ich«, stimmte sie ihm zu. »Ich werde gut darauf aufpassen. Keine Sorge, Franklin.«
Sie streifte ihre Handschuhe ab, während er die Scheine ordnete, und als er ihr das kleine Päckchen durch die Öffnung zuschob, stopfte sie es rasch in ihren Beutel und zog die Bänder an.
Franklin warf seinem Chef einen verstohlenen Blick zu, bevor er sich vorbeugte und seine Stirn ans Glas presste. »Die Messe sonntags wird nicht mehr dasselbe sein ohne Sie in der Bank vor Mutter und mir. Ich wünschte, Sie würden uns nicht verlassen. Mutter würde sich mit der Zeit bestimmt an Sie gewöhnen. Ich bin mir dessen ziemlich sicher.«
Impulsiv griff sie durch die Öffnung und drückte seine Hand. »In der kurzen Zeit, die ich hier gelebt habe, sind Sie mir ein guter Freund geworden. Ich werde nie vergessen, wie gut Sie zu mir waren.«
»Werden Sie mir schreiben?«
»Ja, natürlich schreibe ich.«
»Schicken Sie die Briefe in die Bank, damit Mutter sie nicht sieht.«
Sie lächelte. »Ja, das werde ich.«
Ein diskretes Hüsteln hinter ihr verriet, dass sie sich schon zu lange aufhielt. Mit einem entschuldigenden Lächeln nahm sie ihre Handschuhe und ihren Beutel und schaute sich dann suchend nach einer freien Stelle im Gedränge um, wo sie in Ruhe ihren Schuh zubinden konnte. In der Nische hinter der Schwingtür, die die Kundschaft von den Angestellten trennte, stand ein freier Schreibtisch. Gewöhnlich saß dort Lemont Morganstaff, doch wie Emmeline MacCorkle erholte auch er sich noch von der Grippe-Epidemie.
Sie zog den Fuß ein wenig nach, um nicht wieder aus dem Schuh zu rutschen, als sie durch die Halle zu dem altersschwachen Schreibtisch vor den Fenstern ging. Franklin hatte ihr verraten, dass MacCorkle die gesamte Einrichtung aus dritter Hand von einer Druckerei erworben hatte. Sein Geiz musste ihn veranlasst haben, die Tintenflecke und die hervorstehenden Splitter im Holz zu übersehen, die nur auf eine unvorsichtige Hand zu warten schienen.
Es war schändlich, wie MacCorkle seine Angestellten behandelte. Sie war sicher, dass er keinem seiner Leute ein anständiges Gehalt zahlte, denn der arme Franklin führte ein sehr bescheidenes Leben und konnte es sich fast nicht leisten, seiner Mutter das stärkende Tonikum zu kaufen, das sie offenbar so dringend brauchte, um bei Kräften zu bleiben.
Einen Moment lang kam ihr der Gedanke, in MacCorkles funkelnagelneues Büro mit dem glänzenden Mahagonischreibtisch und den passenden Aktenschränken zu gehen, um ihm zu sagen, was für ein Geizkragen er war. Sie wollte ihn so sehr beschämen, dass er etwas an den beklagenswerten Bedingungen änderte, unter denen er seine Leute schuften ließ. Und vielleicht hätte sie es auch getan, wenn nicht die Möglichkeit bestanden hätte, dass MacCorkle glaubte, Franklin habe sie dazu angestiftet. Der Bankdirektor wusste, dass sie Freunde waren. Und daher wagte sie nicht, etwas zu sagen, und begnügte sich mit einem vernichtenden Blick auf ihn.
Es war pure Zeitverschwendung; MacCorkle schaute in die andere Richtung. Prompt kehrte sie ihm den Rücken zu und zog den freien Schreibtischstuhl heran. Nachdem sie ihre Sachen auf den Stuhl gelegt hatte, raffte sie so damenhaft wie möglich ihre Röcke und bückte sich, um ihren Schuh zu binden. Sie richtete die Lasche ihres Schuhs, schob den Fuß wieder hinein und band rasch den steifen Schnürsenkel.
Als das erledigt war, versuchte sie, aufzustehen, trat aber auf ihren Rock und wurde auf den Boden zurückgerissen, wo sie mit einem harten Aufprall landete. Ihr Beutel und ihre Handschuhe fielen auf ihren Schoß, als der Stuhl, gegen den sie gestoßen war, auf seinen Rollen zurückschnellte. Er knallte gegen die Wand, rollte zurück und prallte gegen ihre Schulter. Beschämt über ihre eigene Ungeschicklichkeit, spähte sie verstohlen über den Rand des Schreibtischs, um zu sehen, ob jemand etwas bemerkt hatte.
Drei Kunden standen noch vor den Schaltern, und alle starrten in ihre Richtung. Franklin hatte eben erst ihre Dokumente in den Aktenschrank geräumt, als sie gestürzt war. Er schlug die Tür zu und wollte mit besorgter Miene auf sie zugehen, aber sie lächelte und winkte ihm zurück. Sie öffnete den Mund, um ihm zu sagen, dass ihr nichts geschehen sei, als die Eingangstür mit einem Knall aufflog.
Die Uhr schlug drei. Sieben Männer stürmten herein und verteilten sich in der Halle. Was sie beabsichtigten, war nicht zu übersehen. Dunkle Tücher verhüllten den unteren Teil ihrer Gesichter, und ihre Hüte, die sie tief in die Stirn gezogen trugen, verbargen ihre Augen. Als die Männer vortraten, zogen sie ihre Waffen. Der letzte, der eingetreten war, fuhr herum, um die Jalousien herunterzulassen und die Tür von innen zu verriegeln.
Alle, die sich in der Bank aufhielten, erstarrten – mit Ausnahme von MacCorkle, der mit einem erschrockenen Schrei von seinem Stuhl aufsprang. Dann stieß auch Franklin einen Schrei aus; ein hoher, schriller Ton, der für einen Moment das unheimliche Schweigen brach.
Wie die anderen war auch sie viel zu bestürzt, um sich zu rühren. Eine Welle der Panik durchzuckte sie und lähmte jeden einzelnen ihrer Muskeln. Verzweifelt versuchte sie, einen klaren Gedanken zu fassen. Keine Panik ... bloß keine Panik ... Sie können uns nicht erschießen ... Sie würden es nicht wagen ... Das Geräusch der Schüsse ... Sie wollen Geld, mehr nicht ... Wenn alle gehorchen, werden sie uns nichts tun ...
Ihre Logik konnte ihren rasenden Herzschlag nicht beruhigen. Sie würden ihre vierhundert Dollar nehmen. Und das konnte sie nicht zulassen. Sie konnte und wollte ihnen das Geld nicht geben. Aber wie hätte sie es verhindern können? Rasch nahm sie das Päckchen Scheine aus ihrem Retikül und suchte fieberhaft nach einem Platz, an dem sie es verstecken konnte. Denk nach ... Sie beugte sich ein wenig vor und schaute zu Franklin auf. Er starrte die Bankräuber an, aber er musste ihren Blick gespürt haben, denn er neigte fast unmerklich den Kopf nach unten. Sie zögerte nur wenige Sekunden. Den Blick auf Franklins aschfahles Gesicht gerichtet, kroch sie lautlos unter den altmodischen Schreibtisch. Dort knöpfte sie mit zitternden Fingern ihre Bluse auf, schob das Geld unter ihr Mieder und presste die Hände an ihre Brust.
O Gott, o Gott ... Einer der Männer kam auf ihren Schreibtisch zu. Sie hörte seine Schritte immer näher kommen. Ihre Unterröcke! Sie umgaben sie wie eine weiße Flagge. Rasch griff sie danach und stopfte sie unter ihre Knie. Ihr Herz pochte jetzt wie eine Urwaldtrommel, so laut, dass sie Angst hatte, alle anderen müssten es hören können. Wenn sie sie nicht fanden, würden sie ihr nicht das Geld abnehmen.
Schlangenlederstiefel mit rasselnden Sporen erschienen jetzt nur wenige Zentimeter vor ihr, und es roch plötzlich nach Pfefferminz. Der Geruch schockierte sie – Kinder rochen nach Pfefferminz, nicht Kriminelle! Bitte, lieber Gott, lass sie mich nicht finden, flehte sie. Bitte, bitte, lieber Gott ... Am liebsten hätte sie die Augen zusammengekniffen und wäre im Erdboden versunken. Sie merkte, wie die Jalousien hinabgezogen wurden und wie es dunkler wurde, und plötzlich kam es ihr so vor, als läge sie in einem Sarg und der Mann zöge den Deckel über sie.
Nur wenige Sekunden waren verstrichen, seit sie die Bank betreten hatten. Es ist bald vorbei, tröstete sie sich. Es kann nicht lange dauern. Sie wollten nur das Geld, nicht mehr, und sie würden sich bestimmt beeilen, um so schnell wie möglich zu verschwinden. Ja, natürlich würden sie sich beeilen! Mit jeder Sekunde, die sie blieben, erhöhte sich die Gefahr, dass sie gefasst wurden.
Konnten sie sie durch die Ritze in der Seitenwand des Schreibtischs sehen? Der Gedanke war zu beängstigend. Ein ziemlich breiter Spalt verlief über die gesamte Länge des mittleren Paneels, und langsam änderte sie ihre Position, bis ihre Knie gegen die Schublade über ihrem Kopf drückten. Die Luft hier unten war so stickig, dass ein Würgen in ihr aufstieg. Sie atmete nur sehr flach durch den Mund und legte den Kopf zur Seite, um durch den Spalt sehen zu können.
Regungslos und mit dem Rücken an der Schalterwand standen auf der anderen Seite des Raums die drei leichenblassen Kunden. Einer der Banditen trat jetzt vor. Er trug einen schwarzen Anzug und ein weißes Hemd, ähnlich jenen, die der Bankdirektor trug. Hätte er nicht eine Maske getragen und eine Waffe in der Hand gehalten, hätte er wie jeder andere Geschäftsmann ausgesehen.
Er war überaus höflich und zuvorkommend.
»Meine Herren, es besteht kein Grund zur Sorge«, begann er. Er sprach mit ausgeprägtem Südstaatenakzent. »Solange Sie tun, was ich sage, wird niemandem etwas zustoßen. Wir erfuhren von einem Freund zufällig von einer beträchtlichen Einzahlung von Regierungsgeldern für Soldzahlungen der Armee und dachten, die würden wir ganz gerne mitnehmen. Ich gebe zu, dass das nicht korrekt ist, und kann mir vorstellen, dass Sie sich belästigt fühlen. Es tut mir wirklich leid ... Mr Bell, hängen Sie das Schild ›Geschlossen‹ an das Glas hinter der Jalousie.«
Der Anführer gab den Befehl dem Mann zu seiner Rechten, der rasch gehorchte.
»Das ist gut, sehr gut«, sagte der Anführer. »Und nun, meine Herren, möchte ich, dass Sie alle die Hände heben und aus dem Schalterraum nach vorne kommen, damit ich mir keine Sorgen zu machen brauche, dass irgendjemand etwas Dummes tut. Nicht so schüchtern, Herr Direktor. Kommen Sie aus Ihrem Büro, und stellen Sie sich zu Ihren Freunden und Nachbarn.«
Sie hörte das Schlurfen von Füßen, als die Männer langsam vortraten. Die Schwingtür quietschte, als sie sich bewegte.
»Das war sehr brav und ordentlich«, lobte der Anführer, als seine Anweisungen widerspruchslos befolgt wurden. »Bis jetzt haben Sie alles richtig gemacht, aber ich muss Sie noch um etwas anderes bitten. Würden Sie sich bitte alle hinknien? Nein, nein, die Hände bleiben schön über dem Kopf. Sie wollen mich doch sicher nicht beunruhigen? Mr Bell würde Sie am liebsten auf den Boden legen und fesseln, aber ich glaube nicht, dass das erforderlich sein wird. Warum sollten Sie Ihre schönen Anzüge beschmutzen? Knien Sie sich nur in einem engen Kreis hin. Ja, so ist es gut«, lobte er noch einmal.
»Der Tresor ist offen, Sir«, rief ihm einer der anderen zu.
»Dann räum ihn aus«, rief er zurück.
Der Anführer der Bande drehte sich zum Schreibtisch um, und sie konnte seine Augen sehen. Sie waren braun mit goldenen Flecken – wie Murmeln, kalt und gefühllos. Der Mann namens Bell hustete, und der Anführer wandte sich ab, um seinen Komplizen anzusehen.
»Warum lehnst du dich nicht ans Geländer und lässt die anderen die Beutel füllen? Mein Freund fühlt sich heute nicht besonders gut«, sagte er zu den Gefangenen.
»Vielleicht hat er sich mit Influenza angesteckt«, schlug Malcolm in diensteifrigem Tonfall vor.
»Ich fürchte, Sie haben recht«, stimmte der Boss der Bande zu. »Es ist schade, dass er sich heute nicht amüsieren kann, weil seine Arbeit ihm sonst großen Spaß bereitet. Nicht wahr, Mr Bell?«
»Ja, Sir«, antwortete sein Komplize.
»Sind Sie fertig, Mr Robertson?«
»Wir haben alles, Sir.«
»Vergesst nicht das Geld in den Kassen«, ermahnte er ihn.
»Das haben wir auch schon, Sir.«
»Tja, dann sind wir hier wohl fertig. Mr Johnson, würden Sie bitte dafür sorgen, dass die Hintertür uns keine Schwierigkeiten macht?«
»Schon erledigt, Sir.«
»Dann wird es Zeit, hier Schluss zu machen.«
Sie hörte die anderen in die Halle zurückkehren, ihre Stiefelabsätze klickten auf den Holzdielen. Einer von ihnen kicherte.
Der Anführer hatte sich von ihr abgewandt, aber dafür konnte sie jetzt die anderen deutlich sehen. Alle standen hinter dem Kreis ihrer Gefangenen. Während sie ihnen noch zusah, nahmen sie die Tücher vom Gesicht und steckten sie in ihre Taschen. Der Anführer trat einen Schritt vor und steckte seine Waffe weg, faltete dann ordentlich das Tuch und steckte es in seine Westentasche. Er stand nahe genug, dass sie seine gepflegten Hände und sorgfältig manikürten Nägel sehen konnte.
Warum hatten sie die Tücher abgenommen? Wussten sie denn nicht, dass Franklin und die anderen den Behörden jetzt eine genaue Beschreibung ... O Gott, nein ... nein ... nein ...
»Ist die Hintertür offen, Mr Johnson?«
»Ja, Sir.«
»Nun, dann wird es Zeit zu gehen. Wer ist an der Reihe?«, fragte er.
»Mr Bell ist seit dem kleinen Mädchen nicht mehr dran gewesen. Erinnern Sie sich, Sir?«
»Ja. Fühlen Sie sich heute dazu in der Lage, Mr Bell?«
»Ja, Sir. Vielen Dank, Sir.«
»Dann fangen Sie jetzt an«, befahl er, während er seine Waffe zückte und entsicherte.
»Was haben Sie vor?«, fragte der Direktor, und es klang wie ein erstickter Schrei.
»Pst. Ich sagte Ihnen doch, dass niemand verletzt wird, nicht?«
Seine Stimme klang auf makabre Art beruhigend. MacCorkle nickte gerade, als der Mann namens Bell den ersten Schuss abfeuerte. Der Kopf des Bankdirektors explodierte.
Der Anführer tötete den Mann vor ihm und sprang zurück, als das Blut in alle Richtungen spritzte.
Franklin schrie: »Aber Sie haben doch versprochen ...«
Der Anführer fuhr zu ihm herum und schoss ihn in den Hinterkopf. Franklins Genick brach knackend.
»Ich habe Sie belogen.«
Die Zeremonie war einzigartig. Der Ehrengast, Cole Clayborne, verschlief sie und die Feier, die danach folgte. Eine Stunde nachdem die meisten Gäste gegangen waren, begann die Wirkung des unnatürlichen Schlafes nachzulassen. Noch immer stark benommen, schwebte Cole irgendwo zwischen Fantasie und Wirklichkeit. Er spürte, dass jemand an ihm zerrte, aber er konnte nicht genügend Kraft aufbringen, um die Augen aufzuschlagen und festzustellen, wer ihn quälte. Der Lärm verursachte ihm heftige Kopfschmerzen, und als er endlich aufwachte, waren die ersten Geräusche, die er hörte, das Klirren von Glas und lautes, ausgelassenes Gelächter.
Jemand sprach mit ihm – oder über ihn. Er hörte seinen Namen, konnte sich aber nicht lange genug konzentrieren, um zu verstehen, was gesagt wurde. Sein Kopf fühlte sich an, als wären kleine Männchen darin, die zwischen seinen Augen standen und seinen Schädel mit Hämmern und Spitzhacken bearbeiteten.
Ein Kater?, fragte er sich dumpf. Nein, er trank nie, wenn er nicht in Rosehill war, und selbst wenn er zu Hause war, trank er selten mehr als ein kühles Bier an einem heißen Nachmittag. Er mochte die Nachwirkungen nicht. Alkohol, das hatte er auf die harte Tour gelernt, wirkte einschläfernd auf die Sinne und verlangsamte die Reflexe. Und da die Hälfte aller Revolverhelden des Territoriums ihren Ruf darauf begründen wollten, ihn bei einer Schießerei zu töten, dachte er nicht im Traum daran, etwas Einschläfernderes zu trinken als reines, klares Wasser.
Jemand schien sich großartig zu amüsieren. Er hörte wieder Gelächter und wandte den Kopf in diese Richtung. Ein scharfer Schmerz durchzuckte seinen Nacken, und bittere Galle stieg in seiner Kehle auf. O Gott, er fühlte sich entsetzlich.
»Mir scheint, er kommt jetzt wieder zu sich, Josey. Du solltest jetzt besser heimgehen, bevor er zu wüten und zu spucken anfängt. Das wird bestimmt kein schöner Anblick.« Sheriff Tom Norton starrte durch die Gitterstäbe der Zelle, während er mit der Frau sprach, mit der er seit dreißig Jahren verheiratet war.
Josey Norton hastete davon, bevor Coles Blick sich klärte. Er brauchte eine volle Minute, um zu begreifen, wo er war. Er biss die Zähne zusammen, als er sich auf der schmalen Pritsche aufrichtete und die Beine auf den Boden schwang. Seine Hände umklammerten die Matratze, und sein Kopf sank kraftlos auf die Brust.
Aus blutunterlaufenen Augen betrachtete er den Sheriff. Norton war ein älterer Mann mit sonnengegerbter Haut, mächtigem Bauch und melancholischen Hundeaugen.
»Warum bin ich im Gefängnis?«, murmelte Cole wütend.
Der Sheriff lehnte sich an die Stäbe, schlug ein Bein über das andere und lächelte. »Weil Sie das Gesetz gebrochen haben.«
»Und womit?«
»Öffentliche Ruhestörung.«
»Was?«
»Sie brauchen nicht so zu brüllen. Das muss doch schmerzen. Sie haben eine hübsche Beule am Hinterkopf, und ich glaube nicht, dass sie durch Brüllen besser wird. Erinnern Sie sich nicht mehr an das, was geschehen ist?«
Cole schüttelte den Kopf und bereute es sofort. Ein heftiger Schmerz explodierte hinter seinen Augen.
»Ich erinnere mich, dass ich krank war.«
»Ja, Sie hatten Grippe. Sie hatten vier Tage lang sehr hohes Fieber, und meine Josey hat Sie wieder gesund gepflegt. Sie sind erst seit gestern wieder auf den Beinen.«
»Und wann soll ich gegen das Gesetz verstoßen haben?«
»Als Sie gestern die Straße überquerten«, erwiderte Norton fröhlich. »Es war sehr beunruhigend für mich, als Sie weggingen, obwohl ich mir solche Mühe gab, Sie hier festzuhalten, bis die Ernennung durchkam. Ich hatte einer wichtigen Persönlichkeit mein Wort gegeben, Sie hierzubehalten, junger Mann, aber Sie wollten ja nicht hören.«
»Und da haben Sie mich niedergeschlagen.«
»Ja, das stimmt«, gestand er. »Ich sah keine andere Möglichkeit. Es war allerdings kein harter Schlag, sondern nur ein kleiner Hieb mit dem Griff meiner Pistole. Er hat keinen dauerhaften Schaden angerichtet, sonst würden Sie jetzt nicht da sitzen und mich anfauchen. Außerdem habe ich Ihnen damit nur einen Gefallen getan.«
Der heitere Ton des Sheriffs ging Cole auf die Nerven. Er warf ihm einen aufgebrachten Blick zu. »Und wieso, wenn ich fragen darf?«
»Zwei Revolverhelden erwarteten Sie schon auf der Straße. Beide waren fest entschlossen, Sie zu einer Schießerei herauszufordern – einer nach dem anderen natürlich. Sie hatten gerade erst Ihre Grippe überwunden, und obwohl Sie es selbst wahrscheinlich niemals zugäben, würde ich einen Wochenlohn darauf verwetten, dass Sie noch gar nicht in der Lage waren, es auch nur mit einem von ihnen aufzunehmen. Die Influenza hat Sie sehr geschwächt, mein Junge, und Sie bekommen erst jetzt wieder ein bisschen Farbe. Ja, Sir, man kann wohl durchaus sagen, dass ich Ihnen einen Gefallen getan habe!«
»Jetzt erinnere ich mich wieder.«
»Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf darüber«, rief Norton. »Denn das ist jetzt passé. Die Ernennung wurde ausgesprochen, und wir haben eine feierliche Zeremonie hier abgehalten. Es war zwar ein bisschen komisch, dass wir dazu alle zu Ihnen in die Zelle mussten, aber der Richter meinte, ihn störe es nicht, und dann klappte es ja auch. Zu schade, dass Sie das alles verschlafen haben, wo Sie doch so etwas wie der Ehrengast waren! Josey hatte sogar einen richtig leckeren Festtagskuchen mit Zuckerglasur für Sie gebacken. Aber keine Sorge, Sie hat Ihnen ein großes Stück davon aufgehoben. Es liegt da drüben auf dem Tisch«, fügte er mit einer Kopfbewegung zur anderen Zellenwand hinzu. »Essen Sie ihn lieber, bevor die Mäuse sich darüber hermachen.«
Cole wurde von Sekunde zu Sekunde wütender. Das meiste, was der Sheriff sagte, ergab für ihn nicht den geringsten Sinn. »Beantworten Sie mir eine Frage«, verlangte er. »Sie sagten, eine wichtige Persönlichkeit habe mich hierbehalten wollen. Wer war das?«
»Marshal Daniel Ryan. Er müsste jeden Augenblick erscheinen, um Sie herauszulassen.«
»Ryan ist hier in Middleton? Dieser hinterhältige, gemeine ...«
»Lassen Sie es, Cole. Das nützt doch nichts. Der Marshal sagte mir bereits, dass Sie ihm wegen irgendetwas grollen. Er sagte, es hätte etwas mit einem Kompass in einem goldenen Medaillon zu tun, den er für Sie aufbewahrt hat.«
Cole nickte ärgerlich. »Ja, meine Mutter brachte mir den Kompass mit, aber Ryan nahm ihn mir ab, bevor sie ihn mir geben konnte. Er hat nicht die Absicht, ihn zurückzugeben. Ich werde ihm den Kompass mit Gewalt abnehmen müssen.«
»Ich glaube, da irren Sie sich«, meinte Norton lächelnd.
Es war sinnlos, mit ihm zu diskutieren. Cole beschloss, seinen Zorn für den Mann aufzusparen, der die Schuld daran trug, dass er im Gefängnis saß ... Daniel Ryan. Er konnte es kaum erwarten, ihn in die Finger zu bekommen.
»Werden Sie mich herauslassen und mir meine Waffen zurückgeben?«
»Das würde ich sehr gern tun, mein Junge.«
»Aber?«
»Aber ich kann es nicht«, sagte der Sheriff. »Ryan hat die Schlüssel zu Ihrer Zelle. Ich muss jetzt einige Papiere zum Gericht hinüberbringen – warum machen Sie es sich solange nicht bequem und essen etwas? Ich werde nicht lange fort sein.«
Der Sheriff wandte sich zum Gehen. »Noch eins«, sagte er an der Tür gedehnt. »Herzlichen Glückwunsch, junger Mann. Ich bin sicher, dass Ihre Familie sehr stolz auf Sie sein wird.«
»Moment mal!«, schrie Cole ihm nach. »Warum gratulieren Sie mir eigentlich?«
Norton antwortete nicht, sondern ging ins vordere Büro weiter. Eine Minute später hörte Cole, wie die Eingangstür geöffnet und dann wieder geschlossen wurde. Verwundert schüttelte der den Kopf. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wovon der alte Mann da redete. Wozu hätte er ihm gratulieren sollen?
Er schaute sich in der kargen Zelle um – graue Wände, graue Gitter, grauer Boden. Auf einem dreibeinigen Tisch in einer Ecke standen eine schmutziggraue Schüssel und ein Wasserkrug. Daneben lag das Stück Kuchen, das die Frau des Sheriffs für ihn aufgehoben hatte. Die schmucklosen Wände waren nackt bis auf die schwarze Spinne, die langsam über die getünchten Steine kroch. Eine weitere hing an ihrem Netz in dem vergitterten kleinen Fenster hoch unter der Decke. Cole war über einsachtzig groß, aber um hinauszusehen, hätte er sich auf einen Stuhl stellen müssen. Und Stühle gab es keine in der Zelle. Er konnte jedoch ein Stückchen Himmel sehen, aber auch das, wie alles andere in seinem gegenwärtigen Zuhause, war schmutziggrau.
Die Farbe passte jedoch zu seiner Stimmung. Er war in einer ausweglosen Situation. Er konnte Norton unmöglich erschießen, nachdem seine Frau ihn gesund gepflegt hatte. Und auch der Sheriff hatte ihm vermutlich das Leben gerettet, als er ihn bewusstlos geschlagen hatte, bevor die Revolverhelden ihn in eine Schießerei hatten verwickeln können. Cole erinnerte sich, dass die Magen- und Darmgrippe ihn sehr geschwächt hatte. Bei einer Schießerei hätte er ganz gewiss den Kürzeren gezogen – aber hatte Norton ihm wirklich so hart eins überziehen müssen? Sein Kopf fühlte sich noch immer an, als wäre er von einer Axt gespalten worden.
Er hob die Hand, um seinen steifen Nacken zu massieren, und dabei stieß sein rechter Arm gegen etwas Kaltes, Metallisches. Er schaute an sich herab und erstarrte, als er begriff, was er da sah. Ein goldenes Medaillon baumelte von einer Kette, die jemand – vermutlich Ryan – an der Tasche seiner Lederweste befestigt hatte.
Das Schlitzohr hatte ihm also endlich seinen Schatz zurückgegeben! Vorsichtig legte er das Medaillon auf seine Handfläche und betrachtete es lange, bevor er es öffnete. Der Kompass war aus Bronze, nicht aus Gold, aber trotzdem sehr kunstvoll gearbeitet. Das Zifferblatt war weiß, die Zahlen rot, der Zeiger schwarz. Cole nahm ihn aus dem Medaillon und lächelte, als er sah, wie der Zeiger hin und her schwankte, bevor er in Richtung Norden deutete.
Mama Rose würde sehr erfreut sein zu erfahren, dass er endlich das Geschenk erhalten hatte, das sie ihm vor über einem Jahr gekauft hatte. Es war ein wunderschönes Stück. Er konnte nirgendwo eine Delle oder einen Kratzer sehen. Ryan schien gut darauf aufgepasst zu haben, musste er sich grollend eingestehen. Er hätte den Schuft noch immer gern dafür erschossen, dass er den Kompass so lange behalten hatte, aber er wusste, dass er das nicht tun konnte, wenn er noch ein bisschen länger leben wollte – auf die Erschießung eines Marshals stand in diesem Territorium die Todesstrafe –, und deshalb hielt Cole es für besser, sich mit einem Fausthieb auf die Nase zu begnügen.
Vorsichtig steckte er das Medaillon mit dem Kompass in die Westentasche, schaute zu der Wasserschüssel hinüber und beschloss, sich das Gesicht zu waschen. Sein Blick fiel dabei auf den Kuchen, und er ließ ihn eine Weile darauf ruhen, während er versuchte, Realität von Traum zu trennen.
Wieso hatten sie in seiner Zelle Kuchen gegessen? Die Frage erschien ihm viel zu kompliziert, um jetzt lange darüber nachzudenken. Er stand auf, um seine steifen Glieder zu strecken, und wollte gerade seine Weste ausziehen, als sein Ärmel an etwas Scharfem hängenblieb. Als er den Arm befreit hatte, senkte er den Kopf, um zu sehen, woran der Ärmel sich verfangen hatte.
Seine Hände sanken auf die Knie, als er sich auf die Pritsche zurückfallen ließ und fassungslos auf seine linke Schulter starrte. Er war wie vor den Kopf geschlagen. Es konnte nur ein Scherz sein – aber wenn, dann ein sehr schlechter. Und da fielen ihm plötzlich Sheriff Nortons Worte wieder ein. Die Ernennung wurde ausgesprochen ... Ja, das war es, was er gesagt hatte! Und sie hatten gefeiert ... Cole erinnerte sich, dass Norton auch das gesagt hatte.
Und Cole war der Ehrengast gewesen ...
»Geh zur Hölle, du verdammter Hurensohn!«, fluchte er, während er den silbernen Stern an seiner Brust anstarrte.
Er war jetzt ein U.S. Marshal.
Als Sheriff Norton zum Gefängnis zurückkam, kochte Cole vor Wut. Glücklicherweise hatte Norton inzwischen von Ryan die Schlüssel erhalten. Josey, Nortons Frau, war bei ihm, und nur aus diesem Grund beherrschte Cole sich. Sie hielt einen Korb in den Händen, der mit einem blaukarierten Tuch bedeckt war, und kaum hatte der Sheriff die Zelle aufgeschlossen, trug sie den Korb hinein.
Norton stellte sie einander vor. »Ihr kennt euch offiziell noch nicht, da Sie immer hohes Fieber hatten, wenn meine Josey kam. Josey, das hier ist Marshal Cole Clayborne. Er weiß es zwar noch nicht, aber er wird Marshal Ryan helfen, die Blackwater-Bande, die in dieser Gegend raubt und mordet, unschädlich zu machen. Cole ... Es stört Sie doch nicht, wenn ich Sie mit Ihrem Vornamen anrede?«
»Nein, Sir, es stört mich nicht.«
Der Sheriff strahlte vor Vergnügen. »Das ist sehr großzügig von Ihnen, wenn man bedenkt, welche Kopfschmerzen Sie nach meinem kleinen Hieb haben müssen. Aber wie ich bereits sagte, die hübsche Dame neben mir ist Josey, meine Frau. Sie hat sich sehr um Sie bemüht, als Sie so krank waren. Erinnern Sie sich noch?«
Cole war aufgestanden, als Josey eingetreten war. Jetzt trat er vor und deutete eine Verbeugung an. »Natürlich erinnere ich mich, Ma’am. Ich weiß es sehr zu schätzen, dass Sie jeden Tag in mein Hotel kamen, um nach mir zu sehen, als ich krank im Bett lag. Ich hoffe nur, dass ich keine allzu große Last war.«
Josey war eine eher unscheinbare Frau mit runden Schultern und schiefen Zähnen, aber wenn sie lächelte, begann der ganze Raum zu strahlen. Niemand konnte ihrem Lächeln widerstehen, und Cole war darin keine Ausnahme. Sein Lächeln war so aufrichtig wie sein Dank.
»Viele Leute hätten sich ganz sicher nicht die Mühe gemacht, einen Fremden gesund zu pflegen«, sagte er.
»Nicht der Rede wert«, erwiderte sie bescheiden. »Sie haben ein bisschen Gewicht verloren, aber mein Hähnchen müsste das eigentlich wieder ausgleichen. Ich habe es Ihnen von zu Hause mitgebracht.«
»Meine Josey macht ein wunderbares Brathähnchen«, warf Norton ein und deutete lächelnd auf den Korb, den seine Frau in beiden Händen hielt.
»Ich dachte, ich müsste etwas tun, um die Grobheit meines Mannes wiedergutzumachen. Thomas hätte Sie nicht so niederschlagen dürfen, wie er es getan hat – erst recht nicht, nachdem Sie von Ihrer Krankheit so geschwächt waren. Haben Sie schlimme Kopfschmerzen?«
»Nein, Ma’am«, log er.
Sie wandte sich zu ihrem Mann um. »Diese beiden Revolverhelden treiben sich noch immer in der Stadt herum. Ich habe sie auf dem Weg hierher gesehen. Der eine hockt am nördlichen Ende unserer Straße und der andere weiter südlich. Wirst du etwas unternehmen, bevor sie diesen jungen Mann hier umbringen?«
Norton rieb sich das Kinn. »Ich nehme an, dass Marshal Ryan mit ihnen reden wird.«
»Er scheint mir nicht der Typ zu sein, der redet«, versetzte Josey.
»Ma’am, diese Kerle wollen mich«, mischte Cole sich ein. »Ich werde mit ihnen reden.«
»Sie wollen nicht reden, junger Mann. Sie sind begierig, sich einen Namen zu machen, und der einzige Weg, um das zu schaffen, ist, dass einer von beiden Sie bei einem Duell erschießt. Lassen Sie sich nicht von ihnen provozieren«, warnte Norton.
Josey nickte zustimmend und wandte sich dann wieder ihrem Ehemann zu. »Wo würdet ihr gern essen?«
»Es ist zu heiß hier drinnen«, sagte Norton. »Warum stellst du die Sachen nicht auf meinen Schreibtisch?«
Cole wartete, bis Josey im vorderen Büro verschwunden war, bevor er sich wieder an den Sheriff wandte. »Wo ist Ryan?«
»Er wird gleich kommen. Er war auf dem Weg hierher, aber dann wurde er ins Telegrafenamt gerufen, um ein Telegramm in Empfang zu nehmen. Sie können es wahrscheinlich kaum erwarten, ihn zu sehen.«
Cole nickte. Es gelang ihm, seinen Ärger zu beherrschen, indem er sich vor Augen hielt, dass der Sheriff nur getan hatte, was Ryan von ihm verlangt hatte. Es war der Marshal gewesen, der befohlen hatte, Cole in der Stadt zu behalten, und es war auch der Marshal gewesen, der ihm den Stern an seine Weste gesteckt hatte. Cole hatte für dieses Abzeichen einen ganz anderen Platz im Sinn. Vielleicht ging er so weit, es Ryan an die Stirn zu stecken. Der Gedanke belustigte ihn, und er musste lächeln.
Josey hatte die Papiere vom Schreibtisch fortgeräumt und ihn mit einem rotkarierten Tuch bedeckt. Zwei angeschlagene Porzellanteller mit blauen Schmetterlingen standen darauf und zwei passende Kaffeetassen. In der Mitte des Tischs stand eine große Platte mit gebratenen Hähnchenstücken, die in einer dicken Fettschicht ruhten, und dazu gab es gekochte Steckrüben, an denen noch die haarigen Wurzeln hingen, eine zähflüssige Sauce, die wie alter Teig aussah, eingelegte Rote Bete und verbrannten Toast.
Es war die unappetitlichste Mahlzeit, die Cole je gesehen hatte. Sein Magen, der noch sehr empfindlich nach der Grippe war, drehte sich schon beim bloßen Geruch des Essens um. Da Josey bereits gegangen war, brauchte Cole sich nicht zu sorgen, dass sein mangelnder Appetit sie kränken könnte.
Der Sheriff setzte sich hinter den Schreibtisch und forderte Cole auf, sich einen Stuhl heranzuziehen. Nachdem er Kaffee eingeschenkt hatte, lehnte er sich zurück und zeigte grinsend auf das Essen. »Ich sollte Sie vielleicht lieber vorher warnen. Meine Frau meint es gut, aber sie hat nie richtig kochen gelernt. Sie scheint zu glauben, es genügte, alles in einem Haufen Fett zu braten. Ich würde diese Sauce an Ihrer Stelle nicht probieren. Sie ist lebensgefährlich.«
»Ich bin eigentlich gar nicht hungrig«, sagte Cole.
Der Sheriff lachte. »Sie werden ein verdammt guter Marshal sein, so diplomatisch, wie Sie sind.« Er tätschelte seinen umfangreichen Bauch, als er hinzufügte: »Ich bin an Joseys Kocherei gewöhnt, aber dazu habe ich fast dreißig Jahre gebraucht. Es gab Zeiten, da dachte ich, sie wollte mich umbringen.«
Cole trank seinen Kaffee, während Norton zwei große Portionen aß. Als der Sheriff seine Mahlzeit beendet hatte, legte er das schmutzige Geschirr in den Korb, bedeckte ihn mit seiner fleckigen Serviette und stand auf.
»Ich glaube, ich schleiche mich jetzt zu Friedas Restaurant und hole mir ein Stück Nusstorte. Wollen Sie mich begleiten?«
»Nein, danke. Ich warte lieber hier auf Ryan.« Ein Gedanke führte zum anderen. »Wo haben Sie meine Waffen?«
»Sie sind in der untersten Schublade meines Schreibtischs. Das ist ein guter Waffengurt, den Sie da haben. Er macht das Ziehen einfacher, nicht wahr? Ich denke, das ist der Grund, warum Marshal Ryan den gleichen hat.«
Sobald der Sheriff das Büro verlassen hatte, holte Cole seinen Waffengurt und legte ihn an. Alle Kugeln seiner beiden sechsschüssigen Revolver waren entfernt worden. Cole lud sie wieder, füllte die Kammer einer der beiden Waffen und arbeitete an der zweiten, als Norton schon zurückkam.
»Ich glaube, Marshal Ryan könnte Ihre Hilfe gebrauchen«, sagte er aufgeregt. »Diese beiden Revolverhelden warten an beiden Enden der Straße, und ich habe gerade gesehen, wie er sie überquert. Er könnte in eine Schießerei verwickelt werden.«
Cole schüttelte den Kopf. »Sie wollen mich, nicht Ryan«, erwiderte er, als er die Kammer einschnappen ließ und die Waffe in das Halfter steckte.
»Aber das ist ja das Problem, mein Junge. Ryan wird sie nicht an Sie heranlassen. Wenn einer von ihnen Sie tötet, können Sie ihm nicht mehr helfen, die Blackwater-Bande festzunehmen, und er hat schon oft gesagt, dass er dazu Ihre ganz spezielle Hilfe braucht.«
Cole hatte nicht die geringste Ahnung, wovon der Sheriff sprach. Was für eine Art »spezieller« Hilfe hatte er anzubieten? Aber das wirst du bald erfahren, dachte er. Sein Vorschlag, dass der Sheriff im Gebäude blieb, traf nicht gerade auf Begeisterung.
»Hören Sie, junger Mann, ich könnte Ihnen hilfreich sein. Klar, ich gebe zu, dass es eine Weile her ist, seit ich an einer Schießerei beteiligt war, aber ich denke, dass es so wie Reiten ist und man es nicht verlernen kann. Ich war früher ganz schön schnell mit einer Waffe.«
Cole schüttelte den Kopf. »Wie schon gesagt, sie wollen mich. Aber trotzdem vielen Dank.«
Norton beeilte sich, die Tür für ihn zu öffnen, und bevor Cole hinaustrat, hörte er den alten Mann flüstern: »Viel Glück, mein Junge.«
Glück hatte nichts damit zu tun. Lange, harte Jahre seines Lebens hatten Cole auf diese unangenehmen Zwischenfälle vorbereitet.
Cole überblickte sofort alles. Die Kerle warteten am Anfang und am Ende der kurzen Straße, aber er kannte keinen der beiden. Revolverhelden sahen alle gleich aus – Gott, wie viele von ihnen gab es, die dem leeren Traum nachjagten, der schnellste Schütze im ganzen Westen zu sein? Beide ganz in Schwarz gekleidet, standen sie da und traten von einem Fuß auf den anderen, um Cole ihre Ungeduld zu zeigen. Sie waren keine grünen Jungen mehr – was es ihm erleichtern würde, sie zu töten, dachte Cole. Er wusste bereits, wie er es anstellen würde. Der Plan verlangte, dass er sich in den Straßenschmutz warf – aber verdammt, er hasste es, sich hinzuwerfen und sich im Dreck zu wälzen, vor allem heute, wo sein Magen sowieso schon revoltierte. Aber wahrscheinlich blieb ihm gar nichts anderes übrig, wenn er überleben wollte.
Marshal Ryan war jedoch die Fliege in seiner Suppe. Der Gesetzeshüter stand stocksteif mitten auf der Straße, und das würde ihn genau ins Kreuzfeuer bringen.
Cole wollte ihm gerade etwas zurufen, als Ryan ihm mit einer Handbewegung zu verstehen gab, zu ihm zu kommen. Die Hände locker an der Seite, um die schießwütigen Revolverhelden nicht zu ermutigen, trat Cole vom Bürgersteig und ging auf den Marshal zu.
Als er näherkam, setzten sich auch die Revolverhelden in Bewegung.
Cole beschloss, sie erst einmal zu ignorieren. Er und Ryan waren beide sicher – bis einer der beiden nach seiner Waffe griff. Die Herausforderer waren hier, um sich einen Namen zu machen, und das konnten sie nur, wenn sie in einem offenen und ehrlichen Duell vor Zeugen zogen. Sonst zählte es nämlich nicht.
Sheriff Norton spähte durch die nur angelehnte Tür und verfolgte aufmerksam die Vorgänge auf der Straße. Was er sah, entlockte ihm ein Lächeln, denn es war wirklich sehenswert. Die beiden Marshals, beide groß und stark wie Goliath, musterten sich prüfend wie zwei Boxer vor Beginn des Kampfs. Sie waren ein beeindruckendes Paar, wie Josey sagte. Sie war ein bisschen eingeschüchtert gewesen, als sie Daniel Ryan zum ersten Mal begegnet war, und später hatte sie die gleiche Reaktion gezeigt, als sie Cole Clayborne kennengelernt hatte, obwohl sie sich bemüht hatte, es zu verbergen. Die beiden Marshals jagten ihr Angst ein, hatte sie gestanden, und Norton erinnerte sich noch lebhaft der genauen Worte, mit denen sie versucht hatte, ihre Gefühle zu erklären. »Es sind ihre Augen. Sie haben beide diesen kalten, durchdringenden Blick, der einem das Gefühl gibt, von Eiszapfen durchbohrt zu werden. Mir ist, als schauten sie direkt in meinen Kopf und wüssten, was ich denke, bevor ich es weiß.«
Sie gab allerdings auch zu, obwohl sie eigentlich sehr schüchtern war, dass ihr aufgefallen war, wie attraktiv die beiden Männer waren – solange sie sie nicht direkt ansahen.
Cole schrie Ryan etwas zu, und der Sheriff horchte auf.
»Mach, dass du von der Straße kommst, Ryan. Oder willst du erschossen werden?«
Der Marshal rührte sich nicht. Nur seine Augen wurden schmal, als Cole noch näher kam. Nur wenige Schritte von ihm entfernt blieb Cole Clayborne stehen. Schweigend starrte er in Ryans Augen. Dieser erwiderte den Blick. Er war der erste, der das Schweigen brach. »Überlegst du dir, ob du mich erschießen sollst?«
Ein Anflug von Belustigung klang in seiner Stimme mit, der Cole missfiel. »Die Idee ist mir zwar schon gekommen, aber im Augenblick habe ich andere Sorgen. Falls du nicht im Kugelhagel enden willst, solltest du jetzt lieber gehen.«
»Jemand wird hier sterben, aber das wird nicht meine Wenigkeit sein«, erwiderte Ryan gelassen.
»Du glaubst, du kannst sie beide erwischen?«, fragte Cole mit einem Kopfnicken in Richtung des Revolverhelden zu seiner Linken, der langsam näher schlich.
»Das wird sich bald herausstellen.«
»Sie wollen mich, nicht dich.«
»Ich bin genauso schnell, Cole.«
»Nein, das bist du nicht.«
Ryans Lächeln verblüffte Cole, und er hätte ihn gefragt, was es zu bedeuten hatte, wenn der Revolverheld zu seiner Rechten ihn nicht angesprochen hätte.
»Mein Name ist Eagle, Clayborne, und ich bin hier, um dich zum Duell zu fordern. Dreh dich um und sieh mich an, du elender Feigling.«
Nun meldete sich auch der andere Mann. »Mein Name ist Riley, Clayborne«, rief er, »und ich bin der Mann, der dich erschießen wird.«
Die Revolverhelden, denen Cole bisher begegnet war, waren alle nicht besonders klug gewesen. Diese beiden, dachte er, waren keine Ausnahme.
»Vielleicht sollte ich mich lieber um die beiden kümmern«, sagte Ryan.
»Wie denn? Willst du sie verhaften?«
»Vielleicht.«
Seine Gelassenheit war nervend. »Was für ein Marshal bist du eigentlich?«
»Ein verdammt guter.«
Cole presste die Lippen zusammen. »Jedenfalls bist du ganz schön eingebildet.«
»Ich kenne meine Stärken. Und deine auch.«
Jetzt war es um Coles Geduld geschehen. »Warum gehst du nicht zum Sheriff hinein und erzählst mir von deinen Stärken, wenn ich hier fertig bin.«
»Soll das heißen, du willst mich loswerden?«
»Allerdings.«
»Ich gehe nirgendwohin. Außerdem habe ich einen Plan«, sagte er und deutete auf einen der Revolverhelden.
»Ich auch«, erwiderte Cole.
»Meiner ist besser.«
»Ach ja?«
»Ja. Wir zählen bis drei und lassen uns dann fallen, damit sie sich gegenseitig erschießen können.«
Trotz seiner düsteren Stimmung grinste Cole über das Bild, das Ryan ihm zeichnete. »Das wäre wirklich schön, wenn es funktionieren würde, aber keiner von beiden ist dem anderen nahe genug, um ihn zu treffen. Außerdem würde mein neues Hemd schmutzig, wenn ich mich fallen ließe.«
»Und was ist dein Plan?«, fragte Ryan.
»Einen zu töten, mich dann fallenzulassen und herumzurollen, um den anderen zu erwischen.«
»Mir scheint, dass dein neues Hemd auch dabei schmutzig würde.«
»Wirst du mir jetzt aus dem Weg gehen oder nicht?«
»Ordnungshüter müssen zusammenhalten, Cole. Das ist eine wichtige Regel, die du dir merken solltest.«
»Ich bin kein Ordnungshüter.«
»Doch, das bist du. Du musst noch eingeschworen werden, aber das ist reine Formsache.«
»Du hast einen merkwürdigen Sinn für Humor, Ryan. Weißt du was? Ich denke nicht daran, Marshal zu werden.«
»Du bist es schon«, erklärte Ryan nachsichtig.
»Warum?«
»Weil ich deine Hilfe brauche.«
»Ich glaube, du hast keine Ahnung, was in mir vorgeht. Weißt du, was für eine Überwindung es mich kostet, dich nicht einfach zu erschießen, du verdammter Mistkerl? Du hast meinen Kompass über ein Jahr behalten!«
Ryan blieb unbeeindruckt. »So lange hat es gedauert, bis die Ernennung endlich durchkam.«
»Welche Ernennung?«
»Ich konnte dir nicht einfach einen Stern anstecken«, erklärte Ryan. »Die Ernennung kam aus Washington.«
Cole schüttelte den Kopf.
»Sie kommen näher«, meinte Ryan und verdrehte die Augen in Eagles Richtung. »Kennst du sie?«
»Nein.«
»Ich nehme mir den auf fünf Uhr vor.«
Cole begann sich umzuwenden und hielt dann inne. »Fünf Uhr bei dir oder bei mir?«
»Bei mir«, antwortete Ryan.
Beide drehten sich zu einem der herankommenden Revolverhelden um und traten dann langsam zurück, bis sie Schulter an Schulter standen.
»Schieß nicht, um zu töten.«
»Du machst wohl Witze.«
Ryan ignorierte die Bemerkung. Er schrie den Männern zu, die Hände hochzuheben und langsam auf ihn zuzukommen, aber Eagle und Riley blieben, wo sie waren, mit der rechten Hand noch immer dicht an ihren Waffen.
»Wenn du Riley verfehlst, durchschlägt dich seine Kugel und trifft mich«, sagte Cole.
»Ich verfehle nie.«
»Arroganter Bastard«, wisperte Cole im selben Augenblick, als Eagle nach seiner Waffe griff. Cole reagierte mit blitzartiger Geschwindigkeit. Der Revolverheld hatte seine Waffe noch nicht ganz aus dem Halfter, als auch schon eine Kugel seine Handfläche durchbohrte.
Ryan feuerte im selben Augenblick und schoss Riley die Waffe aus der Hand, als er sie gerade hob. Die Kugel traf sein Handgelenk.
Die beiden Marshals traten langsam vor. Dabei hielten sie die Waffen auch weiterhin auf ihre Ziele gerichtet. Ryan erreichte Riley zuerst. Ohne die Schmerzensschreie des Mannes zu beachten, entwaffnete er ihn und trieb ihn zu Sheriff Nortons Gefängnis hinüber.
Eagle brüllte wie ein verwundeter Stier. Zu Coles Ärger wollte er nicht stillhalten, sondern hüpfte schreiend auf und ab.
»Du hast meine Hand zerfetzt, Clayborne. Du hast meine Schusshand ruiniert«, kreischte er.
»Ich habe dich schon beim ersten Mal gehört«, brummte Cole. »Halt still, verdammt noch mal. Ich muss dir deine Waffen abnehmen.«
Eagle wollte nicht gehorchen, und Cole war es bald leid, ihm nachzujagen. Seufzend packte er den Revolverhelden am Kragen und versetzte ihm einen Kinnhaken, der ihm das Bewusstsein raubte. Er stützte ihn, bis er ihn entwaffnet hatte, ließ ihn dann zu Boden fallen und schleifte ihn am Kragen seines Hemds zu Norton.
Der Sheriff strahlte die beiden Marshals vom Bürgersteig aus an. »Wir werden wohl den Doktor holen müssen, damit er die beiden wieder zusammenflickt«, bemerkte er.
»Ja, das müssen wir wohl leider«, erwiderte Cole.
Der Sheriff eilte in sein Büro, nahm die Schlüssel von seinem Schreibtisch und schloss rasch zwei Zellen für die verwundeten Revolverhelden auf.
Es blieb keine Zeit für Glückwünsche des Sheriffs, denn kaum waren die Zellentüren zugefallen, wurde Ryan von einem Angestellten des Telegrafenamts hinausgerufen. Als Cole ihm folgte, genügte ihm ein Blick auf Ryan, um zu erkennen, dass etwas Schreckliches geschehen war. Er war allerdings überrascht, als Ryan ihm das Telegramm gab.
Cole überflog es rasch, während Ryan Sheriff Norton informierte. »Es hat einen weiteren Banküberfall gegeben«, sagte er mit flacher, ausdrucksloser Stimme.
Norton schüttelte den Kopf. »Wie viele Tote diesmal?«
»Sieben.«
»Wo?«, wollte Norton wissen.
»In Rockford Falls.«
»Das ist nicht weit von hier. Ich kann Ihnen sagen, wie Sie hinkommen.«
»Wie weit ist es?«
»Etwa vierzig Meilen durch sehr schwieriges Gelände.«
»Sie sollten die Augen offenhalten, falls einer von ihnen noch einmal hier durchkommt. Obwohl ich das bezweifle«, fügte Ryan hinzu. »Sie haben bereits die Bank hier überfallen. Cole, wirst du mit mir reiten?«
Er schüttelte den Kopf und gab Ryan das Telegramm zurück. »Das ist nicht mein Problem.«
Ryan sagte nichts. Aber seine Augen wurden schmal, und eine steile Falte erschien zwischen seinen Brauen. Blitzartig griff er nach Coles Weste und schubste ihn so hart, dass Cole taumelte und stürzte. Bevor er mit geballten Fäusten wieder aufspringen und reagieren konnte, nahm Ryan ihm den Wind aus den Segeln, indem er sich entschuldigte.
»Es tut mir leid. Das hätte ich nicht tun sollen. Mein Zorn ist mit mir durchgegangen. Hör mal, ich verstehe dich ja. Du hast dies alles nicht gewollt, und die Raubüberfälle sind wirklich nicht dein Problem. Aber sie sind meins. Und deshalb dachte ich – hoffte ich zumindest –, dass du mir helfen würdest. Ich werde deine Kündigung jedoch nicht akzeptieren. Dazu musst du zur Zentrale reiten und deinen Stern dort abgeben. Sheriff Norton wird dir sagen, wo sie ist. Ich muss nach Rockford Falls, bevor alle Spuren dort verwischt sind. Nimm es mir nicht übel, ja?«
Cole zuckte die Schultern und erwiderte Ryans Händedruck. »Kein Problem.«
Ryan wandte sich hastig ab und lief zum Mietstall. Cole sah ihm nach und folgte dann dem Sheriff ins Gefängnis, um herauszufinden, wo in aller Welt er die »Zentrale« finden konnte.
»Wenn sie nicht ganz in der Nähe ist, schicke ich das Abzeichen per Post zurück«, erklärte er.
Norton ließ sich seufzend hinter seinem Schreibtisch nieder. »Ich glaube nicht, dass Marshal Ryan damit einverstanden wäre. Und ich würde ihn an Ihrer Stelle nicht verärgern. Er hat sich große Mühe gegeben, um Ihre Ernennung zu erreichen, und es wundert mich, dass er so schnell nachgegeben hat. Denn er hat sich doch wirklich sehr schnell damit abgefunden, nicht?«
»Ich kenne Ryan nicht gut genug, um das beurteilen zu können.«
»Sind Sie sicher, dass Sie den Marshalstern abgeben wollen?«
»Allerdings. Ich will kein Ordnungshüter sein.«
»Sie wären also lieber ein Revolverheld? Einige Leute sehen keinen großen Unterschied zwischen einem Marshal und einem Revolverhelden.«
»Ich bin Rancher, weiter nichts.«
»Warum sind dann so viele Revolverhelden hinter Ihnen her? Ob es Ihnen passt oder nicht, Sie besitzen jedenfalls den Ruf, sehr schnell zu sein. Diese Kerle werden nicht aufhören, durch Ihren Tod Ruhm zu suchen. Mir scheint, dass Sie das nur ändern könnten, indem Sie Ihren Stern behalten. Einige Revolverhelden werden es sich gut überlegen, bevor sie sich mit einem U.S. Marshal anlegen.«
»Und andere nicht«, wandte Cole ein. »Werden Sie mir jetzt sagen, wo die Zentrale ist?«
Norton ignorierte die Frage. »Ich werde Ihnen sagen, was ich denke, klipp und klar. Marshal Ryan hat Sie nicht bedrängt, das Richtige zu tun, und deshalb werde ich es jetzt versuchen, und Sie werden so höflich sein, mir zuzuhören, weil ich alt genug bin, um Ihr Vater zu sein. Und Alter geht nun einmal vor. Wir haben ein furchtbares Problem mit dieser Blackwater-Bande, die unser Territorium unsicher macht, und da auch Sie innerhalb seiner Grenzen leben, würde ich es also auch als Ihr Problem bezeichnen. Vor nicht allzu langer Zeit ist unsere kleine Bank hier ausgeraubt worden, und wir haben einige gute Freunde verloren. Sie waren anständige, gesetzestreue Bürger, die nur das Pech hatten, zum falschen Zeitpunkt in der Bank zu sein. Die Kerle haben sie kaltblütig ermordet. Wir hatten sogar einen Zeugen. Sein Name war Luke MacFarland, aber er starb schon kurze Zeit darauf.«
»Sheriff, das tut mir wirklich leid, aber ich denke nicht ...«
Norton ließ ihn nicht ausreden. »Luke wurde während des Überfalls angeschossen, und dabei war er nicht einmal in der Bank, als es geschah. Er ging nur zufällig daran vorbei. Trotzdem gelang es dem Doc, ihn wieder zusammenzuflicken. Er hatte zwei Gesichter durch die Ritzen der Jalousien der Bank gesehen und wäre ein guter Augenzeuge gewesen, wenn diese Schurken endlich gefasst werden.«
»Und wie ist er gestorben?«
»Jemand hat ihm nachts die Kehle durchgeschnitten. Ihm und seiner Frau. Sie schliefen beide, aber ich denke, dass einer von ihnen aufgewacht sein muss. Sie hätten das Zimmer sehen sollen, Junge! Es war mehr Blut als Farbe an den Wänden. Ich werde es in meinem Leben nicht vergessen. Ihre kleinen Jungen haben es auch gesehen. Der älteste, der im vergangenen Monat zehn geworden ist, hat sie gefunden. Er wird nie wieder so wie früher sein.«
Die Geschichte rührte einen Nerv in Cole an. Er lehnte sich an den Schreibtisch und starrte durch das Fenster, als er an die Jungen dachte. Was für ein Alptraum für ein Kind, so etwas zu sehen! Was würde jetzt aus dem Kleinen werden? Oder aus seinen Brüdern? Wer würde für sie sorgen? Würden sie getrennt und zu verschiedenen Verwandten gegeben werden, oder würden sie auf sich allein gestellt sein und auf der Straße überleben müssen – so wie er, als er in ihrem Alter gewesen war? Aus dem Augenwinkel sah er Ryan auf einem schwarzen Pferd über die Straße galoppieren. Er hoffte, dass der Marshal die Ungeheuer finden würde, die diese Kinder zu Waisen gemacht hatten. In einer Nacht hatte ihr Leben eine furchtbare Veränderung erfahren.
Er wandte sich wieder um, als der Sheriff weitersprach. »Es gab keinen Grund, die beiden umzubringen, überhaupt keinen. Wissen Sie, was Ryan sagte?«
»Nein, was?«
»Dass es ein Wunder war, dass sie die kleinen Jungen nicht auch getötet haben. Wenn einer von ihnen hereingekommen wäre, während sie die Eltern ermordeten, hätten sie ihn ganz sicher umgebracht – und die anderen auch.«
»Was wird mit ihnen geschehen?«
»Mit den Jungen?« Der Sheriff sah düster und niedergeschlagen aus. »Meine Josey und ich haben uns angeboten, sie aufzunehmen, aber ihre Verwandten an der Ostküste sagten, sie würden sie zu sich nehmen. Ich glaube, sie werden sie untereinander aufteilen. Das finde ich nicht richtig. Brüder sollten zusammenbleiben.«
Cole nickte zustimmend.
»Ich habe meine eigene Theorie, warum sie auch Lukes Frau getötet haben. Wollen Sie sie hören?«
»Klar.«
»Ich glaube, sie wollten damit eine Botschaft übermitteln.« Er senkte verschwörerisch die Stimme. »So etwas spricht sich schnell herum, und jeder, der in Zukunft etwas hört oder sieht, wird es sich sehr gut überlegen, bevor er sich zu einer Aussage bereit erklärt. Zeugen leben nicht sehr lange. Das war die Botschaft.«
»Irgendwann müssen sie doch einen Fehler machen.«
»Ja, das hoffen wir natürlich alle. Aber ich bete darum, dass es bald geschieht, denn viele gute Menschen sind gestorben – und nicht nur Männer, sondern auch Frauen und Kinder. Diese Kerle werden in der Hölle braten für ihre scheußlichen Verbrechen.«
»Sie haben Kinder umgebracht?«
»Ich hörte von einem kleinen Mädchen, das erschossen wurde. Es war mit seiner Mutter in der Bank. Natürlich könnte es auch nur Gerede sein. Ich habe Ryan darauf angesprochen, aber ein ganz merkwürdiger Ausdruck erschien in seinen Augen, und er ging, ohne meine Frage zu beantworten, so dass ich also nicht weiß, ob es wahr ist oder nicht. Der Marshal hat jetzt jedenfalls alle Hände voll zu tun«, schloss er kopfschüttelnd. »Werden Sie auf Ihre Ranch zurückkehren?«
»Zuerst muss ich nach Texas, um einige Stiere abzuholen. Ich hoffe, dass die Zentrale auf dem Weg liegt, denn sonst ...«
Wieder ließ Norton ihn nicht ausreden. »Ich muss Sie um einen kleinen Gefallen bitten.« Er hob die Hand, um eine Unterbrechung zu verhindern, und fügte rasch hinzu: »Ich weiß, dass ich kein Recht dazu haben, nachdem ich Sie niedergeschlagen habe. Dennoch kann ich nicht anders ...«
»Was wollen Sie?«
»Behalten Sie Ihren Stern bis morgen, bevor Sie sich entscheiden. Es wird schon dunkel, so dass Sie also nicht lange zu warten brauchen. Wenn Sie morgen früh immer noch entschlossen sind, das Abzeichen zurückzugeben, werde ich Ihnen den schnellsten Weg zur Zentrale nennen. Mit Ihrem Kompass werden Sie ihn ohne Mühe finden. Nein, schütteln Sie nicht den Kopf! Denken Sie wenigstens darüber nach, und wenn Sie schon dabei sind, können Sie mir auch gleich noch eine Frage beantworten.«
»Welche?«, hakte Cole nach.
»Warum, glauben Sie, hat Ryan Sie so umgestoßen, bevor er aufgebrochen ist?«
»Aus Ärger und Enttäuschung«, antwortete Cole.
Der Sheriff grinste wie eine Katze vor einem vollen Sahneschälchen. »Sie wollten ihn schlagen, nicht? Ich habe gesehen, wie Sie die Fäuste ballten, und ich sah auch noch etwas anderes, aber das braucht Sie nicht zu kümmern. Sie haben eine erstaunliche Selbstbeherrschung bewiesen«, fügte er hinzu. »Und Marshal Ryan hat Sie um Verzeihung gebeten – das habe ich selbst gehört –, aber jetzt frage ich mich, ob diese Entschuldigung dem Schubsen galt oder etwas völlig anderem, was er getan hat.«
Bevor Cole ihn bitten konnte, sich etwas genauer auszudrücken, kam der Sheriff wieder auf den Marshalstern zu sprechen.
»Werden Sie also heute Nacht noch bleiben? Ich lade Sie und Josey zum Abendessen in Friedas Restaurant ein. Wenn Sie jetzt losreiten, kommen Sie sowieso nicht weit, bevor es dunkel wird. Wenn ich Sie wäre, würde ich eine Nacht zwischen sauberen Laken schlafen wollen, bevor ich zu so einer langen Reise aufbräche. Morgen früh gebe ich Ihnen die Adresse, und Sie können sich unverzüglich auf den Weg machen ... Aber natürlich werden Sie zuerst nach Rockford Falls reiten wollen. Es ist nicht weit von hier.«
Cole zog eine Augenbraue hoch. »Aus welchem Grund sollte ich nach Rockford Falls reiten?«
Norton lachte. »Um Ihren Kompass abzuholen.«
Die Bevölkerung von Rockford Falls war fassungslos. In den vergangenen zwei Tagen hatten sie acht ihrer angesehensten Bürger verloren und einen, der zwar nicht gerade der angesehenste war, der ihnen allen aber trotzdem viel bedeutete.
Die Grippe hatte zwei Tote gefordert. Die Epidemie hatte sich in der vergangenen Woche noch mehr ausgebreitet, so dass inzwischen die Hälfte der Bevölkerung mit ihr daniederlag. Die Alten und Jungen waren am heftigsten betroffen: Adelaide Westcott, eine resolute Achtundsiebzigjährige, die noch alle ihre Zähne hatte und noch nie ein schlechtes Wort über irgendjemanden gesagt hatte, und der achtmonatige Tobias Dollen, der die großen Ohren seines Vaters und das Lächeln seiner Mutter geerbt hatte, waren am selben Tag innerhalb weniger Stunden gestorben.
Die Stadt betrauerte ihren Verlust, und all jene, die dazu in der Lage waren, verließen ihr Bett, um an dem Begräbnis teilzunehmen, während andere, die sich nicht länger als höchstens fünf Minuten von ihren Nachttöpfen entfernen konnten, zu Hause für ihre Seelen beteten.