Prinz Charming - Julie Garwood - E-Book
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Prinz Charming E-Book

Julie Garwood

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Beschreibung

London, 1868: Nur ihre geliebte Großmutter, Lady Esther, weiß, wie verzweifelt Taylor Stapleton war, nachdem ihr Verlobter sie für ihre Cousine verlassen hat. Auf dem Sterbebett möchte Lady Esther, eine von Londons reichsten und angesehensten Damen, nur eines: dass ihre Enkelin gut versorgt ist. Sie unterstützt Taylor bei einem waghalsigen Plan. Um in Amerika ein neues Leben zu beginnen, geht Taylor eine Scheinehe mit dem Amerikaner Lucas Ross ein, der dringend Geld benötigt. Nach der Überfahrt sollen sich ihre Wege trennen. Doch während ihr attraktiver neuer Ehemann von seinem Leben in Montana erzählt, entwickelt Taylor plötzlich leise Gefühle für ihn und beginnt, von einer neuen Zukunft zu träumen. Und auch Lucas fängt an, den Plan zu überdenken ...

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Seitenzahl: 515

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

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Über die Autorin

Titel der Autorin bei beHEARTBEAT

Impressum

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Über dieses Buch

London, 1868: Nur ihre geliebte Großmutter, Lady Esther, weiß, wie verzweifelt Taylor Stapleton war, nachdem ihr Verlobter sie für ihre Cousine verlassen hat. Auf dem Sterbebett möchte Lady Esther, eine von Londons reichsten und angesehensten Damen, nur eines: dass ihre Enkelin gut versorgt ist. Sie unterstützt Taylor bei einem waghalsigen Plan. Um in Amerika ein neues Leben zu beginnen, geht Taylor eine Scheinehe mit dem Amerikaner Lucas Ross ein, der dringend Geld benötigt. Nach der Überfahrt sollen sich ihre Wege trennen. Doch während ihr attraktiver neuer Ehemann von seinem Leben in Montana erzählt, entwickelt Taylor plötzlich leise Gefühle für ihn und beginnt, von einer neuen Zukunft zu träumen. Und auch Lucas fängt an, den Plan zu überdenken ... 

Julie Garwood

Prinz Charming

Aus dem amerikanischen Englisch von Eva Malsch

Für Marilyn Regina Murphy, meine Schwester und Freundin, die stets für mich eintrat.

Wie es ist, ein Kind zu sein ...

Die Welt in einem Sandkorn zu sehen

Und den Himmel in einer Wiesenblume,

Die Unendlichkeit in der Hand zu halten

Und die Ewigkeit in einer Stunde.

William Blake, Zeichen der Unschuld

1

Tugend ist kühn, und Güte ohne Furcht.

William Shakespeare, Maß für Maß

London, England, 1868

Sogar in der Halle versammelten sich die Aasgeier. Der Salon war bereits überfüllt, ebenso wie das Speisezimmer und die Bibliothek im Oberstock. Weitere schwarzgekleidete Raubvögel säumten das Geländer der geschwungenen Treppe. Manchmal begannen zwei oder drei einträchtig zu nicken, während sie an ihren Champagnergläsern nippten. Aufmerksam, erwartungs- und hoffnungsvoll blickten sie in die Runde. Das war die niederträchtige Verwandtschaft.

Auch ein paar Freunde des Grafen von Havensmound hatten sich eingefunden, um ihm in dieser schweren Stunde beizustehen und angesichts der unglückseligen Tragödie, die in diesem Haus stattfand, ihr Mitgefühl zu zeigen. Erst später würde man feiern.

Für kurze Zeit versuchten alle, sich würdevoll zu benehmen, wie es dem ernsten Anlass entsprach. Doch der Alkohol lockerte allmählich die Zungen und beschwor ein Lächeln herauf, und bald wurde das Gläserklirren von fröhlichem Gelächter übertönt.

Endlich starb die Matriarchin. Im letzten Jahr hatte es zweimal falschen Alarm gegeben, aber viele glaubten, dieser neuerliche Anfall würde erfolgreich verlaufen. Sie war einfach zu alt, verdammt noch mal, um die Leute unentwegt zu enttäuschen – schon über sechzig.

Lady Esther Stapleton hatte ihr Leben damit verbracht, ein Vermögen anzuhäufen, und nun fand man, sie müsste das Zeitliche segnen, damit ihre Verwandten das Geld ausgeben konnten. Immerhin zählte sie zu den reichsten Leuten Englands – und ihr einziger überlebender Sohn zu den ärmsten. Das sei nicht richtig, verkündeten seine mitfühlenden Gläubiger, zumindest wenn er sich in Hörweite befand. Malcolm war immerhin der Graf von Havensmound und dürfte nicht unter finanziellen Schwierigkeiten leiden. Sicher, er war ein Verschwender und Wüstling, der sich vorzugsweise mit blutjungen Mädchen vergnügte. Doch solche Charakterschwächen störten die Geldverleiher nicht.

Während sich die respektablen Bankiers längst weigerten, dem lasterhaften Grafen Kredite zu gewähren, standen ihm die Wucherer an den Straßenecken gern zu Diensten und bejubelten seine Ausschweifungen. Samt und sonders verlangten sie horrende Zinsen, ehe sie ihn nach diesem oder jenem Fiasko am Spieltisch retteten – gar nicht zu reden von den astronomischen Schweigegeldern, die sie den verzweifelten Eltern verführter und dann sitzengelassener Mädchen zahlten. Natürlich häuften sich die Schulden, aber nun sollten die geduldigen Gläubiger bald reich entschädigt werden. Wenigstens hegten sie diese Hoffnung.

Thomas, der junge Gehilfe des gebrechlichen Butlers, schob einen weiteren Gläubiger zur Haustür hinaus und schlug sie ihm voller Genugtuung vor der Nase zu. Das Verhalten dieser Leute entsetzte ihn. Seit seinem zwölften Lebensjahr diente er Lady Esther, und noch nie hatte er etwas so Schändliches mit angesehen. Im Oberstock klammerte sich seine liebe Herrin mit letzter Kraft ans Leben, um alle Angelegenheiten zu ordnen und ihre Lieblingsenkelin Taylor zu erwarten, von der sie Abschied nehmen wollte. Unterdessen hielt der Sohn der Sterbenden im Erdgeschoss lachend Hof. Selbstgefällig hing seine Tochter Jane an seinem Arm, in der Gewissheit, der Vater würde den Reichtum mit ihr teilen.

Die beiden gleichen sich wie ein Ei dem anderen, dachte Thomas, im Charakter und in ihrer Habgier. Keineswegs hatte er das Gefühl, er wäre seiner Herrin gegenüber illoyal, wenn er so schlecht über ihre Verwandten dachte. Sie vertrat dieselbe Meinung. Manchmal bezeichnete sie Jane sogar als »Viper«, während er dieser bösartigen, intriganten jungen Frau noch viel schlimmere Namen gab. Von vielen Leuten in der besseren Gesellschaft wurde sie wegen ihrer scharfen Zunge und Klatschsucht gefürchtet. Diesmal war sie zu weit gegangen, denn sie hatte den Menschen angegriffen, den ihre Großmutter mehr als alles auf der Welt liebte – Lady Taylor.

Thomas seufzte zufrieden. Bald würden Jane und ihr elender Vater die Konsequenzen für ihre Betrügereien tragen müssen. Zu beschäftigt mit ihrer Krankheit und familiären Verlusten, hatte Lady Esther die Ereignisse nicht wahrgenommen. Seit dem Tag, als Taylors ältere Schwester Marian mit ihren Kindern, den kleinen Zwillingen, nach Boston gereist war, hatte sich der Gesundheitszustand der alten Dame verschlechtert. Vermutlich blieb sie nur aus einem einzigen Grund so lange am Leben – um das Mädchen, das sie wie eine eigene Tochter großgezogen hatte, verheiratet und versorgt zu sehen.

Aber Taylors Hochzeit war geplatzt, dank der Einmischung von Jane. Wenigstens hatte diese schreckliche Demütigung auch ihre Vorteile und endlich die Augen der gutmütigen Lady Esther geöffnet.

Nun hoffte Thomas inständig, Lady Taylor würde rechtzeitig erscheinen, um die Papiere zu unterzeichnen und sich von ihrer Großmutter zu verabschieden. Eine Zeitlang wanderte er rastlos umher, dann scheuchte er die unverschämten Gäste von der Treppe in den ohnehin schon brechend vollen Wintergarten im Hintergrund des Hauses. Dorthin lockte er sie mit dem Hinweis auf ein üppiges Büfett und weitere Champagnerflaschen, und nachdem er hinter dem letzten Schurken die Tür geschlossen hatte, kehrte er in die Eingangshalle zurück.

Als er einen Wagen die Zufahrt heraufrollen hörte, trat er ans Fenster, erkannte das Wappen der schwarzen Kutsche und schickte erleichtert ein Dankgebet zum Himmel. Endlich war Lady Taylor eingetroffen.

Thomas warf einen Blick in den Salon und vergewisserte sich, dass der Graf und dessen Tochter immer noch mit ihren Freunden plauderten. Lautlos schloss er die Tür, der sie den Rücken kehrten. Wenn er Glück hatte, würde es ihm gelingen, Lady Taylor unbemerkt von Onkel und Kusine die Halle und die Treppe hinaufzuführen.

Während er die Haustür öffnete, bahnte sich Taylor einen Weg durch das Gedränge der Opportunisten, die auf der Zufahrt ausharrten. Würdevoll ignorierte sie die Schufte, die ihre Aufmerksamkeit zu erregen und ihr Visitenkarten in die Hand zu drücken suchten. Jeder Einzelne gab sich lautstark als bester Investmentberater von England aus, der das Erbe der Lady binnen kürzester Zeit verdreifachen würde.

Dieses aufdringliche Getue widerte Thomas an, und er bedauerte, dass er keinen Besen bei sich trug. Sonst hätte er das Gesindel in die Flucht geschlagen. »Lassen Sie die Lady in Ruhe!«, befahl er und lief ihr entgegen. Schützend umfasste er ihren Ellbogen und geleitete sie ins Haus. »Verbrecher sind das, wenn Sie mich fragen«, murmelte er.

Ohne Zögern stimmte sie ihm zu. »Am liebsten hätten Sie das ganze Pack verprügelt, was, Thomas?«

»Cecil würde mir die Ohren langziehen, wenn ich mich auf dieselbe Stufe stellte wie diese Leute«, erwiderte er grinsend. »Und da ich in seine Fußstapfen treten will, darf ich mich nicht wie ein Bauer benehmen. Ein Butler muss Haltung bewahren.«

»Ja, natürlich. Wie geht’s unserem Cecil? Letzte Woche schrieb ich ihm, bekam aber keine Antwort.«

»Machen Sie sich keine Sorgen um ihn. Er ist zwar steinalt, aber zäh wie Leder. Um sich von Ihrer Großmutter zu verabschieden, ist er von seinem Krankenlager aufgestanden. Lady Esther hat ihn bereits pensioniert, und sie war sehr großzügig. Bis zum Ende seiner Tage wird es ihm an nichts mangeln.«

»Immerhin hat er ihr fast dreißig Jahre lang treu gedient. Und was werden Sie tun, Tom? Mein Onkel wird Sie wohl kaum hier beschäftigen.«

»Lady Esther hat mich beauftragt, ihren Bruder Andrew zu betreuen. Da muss ich ins Hochland übersiedeln, doch das kümmert mich nicht. Um die Wünsche meiner Herrin zu erfüllen, würde ich sogar ans andere Ende der Welt ziehen. Sie vermachte mir ein Stück Land und ein monatliches Einkommen. Aber das wissen Sie wahrscheinlich schon. Es war Ihre Idee, nicht wahr? Immer hatten Sie mein Wohl im Auge, wenn ich auch älter bin als Sie.«

Diese Idee stammte tatsächlich von Taylor, aber sie bezweifelte nicht, dass auch ihre Großmutter darauf gekommen wäre, hätte sie sich nicht mit anderen Dingen befassen müssen. »Nur zwei Jahre älter.«

»Trotzdem ... Geben Sie mir bitte Ihren Umhang. Wie schön, dass Sie Weiß tragen, so wie Ihre Großmutter es wollte. Ein hübsches Kleid, und – wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf – heute sehen Sie viel besser aus.« Sofort bereute Thomas dieses Kompliment, denn er hatte sie nicht an die letzte Begegnung erinnern wollen. Nicht, dass Taylor jene Erniedrigung jemals vergessen würde ...

Sie sah tatsächlich besser aus. Sechs Wochen lang war sie nicht hier gewesen, seit jenem Nachmittag, an dem sie im Salon von Lady Esther die Neuigkeiten über ihren Verlobten erfahren hatte. Thomas hielt an der Tür Wache, um unerwünschte Eindringlinge abzuwehren, und beobachtete Taylors Entsetzen. Wenn sie auch nicht die Fassung verlor, so wurde sie doch leichenblass. Und der Glanz in ihren schönen blauen Augen erlosch, während die alte Dame den grässlichen Brief vorlas, den sie erhalten hatte. »Danke, dass du mich informiert hast, Großmutter. Das ist dir sicher nicht leichtgefallen.«

»Du solltest London verlassen und abwarten, bis Gras über die Sache gewachsen ist. Gewiss wird sich Onkel Andrew über deine Gesellschaft freuen.«

»Wie du wünschst.« Taylor eilte nach oben, packte mit der Hilfe eines Dienstmädchens ihre Sachen, und eine knappe Stunde später reiste sie nach Schottland, aufs Landgut ihrer Großmutter.

Während der Abwesenheit ihrer Enkelin war Lady Esther nicht untätig gewesen und hatte lange Gespräche mit ihren Anwälten geführt.

»Ihre Großmutter freut sich sehr, Sie wiederzusehen, Lady Taylor«, beteuerte Thomas nun. »Seit sie neulich den geheimnisvollen Brief bekam, regt sie sich furchtbar auf. Wahrscheinlich hofft sie, Sie würden wissen, was zu tun ist.«

Taylor folgte ihm zur Treppe. »Hat sich ihr Zustand nicht gebessert?«, fragte sie angstvoll.

Mitfühlend tätschelte er ihre Hand. Wie gern hätte er sie belogen ... Aber sie verdiente es, die Wahrheit zu hören. »Diesmal wird sie sich nicht erholen, und es ist an der Zeit, Abschied zu nehmen. Jetzt sollten wir sie nicht länger warten lassen.«

»Nein, natürlich nicht.« Tränen brannten in ihren Augen, doch sie kämpfte entschlossen dagegen an. Ihre Großmutter durfte sie nicht weinen sehen.

»Sie haben sich doch nicht anders besonnen, was Lady Esthers Pläne betrifft, Mylady?«

Taylor zwang sich zu einem Lächeln und schüttelte den Kopf. »Um die Wünsche meiner Großmutter zu realisieren, würde ich alles tun. Vor ihrem Tod möchte sie alles regeln, und es ist meine Pflicht, ihr dabei zu helfen.« Lautes Gelächter drang aus dem Salon, und als sie sich umdrehte, sah sie zwei schwarzgekleidete Gestalten, Champagnergläser in den Händen, durch die Halle schlendern. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass das Haus voller Gäste war. »Was machen all diese Leute hier, Tom?«

»Oh, die wollen mit Ihrem Onkel Malcolm und Ihrer Kusine Jane die Erbschaft feiern. Der Graf hat einige Freunde eingeladen.«

»Wie unverschämt!«, fauchte sie erbost. »Dieser Mann besitzt wohl keine einzige erfreuliche Eigenschaft.«

»Offensichtlich nicht. All die guten Wesenszüge scheint Ihr Vater geerbt zu haben, Gott sei seiner Seele gnädig. Während Ihr Onkel und seine Tochter ...« Thomas seufzte tief auf. Als sie sich zur Salontür wandte, hielt er sie hastig zurück. »Da drin sind Malcolm und Jane, Mylady. Wenn die beiden Sie sehen, machen sie Ihnen sicher eine unangenehme Szene. Ich weiß, Sie wollen die Besucher hinausjagen. Aber dafür haben wir keine Zeit. Ihre Großmutter wartet.«

»Ja, natürlich.« Taylor stieg mit ihm die Treppe hinauf. »Was sagt der Arzt über ihr Befinden? Vielleicht gelingt es ihr wieder einmal, uns alle zu überraschen?«

»Leider nicht. Sir Elliott meinte, es sei nur noch eine Frage der Zeit, und Lady Esthers Herz habe keine Kraft mehr. Er verständigte den Grafen, und deshalb sind jetzt alle hier versammelt. Darüber ärgerte sich Ihre Großmutter maßlos, und die Vorwürfe, die sie dem Doktor machte, müssten ihm immer noch in den Ohren dröhnen. Ein Wunder, dass er nicht selber einen Herzanfall bekam!«

Als Taylor sich vorstellte, wie ihre Großmutter den hochgewachsenen, breitschultrigen Elliott angeherrscht hatte, musste sie lächeln. »Eine erstaunliche Frau ...«

»Allerdings. Die größten, stärksten Männer kann sie das Fürchten lehren, ohne die Stimme zu erheben. Hätten Sie bloß Sir Elliotts Gesicht gesehen, als sie drohte, sie würde ihm kein Geld für sein neues Labor hinterlassen.«

»Ist er jetzt bei ihr?«, fragte Taylor, während sie Thomas durch den langen Korridor folgte.

»Nein. Er blieb die ganze Nacht hier, und vorhin fuhr er nur nach Hause, weil er sich frisch machen und umkleiden wollte. In einer Stunde müsste er zurückkommen. Lady Esthers Gäste warten in dem Zimmer neben ihren Gemächern. Ich führte sie die Hintertreppe hinauf, unbemerkt von den anderen. Also wird Ihr Onkel Malcolm nichts ahnen und erst informiert werden, wenn es schon zu spät ist.«

Die Suite der Hausherrin lag am Ende des Flurs. Als Thomas die Tür öffnete, betrat Taylor das stockdunkle Schlafzimmer und blinzelte, bis sich ihre Augen an die Finsternis gewöhnten. An einer Seite stand das Vierpfostenbett auf einem Podest. Gegenüber, vor den Fenstern mit den schweren zugezogenen Vorhängen, gruppierten sich drei Lehnstühle und zwei kleine Tische.

Schon immer hatte Taylor diesen Raum geliebt, als kleines Mädchen auf den Perserteppichen Purzelbäume geschlagen und genug Lärm gemacht, um – nach Ansicht ihrer Großmutter – Tote zu erwecken. Aber sie durfte sogar Lady Esthers schöne Seidenkleider und Satinschuhe anprobieren, wenn die alte Dame in gnädiger Stimmung war, breitrandige Hüte mit Blumen und Federn aufsetzen, lange weiße Handschuhe anziehen und sich mit kostbarem Schmuck behängen. Prächtig herausgeputzt, servierte sie der Großmutter Tee und erfand ungeheuerliche Geschichten über die Partys, die sie angeblich besucht hatte. Lady Esther spielte bereitwillig mit und schwenkte ihren bemalten Fächer umher. »Nein, also wirklich!«, hatte sie gerufen, Entsetzen über die erfundenen gesellschaftlichen Skandale geheuchelt und selber ein paar schockierende Anekdoten beigesteuert.

So viele schöne Erinnerungen verbanden sich mit diesem Zimmer, und Taylor liebte die alte Frau, die es bewohnte, von ganzem Herzen.

»Du hast lange gebraucht, um hierherzukommen, Taylor, und mich warten lassen.« Heiser hallte Lady Esthers Stimme durch den Raum.

»Verzeih mir ...« Auf dem Weg zum Bett stolperte Taylor beinahe über einen Schemel, dann ging sie vorsichtig um das Hindernis herum.

»Hör zu trödeln auf und setz dich! Wir haben viel zu besprechen.«

»Leider finde ich keinen Stuhl, Großmutter ...«

»Zünden Sie eine Kerze an, Janet«, befahl Lady Esther ihrer Zofe. »Dieses eine Zugeständnis will ich machen. Und dann lassen Sie mich mit meiner Enkelin allein.«

Endlich ertastete Taylor einen der Lehnstühle. Sie nahm Platz, strich ihren Rock glatt und faltete die Hände im Schoß. In den düsteren Schatten konnte sie ihre Großmutter noch immer nicht sehen. Das Bett stand zu weit entfernt, Trotzdem straffte sie die Schultern. Lady Esther hasste es, wenn man nicht Haltung bewahrte, und schien sogar im Dunkeln wie ein Luchs zu sehen. Deshalb wagte ihre Enkelin nicht, sich zu entspannen.

Auf dem Nachttisch flammte eine Kerze auf. Taylor beobachtete, wie die Silhouette der Zofe den Raum durchquerte, und wartete, bis das Türschloss klickte. Dann rief sie: »Warum ist es hier so dunkel, Großmutter? Stört dich das Sonnenlicht?«

»Allerdings. Ich sterbe, Taylor. Das weiß ich ebenso wie Gott und der Teufel. Wenn ich ein Aufhebens darum machte, wäre das undamenhaft. Der Tod muss sich in der Finsternis an mich heranschleichen. Falls ich Glück habe, findet er mich erst, nachdem ich alle meine Geschäfte zu meiner Zufriedenheit erledigt habe. Ich fürchte nur, du bist nicht auf die Aufgabe vorbereitet, die du erfüllen musst.«

»Das bezweifle ich. Du hast mir eine ausgezeichnete Ausbildung ermöglicht, und so bin ich auf alles vorbereitet.«

Lady Esther schnaufte. »Über die Ehe weißt du nichts. Bedauerlicherweise sah ich mich außerstande, so intime Dinge mit dir zu erörtern. Wir leben in einer sehr sittenstrengen Gesellschaft. Von den Realitäten des Lebens hast du kaum eine Ahnung. Du bist eine hoffnungslose Träumerin und Romantikerin, Taylor. Das beweist du mit deiner Vorliebe für Groschenromane, die von tollkühnen Abenteurern in der Wildnis handeln.«

»Wie ich mich entsinne, hast du dir diese Geschichten immer gern vorlesen lassen«, erwiderte Taylor lächelnd.

»Mag sein, aber das tut nichts zur Sache. Jedenfalls musst du deinen Kopf aus den Wolken runterholen.«

»Das will ich tun, Großmutter.«

»Ich hätte mir Zeit nehmen und dir beibringen sollen, wie man einen Mann zu einem guten, liebevollen Ehegatten erzieht.«

»Oh, Onkel Andrew hat mir alles erklärt, was ich wissen muss.«

»Und wieso will mein Bruder über dieses Thema Bescheid wissen?«, fragte Lady Esther. »All die Jahre lebte er wie ein Einsiedler im schottischen Hochland. Um diese Dinge zu erkennen, muss man verheiratet sein, Taylor. Nimm nicht ernst, was er dir erzählt hat! Sicher ist es falsch.«

»Aber er gab mir sehr kluge Ratschläge. Warum hat er nie geheiratet, Großmutter?«

»Wahrscheinlich wollte ihn keine haben. Mein Bruder interessierte sich immer nur für seine Pferde.«

»Und seine Waffen. Er arbeitet immer noch an den Patenten.«

»Was hat er dir denn über die Ehe erzählt?«

»Nun, er betonte, wenn ich einen mutwilligen Schlingel in einen guten Ehemann verwandeln wolle, müsse ich ihn wie ein Pferd dressieren und sehr streng behandeln. Ich dürfe niemals Angst und meine Zuneigung nur selten zeigen. Wenn ich mich daran halte, würde mir der Bursche nach sechs Monaten aus der Hand fressen und mir wie einer Prinzessin zu Füßen liegen.«

»Und wenn er’s nicht tut?«

Taylor lächelte. »Dann soll ich mir eins von Onkel Andrews großartigen Gewehren ausleihen und meinen Mann erschießen.«

»Auch ich hätte deinen Großvater manchmal am liebsten umgebracht.« Die alte Dame lachte leise, dann wurde sie ernst. »Die Babys brauchen dich. Großer Gott, und dabei bist du selber noch ein Kind! Wie willst du das alles schaffen?«

»Das wird mir sicher gelingen«, versuchte Taylor, sie zu beschwichtigen. »Nur keine Bange.«

»Nun gut, ich werde mich nicht sorgen«, seufzte Lady Esther. »In all den Jahren warst du mir in Liebe zugetan. Weißt du, dass ich dir niemals gesagt habe, wie viel du mir bedeutest?«

»Ja, das weiß ich, Großmutter.«

Nach einer kurzen Pause wechselte die alte Frau wieder das Thema. »Damals erlaubte ich dir nicht, mir mitzuteilen, warum deine Schwester so überstürzt aus England abgereist war. Wie ich nun gestehen muss, hatte ich Angst vor den Tatsachen. Sie verließ uns wegen meines Sohnes, nicht wahr? Was tat Malcolm ihr an? Jetzt bin ich bereit, dir zuzuhören, mein Kind. Würdest du mir alles erzählen?«

Taylors Magen krampfte sich zusammen, und sie holte tief Atem, ehe sie antwortete: »Das widerstrebt mir. Es ist so lange her.«

»Wie bedrückt deine Stimme klingt ... Du fürchtest dich doch nicht mehr?«

»Mittlerweile nicht mehr.«

»Ich schenkte dir mein volles Vertrauen und half Marian ebenso wie ihrem nichtswürdigen Ehemann, dieses Land zu verlassen – obwohl ich wusste, dass ich deine Schwester nie wiedersehen würde. Warum musste sie nur diesen Burschen heiraten? George war kaum besser als ein Bettler. Und er liebte sie nicht. Nur ihr Geld reizte ihn. Aber ich konnte sie nicht zur Vernunft bringen, und so enterbte ich alle beide. Nun weiß ich, wie grausam ich mich damals verhalten habe.«

»Glaub mir, Großmutter, George war kein schlechter Mensch, aber er verstand leider nichts von Geschäften. Vielleicht hat er Marian nur wegen ihres Geldes geheiratet. Wie auch immer, er blieb bei ihr, nachdem sie ihr Erbe verloren hatte. Und ich nehme an, mit der Zeit gewann er sie lieb. Er war gut zu ihr, und er muss ein wunderbarer Vater gewesen sein. Das geht aus seinen Briefen hervor.«

»Ja, das denke ich auch«, gab Lady Esther widerwillig zu. »Es war also richtig, dass ich ihnen Geld gab, damit sie in die Neue Welt ziehen konnten?«

»Ja, ganz bestimmt.«

»Wollte Marian mir erzählen, was geschehen war? O Gott, seit achtzehn Monaten ist sie tot, und erst jetzt raffe ich mich zu dieser Frage auf ...«

»Nein, sie wollte dir nichts sagen.«

»Aber dir vertraute sie sich an?«

»Nur um mich zu schützen.« Taylor bemühte sich, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken und zu verbergen, wie schmerzlich jene Ereignisse immer noch auf ihrer Seele lasteten. »Du zeigtest ihr deine Liebe, indem du ihr halfst, dieses Land zu verlassen. In Boston war sie glücklich mit George. Sicher ist sie in Frieden gestorben.«

»Wenn ich dich beauftragen würde, ihre Töchter nach England zu bringen – wären sie hier sicher?«

»Nein«, erwiderte Taylor entschieden. »Sie sollten in der Heimat ihres Vaters aufwachsen.« Nicht unter Malcolms Vormundschaft, fügte sie in Gedanken hinzu. »Das würden auch Marian und George wünschen.«

»Glaubst du, auch die Babys sind an der Cholera erkrankt? Das hätten wir doch inzwischen erfahren, nicht wahr?«

»Ja, natürlich, die beiden sind gesund und munter«, antwortete Taylor und konnte nur hoffen, dass dies auch wirklich zutraf.

Die Kinderfrau der kleinen Mädchen, Mrs Bartlesmith, hatte die Familie in England brieflich über die traurigen Neuigkeiten informiert und erklärt, sie sei nicht sicher, ob George der Cholera zum Opfer gefallen sei. Nach seinem Tod habe sich der Arzt wegen der Ansteckungsgefahr geweigert, ins Haus zu kommen. Deshalb stehe es nicht mit Sicherheit fest. Sie habe die Babys vom kranken Vater ferngehalten und beschützt, nach bestem Wissen und Gewissen.

Nachdem bereits die Eltern der Kinder gestorben sind, wird der Allmächtige nicht so unbarmherzig sein und auch die beiden Zweijährigen zu sich nehmen, dachte Taylor beklommen.

»Bist du bereit, England zu verlassen?«, fragte Lady Esther.

»Ja, Großmutter.« Wieder einmal kämpfte Taylor mit den Tränen und atmete mehrmals tief durch.

Die alte Frau schien den Kummer ihrer Enkelin nicht zu bemerken und erklärte, sie habe Geld auf eine Bostoner Bank überweisen lassen. Ihre Stimme klang immer schwächer und müder. »Sobald Sir Elliott zurückkehrt, wird er bekanntgeben, mein Zustand habe sich wie durch ein Wunder gebessert. Er mag ein Dummkopf sein, aber er weiß, wer sein Brot mit Butter bestreicht. Heute Abend besuchst du den Ball, amüsierst dich, als wäre alles in bester Ordnung, und feierst meine Genesung. Um Mitternacht verlässt du das Fest. Niemand darf wissen, dass du im Morgengrauen wegfahren wirst.«

»Soll ich nicht bei dir bleiben – wo du doch so krank bist?«

»Nein. Wenn ich sterbe, darfst du dich nicht mehr in England aufhalten. Während der letzten Stunden wird mir mein Bruder Andrew Gesellschaft leisten. Malcolm und den anderen wird man erst nach deiner Abreise mitteilen, dass du an Bord eines Schiffs gegangen bist. Versprich mir, meine Anweisungen zu befolgen, mein Kind. Es ist deine Pflicht, mir einen friedlichen Tod zu ermöglichen.«

»Ja, Großmutter ...« Ein Schluchzen drohte Taylors Kehle zuzuschnüren.

»Weinst du?«

»Nein.«

»Ich verabscheue Tränen.«

»Das weiß ich.«

Lady Esther seufzte erleichtert. »Natürlich war es mühsam, den richtigen Mann zu finden. Jetzt muss nur mehr ein Dokument unterschrieben und eine Zeremonie durchgeführt werden, dann kann ich in Ruhe sterben.«

»Aber ich will nicht, dass du mich verlässt ...«

»Die Dinge entwickeln sich nicht immer so, wie man’s möchte, mein Kind. Sag Thomas, er soll die Gäste holen, die er in meinem Privatsalon versteckt hat. Und dann stell dich neben mein Bett. Ich will sehen, wie du das Papier unterzeichnest, ehe ich’s beglaubige. Beeil dich! Die Zeit verrinnt, und sie ist meine Feindin.«

Gehorsam erhob sich Taylor und ging zur Tür, die das Schlafzimmer mit dem Salon verband. Dann blieb sie plötzlich stehen. »Großmutter ...«

»Ja?«

»Bevor Thomas die anderen hereinführt ... Wir werden nicht mehr allein sein. Darf ich ...« Mehr sagte sie nicht, denn sie wusste, dass die alte Frau verstand, worum sie gebeten wurde.

»Wenn’s unbedingt sein muss«, murrte die alte Frau.

»Danke. O Großmutter, ich wollte dir nur versichern, wie sehr ich dich liebe.«

Er konnte nicht glauben, was er getan hatte. Angewidert schüttelte er den Kopf. Verdammt, welch ein Mann würde von seinem Bruder verlangen, die Freiheit eines anderen Bruders zu erkaufen, überlegte er. Nur ein Bastard ...

Doch dann zwang sich Lucas Michael Ross, seine wütenden Gedanken zu verdrängen. Immerhin war der Junge jetzt imstande, ein neues Leben zu beginnen. Nur darauf kam es an. Und der schurkische Erbe des Familienvermögens würde seine gerechte Strafe erhalten.

Aber sosehr Lucas sich auch bemühte, an andere Dinge zu denken – der Zorn gegen seinen älteren Halbbruder wollte nicht verfliegen. Er lehnte an einer Säule in einem Alkoven des majestätischen Ballsaals und beobachtete die Tanzpaare, die über den Marmorboden wirbelten.

Rechts und links von ihm standen die Freunde seines Bruders, Morris und Hampton, beide von Adel, doch er erinnerte sich nicht an ihre Titel. Hitzig debattierten sie über die Vor- und Nachteile des amerikanischen Kapitalismus. Lucas heuchelte Interesse und nickte, wann immer es ihm angemessen erschien, hörte aber kaum zu. Dies war seine letzte Nacht in England, und er wollte den Abend nicht genießen, sondern beenden.

Dieses öde Land missfiel ihm. Nach all den Jahren in der amerikanischen Wildnis verstand er nicht, warum irgendjemand freiwillig hier in diesem seltsamen Königreich lebte. Er fand die Einwohner genauso protzig wie ihre Politiker und ihre Gebäude. Und die Luft war zum Ersticken. Wie er diese beengte Atmosphäre hasste, die zahllosen qualmenden Schornsteine, die grauschwarzen Wolken über der Stadt, die grellgekleideten Frauen, die dünkelhaften Männer ...

In London kam er sich vor wie in einem Käfig. Plötzlich musste er an einen Tanzbären denken, den er als kleiner Junge auf einem Jahrmarkt außerhalb von Cincinnati gesehen hatte. Das Tier, mit einer bunten Hose bekleidet, war von seinem Besitzer an einer langen Kette festgehalten worden und um ihn herumgetappt.

Daran fühlte Lucas sich erinnert, während er den tanzenden Ballbesuchern zuschaute. Ihre Bewegungen wirkten ruckartig und unnatürlich. Farblich unterschieden sich die Frauenkleider, im Stil ähnelten sie einander. Und alle Männer trugen die gleiche formelle schwarze Uniform. Innerhalb ihrer strikten Gesellschaftsregeln lebten sie wie in Ketten, und er bedauerte sie sogar ein bisschen. Niemals würden sie auf Abenteuer ausgehen, wahre Freiheit genießen oder die endlose Weite einer unberührten Wildnis kennenlernen – und sterben, ohne zu ahnen, was sie versäumt hatten.

»Warum runzeln Sie die Stirn, Lucas?«, fragte Morris, der ältere der beiden Engländer.

Lucas zeigte mit dem Kinn auf die Tänzer. »Kein einziger sticht aus dieser Schar hervor.«

Verständnislos hob Morris die Brauen. »Und?«

»Fällt Ihnen denn nicht auf, dass alle Frauen fast gleich aussehen? Jede trägt das Haar straff am Hinterkopf hochgesteckt, und in den meisten Frisuren stecken diese lächerlichen Federn. Ein Kleid ist wie’s andere. Und wegen der Drahtgestelle unter den Röcken wirken die Kehrseiten geradezu bizarr. Auch die Männer halten sich sklavisch an eine Einheitsmode.«

Hampton wandte sich zu Lucas. »Die Erziehung hat unsere Individualität besiegt.«

»Aber Lucas ist genauso formell gekleidet wie wir«, wandte Morris ein. Der kleine, untersetzte Mann mit dem zurückweichenden Haaransatz und den dicken Brillengläsern vertrat in allen Belangen einen entschiedenen Standpunkt und betrachtete es als seine Pflicht, jede Meinung anzufechten, die sein bester Freund vertrat. »Diese Kleidung, die dich plötzlich stört, gehört nun mal zu einem Ball, Hampton. Was willst du denn sonst anziehen? Stiefel und Lederhosen?«

»Das wäre eine erfrischende Abwechslung«, fauchte Hampton und fragte Lucas, ehe Morris antworten konnte: »Und nun können Sie es kaum erwarten, in Ihr Tal zurückzukehren?«

»So ist es.«

»Also haben Sie Ihre Geschäfte in London abgeschlossen?«

»Fast.«

»Sie möchten doch schon morgen abreisen, nicht wahr?«

»Ja.«

»Aber wie wollen Sie Ihre Geschäfte in so kurzer Zeit abwickeln?«

Lucas zuckte die Schultern. »Da wäre nur noch eine Kleinigkeit, die ich erledigen muss.«

»Nehmen Sie Kelsey mit?«, erkundigte sich Hampton.

»Seinetwegen bin ich nach London gekommen. Der Junge und seine Brüder sind schon vorgestern nach Boston abgereist.«

Kelsey war der jüngste von Lucas’ drei Halbbrüdern. Die beiden älteren, erfahrenen Grenzsiedler namens Jordan und Douglas, bebauten ihr Land im Tal. Bei Lucas’ letzter Reise nach London war Kelsey noch zu jung für dieses harte Leben gewesen und deshalb für zwei weitere Jahre in der Obhut seiner englischen Lehrer geblieben. Die geistige Ausbildung des mittlerweile zwölfjährigen Jungen ließ nichts zu wünschen übrig, aber emotional war er vernachlässigt worden, beinahe ausgehungert. Dafür hatte dieser Hurensohn gesorgt, der Erbe des Familienvermögens.

Wenn er noch länger in England bliebe, würde er sterben. Und so hatte Lucas beschlossen, ihn lieber den Anforderungen der rauen Wildnis auszusetzen.

»Schade, dass Jordan und Douglas schon abgereist sind«, bemerkte Morris. »Dieser Ball hätte ihnen sicher Spaß gemacht. Hier wären sie vielen alten Freunden begegnet.«

»Aber sie wollten unbedingt mit Kelsey vorausfahren«, erwiderte Lucas. So schnell wie möglich hatte der Junge außer Landes gebracht werden müssen. Und so waren die Passagen sofort, nachdem der Hurensohn die Vormundschaftspapiere unterzeichnet hatte, gebucht worden. Sonst hätte er sich vielleicht noch anders besonnen, was die Summe betraf, für die er seinen eigenen Bruder verkaufte.

Neuer Zorn stieg in Lucas auf, und er sehnte den Augenblick herbei, wo er England den Rücken kehren konnte. Während des Krieges zwischen den amerikanischen Nord- und Südstaaten war er in einem Gefängnis von der Größe einer Besenkammer eingeschlossen worden. Damals hatte er Platzängste entwickelt und bis zu seiner Flucht geglaubt, er würde dem Wahnsinn verfallen. Manchmal litt er immer noch an den Folgen jener Qualen. Wenn er sich beengt fühlte, verkrampfte sich sein Hals, und er bekam kaum Luft. Nun drohten ihn diese Gefühle erneut zu befallen. London erschien ihm wie ein Kerker, in dem sein Geist verkümmerte und dem er entrinnen musste.

Er zog seine Taschenuhr hervor und ließ den Deckel aufschnappen. Noch eine gute Viertelstunde bis Mitternacht ... So lange musste er noch hierbleiben, das hatte er versprochen. Diese paar Minuten würden ihn nicht umbringen.

Plötzlich platzte Hampton heraus: »Wie gern würde ich Sie in Ihr Tal begleiten!«

Voller Entsetzen starrte Morris seinen Freund an. »Das ist doch nicht dein Ernst! Denk an die Verantwortung, die du hier in England trägst! Bedeuten dir dein Titel und deine Ländereien so wenig? Nein, du kannst das nicht ernst meinen. Kein Mann im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte würde England aufgeben – und alles, was es zu bieten hat ...« Dieser vermeintliche Bruch vaterländischer Treue kränkte ihn zutiefst, und er hielt einen langen Vortrag, um Hampton zu beschämen. Lucas hörte nicht mehr zu, denn er hatte den Erben am anderen Ende des Saales entdeckt. William Merritt III. war der legitime erstgeborene Sohn – und der drei Jahre jüngere Lucas ein Bastard.

Ihr gemeinsamer Vater hatte als junger Mann Amerika besucht. Während seines einmonatigen Aufenthalts in Kentucky verführte er ein unschuldiges Landmädchen. Mittels heißer Liebesschwüre holte er sie Nacht für Nacht in sein Bett. Erst kurz vor der Abreise erwähnte er die Ehefrau und den Sohn, die ihn daheim erwarteten. William war zum würdigen Nachfolger seines Vaters herangewachsen, ein Egoist, nur am eigenen Vergnügen interessiert.

Von Loyalität und familiären Werten hielt er nicht viel. Als privilegierter Erstgeborener erbte er den Adelstitel, die Ländereien und das gesamte Vermögen. Sein Vater hatte es versäumt, auch für die anderen Söhne Vorsorge zu treffen, und der älteste weigerte sich, etwas von seinem Reichtum abzugeben. Stattdessen wies er Jordan, Douglas und Kelsey einfach die Tür. Es war Jordan, der Lucas aufspürte und um Hilfe bat, denn er wollte in Amerika ein neues Leben beginnen.

Zunächst widerstrebte es Lucas, sich mit ihm einzulassen. Seine Halbbrüder und die Welt der Privilegien, die sie bis zum Tod des Vaters genossen hatten, waren ihm fremd, und er fühlte sich als Außenseiter. Trotzdem verbot ihm eine gewisse familiäre Loyalität, Jordan den Rücken zu kehren. Wenig später übersiedelte auch Douglas in die Staaten. Als Lucas nach London reiste, sah er, wie Kelsey behandelt wurde. Und so hatte er es für seine Pflicht gehalten, auch dem jüngsten Halbbruder eine bessere Zukunft zu ermöglichen.

Nach einem tosenden Crescendo verhalten die Walzerklänge im selben Augenblick, als Morris seine Lektion beendete. Die Musiker verneigten sich, um für den lebhaften Beifall zu danken. Plötzlich und aus unerklärlichen Gründen verstummte der Applaus. Die Paare, die immer noch auf der Tanzfläche standen, wandten sich zum Eingang. Tiefe Stille sank herab.

Auch Lucas schaute zur Tür, um festzustellen, was die allgemeine Aufmerksamkeit erweckte. Morris stieß ihn mit dem Ellbogen an. »Nicht alles in England ist so schlecht, wie Sie glauben. Dort steht der Beweis für unsere große Klasse.«

Seine Stimme klang so begeistert, dass Lucas nicht überrascht gewesen wäre, die Königin höchstpersönlich zu erblicken.

»Hampton, geh beiseite, du versperrst mir die Sicht!«, befahl Morris.

»Immerhin ist er einen guten Kopf größer als die meisten anderen Männer«, murmelte Hampton. »Also kann er alles deutlich genug sehen. Außerdem bin ich wie gelähmt vor Entzücken und unfähig, mich zu bewegen. Großer Gott, also ist sie tatsächlich gekommen!«, flüsterte er bewundernd. »Welch ein mutiges Mädchen!«

»Da ist Ihre Außenseiterin, Lucas«, verkündete Morris voller Stolz.

Die junge Dame, von der die Rede war, stand am Absatz der Treppe, die zum Ballsaal hinabführte. Und die beiden Engländer hatten keineswegs übertrieben. Sie war unglaublich schön. Der U-Ausschnitt ihres königsblauen Abendkleides entblößte wohlgeformte Schultern, ohne allzu viel zu zeigen. Die Robe war nicht hauteng geschnitten, ließ aber sanfte Rundungen erkennen.

Offenbar besuchte sie den Ball ohne Begleitung, und wie ihr Lächeln bekundete, störte sie das Aufsehen, das sie erregte, nicht im mindesten. Dass man ihr Kleid nicht als fashionable betrachten würde, schien sie ebenso wenig zu kümmern. Der Rock bauschte sich nicht an allen möglichen und unmöglichen Stellen, denn sie trug kein Drahtgestell darunter, und ihr Haar war nicht hochgesteckt, sondern fiel in weichen Wellen auf die schmalen Schultern. Vielleicht faszinierte sie die Gäste vor allem deshalb, weil sie in diesem Saal eine erfrischende Ausnahme bildete.

Ihre Schönheit beeindruckte auch Lucas. Ein paarmal blinzelte er, aber die traumhafte Vision verschwand nicht. Ihre Augen konnte er nicht sehen, wusste aber, dass sie blau waren. Plötzlich ging ihm der Atem aus, sein Herz hämmerte in wildem Rhythmus gegen die Rippen. Verdammt, er führte sich auf wie ein Schuljunge. Geradezu erniedrigend!

»Ja, das ist tatsächlich eine Außenseiterin«, stimmte Hampton zu. »Beobachtet doch mal den Marquis! Er steht direkt gegenüber auf der anderen Seite des Ballsaals, und sogar aus dieser Entfernung sehe ich seinen lüsternen Blick, der übrigens auch seiner neuen Ehefrau nicht entgeht. Wie wütend sie ihn anstarrt! Ist das nicht wundervoll? Endlich erhält dieser üble Bursche seine gerechte Strafe. O Gott, tut mir leid, Lucas – so despektierlich dürfte ich nicht über Ihren Halbbruder sprechen.«

»Ich betrachte ihn nicht als meinen Verwandten«, erwiderte Lucas kühl. »Schon vor Jahren hat er sich von meinen Halbbrüdern und mir losgesagt. Übrigens muss ich Ihnen beipflichten, Hampton. Der Gerechtigkeit wurde Genüge getan, in höherem Maße, als Sie ahnen.«

Interessiert wandte sich Hampton zu ihm. »Sie machen mich schrecklich neugierig, Lucas. Wissen Sie etwas, das uns entgangen ist?«

»Wahrscheinlich hat er alles über die bewusste Demütigung gehört«, meinte Morris. Er wartete nicht ab, bis Lucas das bestätigen oder bestreiten würde, sondern schilderte den Fall in allen Einzelheiten. »Diese schöne Vision in Blau, die so zauberhaft lächelt, war mit Ihrem Halbbruder verlobt. Nach allen Regeln der Kunst hatte er sie umworben, und sie – so jung und unschuldig – fand ihn gewiss attraktiv. Zwei Wochen vor dem Hochzeitstermin brannte William mit Jane durch, der Kusine seiner Braut. Über fünfhundert Leute waren zum Fest eingeladen worden, und plötzlich musste alles abgesagt werden. Es war der Skandal dieser Saison.«

»Seht doch, wie Jane sich jetzt an William klammert!«, tuschelte Hampton. »Oh, das ist einfach göttlich! Und William versucht nicht einmal, seine sinnlichen Gedanken zu verbergen. Ein Wunder, dass ihm nicht der Geifer aus den Mundwinkeln tropft! Neben der Schönheit, die er aufgegeben hat, ist Jane ein bleicher Schatten, nicht wahr?«

Das amüsierte Lucas keineswegs. »Er ist ein Narr.«

Zustimmend nickte Hampton. »Wie ich William Merritt verabscheue! Dieser Gauner und Intrigant hinterging meinen Vater, dann prahlte er in aller Öffentlichkeit mit seiner Raffinesse. Mein Vater war zutiefst beschämt.«

»Du weißt ja, was William seinen eigenen Brüdern antat«, bemerkte Morris.

»Allerdings! Beinahe hätte er Jordans und Douglas’ Leben zerstört.«

»Ja, und das wird ihm jetzt heimgezahlt. Für den Rest seines Lebens muss er sich elend fühlen. Jane ist genauso niederträchtig wie er – ein beängstigendes Paar, was? Angeblich erwartet sie ein Kind. Dieses Baby tut mir jetzt schon leid.«

»Sie könnte tatsächlich schwanger sein«, meinte Hampton. »Nicht einmal während seiner Verlobung mit Lady Taylor hat William einen Hehl aus seiner Beziehung zu Jane gemacht. Auch für sie wird das ein böses Erwachen geben. Sie hält William für einen reichen Erben.«

»Ist er das nicht?«, fragte Lucas.

Hampton schüttelte den Kopf. »Bettelarm! Bald werden es alle Spatzen von den Dächern pfeifen. Bei seinen Fehlspekulationen verlor dieser Narr alles, was er besaß. Seine Ländereien gehören jetzt den Bankiers. Wahrscheinlich rechnet er nach dem Tod der alten Lady Stapleton mit Janes Erbe. Die arme Esther war sterbenskrank, aber soviel ich weiß, hat sie sich wieder einmal auf wunderbare Weise erholt.«

Die Musik begann wieder zu spielen, und die Menge sah sich gezwungen, Taylor nicht länger zu begaffen. Sie hob den Rocksaum an und stieg die Stufen herab. Unfähig, seinen Blick von ihr loszureißen, trat Lucas einen Schritt vor, dann hielt er inne, um wieder auf seine Uhr zu schauen. Noch knapp zehn Minuten. So lange musste er noch durchhalten, dann würde er alles ausgestanden haben. Zufrieden seufzte er auf und lächelte.

Auch Lady Taylor lächelte. Buchstabengetreu befolgte sie die Anordnungen ihrer Großmutter. Seit sie die Schwelle des Ballsaals überschritten hatte, trug sie dieses Lächeln zur Schau. Und nichts, was irgendjemand sagen oder tun mochte, würde sie veranlassen, die Stirn zu runzeln. Obwohl ihr das Herz unendlich wehtat, wollte sie den Anschein erwecken, sich bestens zu amüsieren. Sie musste in die Zukunft schauen, denn die beiden Babys brauchten sie.

Mehrere junge Männer eilten ihr entgegen, aber Taylor ignorierte sie. Sie schaute sich nach dem Mann um, den sie hier treffen sollte, entdeckte ihre Kusine und William, gönnte ihnen aber nur einen kurzen Blick.

Mühsam schluckte sie. Wenn die beiden nun zu ihr herüberkamen? Sollte sie ihnen alles Gute zur Hochzeit wünschen? Lieber sterben! Sie hatte nicht bedacht, dass sie vermutlich zu den Ballgästen zählten, und nur einen einzigen Gedanken gekannt – die Sorge um ihre Großmutter. Ironischerweise hatte sich Lady Esthers Befinden an diesem Nachmittag tatsächlich gebessert, und Taylor hoffte inständig, der alten Dame wäre eine neue Gnadenfrist vergönnt.

Ein eifriger junger Mann bat sie um einen Tanz. Irgendwie kam er ihr bekannt vor, doch sie konnte sich nicht an seinen Namen erinnern. Höflich lehnte sie ab. Als er sich entfernte, hörte sie Janes unverkennbares schrilles Gelächter, sah ihre bösartige Miene und eine junge Dame, die zum Ausgang eilte – Lady Catherine, Sir Connans knapp fünfzehnjährige jüngste Tochter.

Offenbar hat die Ehe Janes Charakter nicht gebessert, dachte Taylor, und Catherine ist ihr allerneustes Opfer. Warum nur müssen meine Verwandten so grausam sein?

Was das betraf, glichen sie vielen Mitgliedern der gehobenen englischen Gesellschaftsschicht. Taylor selbst passte nicht in diese Kreise, das war ihr von Anfang an klar gewesen. Vielleicht hatte sie deshalb ihren Kopf in den Wolken getragen und ihre Nase in Groschenromane gesteckt. Ja, sie war eine Träumerin, wie die Großmutter es ihr vorgeworfen hatte, fand das aber gar nicht so schlimm. Oft genug erschien ihr die Realität hässlich und wäre unerträglich gewesen, hätte sie nicht hin und wieder in Tagträume fliehen können.

Sie liebte romantische Geschichten, und bedauerlicherweise waren die einzigen Helden, die sie kannte, jene schneidigen Romanfiguren. Vor allem Daniel Boone und Davy Crockett hatten es ihr angetan. Beide waren längst tot, jedoch immer noch von wunderbaren Legenden umwoben, die Schriftsteller und Leser begeisterten. Aber Lady Esther wollte aus ihrer Enkelin eine Realistin machen, nur weil sie glaubte, es gäbe keine Helden mehr.

Während Lady Catherine zur Treppe rannte, stieß sie Taylor in ihrer Verzweiflung beinahe um.

»Beruhigen Sie sich doch, Catherine!«, bat Taylor und hielt das unglückliche Mädchen fest.

»Bitte, lassen Sie mich vorbei!« Tränen rannen über Catherines Gesicht.

»Hören Sie zu weinen auf!«, befahl Taylor. »Sie müssen hierbleiben. Wenn Sie jetzt gehen, wird es eine Weile dauern, bis Sie sich wieder in der Öffentlichkeit zeigen können. Sie dürfen sich nicht von Jane unterkriegen lassen.«

»Oh, Sie wissen ja nicht, was geschehen ist!«, jammerte Catherine. »Sie sagte – sie erzählt allen, ich ...«

»Dieses böse Gerede spielt keine Rolle. Wenn Sie Jane und ihre Klatschgeschichten einfach ignorieren, wird ihr niemand glauben.«

Catherine zog ihr Taschentuch aus dem Ärmel und wischte sich das Gesicht ab. »Womit habe ich einen so gnadenlosen Angriff verdient?«, wisperte sie.

»Sie sind jung und hübsch, nur deshalb hat Jane es auf Sie abgesehen. Doch das werden Sie überleben, auch mir ist es gelungen. Wahrscheinlich hält Jane bereits nach jemand anderem Ausschau, den sie ins Unglück stürzen kann. Was für ein Ekel sie ist, nicht wahr?«

Catherine brachte ein schwaches Lächeln zustande. »O ja, Lady Taylor, Sie haben recht. Sie hätten hören müssen, was sie vorhin über Sie sagte. Dass die Saphire, die Sie tragen, ihr gehören.«

»Tatsächlich?«

»Sie behauptet, Lady Esther sei senil geworden ...«

Hastig fiel Taylor dem Mädchen ins Wort. »Es interessiert mich nicht, welche Lügen Jane über meine liebe Großmutter verbreitet.«

Vorsichtig spähte Catherine über Taylors Schulter. »Jetzt beobachtet sie uns«, wisperte sie.

Aber Taylor drehte sich nicht um. Nur noch eine kleine Weile, dachte sie, dann kann ich diesen grässlichen Ort verlassen. »Catherine, würden Sie mir einen großen Gefallen tun?«

»Alles, was in meiner Macht steht«, versprach Catherine, ohne zu zögern.

»Tragen Sie meine Saphire.«

»Wie bitte?«

Taylor öffnete die Schließe ihrer Halskette im Nacken, dann nahm sie die Ohrgehänge ab.

Verblüfft starrte Catherine sie an. »Das meinen Sie doch nicht ernst, Lady Taylor! Dieser Schmuck muss ein Vermögen gekostet haben. Wenn Jane mich damit sieht, bekommt sie einen Schreikrampf.«

»Ja, sie wird sich ganz furchtbar aufregen, nicht wahr?«, fragte Taylor gedehnt und lächelte.

Da brach Catherine in fröhliches Gelächter aus, das durch den ganzen Raum hallte, und auf einmal fühlte sich Taylor viel besser. Sie half dem Mädchen, die Juwelen anzulegen. »Lassen Sie sich niemals vom Reichtum beeindrucken«, warnte sie. »Nehmen Sie ihn nicht wichtiger als Ihre Selbstachtung und Ihre Würde, sonst werden Sie eines Tages so tief sinken wie Jane. Und das wollen Sie doch nicht?«

»Du lieber Himmel, nein!«, beteuerte Catherine erschrocken. »Niemals will ich mich vom Reichtum blenden lassen. Aber wenn ich diesen Schmuck trage, fühle ich mich wie eine Prinzessin. Das ist doch kein Fehler?«

»Nein«, erwiderte Taylor belustigt. »Und es ist mir ein Vergnügen, Ihnen eine Freude zu machen.«

»Sicher passt Papa gut auf die Juwelen auf, und morgen bringe ich sie Ihnen persönlich zurück.«

Taylor schüttelte den Kopf. »Morgen brauche ich sie nicht mehr. Sie gehören Ihnen.«

»Aber ...«, begann das Mädchen verwirrt.

»Ich schenke sie Ihnen.«

Da begann Catherine zu schluchzen, überwältigt von Taylors Großzügigkeit.

»Oh, ich wollte Sie nicht zum Weinen bringen!« Bestürzt ergriff Taylor die Hand des Mädchens. »Mit oder ohne Saphire – Sie sehen zauberhaft aus, Catherine. Trocknen Sie Ihre Tränen, ich suche einen geeigneten Tanzpartner für Sie.« Als Milton Thompson ihrem Blick begegnete, gab sie ihm ein Zeichen, und er eilte sofort herbei. Wenig später wurde Catherine auf die Tanzfläche geleitet. Strahlend lächelte sie, flirtete, kicherte und benahm sich wieder wie eine ganz normale Fünfzehnjährige.

Taylors Freude über ihren Erfolg dauerte nicht lange. Wo mochte ihr Begleiter stecken? Sie beschloss, durch den Ballsaal zu wandern. Natürlich würde sie dabei einen weiten Bogen um ihre Kusine und William machen. Und wenn sie den Mann noch immer nicht fand, würde sie einfach gehen. Für einen Abend hatte sie genug gelächelt. Und Lady Esther brauchte ja nicht zu erfahren, dass ihre Enkelin nur fünfzehn oder zwanzig Minuten im Ballsaal geblieben war.

Drei wohlmeinende Freundinnen traten ihr in den Weg. Alison, Jennifer und Constance hatten gemeinsam mit ihr Miss Lorrisons Schule für gutes Benehmen und wissenschaftliche Interessen besucht. Da Alison ein Jahre älter war als die anderen, bildete sie sich ein, sie wäre viel erfahrener. Das hochgewachsene, etwas plumpe Mädchen besaß dunkelblondes Haar und haselnussbraune Augen. »Taylor, Darling, wie schön du heute Abend bist! Neben dir sehe ich völlig unscheinbar aus.« Sie nannte alle Leute »Darling«, weil sie glaubte, das klinge besonders weltgewandt.

»Niemals wirst du unscheinbar aussehen«, erwiderte Taylor lächelnd, denn sie wusste instinktiv, was Alison hören wollte.

»Ja, ich mache eine tolle Figur, nicht wahr? Das Kleid ist neu und hat Vater ein Vermögen gekostet. In dieser Saison will er mich mit aller Macht verheiraten, selbst wenn er nachher bankrottgeht.«

Taylor fand die Ehrlichkeit ihrer Freundin erfrischend. »In diesem Saal könntest du an jedem Finger fünf Gentlemen haben.«

»Aber der einzige, der mich interessiert, schaut nie in meine Richtung«, gestand Alison.

»Und dabei hat sie alles getan, um seine Aufmerksamkeit zu erregen«, mischte sich Jennifer ein. Dann stopfte sie eine braune Strähne in ihren straffen Haarknoten, ehe sie hinzufügte: »Nicht einmal, wenn sie direkt vor seinen Füßen in Ohnmacht fiele, wäre er beeindruckt.«

»Wahrscheinlich würde er sie gar nicht auffangen«, meinte Constance. »Lass doch deine Frisur in Ruhe, Jennifer, du bringst sie ja ganz durcheinander. Und setz die Brille auf. Wenn du dauernd blinzelst, kriegst du Falten in den Augenwinkeln.«

Jennifer ignorierte diese Vorschläge. »Sicher bekäme Alisons Vater einen Herzanfall, wenn dieser Mann tatsächlich um sie werben würde.«

Da nickte Constance emphatisch, wobei ihre kurzen Löckchen wippten. »Ein übler Junge«, informierte sie Taylor.

»Junge? Darling, er ist schon ein Mann!«, protestierte Alison.

»Ein Mann von schlechtem Ruf!«, entgegnete Constance. »Wirke ich nicht zu blass, wenn ich Rosa trage, Taylor? Nach Jennifers Meinung passen meine roten Haare und die Sommersprossen zu keiner Rosa-Nuance, aber ich war so verliebt in diesen Stoff ...«

»Du siehst bildhübsch aus«, versicherte Taylor.

»Das stimmt, er hat einen schlechten Ruf«, gestand Alison. »Gerade das fasziniert mich ja so an ihm.«

»Melinda hat gehört, er sei allein in dieser letzten Woche jeden Abend mit einer anderen Frau ins Bett gegangen«, erzählte Constance. »Könnt ihr euch das vorstellen? Er kriegt jede, die er nur will, und er ist so ...«

»Verführerisch?«, fiel Alison ihr ins Wort.

Das Blut stieg in Constance‘ Wangen. »Nun ja, er übt eine gewisse animalische Anziehungskraft aus. Er ist so – riesengroß. Und diese dunkelbraunen Augen – einfach göttlich!«

»Von wem redet ihr eigentlich?«, fragte Taylor neugierig.

»Seinen Namen kennen wir noch nicht«, erklärte Alison, »aber er ist hier, und ich werde diesen Saal nicht verlassen, ehe mich irgendjemand mit ihm bekannt gemacht hat. Irgendwie strahlt er etwas sündhaft Erotisches aus.« Sie hielt inne, um ihren Fächer auseinanderzufalten und ihr erhitztes Gesicht abzukühlen. »Wann immer ich ihn anschaue, droht mein Herz stehenzubleiben.«

Plötzlich bemerkte Taylor, dass Jennifer sie mitfühlend musterte. »Stimmt was nicht?«

»O Taylor, es war so tapfer von dir, heute Abend hierherzukommen!«

Alison schlug ihr den Fächer auf die Schultern. »Um Himmels willen, Jennifer, wir hatten doch vereinbart, wir würden die Demütigung nicht erwähnen.«

»Und jetzt hast du’s auch getan!«, fauchte Constance. »Wie könnt ihr beide nur so rücksichtslos sein? Bricht dir das Herz, Taylor?«

»Nein, eigentlich nicht ...«

Jennifer ließ sie nicht ausreden und wisperte: »Angeblich erwartet Jane ein Kind von ihm. Die beiden hatten doch schon eine Affäre, während er dir noch den Hof machte.«

»Musst du wirklich darüber reden?«, tadelte Alison.

»Sie hat ein Recht, die Wahrheit zu erfahren«, verteidigte sich Jennifer.

»Vorher wussten wir es nicht«, bedauerte Constance. »Sonst hätten wir dir’s erzählt. Niemals würden wir dir erlauben, solch einen Schurken zu heiraten.«

»Über das alles will ich wirklich nicht sprechen ...«

Wieder wurde Taylor unterbrochen. »Er ist hier!«, verkündete Jennifer. »Als Taylor hereinkam, sah ich, wie Jane seinen Arm packte. Und seither ließ sie ihn nicht mehr los. Für all die Sünden, die William Merritt begangen hat, müsste er am Galgen baumeln.«

»Wirklich, ich möchte nicht über ihn reden«, murmelte Taylor.

»Selbstverständlich nicht«, stimmte Alison zu. »Glaub mir, Darling, bald wirst du dem Himmel danken, weil dich dieser Kerl sitzengelassen hat.«

»Heute Abend werden wir nicht mehr von deiner Seite weichen, Taylor«, gelobte Constance. »Und wenn dich irgendjemand beleidigt, werde ich ihn persönlich zur Rede stellen.«

»Danke«, entgegnete Taylor, »aber so dünnhäutig bin ich nicht. Ihr braucht nicht zu befürchten, man könnte meine Gefühle verletzen. Und ich bin durchaus imstande, auf mich selber aufzupassen.«

»Natürlich«, bestätigte Alison mitleidig.

»Empfindest du noch etwas für ihn, Taylor?«, wollte Jennifer wissen.

»Nein. Offen gestanden ...«

»Sicher empfindet sie etwas für ihn«, behauptete Constance. »Sie hasst ihn!«

»Nein ...«, begann Taylor.

»Liebe und Hass gehen Hand in Hand«, erläuterte Jennifer. »Ich glaube, sie müsste die Männer im Allgemeinen und William Merritt im Besonderen hassen.«

»Wenn man jemanden hasst, löst man keine Probleme ...«

»Natürlich musst du ihn hassen, Taylor«, betonte Constance.

Nach Taylors Ansicht war es höchste Zeit, das Thema zu wechseln. »Ich habe euch allen lange Briefe mit wichtigen Neuigkeiten geschrieben«, platzte sie heraus, bevor sie erneut unterbrochen werden konnte.

»Wozu denn?«, fragte Alison. »Neuigkeiten? Was für Neuigkeiten?«, drängte Constance.

Taylor schüttelte den Kopf. »Darauf müsst ihr bis morgen warten. Am späten Nachmittag werdet ihr die Briefe bekommen.«

»Erzähl uns deine Neuigkeiten sofort!«, beharrte Jennifer.

»Du benimmst dich mysteriös«, bemerkte Constance.

»Das will ich gar nicht«, verteidigte sich Taylor. »Aber manchmal ist es einfacher, etwas niederzuschreiben als auszusprechen.«

»Sag uns sofort, was los ist!«, verlangte Alison.

»Du kannst uns doch nicht einfach im Ungewissen lassen!«, mahnte Constance.

»Willst du abreisen?« Jennifer wandte sich zu Constance. »Alle Leute schreiben Abschiedsbriefe, bevor sie woandershin gehen.«

Inzwischen bereute Taylor, dass sie die Briefe erwähnt hatte. »Es ist eine Überraschung.«

»Bevor du uns alles verraten hast, wirst du diesen Saal nicht verlassen!«, warnte Alison. »Kein Auge tue ich zu, bevor ich diese geheimnisvollen Neuigkeiten erfahren habe.«

Seufzend schüttelte Taylor den Kopf. Wie sie Alisons Miene entnahm, war dieses Thema noch lange nicht abgeschlossen.

Doch da kam ihr Constance unbeabsichtigt zu Hilfe. Sie entdeckte Lady Catherine auf der Tanzfläche, erkannte die Saphire wieder und wollte wissen, warum das Mädchen Taylors Juwelen trug.

Während Taylor erklärte, warum sie dem Mädchen ihren Schmuck geschenkt hatte, ließ sie sich viel Zeit.

Lucas stand am anderen Ende des Ballsaals und beobachtete sie, umzingelt von Männern, die ihn mit Fragen nach seinem Leben in Amerika bestürmten. Über einige der offenkundigen Vorurteile ärgerte er sich, andere amüsierten ihn. Wie fasziniert diese Engländer von den Indianern waren ... Ob er schon viele getötet hatte?

Geduldig beantwortete er die weniger indiskreten Fragen und schaute immer wieder auf seine Uhr. Falls er unhöflich wirkte, störte es ihn nicht. Noch einmal blickte er auf seine Uhr. Nur noch ein paar Minuten bis Mitternacht ... Während er seinem Publikum erklärte, seine Ranch sei von Bergen umgeben und er besitze ebenso wie seine Brüder die Erlaubnis der Sioux- und Crow-Indianer, deren Land zu teilen, beobachtete er den schurkischen Familienerben. Plötzlich schüttelte William die Hand seiner Frau ab und steuerte auf Taylor zu, dicht gefolgt von Jane.

Auch Taylor bemerkte ihn. Offensichtlich wollte sie die Flucht ergreifen. Lucas sah, wie sie eine Hand nach unten streckte, um ihre Röcke zu raffen. Doch dann besann sie sich anders und hob würdevoll den Kopf.

Niemand darf mir meine Panik anmerken, nicht einmal meine besten Freundinnen, gelobte sich Taylor und lächelte, bis sich ihr Gesicht wie sprödes Papier anfühlte. Die Demütigung ... Wie sie nur zu gut wusste, wurde ihre geplatzte Hochzeit von allen Leuten so genannt. Und alle erwarteten, sie würde sich wie eine gedemütigte, sitzengelassene Braut verhalten. Doch sie sollten eine Enttäuschung erleben.

Unentwegt schwatzte Alison über dies und das, aber Taylor hörte nicht mehr zu. Trotzdem heuchelte sie Interesse, um die Freundin nicht zu kränken. Freundlich nickte sie, wann immer Alison nach Luft schnappte, und das Lächeln klebte an ihren Lippen. Sie konnte nur hoffen, dass eine amüsante und keine traurige Geschichte zum Besten gegeben wurde.

Unterdessen bahnte sich William einen Weg zwischen den Tanzpaaren hindurch und kam unaufhaltsam näher. Jane blieb ihm auf den Fersen.

Vielleicht wäre es Taylor gelungen, ihre Angst zu verbergen, hätte sie die Miene ihrer Kusine nicht gesehen. Heller Zorn verzerrte Janes Gesicht. In heiterer Stimmung schaute sie nur ein bisschen boshaft drein. Aber wann immer sie richtig wütend wurde ... Diesen Blick konnte man gar nicht beschreiben. Es war zu beklemmend.

Taylors edler Entschluss, tapfer die Stellung zu halten, löste sich in nichts auf. Heftige Übelkeit erfasste sie, und sie fürchtete, die Besinnung zu verlieren.

Als Lucas die Angst in ihren Augen sah, unterbrach er seine Erläuterungen über die Indianer mitten im Satz und drängte sich zwischen seinen Zuhörern hindurch. Morris und Hampton folgten ihm zur anderen Seite des Ballsaals.

»Was um Himmels willen machst du denn da, Taylor?«, fragte Alison scheinbar erschrocken.

»Sie holt tief Luft«, antwortete Constance und neigte sich näher zu Taylor, aufrichtig bemüht, deren mysteriöses Verhalten zu begreifen.

»Aber warum atmet sie so komisch?«, rief Jennifer.

Taylor versuchte, sich zu beruhigen. »Es ist wohl besser, wenn ich jetzt gehe ...«, begann sie.

»Du bist doch gerade erst gekommen«, protestierte Jennifer.

»Ja, aber ich glaube wirklich, ich ...«

»Großer Gott, er kommt hierher!«, hauchte Alison und zupfte hastig an ihrem Kleid herum.

Constance spähte an ihr vorbei, riss die Augen auf und wandte sich wieder zu Taylor. »Oh, warte nur, bis du ihn kennengelernt hast! Wenn Mama ihn auch verworfen findet – seine Stimme klingt wahnsinnig charmant. Und diese bezaubernde gedehnte Sprechweise ...«

»Wieso weißt du das?«, fragte Jennifer.

»Ich hörte ihn mit Hampton reden.«

»Du hast gelauscht!«, wurde Constance von Jennifer bezichtigt und nickte.

»Allerdings«, gab sie ungerührt zu.

Langsam trat Taylor von ihren Freundinnen zurück und warf einen Blick über die Schulter, um die Entfernung zum Ausgang abzuschätzen. Nur etwa dreißig Schritte trennten sie von der Freiheit. Wenn sie die Stufen erreichte, könnte sie ...

»Taylor, du musst unbedingt mit ihm sprechen!«, beharrte Alison.

»Seid ihr alle verrückt geworden? Ich will nicht mit ihm sprechen, und in meinen Augen ist William Merritt alles andere als charmant!« Taylor schrie beinahe, und die Mädchen drehten sich verdutzt zu ihr um.

»William?«, fragte Constance. »Wer redet denn von William?«

»Komm doch zurück, Taylor!«, forderte Alison.

»Ach, du meine Güte, auch William kommt zu uns!«, flüsterte Jennifer. »Kein Wunder, dass Taylor ausreißen will.«

»Will ich doch gar nicht«, widersprach Taylor. Natürlich war das eine glatte Lüge, aber sie wäre eher gestorben, als ihre Feigheit einzugestehen. »Ich möchte nur eine Szene vermeiden. Wenn ihr mich entschuldigen würdet ...«

Aber Constance packte ihren Arm. »Du darfst nicht weggehen. Sonst blamierst du dich ganz schrecklich, und das lassen wir nicht zu. Ignoriere ihn einfach. Alison, würdest du endlich aufhören, diesen Mann anzugaffen!«

»Also wirklich, irgendjemand muss mich mit ihm bekannt machen!«, beharrte Alison erneut und schwenkte heftig ihren Fächer vor den geröteten Wangen.

»Das könnte Morris übernehmen«, schlug Jennifer vor und trat beiseite, um dem heftig bewegten Fächer auszuweichen. »Ist er nicht schön?«, seufzte sie.

»Männer sind attraktiv, Darling, nicht schön, aber du hast recht. Dieser da ist beides. Und so groß! Ich glaube, wenn ich ihn genauer anschaue, falle ich in Ohnmacht.«

Mit einiger Mühe gelang es Taylor, sich von Constance‘ Griff freizumachen. Gerade wollte sie sich abwenden und um ihr Leben laufen, da fiel ihr Blick auf den Mann, von dem Alison und ihre anderen Freundinnen so begeistert schwärmten.

Plötzlich erstarrte sie und vergaß sekundenlang zu atmen. Ein sonderbares Schwindelgefühl stieg ihr in den Kopf. Nie zuvor hatte sie einen hübscheren Mann gesehen, hoch gewachsen und gertenschlank, aber breitschultrig, mit schwarzem Haar und sonnenbrauner Haut. Und erst die Augen! Welch eine hinreißende Farbe! Dunkles Schokoladenbraun! Und ringsum zarte Fältchen – wahrscheinlich, weil er so oft in die Sonne geblinzelt hatte ... Ganz sicher nicht, weil er so gern lachte. Nicht gerade der Typ, dem man an einer einsamen, finsteren Straßenecke begegnen – oder mit dem man den Rest seines Lebens verbringen wollte ... O Gott, was hatte sie getan?

Sie riss den Fächer aus Alisons Hand und wedelte damit vor ihrer Nase umher. Wie heiß es im Ballsaal geworden war ...

Wäre es skandalös, wenn sie vor seinen Füßen in Ohnmacht fiele? Vermutlich würde er auf seinem Weg zur Tür über sie hinwegsteigen. Taylor schüttelte energisch den Kopf. Nun musste sie endlich ihre Gedanken ordnen und die Fassung wiedergewinnen. Sie spürte, wie ihr das Blut brennend in die Wangen stieg. Wie lächerlich, dachte sie. Da gab es nichts, was sie in Verlegenheit bringen könnte. Es lag nur an der Hitze.

War der Riese, der da auf sie zukam, jener Mann, der in so schlechtem Ruf stand? Hatte Constance nicht behauptet, er sei letzte Woche jeden Abend mit einer anderen Frau ins Bett gegangen? Hätte sie doch aufmerksamer zugehört ... Sie beschloss, ihre Freundinnen zu befragen. Denn jetzt wollte sie alles über den geheimnisvollen Fremden wissen.

Doch nun war es zu spät, Fragen zu stellen. Und ihre eben noch klaren Gedanken begannen, sich erneut zu verwirren, denn er schaute ihr direkt in die Augen, das zerrte an ihren Nerven. Und sie konnte nicht aufhören, ihn anzustarren. Stand ihr Mund offen? Hoffentlich nicht, denn wenn es so wäre, hätte sie nichts dagegen tun können. Aber so schlimm ist es nun auch wieder nicht, redete sie sich ein. Der Fächer würde zumindest ihre untere Gesichtshälfte verbergen.

Doch da nahm ihr Alison den Fächer wieder weg, und Taylor gewann den beklemmenden Eindruck, das Kleid wäre ihr vom Leib gerissen worden. Sie fühlte sich nackt und ausgeliefert, aber nur für einen kurzen Moment. Dann straffte sie die Schultern, zwang ihre Lippen zu einem Lächeln und versuchte zu überlegen, wie sich eine Dame benahm.

O ja, er war attraktiv. Während sie ihn betrachtete, konnte sie kaum atmen, wollte voller Bewunderung seufzen, doch das wagte sie nicht.

Natürlich wusste sie, warum er sie so faszinierte. Er glich ihren Romanhelden, Davy Crockett und Daniel Boone. Und es konnte doch nicht schaden, wenn man sich in Tagträumen ein Leben an der Seite eines amerikanischen Grenzsiedlers vorstellte, oder? Ein abenteuerliches Leben, wo man den Indianern begegnete – oder den »Wilden«, wie sie in den Romanen genannt wurden ... Wenn diese Rothäute einen Feind getötet hatten, pflegten sie ihm den Skalp abzuziehen, weil sie eine Trophäe brauchten, um ihren Erfolg zu beweisen. Boone und Crockett hatten gegen zahllose Indianer gekämpft, doch sie waren nie skalpiert worden und sogar mit den Wilden befreundet gewesen.

Beim Anblick des Fremden bekam Taylor eine Gänsehaut. Sicher würde es ihm leichtfallen, auch die wildesten Indianer einzuschüchtern. So attraktiv er auch aussah – er wirkte bedrohlich und unbesiegbar. Nichts würde ihm jemals Angst und Schrecken einjagen. Allein schon seine äußere Erscheinung verriet, dass er alles, was ihm gehörte, zu schützen wusste.

Und die Babys, dachte sie. Ja, ganz sicher wird er die Babys beschützen. Und nur das zählte. Seine Reputation brauchte sie nicht zu kümmern, ebenso wenig wie die bizarren Gefühle, die er in ihr weckte. Die Zwecke, auf die es ihr ankam, erfüllte er geradezu vollkommen. Sie stieß einen tiefen Seufzer aus, den ihre Freundinnen imitierten – offensichtlich genauso hypnotisiert von diesem Mann wie sie selbst.

William und Lucas näherten sich aus verschiedenen Richtungen, doch sie erreichten Taylor gleichzeitig. Drei Schritte voneinander entfernt blieben sie stehen, William zu ihrer Linken, Lucas zu ihrer Rechten. Der Marquis begann als Erster zu sprechen, in ärgerlichem Ton. »Ich muss unter vier Augen mit dir reden, Taylor.«

Hinter ihm fauchte seine Frau: »Wirst du dich etwa mit ihr in einen Nebenraum zurückziehen? Ganz allein? Das verbiete ich dir!«

Taylor ignorierte die beiden und legte ihren Kopf in den Nacken, um dem Blick des Mannes standzuhalten, der sie aller logischer Gedanken beraubte. Verzweifelt bekämpfte sie ihre Angst vor ihm. Diese faszinierenden braunen Augen ... »Sie sind viel größer, als ich Sie in Erinnerung habe«, wisperte sie.

Ihre weiche, etwas heisere Stimme gefiel ihm. »Und Sie sind viel hübscher, als ich mich entsinne«, erwiderte er lächelnd.

Ja, Constance hatte recht. Was für eine hinreißende gedehnte Sprechweise ...



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