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„Ein absolut verrückter Plan, doch je länger ich darüber nachdenke, desto genialer erscheint er mir.
Sie wird sich darauf einlassen, nicht um unserer alten Freundschaft willen, sondern weil sie einfach keine andere Wahl hat.“
Colin MacArrhan, Laird of Maerhead, ist einer der begehrtesten Junggesellen Schottlands. Er ist attraktiv, vermögend und der Titel gemeinsam mit dazugehörigem Schloss und Ländereien macht ihn noch anziehender. Nur ist er zum Leidwesen aller heiratswilligen Damen ausgesprochen freiheitsliebend. Wäre da nicht diese unangenehme Klausel im Testament seines Vaters, die ihn zunehmend unter Zeitdruck bringt, könnte er sein Leben weiterhin in vollen Zügen genießen. Er braucht einen rettenden Plan, und das möglichst schnell.
Für die junge Anwältin Shona läuft es jobmäßig gerade richtig gut … bis sie einen wichtigen Fall in den Sand setzt, damit den Ruf des in der Öffentlichkeit stehenden Klienten zerstört und fristlos entlassen wird. Als wäre das nicht schlimm genug, erwartet sie gleich nach ihrer Ankunft in der schottischen Heimat ihrer Mutter die nächste unangenehme Überraschung. Sie trifft auf einen Freund aus Kindheitstagen, dessen Dankbarkeit sich jedoch in Grenzen hält, als Shona ihn aus einer misslichen Lage befreit. Im Gegenteil, er nutzt die Situation skrupellos aus, um das zu bekommen, was er will.
Der Deal, den er ihr vorschlägt, lässt keine Gefühle zu. Doch mit der Liebe ist das so eine Sache, sie macht, was sie will und hält sich selten an vereinbarte Regeln.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Der gestohlene Kuss
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Zwei Jahre später
Über die Autorin
Leseprobe: Hexenküsse schmecken besser
Leseprobe: Ouzo mit Herz, Samantha und Aris
„Der Duft der wilden Distel“ © Mara Waldhoven
Alle Rechte vorbehalten
***** Mara Waldhoven Kirchwegsiedlung 26
3484 Grafenwörth
***** Deutsche Erstausgabe April 2022
***** Cover Design: Rebecca Wild, sturmmöwen.at
Bildmaterial:
394585279 (shutterstock)
767912815 (shutterstock)
28822979(depositphotos)
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Korrektorat: Ingrid Fuchs - Korrektorat Zeilenfuchs
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Innengrafiken: Chris
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Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form sowie die Übersetzung des Werkes sind vorbehalten und bedürfen der schriftlichen Genehmigung der Autorin. Dies gilt ebenfalls für das Recht der mechanischen, elektronischen und fotografischen Vervielfältigung und der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Die Handlung und die handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden bzw. realen Personen ist rein zufällig und nicht beabsichtigt. Das malerisch gelegene Loch Mearhead und das Schloss der Familie MacArrhan sowie das gleichnamige Dorf sind auch nur ein Phantasiegebilde der Autorin.
„Was ist passiert, Colin?“ Das zierliche Mädchen mit den hüftlangen, in einem goldenen Kupferblond leuchtenden Haaren, blickte den kräftig gebauten Jungen, der sie um gut einen Kopf überragte, aufmerksam an. „Es wird stürmisch und bald regnet es. Wir sollten nicht zu lange hier oben bleiben.“
Colin MacArrhan, der Sohn des einflussreichen Lairds of Maerhead, hob das Gesicht und beobachtete besorgt die düstere, bedrohlich wirkende Wolkenwand, die sich vom Horizont her näherte und dabei das Sonnenlicht und das Himmelsblau verschlang. Seine Freundin hatte recht, es würde nicht mehr lange dauern, bis es so richtig ungemütlich werden würde. Er hatte nicht auf das Wetter geachtet, als er nach dem aufwühlenden Gespräch mit seinen Eltern davongelaufen war. Auf halben Weg zu seinem Zufluchtsort, einem mittelalterlichen, aus Stein und Holz errichteten und vor Kurzem aufwendig restaurierten Wachturm auf dem höchsten Hügel der Umgebung, war er Shona begegnet. Sie war ihm, ohne viel zu fragen, das düstere und enge Treppenhaus bis hinauf auf die offene Plattform gefolgt. Wie so oft hatte sie instinktiv gewusst, dass er ihren Rat und Trost brauchte.
Colins Atem hatte sich nach dem schnellen Lauf wieder halbwegs beruhigt und als er ihre zarte Hand durch den dicken Stoff der Jacke tröstend auf seinem Arm spürte, entspannte er sich noch ein bisschen mehr. Shonas Nähe, gemeinsam mit dem wunderschönen Ausblick über das in sanften Wellen dahinfließende Land seiner Familie, ließ alles nicht mehr so schlimm erscheinen.
Am flach zum Wasser hin absinkenden, begrünten Südufer von Loch Maerhead thronte das aus dem für die Region charakteristischen Granit errichtete gleichnamige Castle. Die drei Geschosse und die kleinen Ziertürmchen des Stammsitzes der MacArrhans spiegelten sich gebrochen im noch relativ ruhig daliegenden Gewässer. Der aufkommende Wind kräuselte schon an manchen Stellen die Oberfläche des Sees und sehr bald würde die Gischt vom Sturm getrieben an das steile, nördliche Steinufer branden. Colin liebte das Wasser, die Wildheit und Unberechenbarkeit und auch die Sanftheit an den seltenen milden Sommertagen, wenn sich Loch Maerhead in einem weichen Blauton von seiner versöhnlichen Seite zeigte. Er nahm einen tiefen Atemzug und genoss den einzigartigen Geruch dieser Gegend, der ihn wie meistens beruhigte und erdete. Eine Duftkomposition aus salziger, vom Wind bis ins Landesinnere mitgeführter Meeresluft, schwerem Sommerregen, der noch in den Wolken über ihren Köpfen lauerte und dem zarten, blumigen Duft der schottischen wilden Distel strömte in seine Lungen.
Die Weite und Vielseitigkeit des MacArrhan-Landes mit seinen dunklen Wäldern, leuchtenden Wiesen und dem fruchtbaren Ackerland machten den Jungen stolz und flößten ihm gleichzeitig Angst ein. Dieser Besitz, verbunden mit der ruhmreichen Geschichte seiner Vorfahren, bedeutete eine große Last, eine Verantwortung, von der er nicht sicher war, ob er sie tatsächlich eines Tages auf sich nehmen und erfüllen konnte. Aber er war der einzige Sohn und seine Zukunft somit festgeschrieben. Sein Vater, Carson MacArrhan bereitete ihn mit strenger Hand auf seine künftigen Aufgaben vor und ließ ihn gleichzeitig tagtäglich spüren, dass er den Anforderungen noch lange nicht – wenn überhaupt jemals – gewachsen war.
Colin war nun fünfzehn Jahre alt und an manchen Tagen drohten ihn seine zukünftigen Pflichten gemeinsam mit der lieblosen Strenge des Familienoberhauptes zu erdrücken.
Die kindliche Ausstrahlung hatte der meist in sich gekehrte Sohn des Lairds schon sehr früh verloren, da er von Eltern und Personal nie als Kind behandelt wurde. Seine Introvertiertheit wurde von anderen fälschlicherweise oft als Arroganz verstanden und das ließ ihn besonders auf Gleichaltrige nicht sehr sympathisch wirken. Allerdings hatte ihn das niemals gestört, denn die Kinder der Gegend interessierten ihn nicht. Nur Shonas Freundschaft war ihm wichtig und die wusste genau, welch wertvoller Mensch in Wahrheit unter der rauen Hülle steckte. Sie hatte sich niemals von seiner schroffen Art abschrecken lassen und so auch die warmherzige, sanfte Seite seines Wesens kennengelernt. Das Mädchen aus Wien, das Jahr für Jahr gemeinsam mit ihrer aus Aberdeen stammenden Mutter den Urlaub in einem Cottage unweit des Schlosses verbrachte, war ihm eines Tages im wahrsten Sinne des Wortes mit dem Fahrrad vor die Füße gefallen. Ein einziges verschmitztes Lächeln und ein koketter Augenaufschlag hatten genügt, um Colins Zuneigung zu gewinnen. Er konnte es sich selbst nicht erklären warum, aber sie war ihm der liebste Mensch auf Erden geworden. Kaum hatte sie ihn am Ende ihrer Ferien verlassen, konnte er es nicht erwarten, sie wiederzusehen. Shona vertrieb mit ihrer lebensbejahenden Art und ihrem herzlichen Lachen immer wieder die Gewitterwolken, die sich viel zu oft in seinem jungen Herzen zusammenbrauten. Sie war offen, ehrlich und mutig, der Einfluss und das Vermögen seiner Familie und der unbarmherzige Blick seines Vaters schüchterten sie nicht ein, wie es bei vielen anderen der Fall war. Das war ihr alles herzlich egal und die Bezeichnung Laird kam ihr höchstens über die Lippen, um Colin damit aufzuziehen, wenn er mal wieder allzu sehr mit dem Leben haderte.
Er konnte sich auf seine Freundin verlassen, wie umgekehrt ... Und eines Tages würde er sie heiraten! Diesen Entschluss hatte er spontan gefasst, nachdem seine Eltern ihm ihre Pläne offenbart hatten und er erkennen musste, dass sein Leben tatsächlich bis ins kleinste Detail vorbestimmt war, ohne auf seine Wünsche Rücksicht zu nehmen. Aber nicht mit ihm!
Shona würde als seine Lady im Schloss wohnen und ihn nicht mehr am Ende jedes Sommers verlassen, um in ihre Heimat zurückzukehren. Nein, sie würde für immer bei ihm bleiben! Es würde ihr gut gehen, dafür wollte er sorgen. Er würde sie auf Händen tragen und gleichzeitig ihre Wünsche respektieren und ihre Kinder dürften selbst entscheiden, wie sie ihr Leben gestalten wollten. Er würde seine Erben nicht einfach unter irgendeinem lächerlichen Vorwand abschieben, wie das seine Eltern mit ihm vorhatten! Colin würde es als liebender, rücksichtsvoller Vater besser machen, er würde seine Kinder unterstützen und stärken und Shona war die richtige Partnerin für sein Vorhaben. Sie war ehrlich, humorvoll und intelligent … und … nun ja, hübsch konnte man durchaus auch behaupten. Colin sah sie gerne an und natürlich hatte er schon längst bemerkt, dass sich zarte, frauliche Formen unter ihrer Kleidung abzeichneten, die letzten Sommer noch nicht da gewesen waren. Das verwirrte ihn mehr, als ihm lieb war und war wohl auch die beste Entschuldigung für das, was nun folgte.
Er beantwortete Shonas erneute Frage nach seinen Sorgen nicht, stattdessen zog er sie mit einer schnellen, beinahe groben Bewegung an sich und drückte fest seine Lippen auf ihren Mund. Sie war so überrascht, dass sie es sich gefallen ließ und stillhielt. Als er sie wieder losließ, sah sie ihn mit großen, glänzenden Augen verwirrt an. Ihre Wangen waren gerötet und die rosigen Lippen wirkten vom festen Druck seines Kusses noch voller, als sie von Natur aus waren. Der Wind fuhr durch Shonas langes, ungebändigtes Haar und die letzten Sonnenstrahlen des Nachmittags, die sich noch durch die Wolken kämpfen konnten, ließen den besonderen Goldton ihrer Locken warm leuchten. Colin war fest davon überzeugt, dass er sich für immer und ewig und bis ins kleinste Detail an diesen Anblick würde erinnern können.
„Was war das jetzt?“, fragte das Mädchen atemlos und seine Fingerspitzen berührten dabei vorsichtig den Mund, als wollte es sich vergewissern, dass Colins unbeholfene und überfallsartige Zärtlichkeit keine Einbildung war.
„Ich habe dir deinen ersten Kuss gestohlen“, flüsterte Colin gegen den böigen Wind.
Shonas vorübergehende Unsicherheit war schnell wieder verflogen und sie grinste ihn frech an.
„Wie kommst du darauf, dass es mein Erster war? Denkst du wirklich, ich habe damit auf dich gewartet, My Laird?“, zog sie ihn auf und es ärgerte und kränkte ihn gleichzeitig, dass seine Freundin so unsensibel reagierte und sich anscheinend der tiefen Bedeutung dieses Augenblicks nicht bewusst war. Hinzu kam noch die Scham, dass er sich zu dieser dummen Aktion überhaupt hatte hinreißen lassen.
Colin hatte plötzlich das Gefühl, in ihrer Nähe keine Luft mehr zu bekommen, und sein Puls raste. Er wollte einfach nur weg.
In halsbrecherischem Tempo hetzte er die Stufen abwärts und dann den Hügel hinunter in Richtung Schloss, als wäre eine Herde durchgedrehter Highland-Rinder hinter ihm her.
Shona rief ihm nach, aber er lief weiter, ohne auf sie zu warten. Nie wieder würde er seiner Freundin in die Augen sehen, geschweige denn ein normales Gespräch mit ihr führen können.
Das war soeben der peinlichste Moment seines bisherigen und sicher auch zukünftigen Lebens gewesen!
*** ***
„Wenn eine Türe zuschlägt, öffnet sich eine andere.“
Schottisches Sprichwort
*** ***
„Der Herr Doktor erwartet Sie … und er ist nicht gerade bester Laune. Dank Ihnen.“ Die vor Bosheit triefende Stimme passte perfekt zum Rest der Erscheinung der wichtigtuerischen Büroleiterin der renommierten Wiener Rechtsanwaltskanzlei, in der Shona seit nicht ganz zwei Jahren arbeitete. Die dunkel gefärbten und zu einem schmalen Strich gezupften Augenbrauen gaben Frau Renate, wie sie sich von ihrem Chef nennen ließ, gemeinsam mit den verkniffenen, dunkelrot geschminkten Lippen und den schwarzblauen, zu einem Helm auftoupierten Haaren ein gruseliges Aussehen. Für Shona verkörperte sie die perfekte Besetzung der bösen Hexe in einem Märchenfilm. Und gerade blickte Hexe Renate drein, als würde sie die junge Anwältin mit Schwerpunkt Familien- und Scheidungsrecht, die soeben einen medienwirksamen Fall in den Sand gesetzt hatte, mit einem fiesen, äußerst schmerzhaften Fluch belegen. Dagegen war vermutlich das Donnerwetter, das sich hinter der schweren, dunklen Holztür des Chefbüros zeitgleich zusammenbraute, ein Honigschlecken.
Shona atmete tief durch und bemühte sich, beim Eintreten in das Allerheiligste selbstbewusst und furchtlos zu wirken. Vielleicht konnte sie ihren Job noch retten, aber ehrlicherweise zweifelte sie sehr daran. Shona glaubte nicht an Wunder. Sie hatte es verbockt und dummerweise tat es ihr nicht mal leid. Ihr letzter Mandant – und die junge Anwältin musste befürchten, dass das nicht nur zeitlich zu verstehen war – war ein selbstgefälliger Unsympath, dem sie seinen Sieg nicht gönnte. Und deshalb hatte sie sich vielleicht instinktiv nicht so in den Fall hineingekniet, wie sie das unter anderen Umständen getan hätte und wie es von ihr zurecht erwartet worden war.
Der aufstrebende Politiker war jetzt stinksauer und um ein Haus, zwei Autos, den Schoßhund und ein paar Sparbücher leichter. Das bekam alles seine Ex, die er seit Jahren frech betrogen hatte und die er bei der Scheidung noch so richtig fertigmachen wollte. Shona hatte es indirekt zugelassen, dass seine jahrelangen Fehltritte mit diversen leichten Damen ans Tageslicht kamen, ebenso wie sein Versuch, den Detektiv, den seine Frau auf ihn angesetzt hatte, grob einzuschüchtern. Das größere Problem war allerdings, dass der schuldhaft Geschiedene nun in der Wählergunst abwärts rasselte, weil die ganze Geschichte natürlich in den Klatschblättern breitgetreten wurde. Und das schmälerte empfindlich seine Chancen bei den kommenden Wahlen.
Shona hatte schon des Öfteren an ihrer Eignung zur Scheidungsanwältin gezweifelt. Sie war einfach nicht skrupellos genug, um die gegnerische Partei ungeachtet von Schuld oder Nichtschuld in der Luft zu zerreißen. Aber genau das wurde in dieser Kanzlei mit ihren in der Öffentlichkeit stehenden Mandanten erwartet. Sie bezahlten reichlich dafür, in jedem Fall als Gewinner aus dem meist vor aller Augen geführten Rosenkrieg hervorzugehen.
Shonas Plan, hier noch einige Jahre genügend Geld zu verdienen, um dann ihre eigene kleine, aber faire Kanzlei zu eröffnen, war nun vermutlich in weite Ferne gerückt. Wenn ihr Boss wütend war, trampelte er gerne erbarmungslos auf seinen Opfern herum, was ihm unter möglichen Klienten einen guten Ruf eingebracht hatte, für die Angestellten aber äußerst unangenehm war. Ihre Reputation würde er nach diesem Skandal zerstören. Sie war sich sicher, dass sie nirgendwo einen neuen Job bekommen würde. Zumindest nicht in Wien und vermutlich auch im Rest Österreichs nicht.
Sie hätte auf ihr Bauchgefühl hören und der vorhergehenden, weitaus gemütlicheren Anstellung in einer weniger bekannten Kanzlei treubleiben sollen … aber sie wollte ja unbedingt hoch hinaus!
Shona ließ das wie erwartet heftige Donnerwetter über sich ergehen und hörte nicht einmal richtig zu, weil sie die anklagenden Reden ihres Bosses sowieso schon in- und auswendig kannte. Er benützte immer die gleichen Phrasen, wenn er die Anwälte seiner Kanzlei zur Schnecke machen wollte, nur das „Unsere Wege werden sich jetzt trennen müssen“ war neu. Sie war nicht wirklich traurig darüber, denn wohl hatte sie sich hier nie gefühlt. Aber frustriert war sie und zugegeben leicht verzweifelt, weil sie keine Ahnung hatte, was sie nun tun sollte, um eine neue und vor allem gut bezahlte Stelle zu finden.
„Frau Renate sagte mir, dass sie ab morgen Urlaub eingetragen haben. Nun, den können Sie jetzt ruhigen Gewissens antreten. Räumen Sie bitte gleich Ihren Schreibtisch, es ist nicht nötig, dass Sie nochmals in die Kanzlei kommen. Wir werden Ihnen alle Papiere zuschicken. Wobei ich schon betonen möchte, dass Sie kein schönes Zeugnis erwarten dürfen nach dieser mehr als zweifelhaften, ich wage sogar zu behaupten, skandalösen Leistung! Aber ich muss zugegeben, daran nicht ganz unschuldig zu sein. Ich hätte Ihnen diesen Fall nicht anvertrauen dürfen!“
Kein schönes Zeugnis, klar. Er würde dafür sorgen, dass das auch alle in Wien und um Wien herum mitbekamen. Und wenn nicht er selbst, dann die gehässige Ziege in seinem Vorzimmer.
Es gab nicht mehr viel zu sagen. Shona stolzierte hoch erhobenen Kopfes an der boshaft grinsenden Bürohexe vorbei und räumte ihren Schreibtisch.
Mit ihren wenigen persönlichen Habseligkeiten, aus der Not heraus in ein einfaches Papiersackerl gestopft, trat sie dann hinaus auf die Straße und hob das Gesicht in die schwächer werdende Nachmittagssonne. Da traf sie prompt ein Regentropfen auf der Nase, der aus einer kleinen, dunklen Wolke fiel, die sich genau über ihr festgesetzt hatte. Wie passend! Sogar das Wetter hatte sich gegen sie verschworen.
Shona beeilte sich, nach Hause zu kommen. Sie musste noch Koffer packen und ihre Mutter anrufen, um ihr sicherheitshalber nochmals die ungefähre Uhrzeit ihrer Ankunft durchzugeben. Solche alltäglichen und leider notwendigen Dinge wie fixe Termine verdrängte die kreative Seele Isobel, die ihren Lebensunterhalt mit Malen und Töpfern verdiente, nämlich sehr gerne.
Shonas Urlaub führte sie endlich wieder einmal länger in die Heimat ihrer Mutter, in den Nordosten Schottlands. Drei Wochen … oder vielleicht auch mehr. Die junge Frau mit den schottischen Wurzeln fühlte sich gerade vogelfrei und begann das völlig unerwartet zu genießen. In dem gemütlichen Cottage in der Nähe Aberdeens, das von ihrer Mutter und deren Schwester Glenna bewohnt wurde, konnte sie sich entspannen und dann in Ruhe über ihr weiteres Leben nachdenken. Pläne schmieden … Vielleicht würde sie gar nicht nach Wien zurückkehren. Eventuell ergab sich eine Möglichkeit, in Aberdeen zu arbeiten. Oder sogar in Dundee, das nur eine gute Stunde mit dem Zug entfernt lag. Sie konnte ihre Zelte auch weiter weg in Edinburgh aufschlagen und sich dort eine nette Wohnung suchen. Warum eigentlich nicht? So schwer konnte es nicht sein, mit einer schottischen Mutter eine Zulassung als Anwältin zu bekommen. Dieser spontane Einfall gefiel ihr zunehmend. Sie war ungebunden und in Österreich hielt sie nichts außer einer Handvoll guter Freunde, mit denen der Kontakt aber ohnehin immer lockerer wurde. Entweder sie gründeten eine Familie und verbrachten die meiste Zeit mit ihr oder waren im Job so eingesetzt wie Shona bis vor Kurzem selbst und ordneten dem alles andere unter.
Der schottische Teil ihres Wesens hatte stets dafür gesorgt, dass sie sich in der Heimat ihrer Mutter wohlgefühlt hatte. Als Kind war Shona in den Ferien regelmäßig und sehr, sehr gerne Gast im Haus ihrer Tante Glenna gewesen. Nach dem frühen und unerwarteten Tod von Shonas österreichstämmigem Vater war Isobel dann endgültig zu ihrer Schwester gezogen und die Besuche ihrer Tochter in den schottischen Lowlands waren studien- und arbeitsbedingt immer seltener geworden.
Das würde nun ein Ende haben! Die junge Frau schöpfte neuen Mut und begann sich auf die kommenden Tage oder Wochen oder vielleicht sogar Monate zu freuen. Sie wollte es auf sich zukommen lassen und keine überhasteten Entscheidungen treffen, denn wie sagte der Schotte so treffend:
„Wenn eine Tür zuschlägt, öffnet sich eine andere.“
Zur Einstimmung auf den Urlaub stand Shona mit einem kleinen Scottish Malt Whisky vor ihrem Kleiderschrank und überlegte angestrengt, was sie einpacken sollte. Das schottische Wetter war immer für eine Überraschung gut und zu viel war daher in diesem speziellen Fall besser als zu wenig. Vom Sommerkleid bis zum dicken Pulli, alles musste mit.
Der fast panisch klingende Anruf ihrer Mutter, die sie bis jetzt nicht erreicht hatte, erwischte Shona gerade in einer Phase der höchsten Konzentration und vielleicht war das der Grund, warum sie nicht sofort kapierte, worum es ging.
„Wie … sitzt im Keller … wer sitzt bei euch im Keller?“, unterbrach sie verwirrt Isobels aufgeregtes Gestammel.
„Shona, bitte, jetzt stell dich doch nicht so an und tu so, als wüsstest du nicht, von wem ich rede“, jammerte ihre Mutter und vermittelte ihrer Tochter völlig ungerechtfertigt das Gefühl, schwer von Begriff zu sein. Isobel redete, wie immer, wenn sie aufgeregt war, viel zu schnell. Noch dazu mischte sich dann dieses eigenwillige Doric, das in der Gegend um Aberdeen gesprochen wurde, in ihr Geplapper und dem konnte Shona mangels Übung nur mit Mühe folgen.
„Mum, ich tu nicht nur so, ich habe tatsächlich keine Ahnung, von wem du sprichst. Also bitte noch mal von vorne, langsam und in gepflegtem, verständlichem Englisch.“ Shona ließ Kleidung Kleidung sein und setzte sich mit verschränkten Beinen auf das Bett, um sich besser konzentrieren zu können. „Wer sitzt in eurem Keller und vor allem, warum?“
„Colin! Colin MacArrhan.“
Colin? Natürlich konnte Shona sich an ihren guten Freund aus Kindheitstagen erinnern, sie dachte sogar ziemlich gerne an ihn. Als Vierzehnjährige hatte sie aus der kindlichen Freundschaft heraus eine schwärmerische Schwäche für den stolzen Sohn des Lairds von Mairhead entwickelt, was sie aber niemals gezeigt hatte. Er hatte ihr den ersten Kuss „gestohlen“, und die unbeholfene, überfallsartige Zärtlichkeit des jungen Schotten hatte für immer und ewig einen ganz besonderen Platz in ihrem Herzen. Auch wenn sie ihn danach aus Unsicherheit ausgelacht hatte … Wie dumm sie gewesen war!
Dieser Kuss in Kombination mit ihrer kindischen Reaktion darauf hatte von einer Sekunde auf die andere alles verändert. Die Unbeschwertheit ihrer Freundschaft war verloren gegangen. Bis dahin hatten sie sehr viel Zeit gemeinsam verbracht und plötzlich wussten sie nichts mehr miteinander anzufangen und hatten sich gemieden. Und irgendwann hatten sie sich komplett aus den Augen verloren, ihre Wege hatten sich getrennt und in all den Jahren nicht mehr zusammengefunden.
Nun hörte Shona seit Langem das erste Mal wieder seinen Namen und der rief sofort zartes Magengrummeln und Herzflattern hervor, die sie an die verwirrenden Gefühle ihres letzten gemeinsamen Sommers erinnerten.
„Glenna und ich wussten nicht, was wir tun sollen! Es kann schon sein, dass wir etwas überreagiert haben, aber dass er gleich so schnell und heftig auf das Mittelchen anspricht, konnten wir ja nicht ahnen!“
Shonas Nackenhaare stellten sich auf. „Welches Mittelchen?“, fragte sie alarmiert und presste dabei fest die Augen zusammen, als ob sie damit eine schockierende Antwort verhindern konnte.
„Nun, du weißt ja, dass deine Tante Glenna Schlafmittel aus Kräutern mischt, und sie verkaufen sich auch sehr gut. Colin ist ein Riegel von Mann und eigentlich dachten wir, dass er zu wenig bekommen hat, aber … nun, jetzt sitzt er halt in unserem Keller, etwas apathisch … eher schlafend … ganz still.“
„Mum!“ Shona sprang panisch vom Bett und begann, hektisch durchs Zimmer zu laufen. „Wieso um Himmels willen habt ihr Colin MacArrhan in eurem Keller ein Schlafmittel eingeflößt?“
„Er wollte uns das Cottage wegnehmen, einfach so! Uns auf die Straße setzen! Er ist ja immer schon ein seltsamer Junge gewesen, aber jetzt im erwachsenen Zustand ist er offensichtlich auch noch so richtig gemein geworden!“ Isobel hörte sich an, als würde sie gleich zu weinen beginnen. „Ich habe ja nie verstanden, was du als Kind an dem gefunden hast, so ein unfreundliches Gemüt!“ Die Schottin zog leise die Nase hoch. „Und schrei mich nicht an, als hätte ich Schuld!“
„Wer sollte denn sonst schuld sein?“ Shona versuchte, sich mit tiefen, gleichmäßigen Atemzügen zu beruhigen. Vielleicht würde ein zweites Glas Whisky helfen? Aber nein, es war jetzt unbedingt notwendig, einen klaren Kopf zu behalten.
Sie musste nun die alles entscheidende Frage stellen, vor deren Antwort sie sich allerdings fürchtete. Sie war Scheidungsanwältin, verdammt, und konnte ihre Mutter und ihre Tante unmöglich wegen Körperverletzung vertreten oder … Oh nein, daran wollte sie nicht einmal denken!
„Mum, bitte, sag mir ehrlich, lebt er noch?“, flüsterte sie. Eine Weile war es still und sie befürchtete tatsächlich das Schlimmste. Dann antwortete Isobel endlich und ihre Stimme klang furchtbar gekränkt.
„Na, was denkst du wohl? Wir sind doch keine Giftmischer! Natürlich lebt er noch!“
„Und in welchem Zustand? Ich meine, wie lebendig ist er?“
„Nun, wenn er aufwacht, wird er ein bisschen müde und durcheinander sein. Und vielleicht brummt ihm der Schädel, aber das wird schon. Wir haben ihn ordentlich festgebunden, damit er nicht vom Sessel fällt und sich verletzt. Das wollen wir ja nicht.“
„Oh mein Gott“, dachte Shona nur und laut fragte sie: „Was heißt festgebunden genau?“
„Festgebunden eben. In meinem Kreativraum im Keller. Auf meinem Lieblingsstuhl, nett wie ich bin! Dort hat er es mit der Decke schön warm und wenn er später tobt, kann ihn keiner hören. Jamie im Nachbarhaus vielleicht, aber der wird im Alter immer schwerhöriger.“
Shona ließ sich aufs Bett sinken und überlegte, ob sie sich den zweiten Whisky doch gleich einschenken sollte. Diesen Drang, verwirrende oder besser gesagt verstörende Neuigkeiten mithilfe eines guten schottischen Tropfens zu verarbeiten, hatte sie eindeutig von ihrer Verwandtschaft mütterlicherseits geerbt.
„Ich fasse zusammen: Ihr habt Colin MacArrhan, warum auch immer, mit einem Schlafmittel betäubt, ihn in den Keller geschleppt und dort auf deinem Lieblingssessel angebunden. Geknebelt?“
„Nein, doch nicht geschleppt, wie hätten wir zwei schwache Frauen das schaffen sollen? Er ist natürlich selbst gegangen.“
Shona fragte lieber nicht nach, wie sie den angeblichen Riegel von einem Mann dazu gebracht hatten, freiwillig in den Keller zu gehen.
„Geknebelt nicht, aber du hast recht, das hätten wir wohl tun sollen. Ich werde gleich mit Glenna hinuntergehen, sicherheitshalber“, fuhr Isobel nachdenklich fort.
„Nein!“ Shona brüllte so laut ins Telefon, dass sie selbst erschrak. „Ihr werdet ihn natürlich nicht knebeln. Ihr werdet ihn sofort freilassen und euch entschuldigen. Oder besser, gebt ihn mir, lasst mich mit ihm reden. Ich erkläre ihm, dass ihr beide vollkommen gaga seid und nicht wisst, was ihr tut!“
„Also Shona, jetzt hör aber auf! Du weißt genau, dass wir nicht verrückt sind! Das war reine Notwehr und auch wenn sich das vielleicht für dich nicht so anhört, sehr gut überlegt. Du bist Anwältin, du musst das doch verstehen!“, wehrte sich Isobel trotzig. „Und außerdem ist er ja noch gar nicht ansprechbar.“
„Genau, ich bin Anwältin und stehe damit offensichtlich neuerdings auf der anderen Seite des Gesetzes als Tante Glenna und du. Es ist nämlich verboten, Menschen zu betäuben, zu fesseln und im Keller einzusperren! Klar?“
„Auch wenn sie so richtig gemein sind und uns unser Heim wegnehmen wollen? Was übrigens auch dein Heim ist!“
„Ja, leider auch dann!“, bekräftigte Shona.
„Du musst das in Ordnung bringen. Wenn du morgen kommst, musst du das mit ihm klären. Ihr wart befreundet, du schaffst das.“
„Ihr müsst ihn freilassen, Mum! Und außerdem liegt unsere Freundschaft sehr lange zurück, der wird sich nicht mal mehr an mich erinnern, geschweige denn sich von mir besänftigen lassen. Wir hatten in den letzten Jahren überhaupt keinen Kontakt mehr.“
„Wir können ihn nicht gehenlassen, er würde uns sofort die Polizei auf den Hals hetzen. Wir werden auf dich warten“, beschloss Isobel. „Wenn wir Glück haben, schläft er die Nacht brav durch. Und sonst dosieren wir einfach nach.“
„Einen Teufel werdet ihr tun, ich warne euch! Ihr könnt ihn nicht einfach im Keller sitzen lassen, wahrscheinlich vermisst ihn schon jemand! Ehefrau, Freundin, Kinder … was weiß ich!“, rief Shona empört. „Und ich habe immer noch nicht verstanden, warum genau das Theater?“
„Nun, er kam vorbei, um uns einfach so mitzuteilen, dass er den Pachtvertrag nicht mehr verlängern möchte. Da haben wir möglicherweise etwas überreagiert, aber wo sollen wir denn hin? Deine Tante Glenna und ich dachten, wenn er lange genug in unserem Keller sitzt, unterschreibt er einen Vertrag, in dem er uns das lebenslange Wohnrecht überträgt, das dann vielleicht gleich auf dich übergeht, falls du das möchtest. So eine kleine Entführung kann doch nicht schaden … Und vermissen wird ihn niemand, da musst du dir keine Sorgen machen. Er lebt seit seiner Rückkehr nach dem Tod des Vaters allein mit dem Butler und der Haushälterin und hat weder Frau noch Kinder. Und gutes Personal fragt selbstverständlich nicht nach, wenn der Herr in der Nacht auswärts schläft.“
Shona fehlten die Worte. Diese kriminelle Energie hätte sie den beiden gar nicht zugetraut. Aber abgesehen davon, war das eine der blödesten Ideen, die sie jemals gehört hatte.
„Das ist keine kleineEntführung, sondern eine große Freiheitsberaubung. Und dafür kommt ihr ins Gefängnis“, brummte sie grantig. Verdammt, die Sache war ernst. Sie musste sich konzentrieren und eine Lösung finden. So schwer es ihr fiel, ihre Mutter hatte recht, Colin nach dem Aufwachen einfach freizulassen, war tatsächlich keine gute Idee. Und wenn sie dann mit ihm telefonierte, was vermutlich sowieso keinen Erfolg bringen würde, machte sie sich auch noch mitschuldig. Eigentlich war sie verpflichtet, sofort die Polizei zu alarmieren.
„Okay, ihr behaltet Colin bei euch. Wenn er aufwacht, gebt ihm zu essen und zu trinken und wartet, bis ich da bin. Führt keine Diskussionen mit ihm und spielt in eurem eigenen Interesse verrückt! Lasst keinen Fremden ins Haus … besser, gar niemanden! Benehmt euch wie kleine Kinder, singt und tanzt ihm etwas vor, was auch immer, zeigt ihm, wie durchgeknallt ihr seid. Das wird euch vor dem Richter helfen, wenn er euch anzeigt.“ Und Shona zweifelte nicht daran, dass das passierte. Warum auch nicht. Kein Mensch ließ sich gern betäuben und im Keller festbinden.
„Ich werde ihm sicher nichts vorsingen und tanzen schon gar nicht. Vergiss es, ich bin nicht verrückt!“, trotzte Isobel, „und deine Tante Glenna ist ebenso klar im Kopf!“
Daran zweifelte Shona zunehmend. Gedanklich bereitete sie längst die Verteidigung vor, deren zentraler Punkt der labile Geisteszustand der beiden älteren Damen sein würde.
Sie seufzte aus tiefster Seele und flüsterte ein letztes eindringliches „Bitte, macht ein einziges Mal das, was ich euch sage“, ins Telefon. „Und achtet gut auf ihn, damit er nicht verhungert oder verdurstet.“
„Ach, Blödsinn, so schnell verhungert man nicht, und der gute Laird verfügt sowieso über ein kleines Wohlstandsbäuchlein. Der hält das bisschen Fasten schon durch“, widersprach ihre Mutter und legte einfach auf.
Shona starrte auf ihr Telefon, als wäre es eine Giftschlange. Kurz überlegte sie, ob sie nochmals anrufen sollte, ließ es dann aber. Egal, was sie sagte, die beiden Frauen würden sowieso machen, was sie wollten. Sie konnte nur darauf vertrauen, dass die Ängstlichkeit ihrer Tante Glenna die beiden davon abhielt, weiteren Blödsinn anzustellen.
Vielleicht würde Colin angesichts zweier leicht durchgeknallter Damen in den Sechzigern nicht ganz so zornig sein. Was ein frommer Wunsch war, denn er hatte allen Grund dazu! Und wie er sich dann benehmen würde, konnte sie nicht wissen. Dafür war zu viel Zeit vergangen. Sie hatte keine Ahnung, was aus dem zeitweise so grummeligen und ernsthaften Jungen von damals geworden war, und konnte ihn daher nicht einschätzen.
Egal, wie sie es drehte und wendete, es war eine mehr als unangenehme Situation, aus der es nur schwer einen Ausweg geben würde.
Der Flieger von Wien nach Frankfurt hatte mit einer beachtlichen Verspätung abgehoben und Shona hatte in letzter Minute gerade noch den Anschlussflug nach Aberdeen erwischt. Glücklicherweise traute sie den Flugplänen aus Prinzip nicht und hatte daher ein ordentliches Sicherheitspolster einkalkuliert.
Nun saß sie müde im Bus und beobachtete mit halbgeschlossenen Augen die vorbeiziehende, trotz ihrer längeren Abwesenheit vertraute Landschaft. Es war bereits Abend und in den verstreuten Dörfern, die sie gemächlich durchfuhren, gingen nach und nach die Lichter an. Das Geplauder der anderen Fahrgäste im Bus, von denen sich die meisten nach der Arbeit auf dem Heimweg befanden, wirkte einschläfernd auf Shona und sie hatte große Mühe, die Augen offenzuhalten. Sie wollte sich nichts von der dank zahlreicher Stopps fast einstündigen Busfahrt entgehen lassen, weil sie sich trotz allem sehr freute, wieder mal in Schottland zu sein.