Der Notarzt 402 - Karin Graf - E-Book

Der Notarzt 402 E-Book

Karin Graf

0,0
1,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Seit beinahe sechs Jahren trägt die dreiundzwanzigjährige Vicky ein Geheimnis mit sich herum: Sie hat ihrem Exfreund Oskar nie verraten, dass sie von ihm schwanger war und sein Kind zur Welt gebracht hat. Der jungen Frau wurde es damals verboten, ihre große Liebe jemals wiederzusehen. Doch vergessen hat sie ihn nie.
Als sich Vicky nun, so viele Jahre später, die Chance bietet, aus dem heimischen Käfig auszubrechen, beschließt sie, zusammen mit ihrer Tochter Leyla nach Frankfurt zu fahren. Dort arbeitet Oskar inzwischen als Arzt an der Frankfurter Sauerbruch-Klinik. Leyla soll endlich ihren Papa kennenlernen, und wer weiß - vielleicht ist in seinem Herzen ja auch noch Platz für die beiden?
Doch die Reise nach Frankfurt wird für Vicky zu einem Albtraum, schlimmer, als sie es sich jemals hätte vorstellen können. Die kleine Leyla wird am Hauptbahnhof entführt und bleibt zunächst unauffindbar ...


Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 116

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Cover

Die verlorene Tochter

Vorschau

Impressum

Die verlorene Tochter

Arztroman um ein kleines Mädchen und seine verzweifelte Mutter

Karin Graf

Seit beinahe sechs Jahren trägt die dreiundzwanzigjährige Vicky ein Geheimnis mit sich herum: Sie hat ihrem Exfreund Oskar nie verraten, dass sie von ihm schwanger war und sein Kind zur Welt gebracht hat. Der jungen Frau wurde es damals verboten, ihre große Liebe jemals wiederzusehen. Doch vergessen hat sie ihn nie.

Als sich Vicky nun, so viele Jahre später, die Chance bietet, aus dem heimischen Käfig auszubrechen, beschließt sie, zusammen mit ihrer Tochter Leyla nach Frankfurt zu fahren. Dort arbeitet Oskar inzwischen als Arzt an der Frankfurter Sauerbruch-Klinik. Leyla soll endlich ihren Papa kennenlernen, und wer weiß – vielleicht ist in seinem Herzen ja auch noch Platz für die beiden?

Doch die Reise nach Frankfurt wird für Vicky zu einem Albtraum, schlimmer, als sie es sich jemals hätte vorstellen können. Die kleine Leyla wird am Hauptbahnhof entführt und bleibt zunächst unauffindbar ...

»Wundhaken einsetzen und schön fest auseinanderziehen«, ordnete Dr. Peter Kersten, der Leiter der Notaufnahme der Frankfurter Sauerbruch-Klinik, an. »Aber natürlich nicht so fest, dass das Gewebe reißt«, fügte er sicherheitshalber noch hinzu.

Vor ihm auf dem OP-Tisch lag der einunddreißigjähriger Matthis Berger, der auf der Landstraße zwischen Bad Homburg und Heddernheim mit seinem Motorrad verunglückt und mit dem Rettungshubschrauber in die Notaufnahme der Sauerbruch-Klinik gebracht worden war.

Das wie aufgeblasen wirkende Abdomen des Patienten ließ auf innere Blutungen schließen, und der stetig sinkende Blutdruck sowie die miserablen Sauerstoffwerte erhärteten diese Diagnose zusätzlich.

Peter warf seinem neuen Praktikanten einen heimlichen Blick zu. Er konnte ihm ansehen, wie viel Respekt er vor dieser Aufgabe hatte und wie vorsichtig er sie ausführte.

Oskar Frankenberg war dreiundzwanzig Jahre alt und hatte den theoretischen Teil seines Medizinstudiums vor wenigen Wochen abgeschlossen. Jetzt fehlte ihm nur noch das einjährige Praktikum, das ihn durch alle Abteilungen des Krankenhauses führen sollte, um Erfahrungen auf allen medizinischen Gebieten zu sammeln.

Während dieses Jahres würde er von den Oberärzten der diversen Stationen gefordert, beobachtet und abschließend beurteilt werden im Hinblick darauf, ob er auch tatsächlich zum Arzt taugte oder eher nicht.

Die meisten Praktikanten wollten es lieber erst einmal langsam und gemütlich angehen lassen. Die Hals-Nasen-Ohren-Abteilung war diesbezüglich sehr beliebt. Auch die Kinderstation oder die Dermatologie.

Auf diesen Stationen kam es so gut wie nie zu heiklen Zwischenfällen, bei denen es um Sekunden ging und eine einzige falsche Entscheidung oder ein falscher Handgriff den Tod eines Patienten bedeuten konnten.

Oskar hatte jedoch beschlossen, gleich kopfüber ins kalte Wasser zu springen. Er hatte sich für die Notaufnahme, die stressigste Abteilung mit den härtesten Arbeitsbedingungen im ganzen Krankenhaus, entschieden.

Peter war noch nicht ganz sicher, was hinter dieser Entscheidung steckte. Mut? Selbstsicherheit? Selbstüberschätzung? Größenwahn? Tollkühnheit? Oder stimmte vielleicht, was Oskar ihm zur Erklärung gesagt hatte?

Ich möchte möglichst sofort herausfinden, ob ich zum Arzt geboren bin oder nicht. Das waren seine Worte gewesen. Wenn ich in der Notaufnahme versage, dann entscheide ich mich lieber gleich für einen medizinischen Beruf, bei dem ich nicht auf kranke Menschen losgelassen werde. In der Forschung, im Labor oder hinter dem Schreibtisch irgendeines Amtes. Das wäre dann zwar eine große Enttäuschung für mich, aber mit der Gewissheit, einen Menschen umgebracht zu haben, könnte ich nicht weiterleben.

Wenn er seine Worte aufrichtig gemeint hatte, dann war das in Peters Augen eine Einstellung, die er nur bewundern konnte. Alles oder nichts. Keine halben Sachen. Genauso hielt auch er es mit fast allem im Leben.

Als der Chefarzt ihm Oskar vorgestellt hatte, hatte Peter einen Anflug von Vorurteilen verspürt. Der attraktive junge Mann war komplett in schwarzes Leder gekleidet gewesen, und seine dunkelblonden Locken waren ihm weit bis über die Schultern hinabgefallen. Im rechten Ohrläppchen hatte er einen goldenen Ring und im linken Nasenflügel einen goldenen Knopf getragen.

Er hatte nicht gerade so ausgesehen, wie man sich einen Arzt vorstellte. Und Peter hatte im Laufe der Jahre keine allzu guten Erfahrungen mit den wahnsinnig coolen Typen gemacht, für die das Leben total easy war, weil sie alles auf die leichte Schulter nahmen. Alles außer sich selbst.

Aber irgendetwas war an Oskar Frankenberg gewesen, das Peters Interesse geweckt und seine anfänglichen Bedenken zerstreut hatte.

Außerdem hatte eine einzige Bemerkung über ältere Patienten, denen er mit seiner äußeren Erscheinung möglicherweise Angst machen könnte, gereicht. Gleich am nächsten Morgen war Oskar mit einem gepflegten Kurzhaarschnitt, mit Jeans und einem dezenten T-Shirt zum Dienst erschienen.

»Ähm ... Peter?« Oberschwester Nora deutete nur mit den Augen auf den neuen Praktikanten, der jetzt gleich damit beginnen würde, die Wundränder zu dehnen. Sie wusste, was dann kommen würde. Peter wusste es auch. Aber er hatte nicht die Absicht, den jungen Mann vorzuwarnen.

»Schon gut«, sagte er, schüttelte den Kopf und blinzelte der Oberschwester zu. »Jens, mach dich mit dem Sauger bereit, und Nora, ich denke, wir werden mehrere Gefäßklemmen brauchen.«

Inzwischen war es Oskar gelungen, die Wundhaken so einzusetzen, dass sie alle Gewebeschichten zugleich erfassten. Er begann zu ziehen, und augenblicklich schoss das aufgestaute Blut, das bisher von der Bauchdecke zurückgehalten worden war, mit Druck durch die Operationswunde und ergoss sich über den angehenden Mediziner.

Sein bodenlanger OP-Kittel war von der Brust bis zu den Füßen mit Blut besudelt. Ein Blick nach unten zeigte Peter, dass ein guter Teil davon durch die nur locker sitzenden papierenen Schuhüberzieher gedrungen war und Oskars ehemals weiße Socken sich rot färbten.

»Peter!« Die Oberschwester schüttelte missbilligend den Kopf. Sie konnte nicht verstehen, warum der Leiter der Notaufnahme den attraktiven jungen Mann nicht vorgewarnt hatte.

Peter schaute den angehenden Mediziner von der Seite an. Oskar war nicht einmal nennenswert zusammengezuckt, und er hatte die Wundhaken keine Sekunde lang losgelassen.

»Daran hätte ich denken müssen, ich Tollpatsch«, murmelte er verlegen und fuhr unbeirrt damit fort, den Einschnitt zu erweitern.

Der Notarzt hatte schon Praktikanten erlebt, die nach einem solchen Zwischenfall ihre Instrumente fallen gelassen hatten und schreiend aus dem OP gerannt waren, um zu duschen und sich umzukleiden. Das war natürlich eine verständliche Reaktion, für einen Arzt jedoch untragbar. Ein Arzt hatte in erster Linie an seinen Patienten zu denken und nicht an sich selbst.

»Erster Test mit Bravour bestanden«, murmelte er fast unhörbar unter seinem Mundschutz.

»Kollege Kersten, du bist ein hinterhältiges Schlitzohr«, sagte der Anästhesist schmunzelnd, der auf einem Hocker am Kopfende des OP-Tischs saß und vor sich eine Wand aus Bildschirmen hatte, die ihn über die Vitalparameter des Patienten auf dem Laufenden hielten.

»Gut so, Herr Kersten?« Oskar schaute den Notarzt fragend an. »Noch weiter traue ich mich nicht zu ziehen. Ich habe Angst, dass etwas reißen könnte.«

»So ist es perfekt, mein Junge«, erwiderte der Notarzt. »Jens, absaugen, Nora, die Gefäßklemmen!«

Als Jens Jankovsky, der fast zwei Meter große junge Sanitäter der Notaufnahme, das Abdomen so einigermaßen vom Blut befreit hatte, verschaffte Peter sich einen raschen Überblick.

»Die Leberarterie ist glatt durchgerissen, und in der Milz ist ein langer Riss.« Mit geübten Griffen klemmte er rasch die betreffenden Blutgefäße ab. »Au, verdammt, da kommt auch noch von woandersher Blut nach.«

»Von der Arteria renalis, glaube ich«, mutmaßte Oskar nach einem Blick in das offene Abdomen.

»Die Nierenarterie. Bravo! Ich sehe es schon. Sie hatten völlig recht.« Peter klemmte auch dieses Gefäß ab, und der Blutstrom ins offene Abdomen versiegte.

Schwester Annette, die bei diesem Eingriff als Springerin fungierte und von drinnen nach draußen wechseln konnte, wenn etwas gebraucht wurde, ohne dabei auf Sterilität achten zu müssen, kam mit einem Wischmopp.

»Achtung, alle mal kurz die Füße heben. Aber immer nur einen, damit keiner umfällt«, scherzte sie und wischte das Blut vom Boden unter dem OP-Tisch, damit niemand darin ausrutschen konnte.

»Tut mir leid«, entschuldigte Oskar sich bei ihr für die zusätzliche Arbeit, die er ihr seiner Meinung nach aufgebürdet hatte.

»Das wäre so oder so passiert«, erwiderte die junge Pflegerin freundlich. »Sie haben mir sogar Arbeit erspart, indem sie den Großteil des Bluts mit Ihrem Körper aufgefangen haben.«

»Ach ja?« Oskar seufzte erleichtert auf. »Wenn das so ist, dann habe ich es gerne gemacht«, scherzte er zurück.

»Habt ihr bald mal alles abgedichtet, ihr Pfeifen?«, grummelte Hannes Fischer, der sechzigjährige Anästhesist. Er erhob sich von seinem Hocker, um einen leeren Infusionsbeutel, der Spenderblut enthalten hatte, gegen einen vollen auszutauschen. »Ich komme ja kaum damit nach, oben den roten Saft einzufüllen, der weiter unten wieder rausrinnt, während ihr euch amüsiert.«

»Immer mit der Ruhe, Hannes«, erwiderte Peter. »Es ist bereits alles dicht. Seine Werte müssten sich bald etwas bessern.«

»Großartig!« Dr. Fischer verdrehte die Augen. »Vielleicht könnten die Herren sich dann langsam dazu bequemen, dafür zu sorgen, dass es auch so bleibt?«

»Ich sehe gerade, dass das einen Haufen Arbeit bedeutet«, murmelte Peter nachdenklich. »Zwei Arterien, die Milz, ein Haufen Schürfwunden, die chirurgisch versorgt werden müssen, und dann auch noch das gebrochene Schienbein, das genagelt werden muss. Das dauert alles in allem mindestens drei, vermutlich eher vier Stunden, und ich müsste unbedingt vor fünf noch einen wichtigen Anruf erledigen.«

Er warf Oskar einen Blick zu.

»Könnten Sie schon mal alleine anfangen, und ich komme in einer, spätestens zwei Stunden wieder zurück?«

Es klang, als ob ein kräftiger Herbstwind durch den OP fegen würde, als alle Anwesenden zugleich zischend die Luft einsogen. Oskar erstarrte vor Schreck.

»Nein, Herr Kersten!«, erwiderte er mit fester Stimme. »Das würde ich nicht schaffen. Zumindest nicht fehlerfrei. Nein, das kann ich nicht. Dazu bin ich noch lange nicht gut genug.«

»Eine Weigerung würde sich aber nicht besonders gut in Ihrem Kursbuch machen«, gab Peter zu bedenken.

Oskar zuckte mit den Schultern.

»Das muss ich dann wohl so hinnehmen. Lieber eine negative Beurteilung als ein toter Patient.«

Peter schmunzelte zufrieden unter seinem Mundschutz. Auch diesen Test hatte der junge Kollege hiermit bestanden.

»Dann halt nicht«, seufzte er gespielt frustriert. »Dann fangen wir also jetzt damit an, die Milz zu entfernen.«

»Entfernen?« Oskars Augen weiteten sich. »Aber man kann sie doch nähen oder kleben.«

»Wozu denn die Arbeit?«, fragte Peter kopfschüttelnd. »Die Milz ist wie der Blinddarm ein unnötiges Organ, das keinem abgeht, wenn es weg ist.«

»Das stimmt doch gar nicht«, brauste Oskar erschrocken auf. »Die Milz ist für ein gut funktionierendes Immunsystem unerlässlich. Der Mann ist noch jung. Bitte, tun Sie ihm das nicht an!«

Peter lachte laut auf.

»Alle Prüfungen bestanden, Sie Grünschnabel. Willkommen in unserem Team!«

»Sie ... Sie haben mich nur auf die Probe gestellt?«

»Sicher. Glauben Sie wirklich, ich würde Sie alleine operieren lassen oder die Gesundheit des Patienten willentlich gefährden, indem ich ihm ohne zwingende Notwendigkeit ein wichtiges Organ entnehme?«

»In manchen Kliniken wird beides genau so gehandhabt«, gab Oskar leise zurück.

»Ich weiß.« Peter nickte. »Aber nicht hier bei uns. Sie werden einmal einen fabelhaften Arzt abgeben, Oskar. Jetzt bin ich mir dessen ganz sicher. Ich wollte einfach nur gleich wissen, ob die Mühe, Sie auszubilden, sich lohnt.«

»Soll ich euch vielleicht eine Pizza und ein Bier in den OP kommen lassen?«, unkte Dr. Fischer. »Dabei plaudert es sich doch bestimmt gleich noch viel gemütlicher, oder? Und lasst euch nicht davon stören, dass die Sauerstoffwerte des Patienten im Ar... im Eimer sind. Macht ja nichts.«

»Er knurrt gerne, aber er beißt nicht«, klärte Peter seinen Praktikanten schmunzelnd auf. »Skalpell und Schere, bitte, Nora«, verlangte er dann und machte sich unverzüglich daran, die Rissflächen in der Milz von Gewebefetzen und Unebenheiten zu befreien. »Du kannst schon mal den Gewebekleber und ein resorbierbares Kunststoffnetz vorbereiten.«

»Habe ich längst«, erwiderte die Oberschwester.

»Gut! Gib Oskar einen Tupfer, damit er die Schnittflächen trocknen kann. Oder traust du dir das auch nicht zu, Grünschnabel?«

Oskar lachte leise und nahm von der Oberschwester die Zange entgegen, in die sie einen Tupfer geklemmt hatte.

»Doch, das kann ich. Für niedere Dienste bin ich durchaus schon zu gebrauchen, Herr Kersten.«

»Peter, bitte. Wenn ich dich duze, kannst du das natürlich auch tun, Kollege.«

Alle konnten sehen, wie sich Oskars Gesicht um den Mundschutz herum rot färbte und seine Augen vor Freude und Stolz zu funkeln begannen.

»Danke, Peter«, erwiderte er leise. Und als der Notarzt einen Schritt zur Seite trat, nahm er dessen Platz ein und machte sich mit Feuereifer, mit völlig ruhigen Händen und gerade der richtigen Portion Selbstvertrauen ans Werk.

***

Zur selben Zeit in Berlin ...

Victoria Hayek hatte das Gefühl, gleich einen Schreikrampf zu bekommen, wenn sie sich nur noch eine einzige dieser heuchlerischen Beileidsbekundungen anhören musste. Der Kopf brummte ihr bereits von den vielen Lügen.

Er war so ein guter Mensch, Ihr Vater. Es ist nicht gerecht, dass immer die Guten so früh gehen müssen. Ich habe Ihre Mutter über alle Maßen geschätzt und bewundert. Sie haben einen schrecklichen Verlust erlitten. Beide lieben Eltern auf einmal. Was für ein Unglück! Wir alle werden Ihre Eltern schrecklich vermissen.

Vicky spürte, wie sich das Brummen in ihrem Kopf langsam zu einer handfesten Migräne zusammenzuballen drohte. Sie musste raus hier, ehe sie durchdrehte.

Aber wie hätte sie einfach gehen können? Sie hatte doch gerade erst die Beerdigung ihrer Eltern hinter sich gebracht.

Seit einer halben Stunde saß sie nun schon mit geschätzten fünfzig Leuten in einem Extraraum des noblen Restaurants Zum goldenen Kalb und schaute dabei zu, wie die Trauergäste – die Hälfte von ihnen hatte sich selbst eingeladen und ihre Eltern vermutlich nicht einmal persönlich gekannt – sich die Bäuche vollschlugen und so viel von dem teuren und vor allem kostenlosen Wein wie nur möglich in sich hineingossen.

Ihre Mutter war ja fast eine Heilige. Alle haben sie geliebt. Ein Jammer, dass Ihre lieben Eltern so plötzlich mitten aus dem Leben gerissen wurden. Autounfall, wie schrecklich. Aber wenigstens waren sie zusammen. Sie haben sich doch so sehr geliebt.

Vicky schluchzte laut auf. Eigentlich hatte sie lachen müssen, doch es war ihr gerade noch gelungen, den völlig unpassenden Heiterkeitsausbruch noch schnell in ein Schluchzen zu verwandeln.

Die beiden und sich geliebt? Das war ja wohl wirklich der Witz des Jahrhunderts. Sie dachte daran, wie ihre Eltern sich immer gezankt hatten. Er war ein Tyrann und ein übler Besserwisser gewesen, sie eine ewig leidende und nörglerische Schreckschraube.