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Sowohl die dreiundzwanzigjährige Dora Kaufmann als auch der unwesentlich ältere Aaron Benning sind ein wenig aufgeregt, als sie sich auf den Weg zur Frankfurter Sauerbruch-Klinik machen. Beide sollen heute als neue Assistenzärzte des renommierten Krankenhauses anfangen.
Doch während die meisten Neulinge es schön finden, einen ebenso unerfahrenen "Leidensgenossen" zu haben, mit dem sie sich austauschen können, steht die erste Begegnung zwischen Dora und Aaron gleich unter einem schlechten Stern. Und bei diesem ersten schlechten Eindruck bleibt es nicht. Wann immer die jungen Assistenzärzte zusammentreffen, ist die Stimmung angespannt. Dora behandelt ihren Kollegen mit äußerster Verachtung, und Aaron hält sie für eine eingebildete Zicke. Dabei gibt es einen Teil in ihm, der die hübsche Frau durchaus anziehend findet
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Seitenzahl: 112
Veröffentlichungsjahr: 2023
Cover
Liebe auf den zweiten Blick
Vorschau
Impressum
Liebe auf den zweiten Blick
Alles begann in der Notaufnahme
Karin Graf
Sowohl die dreiundzwanzigjährige Dora Kaufmann als auch der unwesentlich ältere Aaron Benning sind ein wenig aufgeregt, als sie sich auf den Weg zur Frankfurter Sauerbruch-Klinik machen. Beide sollen heute als neue Assistenzärzte des renommierten Krankenhauses anfangen.
Doch während die meisten Neulinge es schön finden, einen ebenso unerfahrenen »Leidensgenossen« zu haben, mit dem sie sich austauschen können, steht die erste Begegnung zwischen Dora und Aaron gleich unter einem schlechten Stern. Und bei diesem ersten schlechten Eindruck bleibt es nicht. Wann immer die jungen Assistenzärzte zusammentreffen, ist die Stimmung angespannt. Dora behandelt ihren Kollegen mit äußerster Verachtung, und Aaron hält sie für eine eingebildete Zicke. Dabei gibt es einen Teil in ihm, der die hübsche Frau durchaus anziehend findet ...
Sie zuckten beide zusammen, als direkt neben ihnen ein heftiger Knall ertönte.
Quentin von Thunwitz duckte sich hinter dem Steuer und schützte seinen Kopf mit beiden Händen. Sein Fuß rutschte vom Kupplungspedal, und der feuerrote Ferrari machte einen kleinen Hüpfer nach vorne, ehe der Motor erstarb.
Erst als er ganz sicher war, dass er sich nicht in Lebensgefahr befand, warf er seiner Verlobten auf dem Beifahrersitz einen besorgten Blick zu.
»Bist du in Ordnung, Theodora? Was war das denn jetzt?«
Die bildhübsche dreiundzwanzigjährige Theodora Kaufmann lachte und deutete zu dem verbeulten alten Wagen, der mit Hunderten Rostflecken zwischen dem ehemals grünen oder braunen Lack neben Quentins Ferrari wie eine verfaulte Kartoffel auf Rädern aussah.
»Es war bloß das ulkige kleine Ding, das hier nebenan eingeparkt hat. Eine Fehlzündung. Hattest du denn Angst um dein Leben, Liebling?«
»In meiner Position muss man stets mit dem Schlimmsten rechnen«, erwiderte er ein bisschen geschraubt. »Erst vor wenigen Wochen wurde ein amerikanischer Kollege von mir von einer Autobombe zerfetzt. Tot! So etwas könnte mir jederzeit auch passieren.«
»Ein Kollege? Das tut mir leid. Kanntest du ihn sehr gut? Warst du mit ihm befreundet?«
»Ich kannte ihn nicht persönlich. Er war der Direktor einer internationalen Großbank. Aber in Zeiten wie diesen, wenn die Preise steigen, manche Banken pleitegehen und die kleinen Leute Angst um ihren jämmerlichen Notgroschen haben, lassen sie gerne mal ihre Wut an uns aus.«
Darauf wollte Dora, wie ihre Freunde sie nannten, nichts erwidern. Was hätte sie auch sagen sollen? Dass Quentin überhaupt kein Banker war? Sein Vater, ja, der war der Besitzer einer internationalen Privatbank, die den Superreichen dabei half, ihren Superreichtum vor dem Finanzamt in Sicherheit zu bringen.
Quentin jedoch war von Beruf Sohn. Sonst nichts. Der Versuch, in die Bank seines Vaters einzusteigen, war nach nur einer Woche kläglich gescheitert. Er hatte keine Lust darauf, täglich frühmorgens aufzustehen und länger als zehn Minuten in einem Büro zu sitzen. Zu irgendeinem anderen Broterwerb hatte er es trotz seiner sechsunddreißig Jahre bislang noch nicht gebracht.
Wozu auch? Er stammte aus einer der reichsten Familien des Landes und brauchte bloß mit den Fingern zu schnippen, wenn er ein neues Luxusauto, eine Yacht oder eine Villa in der Karibik haben wollte.
Es hatte sie auch ein bisschen verstört, dass er bei dem Knall zuallererst an seine eigene Sicherheit und erst sehr viel später an ihre gedacht hatte. Ebenso missfiel ihr sein ständiges Gerede über die kleinen Leute.
Dora stammte von sogenannten kleinen Leuten ab. Sie kam aus einer Arbeiterfamilie, fühlte sich deswegen aber noch lange nicht klein oder weniger wert als Quentin und seine hochwohlgeborenen Vorfahren.
Es gab immer mal wieder Kleinigkeiten, die ihr an ihm missfielen. Doch darüber wollte sie sich keine tieferen Gedanken machen, denn sie hatte Angst, ihn dann nicht mehr lieben zu können oder sich vielleicht sogar selbst dabei zu ertappen, dass sie ihn nie wirklich geliebt hatte. Zumindest nicht so, wie es sein sollte.
Sie hatte Quentin vor rund einem Jahr auf der Uni kennengelernt. Wenn ihn jemand fragte, was er beruflich machte, dann bezeichnete er sich entweder als Banker oder als Medizinstudent.
Während Dora ihr Medizinstudium in der schnellstmöglichen Zeit durchgezogen hatte und heute ihre Ausbildung zur Fachärztin für Kinderheilkunde als Assistenzärztin hier an der Frankfurter Sauerbruch-Klinik beginnen durfte, hatte er sich bloß immatrikuliert und besuchte seit mehr als fünfzehn Jahren gelegentlich eine Vorlesung, ohne sich wirklich für die Medizin zu interessieren.
Er hatte noch nie auch nur eine einzige Prüfung abgelegt.
Jeder andere Studierende, der sich so verhielt, wäre längst der Universität verwiesen worden. Vermutlich bezahlte Quentins Vater enorme Summen dafür, dass sein ältester Sohn sich wenigstens als Student ausgeben konnte, wenn er sonst schon nichts vorzuweisen hatte.
All das war Theodora bewusst. Sie wusste oder ahnte zumindest, dass Quentin völlig frei von jeglichem Talent war. Sie wusste, dass er faul war und sich auf den Lorbeeren seiner Vorfahren ausruhte. Und um ganz ehrlich zu sein, war er noch nicht einmal besonders charmant, klug oder humorvoll.
Es waren sein Auftreten, sein Äußeres und sein Lebensstil gewesen, die sie fasziniert hatten. Seine Welt stand in einem krassen Gegensatz zu der Welt, aus der sie kam.
In ihrem Elternhaus hatten Verzicht und Sparsamkeit immer an oberster Stelle gestanden. Brauchte sie ein neues Kleid oder neue Schuhe, stand ein kostspieliger Ausflug mit ihrer Schulklasse bevor, dann hatten ihre Eltern den Gürtel für eine Weile enger geschnallt und auf jeglichen Luxus verzichtet.
Wobei »Luxus« in ihrer Welt weder Fernreisen, Villen noch Sportflitzer bedeutete, sondern einen Kinobesuch, einen Sonntagsbraten oder einen Wochenendausflug ins Grüne.
Und doch liebte sie ihre Familie von ganzem Herzen, während Quentin an seiner ständig herumnörgelte und die gelegentlichen Familienzusammenkünfte so steif und unpersönlich abliefen, dass Dora immer schon nach wenigen Minuten innerlich zu frieren begann.
Als sie die Beifahrertür öffnete, stieg nebenan gerade ein junger Mann aus der verbeulten Blechkartoffel.
»Sorry, wenn ich euch erschreckt habe, Leute.« Er lachte und kleine Goldpünktchen blitzten in seinen braunen Augen übermütig auf. »Mein Auto ist ein ungezogenes kleines Miststück, das ungeniert rülpst und furzt.«
Er fuhr sich mit fünf Fingern durch das zerzauste dunkle Haar, das die gleiche Farbe wie Doras lange Haare hatte.
»Ich hoffe, wenn ich es in zwanzig oder dreißig Jahren bis zum Oberarzt schaffe, kann ich mir mal ein richtiges Auto leisten«, fügte er lachend hinzu. Er deutete mit dem Kinn auf Quentins Ferrari. »Für so ein Ding müsste ich allerdings erst mindestens Chefarzt werden, im Lotto gewinnen oder eine Bank überfallen, fürchte ich.«
»Sie sind ...«
Theodora hatte ihn fragen wollen, ob er denn Arzt und schon länger hier an der Sauerbruch-Klinik beschäftigt sei. Doch Quentin, der nun ebenfalls ausgestiegen war, hinderte sie daran.
»Es ist sechs Minuten vor sieben Uhr! Du solltest dich beeilen, wenn du an deinem ersten Arbeitstag pünktlich sein möchtest, Theodora!«
»Theodora? Theodora Kaufmann?« Der junge Mann mit dem wirren Haar, den löchrigen Jeans und dem weit offenen Hemd lächelte breit, als sie nickte. »Dann sind wir ja Kollegen. Ich heiße Aaron. Aaron Benning. Du fängst doch auch heute in der Notaufnahme an, oder? Dr. Kersten hat mir deinen Namen genannt.«
»Ja, ich ...«
»Würden Sie bitte davon Abstand nehmen, meine Verlobte zu duzen!«, herrschte Quentin ihn an. »Hatten Sie denn keine Kinderstube, guter Mann?«
»Nee, hatte ich leider nicht!« Aaron Benning schüttelte lachend den Kopf. »Ich bin in einer winzigen Dreizimmerwohnung aufgewachsen. Mit vier Geschwistern. Für eine Kinderstube hatten wir zu Hause keinen Platz.«
Eben hatte Theodora den jungen Mann, der ab heute ihr Kollege sein sollte, noch attraktiv und überaus sympathisch gefunden. Doch als sie sah, wie Quentin das Gesicht voller Abscheu verzog, gefiel er ihr plötzlich auch nicht mehr so gut. Sie guckte ihn ebenfalls ein bisschen von oben herab an und wandte sich dann von ihm ab.
»Oh, da hat wohl jemand Standesdünkel«, hörte sie ihn murmeln. »Ich geh dann also schon mal rein, Eure Herrlichkeit. Man sieht sich ja bestimmt«, fügte er noch hinzu, ehe seine Schritte sich entfernten.
»Und mit dem musst du zusammenarbeiten?«, bedauerte Quentin sie. »Der sieht ja wie Tarzan aus dem Dschungel aus. Ungepflegt, unkultiviert, direkt ein bisschen verlottert. Na ja, ein Angehöriger der Unterschicht vermutlich. Ein Emporkömmling, der glaubt, nur weil er Medizin studiert hat, würde er jetzt zur besseren Gesellschaft gehören.«
Er putzte sich ein unsichtbares Stäubchen vom Fünftausend-Euro-Jackett.
»Ein bedauerlicher Habenichts. Das erkennt man auf den ersten Blick. An der billigen Kleidung, an seinem ebenso billigen Benehmen und an dem Ding, das er als Auto bezeichnet, sowieso.«
Obwohl sie das nicht so sah, nickte Theodora zustimmend. Sie wollte Quentin nicht gegen sich aufbringen.
Abermals fragte sie sich selbst, ob sie das aus Liebe tat oder vielleicht deswegen, weil Heidi, ihre Kommilitonin, die sie vom ersten Semester an gelegentlich vor allen beschämt hatte, indem sie Doras billige, altmodische Kleidung lautstark kritisiert hatte, vor Neid quietschentengelb im Gesicht geworden war, weil ausgerechnet sie sich den begehrtesten Junggesellen der Stadt geangelt hatte.
Aber nein, darüber wollte sie nicht nachdenken, denn die Konsequenz daraus würde vielleicht die sein, dass sie ihn verlassen musste. Und der Gedanke daran, auf all den Luxus verzichten zu müssen, mit dem Quentin sie nun schon seit fast einem Jahr verwöhnte, der behagte ihr nicht besonders.
Außerdem hatte Quentin ja völlig recht. Aaron Bennings Auto war ein Schandfleck, die Löcher in seinen Jeans waren echte und nicht von einem Modedesigner kunstvoll angebrachte Löcher, und er besaß wohl nicht einmal einen Kamm, um damit morgens seine Strubbelhaare zu bändigen.
Wenn Quentin ihren neuen Kollegen nicht mochte, dann mochte sie ihn eben auch nicht, denn wie Quentin immer sagte: Liebe bedeutete, in allem stets die gleiche Meinung zu haben.
Und sie wollte ihn zumindest lieben. Nicht nur wegen Heidi. Auch wegen der traumhaften Fernreisen, der neidischen Blicke der kleinen Leute, wenn sie mit ihm im Ferrari durch die Stadt brauste, der herrlichen Villa direkt am Botanischen Garten, der wundervollen Kleider, die er ihr kaufte, der rauschenden Feste, die sie zusammen besuchten ...
Sie hatte fast sechs Jahre lang von der Hand in den Mund gelebt. Sie hatte sich ihr Studium zur Gänze selbst finanziert, hatte täglich vom Nachmittag bis in die frühen Morgenstunden gekellnert und sich im Studentenwohnheim ein Zimmer mit drei Kommilitoninnen geteilt.
Bis sie Quentin begegnet war, hatte sie geflickte Kleider aus dem Secondhandladen getragen. Sie hatte ihre kaputten Schuhe mit Sekundenkleber repariert und gegessen, was in der Kneipe, in der sie gearbeitet hatte, übrig geblieben war.
Seit rund einem Jahr trug sie Designerkleidung. Sie war schon auf Hawaii, in New York und in Indien gewesen, lebte in Quentins Luxusvilla und speiste abends in den teuersten Restaurants der Stadt.
Du hältst gefälligst die Klappe!, ermahnte sie in Gedanken ihre innere Stimme, die ihr weismachen wollte, dass all das keine guten Gründe waren, um jemanden zu lieben.
***
Es kam nicht oft vor, dass Dr. Peter Kersten, der Leiter der Notaufnahme an der Frankfurter Sauerbruch-Klinik, zu spät zum Dienst kam.
Er hatte Freitag, Samstag und Sonntag frei gehabt – was nur alle heiligen Zeiten einmal vorkam – und sich in diesen drei Tagen offensichtlich so sehr daran gewöhnt, morgens lange im Bett zu bleiben, dass er heute ein bisschen zu spät aus den Federn gekommen war.
Ein Blick auf seine Armbanduhr sagte ihm jetzt, dass es erst zehn Minuten nach sieben war. Die Straßen waren noch halbwegs frei gewesen, er war ein paar Abkürzungen gefahren und hatte kräftig aufgeholt.
Zehn Minuten Verspätung waren angesichts der unzähligen Überstunden, die er während der letzten Wochen und Monate angesammelt hatte, wahrlich kein Verbrechen.
Dennoch war er froh, als er endlich in die Zufahrtsstraße einbog, die zum Haupteingang und zur Einfahrt der Tiefgarage der Sauerbruch-Klinik führte.
Er ging vom Gas, als er das kleine Mädchen sah, das auf dem schmalen Bürgersteig übermütig vor seiner Mutter dahin hüpfte. Es trug einen frischen Verband am rechten Unterarm. Vermutlich war das höchstens dreijährige Kind unglaublich erleichtert, dass der Besuch in der Notaufnahme vorüber war, und musste jetzt vor Freude darüber einfach hüpfen.
Da Peter wusste, wie schnell es passieren konnte, dass ein so kleines Kind einen Hüpfer in die falsche Richtung machte oder auf der anderen Seite etwas Spannendes sah und ohne zu gucken über die Straße rannte, fuhr er im Schritttempo weiter und war äußerst wachsam.
Das kleine Mädchen winkte ihm, als er vorüberfuhr, und er winkte lachend zurück. Doch dann gefror ihm das Lachen plötzlich, als zwei unheilvolle Dinge zur gleichen Zeit passierten.
Im Rückspiegel sah er, wie dem Kind die eigenen Füße durcheinandergerieten, es stolperte und der Länge nach auf die Fahrbahn fiel. Die Mutter bemerkte es nicht, weil sie gerade telefonierte.
Aus der Gegenrichtung kam ein feuerroter Ferrari in so überhöhtem Tempo angeschossen, dass das Kind selbst dann überfahren werden würde, wenn der verrückte Autofahrer das Bremspedal sofort bis zum Anschlag durchtreten würde.
Im Bruchteil einer Sekunde wurde Peter klar, dass es nur eine einzige Lösung für dieses Problem gab. Er riss das Lenkrad herum und stellte seinen Wagen quer über beide Fahrbahnen.
Eine Zehntelsekunde später krachte der Ferrari gegen seine Beifahrertür, und Peters Kopf knallte hart gegen das Fahrerfenster.
Das Kind, dem kein Haar gekrümmt worden war, erschrak und begann zu schreien. Das erweckte nun endlich auch die Aufmerksamkeit der Mutter. Sie sprang von der Bordsteinkante, um ihre kleine Tochter in Sicherheit zu bringen.
Und Peter? Peter sah viele bunte Sterne, die von unsichtbaren Sprühkerzen abgefeuert wurden und direkt vor seinen geschlossenen Augen aufstiegen. Er spürte, wie eine merkwürdige Kraft ihn in einen dunklen Tunnel zerren wollte, doch er kämpfte hart darum, bei Bewusstsein zu bleiben.