Der Notarzt 294 - Karin Graf - E-Book

Der Notarzt 294 E-Book

Karin Graf

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Beschreibung

Die achtzehnjährige Lia ist das Sorgenkind ihrer Mutter Helen Stauffer. Das Mädchen liegt den ganzen Tag nur auf der Couch herum und beschäftigt sich mit seinem Handy oder dem Laptop. Lias Leben findet fast nur noch in den sozialen Netzwerken statt, ihr fehlt jeglicher Antrieb, sich Gedanken um ihre Außenwelt oder ihre eigene Zukunft zu machen.
In ihrer Not wendet sich Helen Stauffer an die Kinder- und Jugendpsychologin Lea König. Die Lebensgefährtin von Notarzt Peter Kersten willigt ein, die Jugendliche für einige Zeit bei sich wohnen zu lassen. Vielleicht hat sie mehr Erfolg als die eigene Mutter, womöglich schafft sie es, das Mädchen aus der Reserve zu locken.
Tatsächlich sieht es nach einiger Zeit so aus, als würde sich etwas verändern. Lia begleitet den Notarzt in die Sauerbruch-Klinik, um sich seinen Arbeitsplatz zeigen zu lassen. Hier begegnet sie auch dem jungen Hilfspfleger Noah, der einen starken Eindruck auf sie macht. Plötzlich ist sie sich gar nicht mehr so sicher, ob es nicht doch lohnende Ziele im Leben gibt.
Schließlich fasst die Achtzehnjährige einen Entschluss. Auf einer sonnigen Lichtung beginnt sie, Noah einen Brief zu schreiben. Doch sie kann den Brief nicht beenden, denn plötzlich spürt Lia einen scharfen Schmerz im Nacken, und bevor sie darüber nachdenken kann, was geschehen ist, bricht sie leblos zusammen ...

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Seitenzahl: 118

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Inhalt

Cover

Impressum

Letzte Zeilen einer Liebe …

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: shutterstock/Lana K

eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7325-4745-6

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Letzte Zeilen einer Liebe …

Bevor Lia ihren Brief beenden kann, sackt sie plötzlich leblos zusammen

Karin Graf

Die achtzehnjährige Lia ist das Sorgenkind ihrer Mutter Helen Stauffer. Das Mädchen liegt den ganzen Tag nur auf der Couch herum und beschäftigt sich mit seinem Handy oder dem Laptop. Lias Leben findet fast nur noch in den sozialen Netzwerken statt, ihr fehlt jeglicher Antrieb, sich Gedanken um ihre Außenwelt oder ihre eigene Zukunft zu machen.

In ihrer Not wendet sich Helen Stauffer an die Kinder- und Jugendpsychologin Lea König. Die Lebensgefährtin von Notarzt Peter Kersten willigt ein, die Jugendliche für einige Zeit bei sich wohnen zu lassen. Vielleicht hat sie mehr Erfolg als die eigene Mutter, womöglich schafft sie es, das Mädchen aus der Reserve zu locken.

Tatsächlich sieht es nach einiger Zeit so aus, als würde sich etwas verändern. Lia begleitet den Notarzt in die Sauerbruch-Klinik, um sich seinen Arbeitsplatz zeigen zu lassen. Hier begegnet sie auch dem jungen Hilfspfleger Noah, der einen starken Eindruck auf sie macht. Plötzlich ist sie sich gar nicht mehr so sicher, ob es nicht doch lohnende Ziele im Leben gibt.

Schließlich fasst die Achtzehnjährige einen Entschluss. Auf einer sonnigen Lichtung beginnt sie, Noah einen Brief zu schreiben. Doch sie kann den Brief nicht beenden, denn plötzlich spürt Lia einen scharfen Schmerz im Nacken, und bevor sie darüber nachdenken kann, was geschehen ist, bricht sie leblos zusammen …

„Mit einem Mindestmaß an Liebe und Verständnis kann man mit jeder und jedem Jugendlichen klarkommen.“

Schon als sie bei der Hälfte dieser Aussage angelangt war, fragte sich Lea König insgeheim, was sie denn da nun wieder geritten hatte, den Mund so voll zu nehmen.

Mit einem Schulterzucken und einem leisen „Irgendwie halt …“ versuchte sie, das Gesagte noch rasch abzuschwächen. Genau genommen war es ihr ja völlig klar, dass es – nicht nur unter den Jugendlichen, sondern bei allen Altersgruppen – ein paar besonders vernagelte Exemplare gab, die weder mit Liebe und Verständnis noch mit Strenge in die richtigen Bahnen zu lenken waren.

Die mussten dann entweder durch die harte Schule des Schicksals geläutert werden oder landeten über kurz oder lang auf der sogenannten „schiefen Bahn“.

Aber für einen Rückzieher war es jetzt zu spät. Das Unheil nahm bereits seinen Lauf.

Es war Freitag kurz nach neun Uhr abends, und wie sie es regelmäßig einmal im Monat tat, hatte die Kinder- und Jugendpsychologin auch heute ihre Praxis für Eltern geöffnet, die an der Erziehung ihrer Kinder verzweifelten.

Damit diese drei Beratungsstunden – eigentlich war es eher eine Selbsthilfegruppe mit professioneller Beratung – auch wirklich allen Hilfesuchenden offenstanden, verlangte Lea dafür keinen Cent.

„Ach, mit Liebe und Verständnis also! Und da sind Sie sich ganz sicher, liebe Frau Dr. König?“, hakte die Mutter einer achtzehnjährigen Tochter mit zweifelnd hochgezogenen Augenbrauen nach.

„Aber ja! Es sei denn, es handelt sich um einen jungen Menschen mit einer psychiatrischen Erkrankung.“

Und schon wieder hätte sich Lea am liebsten auf die vorwitzige Zunge gebissen. Warum hatte sie nicht einfach Nein gesagt? Das wäre die Wahrheit gewesen. Es war doch sonst nicht ihre Art, bockig darauf zu beharren, recht zu behalten. Normalerweise fiel es ihr sogar sehr leicht, Fehler oder Irrtümer zuzugeben.

Aber es war schon sehr spät, sie hatte bereits mehr als zwei Stunden hitzige Diskussionen und einen anstrengenden Arbeitstag hinter sich und war schrecklich müde. Außerdem hatte sie seit dem Frühstück nichts mehr gegessen, und ihr Magen knurrte so laut wie ein gereizter Hund.

Dazu kam noch, dass Helen Stauffer, die geplagte Mutter, um deren Probleme sich die Gespräche heute hauptsächlich drehten, bislang jeden Einzelnen ihrer Ratschläge mit einem schnippischen „Hab ich schon versucht, hat nicht geklappt!“ zurückgewiesen hatte. Lea gingen langsam die Ideen aus, und sie wusste nicht mehr, welche Möglichkeiten sie ihr noch anbieten könnte.

Jetzt erhob sich die elegant und sehr teuer gekleidete Frau von dem Sofa, auf dem sie zwischen einer fülligen arbeitslosen Alleinerziehenden mit fettigem Haar und riesigen Schweißflecken unter beiden Armen und einer ziemlich impulsiven Fabrikarbeiterin gesessen hatte.

Berührungsängste hatte sie keine, das musste man ihr zugutehalten. Sie hatte sich mit ihren Sitznachbarinnen, die wahrlich nicht in ihre Kreise passten, zwei Stunden lang sehr angeregt und völlig unbefangen unterhalten.

„Wir haben noch eine Stunde, Frau Stauffer. Vielleicht ist ja doch noch der eine oder andere gute Rat für Sie dabei. Wollen Sie denn wirklich schon gehen?“

Einerseits wäre Lea ganz froh darüber gewesen, diese fruchtlose Debatte beenden zu können, andererseits mochte sie es nicht besonders, Probleme ungelöst zu lassen.

Helen Stauffer lachte laut auf.

„Sicher nicht! Ich lasse prinzipiell nichts verkommen, was nichts kostet.“

Die zwölf Frauen und Männer, die in Leas Beratungszimmer saßen, brachen in amüsiertes Gelächter aus.

„Nein“, fuhr Helen Stauffer fort, „ich möchte Ihnen gerne ein … ähm … ein Geschäft vorschlagen, liebe Frau Dr. König. Sie wissen, wer ich bin?“

Natürlich wusste Lea das. Helen Stauffer war eine stadtbekannte Persönlichkeit, und Lea hatte sich bereits gewundert, warum die millionenschwere Besitzerin einer Kindermoden-Kette an der Gratis-Beratung teilnahm. Diese Frau hätte sich ganze Legionen professioneller Erzieherinnen oder auch ein Eliteinternat für ihre rebellische Tochter leisten können.

„Selbstverständlich weiß ich, wer Sie sind, Frau Stauffer“, beantwortete die Psychologin diese Frage. „Aber glauben Sie mir, wenn es um Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen geht, spielt die soziale Schicht absolut keine …“

„Ach was!“ Helen Stauffer wischte Leas Hinweis mit einer fahrigen Handbewegung einfach weg.

„Das ist mir völlig klar! Ich wollte doch hier nicht mit meinem wirtschaftlichen Erfolg protzen und schon gar nicht behaupten, dass meine Tochter etwa besser oder komplizierter sei als der schlitzohrige Sohn von Frau Konitz, die flatterhafte Tochter von Herrn Mittelbach, die zerstörungswütigen Zwillinge von Herrn Gasparevic oder Frau Grills Punk-Marie mit den Sicherheitsnadeln in der Lippe und den grünen Haaren.“

Obwohl sie mit Abstand die anspruchsvollste und hartnäckigste Mutter war, die jemals Leas Rat gesucht hatte, musste die Psychologin zugeben, dass Helen Stauffer eine sehr sympathische Frau war. Eben hatte sie wieder bewiesen, dass ihre Welt sich nicht nur um sich selbst drehte. Sie hatte sich nicht nur die Namen der anderen Teilnehmer, sondern auch noch deren Probleme gemerkt.

„Wenn es um unseren lieben Nachwuchs geht“, redete sie jetzt weiter, „sitzen wir doch alle im selben Boot.“

Sie blickte in die Runde und verdrehte stöhnend die Augen.

„Die Gören treiben uns in den Wahnsinn, und die Eltern, die …“ Sie hob beide Hände hoch und malte Gänsefüßchen in die Luft. „… mit braven Kindern gesegnet sind, wollen uns weismachen, die Schuld läge ganz allein bei uns.“

Helen zeigte der Reihe nach auf die drei anwesenden Väter.

„Sie sind davon natürlich ausgenommen, meine Herren, denn es liegt ja bekanntlich immer an den Müttern, wenn der Nachwuchs aus der Spur gerät. Der väterliche Einfluss kommt nur dann zur Sprache, wenn alles glattgelaufen ist und das Kind sich durch besondere Talente oder Fertigkeiten hervortut. Dann waren natürlich das positive väterliche Vorbild und die liebevolle väterliche Strenge dafür verantwortlich.“

„Da haben Sie leider völlig recht!“, übertönte Lea das zustimmende Gemurmel. „Aber was hat das nun mit Ihrer gesellschaftlichen Stellung zu tun?“

„Oh, ich wollte nur, dass Sie wissen, dass ich mir das Angebot, welches ich Ihnen jetzt gleich unterbreiten möchte, auch wirklich leisten kann.“

„Und zwar?“

„Ich überlasse Ihnen meine Lia für ein paar Wochen oder gerne auch Monate. Wenn Sie es schaffen, sie auf den rechten …“ Helen winkte lachend ab. „Es muss noch nicht einmal der vielgepriesene ‚rechte Weg‘ sein. Wenn Sie es schaffen, meine Tochter auf überhaupt irgendeinen Weg zu bringen, dann bekommen Sie von mir eine Million Euro. Steuerfrei. Als Spende deklariert.“

Lea war über dieses Angebot so verblüfft und auch entrüstet, dass sie eine halbe Minute lang keine Antwort fand. Nachdem sie eine Weile ergebnislos nach einer höflichen, aber kategorisch ablehnenden Antwort gesucht hatte, hob sie einfach nur beide Hände hoch und ließ sie seufzend wieder fallen.

„Ich bin nicht käuflich, Frau Stauffer.“

„Das weiß ich doch!“ Die erfolgreiche Geschäftsfrau war wegen dieser Zurückweisung keineswegs beleidigt. „Ich habe mich natürlich über Sie erkundigt, bevor ich hierhergekommen bin. Deshalb weiß ich auch, dass Sie sich sozial sehr stark engagieren. Denken Sie mal darüber nach, wie vielen Kindern mittelloser Eltern Sie mit diesem Geld helfen könnten.“

Sie nahm beim Aufzählen ihre perfekt manikürten Finger zu Hilfe.

„Erholungsurlaube für kranke Kinder, Rettung alleinerziehender Mütter vor der Zwangsräumung, Therapien, die die Krankenkasse nicht bewilligt, und, und, und.“ Sie stoppte Lea, die kopfschüttelnd zu einer Verneinung ansetzte, mit einer Handbewegung. „Warten Sie, bitte! Ich lege noch was drauf. Sobald Sie zustimmen, können Sie mir eine alleinerziehende Mutter mit Kind aus dem Obdachlosenheim bringen.“

Sie setzte sich wieder und nickte Lea zu.

„Dort sind Sie ja ebenfalls ehrenamtlich zugange, wie ich hörte. Ich richte der kleinen Familie in meiner Villa ein hübsches Appartement ein, sorge finanziell für sie und baue die Mutter so weit auf, dass sie irgendwann wieder selbstständig leben kann.“

Helen legte lächelnd den Kopf schief.

„Na? Und das alles für nur ein Mindestmaß an Liebe und Verständnis, wie Sie vorhin sagten. Ein Kinderspiel also. Für Sie zumindest. Ich selbst bin mit meiner Weisheit am Ende. Restlos. Total.“

Nein!, wollte Lea eigentlich sofort sagen. Wäre da nicht die lange Kolonne akut von der Armut bedrohter Kinder gewesen, die jetzt vor ihrem inneren Auge vorüberzog.

Die elfjährige Maja beispielsweise, die am Spielplatz von einem Hund angefallen worden war und schlimme Narben im Gesicht zurückbehalten hatte. Die Krankenkasse war der Meinung, dass die „kleine Entstellung“ zumutbar sei und dass sie ohnehin zweitausend Euro Schmerzensgeld bekommen hätte, mit denen sie sich später eimerweise deckendes Make-up kaufen könne.

Zwanzigtausend würden reichen, um dem Mädchen ein neues Gesicht und somit ein neues Leben zu schenken.

Seit zwei Monaten sammelte Lea unermüdlich Geld für den achtjährigen Oskar, den eine so schlimme Neurodermitis plagte, dass ihm deswegen sogar schon die Haare ausgefallen waren. Für zehntausend Euro könnte er mit seiner Mutter die ganzen großen Ferien lang ans Tote Meer in eines der dortigen Heilzentren fahren und vielleicht gesund nach Hause zurückkehren.

Oder die sechsundzwanzigjährige Alexandra Janetschek, die mit ihren eineinhalbjährigen Drillingen von ihrem Mann verlassen worden war und am Monatsende oft nicht mehr wusste, wo sie ein paar Euro für Nahrung und Windeln herbekommen sollte.

Mit einer Million könnte Lea ihnen allen helfen. Und dabei könnte sie auch gleich in der Praxis erproben, was die erlernten Theorien, mit denen sie seit vielen Jahren arbeitete, überhaupt wert waren. Die Sache hatte nur einen Haken.

„Sie sagten vorhin, Lia sei bereits achtzehn Jahre alt. Damit ist sie volljährig und kann tun und lassen, was ihr gefällt. Selbst wenn ich zustimmen würde, hätte ich keine gesetzliche Handhabe, wenn Lia mein Haus sofort wieder verlässt, sobald Sie sie bei mir abgeliefert haben.“

Irritiert schaute Lea dabei zu, wie Helen Stauffer zuerst hinter vorgehaltener Hand zu kichern begann und sich schließlich vor Lachen wand und krümmte. Die Frau lachte, bis ihr die Tränen kamen. Dann gluckste sie noch ein paarmal, nahm dankend das Papiertuch an, das ihre füllige Sitznachbarin ihr reichte, trocknete sich die Augen und entschuldigte sich für ihren ungebührlichen Heiterkeitsausbruch.

„Tut mir sehr leid! Sie kennen meine Tochter ja nicht, deshalb können Sie auch nicht wissen, wie absurd die Vorstellung ist, sie könnte irgendwohin gehen.“

Sie putzte sich geräuschvoll die Nase.

„Nein, liebe Frau Dr. König. Lia wird auf das Gästebett, das Sie ihr zuweisen, daniedersinken, und dort wird sie surfen, chatten und simsen, zocken, twittern, skypen, googeln und chillen. Und selbst wenn Sie ‚Feuer‘ rufen, wird sie nicht einmal mit einem Ohr zucken.“

Sie wandte sich an den Vater der vandalischen Zwillinge.

„Wissen Sie was, Herr Gasparevic? Natürlich verstehe ich Ihren Frust darüber, dass Sie mindestens einmal monatlich Besuch von der Polizei bekommen. Klar, das ist sicher nicht besonders lustig.“

Sie nahm die Fotosvom Tisch, die der geplagte Vater vorhin herumgezeigt hatte, und warf noch einmal einen Blick darauf.

„Die sind richtig gut!“, stellte sie anerkennend fest. „Wenn meine Lia hinginge und fremde Hauswände mit bunten Graffiti vollsprayen würde, die noch dazu so gelungen wären wie diese hier – ich wäre dem Himmel dankbar. Dann wüsste ich wenigstens, dass sie noch lebt und immerhin über ein Talent verfügt, das man nur in positivere Bahnen lenken muss.“

***

Prof. Lutz Weidner, der medizinische Leiter der Frankfurter Sauerbruch-Klinik, war ein äußerst intelligenter und besonnener Mann.

Sein hervorragender Ruf als Herzspezialist hatte sich längst bis weit über die Landesgrenzen hinaus verbreitet, und so wurde besonders die Kardiologie von zahlungskräftigen Privatpatienten aus aller Welt frequentiert.

Er war ausnahmslos bei allen der weit über zweitausend medizinischen Angestellten des Krankenhauses sehr beliebt, weil er ein gerechter Chef war, der sich in gleichem Maße um seine Patienten wie auch um seine Mitarbeiter sorgte. Außerdem verfügte er über eine ordentliche Portion Humor, und Standesdünkel war ihm völlig fremd.

Sich lautstark in Szene zu setzen, wie das so mancher Chefarzt gerne tat, einzelne Mitarbeiter öffentlich herunterzuputzen oder gar derb herumzubrüllen, das war bei Lutz Weidner undenkbar.

Nie, niemals, unter keinen Umständen hätte er sich jemals im Tonfall vergriffen, niemals kam ihm ein böses oder gar vulgäres Wort über die Lippen. „Contenance“ war sozusagen sein zweiter Vorname.

Umso besorgter war Dr. Peter Kersten, der Leiter der Notaufnahme, als er eben jetzt – es war kurz vor zehn Uhr abends – das dunkle und verwaiste Zimmer von Lutz Weidners Sekretärin durchquerte und durch die nur angelehnte Tür sehr ungewohnte Töne aus dem Büro des Chefarztes vernahm.

Peter hatte nach einem langen, harten Arbeitstag noch Nachtbereitschaft und wollte eine kurze Flaute in seiner Abteilung dazu nutzen, um etwas mit dem Professor zu besprechen.

Jetzt aber hielt er kurz vor der Tür inne und lauschte eine Weile mit gerunzelter Stirn den Worten, von denen er eigentlich gedacht hatte, dass der Chefarzt sie nicht einmal kennen würde.

„Dieser hirnverbrannte Vollpfosten! Dieser verblödete Furz im Walde! Diese belämmerte Ausgeburt an Stumpfsinnigkeit! Dieser Inhaber eines Intelligenzquotienten mit einem Minus davor! Dieser affige Arsch mit Ohren! Dieser …“