Der Notarzt Sammelband 2 - Arztroman - Karin Graf - E-Book

Der Notarzt Sammelband 2 - Arztroman E-Book

Karin Graf

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Beschreibung

3 spannende Arztromane lesen, nur 2 bezahlen!

Dr. Peter Kersten ist oft Retter in letzte Minute. In der Unfallchirurgie der Sauerbruch-Klinik kämpft er Tag für Tag um das Leben von Unfallopfern. Fesselnde, moderne und packende Schicksale werden geschildert. Doch neben der hochmodernen Medizin kommt auch die Liebe nicht zu kurz.

Schauen Sie Dr. Peter Kersten über die Schulter und erleben Sie drei spannende Geschichten, die zu Herzen gehen.


Dieser Sammelband enthält die Folgen 251 bis 253:

251: Wenn du nicht mehr weiterweißt ...

252: Lea lernt kochen

253: Bitte, bitte, liebes Christkind ...



Der Inhalt dieses Sammelbands entspricht ca. 250 Taschenbuchseiten.

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Seitenzahl: 352

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Impressum

BASTEI ENTERTAINMENT Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG Für die Originalausgaben: Copyright © 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller Verantwortlich für den Inhalt Für diese Ausgabe: Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln Covermotiv von © shutterstock: Africa Studio ISBN 978-3-7325-7079-9

Karin Graf

Der Notarzt Sammelband 2 - Arztroman

Inhalt

Karin GrafDer Notarzt - Folge 251Was ist denn nur mit ihren Mitmenschen los? Seit wann sind sie denn alle so empfindlich, wenn es um Alkohol geht? Seit Wochen schon stößt sich jeder an Nadines Trinkgewohnheiten. Klar, sie trinkt gerne einen Wein oder einen Sekt, einen Whisky oder auch einen Bourbon, zum Entspannen, zum Feiern, um einzuschlafen oder wach zu werden. Aber ist sie deshalb gleich Alkoholikerin? Lange kann sich Nadine nicht eingestehen, dass sie längst süchtig ist. Erst als sie im Rausch einen Mann überfährt, gehen ihr die Augen auf. Doch möglicherweise ist es da längst zu spät - Zwar überlebt Alexander Stein den Unfall, aber als Wiedergutmachung verlangt er von ihr etwas ganz und gar Unmögliches: Sie soll ihn auf seinem kleinen Bergbauernhof gesund pflegen - und während der Monate völlig auf Alkohol verzichten! Wie soll ihr das bloß gelingen? Allerdings hat sie ja seit Neuestem eine neue Droge: In Alexanders Nähe fühlt sie sich einfach himmlisch! Aber ob das reichen wird?Jetzt lesen
Der Notarzt - Folge 252Aufgeregt kehrt die Schülerin Emma Thalmann aus den Reiterferien zurück. Sie brennt darauf, ihr neues Brüderchen kennenzulernen. Doch als Tobias Tahlmann seine Tochter vom Bahnhof abholt, ist der sonst so liebevolle Vater eigenartig wortkarg, und Emmas Fragen über das Baby weicht er aus. Zu Hause angekommen, erkennt Emma, dass während ihrer Abwesenheit irgendetwas Schreckliches passiert sein muss: Das neue Babyzimmer ist leer, ihre Mutter scheint spurlos verschwunden zu sein, und der Vater versinkt in Schweigen. Emma weiß vor Sorge nicht mehr ein noch aus. Was ist hier nur passiert? Weshalb redet niemand mit ihr? In den nächsten Tagen bemerkt Tobias Thalmann nicht einmal, dass seine Tochter nichts mehr isst. Ihr Magen ist wie zugeschnürt, und das früher so sportliche Mädchen magert rapide ab. Dann bricht Emma in der Schule zusammen und wird bewusstlos in die Notaufnahme eingeliefert. Doch nicht nur Dr. Kersten will der jungen Emma helfen: Um Emma dabei zu unterstützen, ihre Essstörung in den Griff zu bekommen, fasst seine Freundin Lea einen ungewöhnlichen Plan ...Jetzt lesen
Der Notarzt - Folge 253In der Notaufnahme der Sauerbruch-Klinik arbeitet seit wenigen Wochen der charismatische Noah Wenzel. Notarzt Peter Kersten ist zunächst alles andere als begeistert von dem jungen Kollegen, denn Noah verdreht sämtlichen Schwestern der Klinik den Kopf und sorgt für einigen Herzschmerz unter dem weiblichen Personal. Sobald der Schwerenöter eine Frau "herumgekriegt" hat, wendet er sich bereits der nächsten zu. Schon mehrmals hat sich Peter Kersten vorgenommen, Noah Wenzel einfach zu kündigen, damit wieder Ruhe auf der Station einkehrt. Doch da gibt es auch diese andere Seite an dem jungen Mann ... Noah ist ein brillanter Arzt, der um jedes Menschenleben kämpft, als wäre es sein eigenes. Und immer wieder gibt es Situationen, in denen deutlich wird, dass unter der äußeren Schale des attraktiven Mediziners ein außergewöhnlich mitfühlendes Herz liegt. Als Noah von der herzzerreißenden Geschichte der fünfjährigen Leni erfährt, ist er außer sich vor Sorge und Mitleid. Dem kleinen Mädchen stehen unsagbar traurige Weihnachten bevor: Ihr Papa ist schon lange im Himmel, und nun ist auch noch ihre geliebte Mama gestorben. Wenn sie wenigstens bei ihrer Oma bleiben könnte, doch die ist schon alt und hat starke Schmerzen beim Laufen ...Jetzt lesen

Inhalt

Cover

Impressum

Wenn du nicht mehr weiterweißt …

Vorschau

Wenn du nicht mehr weiterweißt …

Was Dr. Kersten einer verzweifelten Patientin riet

Karin Graf

Was ist denn nur mit ihren Mitmenschen los? Seit wann sind sie denn alle so empfindlich, wenn es um Alkohol geht? Seit Wochen schon stößt sich jeder an Nadines Trinkgewohnheiten. Klar, sie trinkt gerne einen Wein oder einen Sekt, einen Whisky oder auch einen Bourbon, zum Entspannen, zum Feiern, um einzuschlafen oder wach zu werden. Aber ist sie deshalb gleich Alkoholikerin?

Lange kann sich Nadine nicht eingestehen, dass sie längst süchtig ist. Erst als sie im Rausch einen Mann überfährt, gehen ihr die Augen auf. Doch möglicherweise ist es da längst zu spät … Zwar überlebt Alexander Stein den Unfall, aber als Wiedergutmachung verlangt er von ihr etwas ganz und gar Unmögliches: Sie soll ihn auf seinem kleinen Bergbauernhof gesund pflegen – und während der Monate völlig auf Alkohol verzichten! Wie soll ihr das bloß gelingen? Allerdings hat sie ja seit Neuestem eine neue Droge: In Alexanders Nähe fühlt sie sich einfach himmlisch! Aber ob das reichen wird?

„Hi! Ich bin Nadine. Ich bin dreiunddreißig Jahre alt. Ich bin ungebunden. Ich bin Investment-Bankerin. Ha-ha, es gibt nicht viele Frauen in diesem Job, aber wenn, dann sind sie um Klassen besser als die Männer. Und ich bin gut! Verdammt gut! Ich bin …“

„Sag es einfach, dann hast du es hinter dir!“

Es war diese graue Maus im Jogginganzug, die sich vorhin als Anja vorgestellt hatte, die Nadine eben jetzt diesen wohlmeinenden Rat gegeben hatte. Nadine warf ihr einen geringschätzigen Blick zu.

„Lasst sie doch reden, sie weiß ja ohnehin, was wir hören wollen.“

Christian hatte das gesagt. Der Einzige, der hier in diesem traurigen Haufen wenigstens ein bisschen Format zu haben schien. Er blinzelte Nadine jetzt aufmunternd zu und signalisierte ihr seine ungeteilte Aufmerksamkeit.

„Weiter, Nadine!“

„Okay, danke. Also … ich bin … wahnsinnig erfolgreich. Ich lebe in einem Luxus-Penthaus in der Altstadt und fahre einen Porsche. Ich kann mir kaufen, was immer ich möchte, und kann reisen, wohin auch immer es mir gefällt. Eigentlich müsste ich gar nicht mehr arbeiten gehen, weil ich finanziell längst ausgesorgt habe.“

Sie blickte triumphierend in die Runde. Wie die kleinen Kinder im Kindergarten saßen sie alle in einem Sesselkreis und blickten sie erwartungsvoll an.

„Ha-ha! Kennt ihr jemanden, der das in meinem Alter hingekriegt hat? Ohne reiche Eltern und Erbschaft natürlich!“

„Sie schafft es nicht, sie ist noch nicht so weit. Ich habe beim ersten Mal auch das Blaue vom Himmel heruntergelogen, nur um diesen einen Satz nicht aussprechen zu müssen.“

Marilyn, die zwei Stühle weiter rechts von Nadine saß, hatte das gesagt. Fünfundvierzig war sie angeblich, sah aber wie sechzig aus. Aufgedunsenes Gesicht, rot geäderte Nase, trübe Triefaugen und ein schlimmer Vorderzahn, der sich bereits schwarz zu färben begann. Diese Frau war einmal Richterin gewesen. Kaum zu glauben!

Vor knapp zehn Minuten hatte sie noch – Rotz und Wasser in regelrechten Fontänen versprühend – erzählt, dass es einmal eine Zeit gegeben hätte, in der sie sich gewünscht habe, die Polizei möge bei ihr zu Hause klingeln und ihr mitteilen, ihre beiden Kinder seien auf dem Schulweg überfahren worden. Meine Fresse! So tief konnte man sinken!

Umso mehr fragte sich Nadine, was sie überhaupt hier sollte. Hier in diesem idiotischen Sesselkreis hatte sich offensichtlich der Abschaum der Menschheit versammelt. Lauter gescheiterte Existenzen, die sich gegenseitig ihren Frust um die Ohren hauten.

Erich hatte seinem elfjährigen Sohn nachts das Taschengeld aus dem Sparschwein gestohlen. Mona war von ihrem Mann und ihren beiden fast erwachsenen Töchtern vor die Tür gesetzt worden und hatte wochenlang auf der Straße gelebt. Thorsten war vorbestraft, weil er in einer Kneipe randaliert und die gesamte Einrichtung zertrümmert hatte.

Lisa hatte man die kleinen Kinder weggenommen, weil sie die Energie nicht mehr aufgebracht hatte, ihnen mittags was zu kochen und sie morgens zur Schule zu bringen. Leo hatte drei Monate in der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie verbracht, nachdem er seine Frau so heftig vermöbelt hatte, dass nicht einmal ihre eigene Mutter sie mehr erkannt hatte. Und so weiter, und so weiter!

Und diese abgeschmackten Randfiguren, diese im Selbstmitleid versinkenden Versager, dieser Bodensatz der Menschheit, sie alle wandten ihr jetzt die verhärmten Visagen zu und erwarteten von ihr, dass sie sich selbst bezichtigte, um ihr dann großmütig Aufnahme in diese illustre Runde zu gewähren.

Nadine Langer schlug ihre langen Beine übereinander und schaute eine Weile ihrem schwarzen Lacklederstiefel beim Wippen zu. Louboutins, fünftausend Euro. Kleingeld für sie, während die da von diesem Betrag vermutlich ein Jahr lang leben mussten. Ha-ha!

Also gut, warum nicht? Nadine pflückte ein winziges Herbstblatt von dem kurzen Rock ihres Chanel-Kostüms, rollte es ein paar Sekunden lang zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her und schaute ihm dann nach, wie es langsam zu Boden segelte.

„Also, dann sage ich es halt, wenn ihr wollt. Ist ja weiter nichts dabei. Auch wenn es in meinem Fall nicht ganz richtig ist.“ Sie holte tief Luft. „Ich bin A …“

„Ja! Gut!“, spornte Sabrina, die Nadine gegenübersaß, sie an. „Wenn es erst mal raus ist, dann hast du die größte Hürde auch schon überwunden. Es sich selbst einzugestehen ist wirklich der schwerste Schritt.“

Sabrina war Lehrerin an einem Gymnasium gewesen. Mathematik und Physik. Sie war fristlos entlassen worden, nachdem sie einem Schüler, der es gewagt hatte, zu behaupten, sie sei betrunken, eine gescheuert hatte. Und zwar so heftig, dass ihr Verlobungsring eine lange Risswunde auf seinem Kinn hinterlassen hatte.

Nadine nahm einen zweiten Anlauf.

„Ich bin A … Al … ich bin …“ Abermals blieb ihr das Wort im Hals stecken. Es klammerte sich irgendwo an den Mandeln oder hinter dem Kehlkopf fest und weigerte sich herauszukommen.

Es wäre absolut kein Problem gewesen, es auszusprechen, wenn es wenigstens auch nur ansatzweise der Wahrheit nahekommen würde. Tat es aber nicht. Überhaupt nicht. Es wäre eine Lüge, wenn sie es sagen würde, und lügen mochte sie nicht.

Zumindest nicht in ihrem Privatleben. Beruflich … Aber das war eine andere Sache.

„Okay, Leute, Schluss mit dem Affentheater!“ Nadine sprang von ihrem Stuhl hoch. „Nein, ich bin keine Alkoholikerin!“

Sie streckte den Zeigefinger ihrer rechten Hand aus und beschrieb damit einen Halbkreis.

„Ihr seid Alkoholiker! Ich nicht! Es gibt rein gar nichts, was mich mit euch verbindet. Ihr habt euer Leben nicht auf die Reihe gekriegt. Ich schon. Ihr habt versagt. Ich nicht. Ihr seid jammernde, heulende, traurige Witzfiguren. Ich habe was aus meinem Leben gemacht und stehe heute – mit erst dreiunddreißig Jahren – am Gipfel meiner Karriere.“

Sie nahm ihre Tasche, die sie über die Stuhllehne gehängt hatte. Dolce & Gabbana, etwas über dreitausend Euro. Ein formschönes Stück, irgendwo zwischen Handtasche und Aktentasche angesiedelt und so praktisch, dass sie dieses Modell gleich in fünf verschiedenen Farben gekauft hatte. Passend zu jedem Outfit.

„Warte, Nadine!“ Christian hob eine Hand. „Warum bist du überhaupt hergekommen?“

„Tja, das frage ich mich mittlerweile auch.“

„Du trinkst also nicht?“

„Natürlich trinke ich!“, brauste Nadine auf. „Mit Betonung auf trinken! Ich trinke, ihr sauft! Ich gehe hin und wieder mit Kollegen in eine edle Bar und trinke einen Cocktail. Ich trinke nach einem erfolgreichen Geschäftsabschluss mit meinen Kunden ein Glas Champagner. Wenn ich fliegen muss – was durchschnittlich zehnmal pro Monat vorkommt –, dann trinke ich vorher ein oder zwei Gläser Whisky, weil ich nämlich leichte Flugangst habe. Besonders in kleinen Privatjets.“

Sie unterdrückte den Drang, sich die Lippen zu lecken. Noch nie hatte sie so sehr einen Drink gebraucht wie jetzt. Noch nie!

„Und ich werde auch weiterhin den einen oder anderen Drink genießen“, fuhr sie fort. „Vielleicht habe ich einmal kurz geglaubt, ich könnte eventuell gefährdet sein. Aber dann habe ich euch gesehen, und – seid mir nicht böse, aber – da liegen Welten dazwischen.“

„Was glaubst du denn, was dich von uns unterscheidet?“, fragte Martha ein bisschen eingeschnappt.

„Das ist schnell gesagt“, behauptete Nadine, eine Hand bereits auf der Türklinke, die andere, die jetzt heftig zu zittern begann, hinter dem Rücken versteckt. „Ihr habt euch nicht unter Kontrolle. Ihr sauft billigen Fusel aus dem Tetrapack, und zwar in solchen Mengen, dass ihr hinterher nicht mehr wisst, was ihr tut. Ihr lasst euch aus Langeweile oder Frust volllaufen. Ihr dröhnt euch zu, um eure Probleme zu vergessen.“

„Und du? Warum trinkst du?“ Erich rubbelte wie immer an seiner rechten Hand herum. Seit einem halben Jahr glaubte er, es klebe noch Blut von seiner Exfrau daran, die er im Suff verprügelt hatte.

„Ha!“ Nadine versuchte, versöhnlich zu lächeln, um das etwas zu verächtliche Lachen ein bisschen abzumildern. „Ich habe Sechzehn-Stunden-Arbeitstage. Ich jongliere mit Milliarden. Ich kann mir nicht den kleinsten Fehler leisten, ich muss meine fünf Sinne immer beisammen haben. Auch dann, wenn ich einmal nur drei Stunden geschlafen habe.“

Sie drehte den Kopf zur Tür, um den bernsteinfarben Whisky hinunterzuschlucken, den ihre Fantasie ihr eingeflößt hatte.

„Ich gönne mir einen Drink, um herunterzukommen, um abschalten und schlafen zu können. Und den genieße ich dann, weil ich ihn mir verdient habe. Ich bin keine Alkoholikerin! Ich wälze mich nicht in der eigenen Kotze. Ich vertrimme keine Ehefrauen. Ich vernachlässige keine Kinder oder wünsche mir, dass sie überfahren werden, um endlich alleine zu sein und mich in Ruhe volllaufen lassen zu können.“

„Das ist gemein!“ Marilyn schluchzte qualvoll auf.

„Das Leben ist gemein!“ Nadine schüttelte den Kopf, um das feine Klirren von Eiswürfeln aus ihren Ohren zu bekommen, die in einem edlen Kristallglas kreisten, wenn man es schwenkte. „Aber nur zu denen, die zu schwach sind!“, stellte sie ungeduldig klar.

Sie musste jetzt wirklich zusehen, dass sie schleunigst hier rauskam. Nach diesem Haufen Mist, den sie sich hier hatte anhören müssen, brauchte sie jetzt dringend eine kleine Aufmunterung. Einen Martini vielleicht. Geschüttelt, nicht gerührt. Ha-ha!

„Tschüss, ihr traurigen Gestalten!“ Sie riss die Tür auf. „Ihr schafft es sowieso nicht! Und es ist noch nicht einmal der Fusel, der euch umbringt: Es ist das beschissene Selbstmitleid, in dem ihr langsam versinkt.“

Damit stürmte sie aus dem miefenden kleinen Raum und knallte die Tür hinter sich zu.

Sie musste lachen, als sie das Gebäude verließ und draußen auf der Straße die kühle, klare Luft begierig in ihre Lungen sog. Drinnen in dem hübschen Sesselkreis war jetzt ein Stuhl frei. Jetzt konnten sie was Schönes spielen.

Mein rechter, rechter Platz ist frei, da wünsch ich mir …

Ja, wen oder was denn? Die hatten ja nur noch einander. Ein Haufen Blinder, die sich gegenseitig den Weg weisen wollten. Wer wollte denn schon etwas mit Säufern zu tun haben? Niemand! Und sie schon gar nicht.

„Alkoholiker! Anonyme auch noch dazu! Widerlich! Bää! Das Allerletzte!“

***

Dr. Peter Kersten, der Leiter der Notaufnahme an der Frankfurter Sauerbruch-Klinik, kniff die Pobacken fest zusammen. Er rechnete fest damit, dass die Bäume, die zu beiden Seiten der schmalen Schotterstraße standen, jeden Moment laut knirschend an den Seiten seines Autos entlangschaben würden.

Es passte wirklich nur haarscharf. Wenn er das Fenster öffnen und die Hand ausstrecken würde, könnte er die Eichhörnchen einsammeln, die sich in den Ästen tummelten.

„Was macht man eigentlich, wenn einem hier ein Auto entgegenkommt?“

„Keine Aaa …!“ Dr. Lea König, die Kinder- und Jugendpsychologin, schrie erschrocken auf, als ein Tannenzweig klatschend gegen die Windschutzscheibe schlug. „Dann muss wohl einer bis zum nächsten Ausweichplatz zurückfahren.“

„Wer?“

„Ich glaube, immer der, der bergauf fährt“, mutmaßte Lea. „Genau weiß ich es nicht, aber auf einer so steilen Bergstraße rückwärts bergauf zu fahren, stelle ich mir ziemlich schwierig vor.“

Sie kicherte hinter vorgehaltener Hand.

„Aber vermutlich kommt einem hier sowieso höchstens ein Wildschwein entgegen, und das läuft bestimmt nicht zurück. Oder ein Yeti. Oder …“ Sie lachte laut auf. „Oder der Wolpertinger!“

„Hör auf!“ Peter winkte grinsend ab. „Die Bayern würden uns lynchen. Morgen wären unsere Fotos auf allen Titelseiten, und drunter würde stehen (Peter versuchte sich am Bayerischen Dialekt): Ein dapperter Bazi, ein ausgschamter, und eine damische Gretl aus Frankfurt überfuhren gestern auf der Zugspitze unseren Wolpertinger! Als Kopfgeld sind Bier, Weißwurscht und Brezen auf Lebenszeit ausgesetzt.“

„Du meine Güte!“ Lea lachte schallend. „Wir müssten uns unter falschen Namen ins Ausland absetzen.“

„Und wovon wollen wir dort leben?“

„Wir verkaufen unsere Story an die internationale Presse“, prustete Lea. „Und natürlich nehmen wir den Kadaver mit und lassen ihn ausstopfen. Das bringt sicher auch was ein.“

„Hoffentlich!“, grummelte Peter, und ein bisschen missmutig – seine Schultermuskeln krampften bereits von der ständigen Anspannung – erkundigte er sich: „Sag mal, wie lange denn noch? Wohnt der Typ ganz oben auf dem Gipfel, dort, wo die Geier hausen?“

„Nein, natürlich nicht.“ Lea faltete den Anfahrtsplan auseinander, den Alexander Stein ihr gemailt hatte. „Wir müssten jetzt bald zu einem kleinen Parkplatz kommen. Dort lassen wir das Auto stehen und steigen auf eine Seilbahn um.“

„Und die ist auch sicher an einem normalen Wochentag in Betrieb?“, fragte Peter misstrauisch und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Zehn nach vier! Um diese Uhrzeit fährt doch kein Schwein mehr auf den Berg hinauf. Schon gar nicht im Herbst! In einer oder zwei Stunden ist es stockfinster.“

„Das ist keine öffentliche Seilbahn, Schatz. Früher mal, als die Hütte, in der Alexander jetzt wohnt, eine Raststation für Bergsteiger war, war es eine Materialseilbahn. Die hat er reparieren lassen. Wenn wir oben sind, müssen wir irgendwo auf einen Knopf drücken, dann klingelt es bei ihm und er schaltet die Seilbahn ein.“

„Wow! Muss ja ein ganz schön exzentrischer Typ sein, dein Freund.“ Peter warf seiner Liebsten einen amüsierten Seitenblick zu. „Und der schreibt auch Kinderbücher, so wie dein verstorbener Mann?“

„Nein, Alex schreibt Romane.“ Leas Stimme klang verwundert. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass du noch nie etwas von ihm gehört hast?“

„Nee!“ Peter schüttelte den Kopf. „Alexander Stein … nein, tut mir leid, noch nie gehört.“

„Ach Gott!“ Lea König schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Ich war so aufgeregt, endlich mal wieder was von ihm zu hören, dass ich dir wohl die Hälfte verschwiegen habe. Er veröffentlicht seine Bücher nicht unter seinem richtigen Namen, er schreibt unter einem Pseudonym. Nicht Alexander Stein, sondern Lex Stone.“

„Himmel!“ Peter hatte das Steuer verrissen und wäre um ein Haar gegen einen Baumstamm gekracht. „Jetzt hör aber auf! Den kenne ich natürlich! Den kennt jeder! Habe alle seine Bücher gelesen. Der ist genial. Mensch! Wenn ich das gewusst hätte, dann hätte ich ein paar Ausgaben zum Signieren mitgebracht.“

„Dort vorne! Wir haben es geschafft!“ Lea atmete erleichtert auf, als die dichten Baumreihen sich jetzt lichteten und ein ebener Platz mit einem hölzernen Unterstand sichtbar wurde. „Und du wirst noch oft genug Gelegenheit haben, deine Bücher signieren zu lassen. Alex war Marios bester Freund, wir haben damals sehr viel Zeit zusammen verbracht, und er hat auch ein paar Monate lang bei uns gewohnt. Natürlich werde ich ihn nach Frankfurt einladen, und ich hoffe doch sehr, dass wir uns in Zukunft noch oft wiedersehen werden.“

„Gut! Ich habe nichts dagegen.“ Peter parkte seinen Wagen neben einem Range Rover, der in dem Holzverschlag stand, stieg aus und streckte ächzend seinen schmerzenden Rücken durch. „Ich hätte nie gedacht, dass wir hier jemals lebend ankommen.“ Er grinste. „Die Straße ist ja gemeingefährlich.“

„Stimmt! Ich glaube, die war auch ursprünglich gar nicht für Autos gedacht. Darauf wurden wahrscheinlich die Kühe auf die Alm getrieben.“

Auch Lea stöhnte, als sie ausgestiegen war und jetzt die kalte würzige Bergluft tief einsog.

„Aber die Mühe hat sich gelohnt“, fand sie. „Sieh dich doch einmal um.“

„Traumhaft!“, bestätigte der Notarzt und drehte sich langsam im Kreis herum.

Steile Bergwiesen, dichte, sattgrüne Tannenbäume und schroffe Felsen. Ein glasklarer Bergbach rauschte in einiger Entfernung talwärts, und über allem wölbte sich ein wolkenloser Himmel, der zum Greifen nahe schien.

„Hier ist die Klingel, von der Alex geschrieben hat. Ich drücke schon mal!“ Lea war zu einem kleinen Steinhäuschen vorausgelaufen, aus dessen Innerem dicke Stahlseile herauskamen und den steilen Abhang hinaufführten.

„Okay, ich komme gleich.“ Peter öffnete den Kofferraum und nahm eine Sporttasche heraus. Darin befand sich Kleidung zum Wechseln für Lea und ihn sowie alles, was man sonst noch so brauchte, wenn man irgendwo übernachtete. Sie wollten über Nacht bleiben und erst am nächsten Abend nach Frankfurt zurückfahren.

„He, süß! Ob wir da beide reinpassen?“ Eine kleine blaue Gondel kam lautlos von oben heruntergeschwebt. Peter runzelte die Stirn, denn das schwankende kleine Ding war ihm nicht ganz geheuer.

„Wenn nicht, kannst du dich ja aufs Dach setzen, Schatz“, scherzte Lea.

„Na, vielen Dank auch! Ausgerechnet ich mit meiner Höhenangst!“ Peter schüttelte sich. Alleine die Vorstellung ließ ihn schaudern. Er warf sich die Sporttasche über die Schulter und schloss den Wagen ab. „Ich hoffe, das Teil bleibt wenigstens kurz stehen, wenn es unten ist. Oder müssen wir hinein hechten, und wer’s nicht rechtzeitig schafft, hängt die ganze Fahrt lang bis zur Hälfte raus?“

„Die bleibt stehen und fährt erst wieder los, wenn wir drinnen auf einen Knopf drücken.“

„Und was, wenn die unterwegs irgendwo hängenbleibt? Oder wenn gar das Seil reißt und wir abstürzen? Hier ist weit und breit niemand, der uns zu Hilfe kommen könnte.“

Lea lachte laut auf. „Dann lautet die Überschrift in den morgigen Zeitungen: Die Rache des Wolpertingers! Der dapperte Bazi und die damische Gretl haben ihre gerechte Strafe erhalten.“

„Schön! Jetzt geht es mir gleich viel besser. Du weißt halt wirklich immer, wie du einem die Angst nehmen kannst. Typisch Psychologin.“

Peter, dem große Höhen immer ein bisschen unheimlich waren, versuchte, ebenfalls zu lachen, aber es hörte sich eher wie das letzte Röcheln eines Ertrinkenden an.

„Es kann doch nichts passieren, du Angsthase!“ Lea knuffte Peter aufmunternd in die Seite. „Sieh dir doch mal die dicken Stahlseile an. Es ist völlig unmöglich, dass die kaputtgehen.“

„Ja, das haben die damals über die Atomkraftwerke auch gesagt, und dann hat’s Bumm gemacht“, ätzte Peter.

Misstrauisch beäugte er die Gondel, die jetzt, da sie direkt davor standen, doch nicht so klein wirkte.

„Ich wünschte, ich hätte mir was zu trinken mitgebracht“, jammerte er, öffnete zaghaft die Tür der Gondel und musste lachen. „Alexander Stein, ich mag Sie jetzt schon gut leiden!“

Auf einer der beiden Sitzbänke stand ein Tablett mit zwei Gläsern, einer halb vollen Flasche Whisky, einer Flasche Wasser und einer Schüssel mit Eiswürfeln.

***

Obwohl sie die Hände am Steuer hatte, fuhr Nadines mitternachtsblaues Porsche-Kabrio mehr oder weniger ganz von alleine bis vor ihre Stamm-Bar im Frankfurter Bankenviertel. Wie ein Pferd, das immer in seinen Stall zurückfindet, auch wenn es den Reiter unterwegs abgeworfen hat.

Na gut, wenn sie schon mal da war, warum nicht? Sie trank ja sonst kaum jemals etwas, aber jetzt musste sie sich dringend den ekligen Nachgeschmack von ihrem Besuch bei den Anonymen Alkoholikern aus der Kehle spülen.

Dr. Kersten, der Leiter der Notaufnahme an der Sauerbruch-Klinik, hatte ihr den Tipp gegeben. Sie hatte die Notaufnahme ein paarmal nach kleineren Unfällen aufgesucht, und er hatte gemeint, sie bräuchte Hilfe.

Irgendwie war sie sogar ganz froh, dort gewesen zu sein. Jetzt wusste sie nämlich, wie richtige Alkoholiker aussahen, und sie war keine von denen. Definitiv nicht!

Den Typen, der hinter der Bar stand, hatte sie hier noch nie gesehen. Aber sie war ja auch noch nie um diese Uhrzeit hier gewesen. Sonst schaute sie immer erst nach dem Feierabend auf einen Sprung herein.

„Einen doppelten Scotch!“

„Auf Eis?“ Der Barmann musterte sie von oben bis unten. Was er sah, schien ihm zu gefallen, denn er hob anerkennend die Augenbrauen hoch und blinzelte ihr dann grinsend zu.

„Hab ich was von Eis gesagt?“, brauste sie auf.

Diese Verzögerung machte sie wütend. Sie wollte ihren Drink jetzt sofort haben und nicht erst Konversation betreiben.

„Die können Sie sich hinten reinschieben. Eiswürfel sind gut gegen Hämorrhoiden. In meinem Scotch haben sie aber nichts verloren. Okay? Also, wenn’s geht, noch heute!“

Ungeduldig trommelte sie mit ihren perfekt manikürten Fingernägeln auf das blank polierte Kirschholz des Tresens. Ihre Nervenstränge vibrierten wie die Saiten einer E-Gitarre, und ihre Kehle war so ausgetrocknet, dass ihr die Zunge beim Sprechen am Gaumen kleben blieb.

„Alles klar. Ich trinke ihn auch am liebsten pur.“ Er lachte, stellte ein Glas auf den Tresen und nahm die Flasche vom Regal.

Ohne auch nur ein einziges Mal zu blinzeln, schaute Nadine fasziniert zu, wie die bernsteinfarbene Flüssigkeit langsam in das Glas floss. Nichts auf der Welt funkelt so schön wie wirklich guter Whisky in einem edlen Kristallglas. Wie ein flüssiges Juwel. Gold oder Diamanten konnte da bei Weitem nicht mithalten. Und so etwas Schönes sollte ungesund sein? Niemals!

„Danke!“ Den ersten Schluck ließ sie ganz langsam durch ihre Kehle fließen. Augenblicklich beruhigten sich ihre angespannten Nerven, ihre Hände hörten auf zu zittern, und eine angenehme Wärme breitete sich in ihrem Körper aus.

Ein Alkoholiker würde das ganze Glas auf Ex leeren. Das war eben der große Unterschied zwischen ihr und den erbärmlichen Frustwachteln im Sesselkreis. Sie, Nadine, genoss einen teuren Whisky mit allen ihren Sinnen. Sie trank mit Stil. Die dort, wo sie gerade herkam, die soffen billigen Fusel, um sich zuzudröhnen und ihr trauriges, kleinen Leben zu vergessen.

Oh Gott, wie gut das tat! Sie fühlte sich wie neugeboren.

„Und jetzt einen Wodka-Martini!“

„Geschüttelt oder gerührt?“

„Ha-ha!“ Nadine verdrehte genervt die Augen. „Ich sitze dort hinten.“ Sie zeigte zu einem kleinen Tisch in einer Nische. „Bringen Sie ihn mir, wenn er heute noch fertig wird. Sie haben sonst eh nichts zu tun.“

Sie schaute sich um. Tatsächlich war sie der einzige Gast.

Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und stellte erleichtert fest, dass sie noch eine gute halbe Stunde hatte, ehe sich die Bar mit lauter bekannten Gesichtern füllen würde. Wenn die Börse den täglichen Handel einstellte und die Schlusskurse feststanden, dann war für sie und ihresgleichen die Zeit gekommen, um sich ein paar Minuten lang zurückzulehnen und die Erfolge zu feiern oder den Schock über die Verluste zu ertränken.

Nadine hatte eigentlich vorgehabt, sich in den nächsten Tagen von hier fernzuhalten. Sie hatte sich eine Auszeit genommen, nachdem sie fast ein ganzes Jahr lang ohne einen einzigen freien Tag durchgearbeitet hatte.

Ihr Chef hatte ihr großzügig einen Monat Urlaub gewährt. Na klar, bei den Angeboten, mit denen andere Banken sie abwerben wollten, musste er sie ja auch wie ein rohes Ei behandeln, um sie an sich zu binden!

Ja, sie war wirklich eine der Besten, und das hatte sich längst herumgesprochen – nicht nur hier in Frankfurt. Dafür kassierte sie auch einen Monatslohn, der weit höher war als das durchschnittliche Jahreseinkommen eines normalen Angestellten.

Sechzehn mal im Jahr natürlich. Dazu kamen noch Bonuszahlungen im sechsstelligen Bereich, bei besonders großen Erfolgen auch schon mal siebenstellig.

Eigentlich hätte sie überglücklich sein müssen. Warum war sie das nicht? Wann hatte sie damit angefangen, mehr als den einen Cocktail nach Börsenschluss und das eine Glas Champagner nach einem besonderen Erfolg zu trinken?

Apropos …

„Hey!“ Nadine hob die Hand und schnippte mit den Fingern.

„Noch mal Wodka-Martini?“

„Nein! Einen doppelten Bourbon! Diesmal können Sie Eis reinmachen, wenn Sie wollen!“

Eigentlich mochte sie es nicht besonders, wenn edler Whisky mit Wasser verpanscht wurde, aber andererseits liebte sie das melodische Klirren der Eiswürfel im Glas. Und der Whisky würde sowieso nicht so lange stehen bleiben, dass das Eis schmelzen konnte …

Irgendwann hatte sie angefangen, die Sinnhaftigkeit ihres Lebens infrage zu stellen. Wenn sie am Morgen aufstand, dann war es ihr völlig egal, ob die Sonne schien oder nicht. Ihr erster Blick ging nicht aus dem Fenster, sondern auf die Bildschirme ihrer acht Laptops, über die Tag und Nacht die internationalen Börsenkurse flimmerten.

Wenn das ganze Land trauerte, weil ein paar Hundert Menschen bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen waren, dann riss sie die Arme hoch und jubelte, weil sie wieder einmal den richtigen Riecher gehabt und die Aktien der Fluggesellschaft rechtzeitig abgestoßen hatte.

Kriegshandlungen im Nahen Osten, der drohende Ausbruch eines Weltkriegs? Großartig! Sie hatte Millionen in Rüstungsaktien investiert.

Dürrekatastrophen, bei denen Menschen starben, bescherten ihr fette Gewinne, weil sie rechtzeitig auf Wasser gesetzt hatte.

Wer scherte sich um ein paar Tausend Tote, wenn ein Atomkraftwerk von einem Tsunami plattgemacht wurde? In ihren Kreisen nur der, der auf den wertlosen Aktien sitzenblieb.

Als ihr Freund sie vor einem Jahr kurz vor der Hochzeit verlassen hatte, hatte sie gelacht und ihm fröhlich nachgewunken. Er hatte es nicht mehr ertragen können, dass ihr Wecker nachts mehrmals zu festgesetzten Zeiten klingelte und sie aufsprang, um die aktuellen Trends der wichtigsten Börsen – New York, Toronto, Shanghai, Peking, Tokio und Südkorea – zu beobachten.

Geweint hatte sie zum letzten Mal, als die groß angekündigte Verseuchung der Welt mit Ebola ergebnislos im Sande verlaufen war. Sie hatte sich nämlich von den Pharma-Aktien einen fetten Gewinn versprochen.

Ja, damals hatte es angefangen. Damals war gerade ihr Bruder zu Besuch gewesen, und er hatte sie mit einem Blick angesehen, mit dem sie maximal eine Kakerlake in ihrer vor Chrom funkelnden Designerküche oder ein Silberfischchen im Whirlpool ansehen würde.

„Interessant!“, hatte er gesagt. „Früher dachte ich immer, Leute, die Kapital aus dem Leid ihrer Mitmenschen schlagen, seien eine eigene Spezies, so etwas wie Außerirdische. Ich konnte mir nie vorstellen, dass Menschen dazu in der Lage sind.“

Dann war er gegangen, und ihr ehemals gutes Verhältnis hatte sich ein wenig abgekühlt.

Damals hatte sie angefangen, ihr Leben infrage zu stellen und sich ein bisschen vor sich selbst zu ekeln. Und den Ekel mit einem Drink hinunterzuspülen.

Apropos …

„Noch einen doppelten Bourbon!“ Einer ging sicher noch, ehe die anderen „Außerirdischen“ kamen.

Sie knallte einen Geldschein auf den Tisch, als der Barmann den Drink vor sie hinstellte.

„Behalten Sie den Rest!“

„Das ist ein Fünfhunderter, Lady!“ Mit spitzen Fingern hielt er die Banknote hoch.

„Peanuts!“ Nadine lachte. „Heute werden Sie noch viel mehr Trinkgeld bekommen.“

„Wieso glauben Sie das?“

„Weil ich weiß, dass der DAX nach langer Zeit heute wieder einmal richtig gut steht.“

Sie leerte das Glas mit einem großen Schluck, stand auf und verließ die Bar.

***

Seit fast drei Monaten lebte Alexander Stein nun schon in der ehemaligen Berghütte auf halbem Weg zum Gipfel der Zugspitze. Aber noch immer wähnte er sich bei jedem einzelnen Schritt vor seine Tür in einer anderen Welt. Egal, in welche Richtung er schaute, der Anblick, der sich ihm bot, war so überwältigend, dass er einfach nur eine Weile still dastehen und staunen konnte.

Die ehemalige Bergsteigerhütte, die er gepachtet und zu einem gemütlichen Chalet ausgebaut hatte, stand auf der letzten, für normale Wanderer gerade noch erreichbaren Etappe. Von hier aus wagten sich nur noch erfahrene Bergsteiger weiter aufwärts.

Hinter dem Haus ragten die blanken Felsen hoch auf. Wanderte man ein paar Meter weiter nach links, kam man zu einem Bergsee, der von einigen unterirdischen Quellen mit kristallklarem Wasser gespeist wurde.

Das Wasser war so rein, dass man jeden einzelnen Stein auf dem Grund sehen konnte. So klar, dass es manchmal fast den Anschein hatte, die Bachforellen und Saiblinge, die sich darin tummelten, würden in der Luft schweben. Und man konnte es trinken. Es schmeckte besser als der teuerste Champagner.

Darin zu schwimmen, daran war leider nicht zu denken, so verlockend es auch sein mochte. Er hatte es versucht, doch der See war so eiskalt, dass man es kaum aushielt, die Füße länger als eine halbe Minute darin zu baden.

Rechts vom Haus zog sich ein Wäldchen ein Stück den Hang hinab. Laubbäume gab es in dieser Höhe nicht mehr, und die Tannen, Lärchen, Fichten und Kiefern waren kleinwüchsig, zerzaust und an der Wetterseite kahl.

Jenseits des Wäldchens sammelte sich das Wasser, das aus den Felsen kam, zu einem Wildbach, der sich im Laufe der Jahrtausende ein tiefes Bett gegraben hatte. Sein beständiges Rauschen war oft das einzige Geräusch hier oben.

Was für ein gewaltiger Unterschied das doch zu den letzten vier Jahren war, die er in New York zugebracht hatte! Sicher, er hatte auch das Tag und Nacht pulsierende Leben dort in vollen Zügen genossen. Aber das hier war das andere Extrem, und er brauchte die Abwechslung.

Alle paar Jahre drängte es ihn zu einem Tapetenwechsel. Das bewahrte ihn davor, bequem zu werden und geistig abzustumpfen.

Den Wunsch, eine Familie zu gründen, hatte er mittlerweile fast aufgegeben. Er war bisher einfach keiner Frau begegnet, mit der er sich vorstellen konnte, den Rest seines Lebens gemeinsam zu verbringen.

Natürlich hatte er so manche Beziehung hinter sich, und anfangs war es auch immer wunderbar gewesen. Doch irgendwann hatten all seine Freundinnen angefangen, sich zu verbiegen, um ihm zu gefallen und irgendwann Frau Stein zu werden.

Das war jedes Mal der Zeitpunkt gewesen, an dem er das Interesse an ihnen verloren hatte. Er wollte niemanden um sich haben, der ihn von morgens bis abends anhimmelte. Das langweilte ihn zu Tode!

Alexander hielt ein brennendes Streichholz an den Docht einer Petroleumlampe und drehte die Flamme dann ganz klein. Noch war die Sonne nicht untergegangen, noch war es hell. Aber die Bergstation der Seilbahn, mit der seine Gäste ankommen würden, lag zweihundert Meter unterhalb des Hauses, und auf dem Rückweg würde es bereits dunkel sein.

Er freute sich darauf, Lea König wiederzusehen. Zuletzt war er ihr auf der Beerdigung seines besten Freundes begegnet. Mario König war an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben, aber das war nun schon einige Jahre her. Seither hatten Lea und er sich nur geschrieben und selten miteinander telefoniert.

Offen gestanden war er ein bisschen enttäuscht gewesen, als Lea ihm vor einiger Zeit mitgeteilt hatte, dass sie in einer neuen Beziehung war. Mit einem Notarzt. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es einen Mann gab, der Mario das Wasser reichen konnte.

Trotzdem war er neugierig auf Leas neuen Freund, und er nahm sich fest vor, es ihm nicht übelzunehmen, dass er Marios Platz eingenommen hatte. Er nahm sich auch vor, mit Lea nicht zu viel über die Vergangenheit zu reden, damit der Mann sich nicht wie das fünfte Rad am Wagen fühlte.

„Alex!“ Lea sprang aus der Gondel, noch ehe diese völlig zum Stillstand gekommen war. Sie lief zu ihm hin und fiel ihm stürmisch um den Hals. „Es ist so schön, dich endlich wiederzusehen!“

„Oh ja, ich freue mich auch sehr, Lea!“ Er küsste sie auf beide Wangen, hielt sie dann ein wenig auf Abstand und schaute sie an. „Du siehst großartig aus!“

Dann schaute er zu der Gondel hinüber, aus der jetzt ein Mann auf etwas wackeligen Beinen kletterte. Er musterte ihn interessiert. Groß, dunkelhaarig mit ein paar vereinzelten Silberfäden an den Schläfen und ziemlich attraktiv.

Alexander ging, mit ausgestreckter Hand und freundlich lächelnd, auf ihn zu.

„Sie müssen Herr Dr. Kersten sein! Ich freue mich, Sie endlich kennenzulernen!“

„Moment noch!“ Peter ignorierte die Hand, die sich ihm zum Gruß entgegenstreckte, drehte sich um und beugte sich noch einmal in die Gondel. „Mein bester Freund ist noch da drinnen. Ohne den mache ich hier keinen Schritt.“

Alexander warf Lea einen fragenden Blick zu. Die zuckte nur ratlos mit den Schultern.

Kurz darauf tauchte Peter wieder auf, hielt die Whiskyflasche fest im Arm und schüttelte nun endlich Alexanders noch immer ausgestreckte Hand.

„Prost, Herr Stein. Der hier hat mir das Leben gerettet und vermutlich ein paar Gämsen vor einer Taufe mit halbverdauter Pilzsoße mit Semmelknödeln bewahrt. Abwärts nehme ich dann morgen lieber die Rolltreppe oder den Esel, falls Sie einen haben. Falls nicht, tut es auch eine Plastiktüte, auf der ich talwärts rutschen kann.“

„Großartig!“ Alexander lachte laut auf und klopfte Peter auf die Schulter. Der Mann war ihm sofort sympathisch. „Ich vertraue mein Leben auch nur mit sehr gemischten Gefühlen der Technik an. Und mit großen Höhen habe ich es auch nicht so. Ich gehöre eher auch nicht zu den tollkühnen Hel …“

Er brach ab und drehte sich um, als er sah, wie Peters Augen sich weiteten.

„Ah, ihr kommt gerade rechtzeitig zur großen Abendvorstellung“, stellte er fest.

Die Sonne war inzwischen zur Hälfte hinter dem Gipfel verschwunden und tauchte die Felsen in ein rot-goldenes Licht. Hoch oben konnte man die schwarze Silhouette eines Steinbocks sehen. Reglos, den gehörnten Kopf majestätisch erhoben, stand er da und blickte auf sie herab.

„Fantastisch! Unglaublich! Bei so einem Anblick wird man wieder auf die richtige Größe zurechtgestutzt“, sagte Peter, ehrfürchtig staunend. „Im Gegensatz zu all dem hier sind wir unbedeutende Eintagsfliegen. Egal, wie wichtig wir uns vorkommen.“

Alexander Stein nickte. „Ja, dieser Anblick bewahrt einen davor, sich zu wichtig zu nehmen.“ Er drehte an der Petroleumlampe, bis die Flamme groß genug war, um den Weg auszuleuchten. „Bleibt dicht hinter mir. Hier gibt es ein paar Stellen, an denen man besser nicht stolpern sollte.“

„Hast du denn keine Taschenlampe?“, erkundigte sich Lea verwundert. „Wenn du was gesagt hättest, hätten wir dir eine mitgebracht.“

„Alm-Öhi mit Taschenlampe!“ Peter schüttelte den Kopf. „Das wäre ein absoluter Stilbruch, Schatz. Das wäre wie Schweinshaxe mit Sauerkraut auf Hawaii.“

„Ganz genau!“ Alexander klopfte Peter auf die Schulter. „Genau das war auch mein Gedanke. Ich denke, wir werden uns gut verstehen.“

„Wunderschön!“, hauchte Lea, die sich an Peters Arm festhielt, um nach oben schauen zu können, ohne zu stolpern. Sie erschrak, als plötzlich ein lauter Pfiff ertönte und etliche dunkle Schatten über die sanft ansteigende Almwiese wuselten.

„Murmeltiere!“ Alexander lachte. „Die sollten eigentlich schon längst schlafen. Aber heute war es tagsüber ziemlich warm, da genießen sie wohl noch ein bisschen die kühle Abendluft.“

„Aha, und einer von denen hat jetzt wohl gemeldet, dass Feinde im Anmarsch sind?“, mutmaßte Peter.

„Ja, aber mich haben die schon längst als nicht besonders geländegängigen und völlig harmlosen Tollpatsch eingestuft“, behauptete der Schriftsteller grinsend. „Von mir lassen die sich nicht mehr stören. Im Gegenteil: Manchmal, wenn sie um die Hütte herumtollen, habe ich das Gefühl, die machen sich über mich lustig. Aber der dort oben will sich wohl noch einen kleinen Abendsnack besorgen, und mit dem ist wirklich nicht gut Kirschenessen.“

„Ein Adler!“ Lea sog die Luft ein, als ihr Blick Alexanders ausgestrecktem Zeigefinger folgte und sie den riesigen Vogel sah, der im letzten rötlichen Schein der nun fast untergegangenen Sonne lautlos seine Kreise zog. „Traumhaft schön!“

„Für uns schon.“ Peter schmunzelte. „Für die Murmeltiere ist er wohl eher ein Albtraum. Jack the Ripper mit Federn.“

„Tja, es ist eben alles relativ“, stimmte Lea ihm zu.

„Wow!“, rief der Notarzt erstaunt aus, als sie jetzt eine kleine Baumgruppe hinter sich gelassen hatten und das Haus vor ihren Augen auftauchte.

Durch die großen Fenster des fast ganz aus Holz erbauten Chalets fiel ein milder Lichtschein, und Rauch stieg aus dem Schornstein auf.

„Lea hat die ganze Zeit von einer Hütte geredet. Ich habe Schlafsäcke mitgebracht, weil ich dachte, wir müssen bestimmt im Heu oder auf einer Ofenbank schlafen. Aber das ist ja fast eine Villa.“

Auch im Inneren des Hauses war beinahe alles aus Holz. Alexander hatte versucht, möglichst viel von den alten Strukturen zu erhalten. Der untere Stock bestand aus einem weitläufigen und sehr hohen Raum, in dem es auf einer Seite eine Küche mit einem großen Esstisch gab und auf der anderen Seite eine gemütliche Sitzecke um einen offenen Kamin herum. Darin knisterte bereits ein anheimelndes Feuer und verströmte einen würzigen Duft nach Tannenzapfen und Harz.

Die steile Treppe, die den Raum in zwei Hälften teilte und die früher auf den großen Dachboden hinaufgeführt hatte, auf dem die Bergsteiger im Heu übernachtet hatten, war noch erhalten und nur abgeschliffen und lackiert worden. Oben gab es zwei Schlafzimmer und ein Bad, außerdem hatte sich Alexander ein Arbeitszimmer eingerichtet, von dem aus er einen atemberaubenden Ausblick bis hin zum Bergsee hatte.

Als sie sich ausgiebig umgesehen, sich im Gästezimmer frischgemacht und dann gemeinsam Abendbrot gegessen hatten, schnappte sich Peter seine Kaffeetasse, klemmte sich einen Schlafsack unter den Arm und ging zur Tür.

„Ihr habt euch vermutlich eine ganze Menge zu erzählen, wobei ich ohnehin nicht mitreden könnte und nur stören würde“, sagte er. „Ich setze mich draußen in einen Liegestuhl und genieße den Sternenhimmel. Sollte ich einschlafen, dann weckt mich bitte, ehe ihr zu Bett geht. Nicht, dass mich morgen früh der Adler zum Frühstück verspeist.“

Als sich die Haustür hinter Peter geschlossen hatte, ließ sich Lea in einen bequemen Ohrensessel nahe am Feuer fallen und schaute fragend zu Alexander auf.

„Und?“, wollte sie wissen.

Der Schriftsteller lachte.

„Ich hatte mir vorgenommen, Marios Nachfolger trotzdem freundlich zu empfangen. Ärzte sind ja oft ein bisschen …“ Er hob die Nase hoch in die Luft und verdrehte grinsend die Augen. „Na ja, du weißt schon, was ich meine. Was soll ich sagen? Ich mag ihn jetzt schon. Guter Mann! Sehr sympathisch! Ein würdiger Nachfolger. Auch Mario hätte ihn gemocht, davon bin ich überzeugt. Meinen Segen hast du, Lea.“

***

Während früh am nächsten Morgen über der Zugspitze eine strahlende Sonne aufging, wachte Nadine Langer in Frankfurt mit einem schlimmen Kater auf. Würgend wälzte sie sich aus dem Bett und erschrak, als eine leere Wodkaflasche polternd auf den Boden fiel und auf dem edlen glänzenden Parkett durch das halbe Schlafzimmer rollte.

In gebückter Haltung, beide Hände vor den Mund gepresst, wankte sie ins Bad und spuckte eine beachtliche Menge von etwas, das sich wie pure Säure anfühlte, in die Toilette. Ein kurzer Blick in den Spiegel bescherte ihr zusätzlich zu der quälenden Übelkeit und den hämmernden Kopfschmerzen auch noch einen Schock. Ihr Gesicht war schwammig und aufgedunsen, die Augen blutunterlaufen, die Haare strähnig und die Nase an der Spitze gerötet.

„Das wird schon wieder!“, sprach sie sich selbst Mut zu. „Das ist normal, wenn man schlecht schläft.“

Die leere Wodkaflasche hob sie mit spitzen Fingern hoch und trug sie, ohne sie anzusehen, in die Küche. Dort warf Nadine sie in den Mülleimer und löschte sie dann aus ihrem Gedächtnis.

Sie hatte gestern vermutlich irgendwas gegessen, was sie nicht vertragen hatte. Kein Wunder also, dass sie schlecht geschlafen hatte und ihr jetzt übel war!

„Sieben! Himmelherrgott noch mal!“

Ein Blick auf die Uhr an der Mikrowelle zeigte ihr, dass sie sämtliche wichtigen Börsenzeiten verschlafen hatte. Sie torkelte in ihr Arbeitszimmer, um nachzusehen, was sich auf den internationalen Märkten getan hatte, konnte aber mit ihren verquollenen Augen die kleinen rot und grün blinkenden Zahlen nicht ausmachen.

„Verdammt!“

Sie dachte angestrengt darüber nach, wo sie gestern zu Abend gegessen hatte. Sie würde den Restaurantbesitzer verklagen, der ihr eine verdorbene Speise vorgesetzt hatte.

„Gar nicht“, fiel es ihr wieder ein.

Sie hatte gestern weder zu Mittag noch am Abend etwas gegessen. Sie war nur abends in der Bar gewesen und hatte ein paar Gläser Whisky und einen, zwei oder drei Wodka-Martini gekippt.

„Na gut, dann waren die eben verdorben!“

Klar, da war doch dieser Barmann gewesen, den sie in ihrer Stamm-Bar noch nie zuvor gesehen hatte. Ein Anfänger vermutlich, der irgendwas falsch gemacht hatte. Ein unsauberes Glas vielleicht – oder eines, an dem noch Spülmittel klebte.

„Na, egal!“ Sie hatte ja Urlaub und konnte sich auch den ganzen Tag lang im Bett verkriechen, wenn sie wollte.

Urlaub! Bei diesem Stichwort fiel ihr wieder ein, warum sie gestern noch eine ganze Flasche Wodka geleert hatte.