Der singende Fels – Schamanismus, Heilkunde, Wissenschaft - Galsan Tschinag - E-Book

Der singende Fels – Schamanismus, Heilkunde, Wissenschaft E-Book

Galsan Tschinag

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Beschreibung

Zum ersten Mal erzählt Galsan Tschinag über seine schamanische Arbeit: als Heiler, der das uralte Wissen seines Volkes vom Altai nach Europa bringt. Galsan Tschinag und Klaus Kornwachs – Schamane und Technikphilosoph – tauschen sich unter der Gesprächsleitung von Maria Kaluza aus. Zu ihren Themen gehören Fragen nach dem Individuum in seiner Gemeinschaft, Natur und Technik, die Vereinbarkeit von westlicher und östlicher Spiritualität, die unterschiedlichen Konzepte von Gesundheit und Heilung, der Umgang mit Träumen, Tod und einem Leben danach. In diesem Trialog ohne Scheuklappen suchen die drei Partner Verwandtschaften und stellen die Unterschiede fest. Das Ergebnis ist ein ebenso erhellender wie provozierender und kurzweiliger Brückenschlag zwischen verschiedenen Formen des Wissens um diese unteilbare Welt.

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Über dieses Buch

Zum ersten Mal erzählt Galsan Tschinag über seine Arbeit als Heiler, der das Wissen seines Volkes nach Europa bringt. Mit Klaus Kornwachs, Technikphilosoph, tauscht er sich unter der Gesprächsleitung von Maria Kaluza aus. In diesem Trialog ohne Scheuklappen suchen sie Verwandtschaften und stellen die Unterschiede fest.

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Galsan Tschinag, geboren 1943 in der Westmongolei, ist Stammesoberhaupt der turksprachigen Tuwa. Er studierte Germanistik in Leipzig und schreibt viele seiner Werke auf Deutsch. Er lebt in Ulaanbaatar und verbringt die restlichen Monate abwechselnd als Nomade in seiner Sippe und auf Lesereisen.

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Maria Kaluza (*1954) organisiert Veranstaltungen zum Dialog der Kulturen und zu interreligiösen Diskursen und leitet eine Forschungsgruppe schamanisch arbeitender Frauen in Deutschland. Seit 2003 pflegt sie eine enge Zusammenarbeit mit Galsan Tschinag.

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Klaus Kornwachs (*1947) ist nach einem Studium der Physik, Mathematik und Philosophie seit 1992 u. a. Professor für Technikphilosophie an der Universität Cottbus. Seine Forschungsinteressen liegen in der wissenschaftstheoretischen Analyse der Technik sowie im Verhältnis von Kultur und Technik.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Galsan Tschinag

Der singende Fels – Schamanismus, Heilkunde, Wissenschaft

Ein Gespräch mit Klaus Kornwachs und Maria Kaluza

Herausgegeben von Maria Kaluza

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

© by Unionsverlag, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Leonhard Kornwachs

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30347-8

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Version vom 23.11.2022, 20:21h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

Impressum

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Inhaltsverzeichnis

DER SINGENDE FELS – SCHAMANISMUS, HEILKUNDE, WISSENSCHAFT

EinleitungVom Werden eines SchamanenTrance, Gesang, WiderstandFluch und gute WünscheSchamanenkrankheitDas Ich und die wärmende GemeinschaftDistanz und ZweifelDas Wissen des OstensGeistiges EigentumWerte und HandelnSchöpfung und NaturWorteWas können wir erkennen?MethodenSchamanismus und WissenschaftWas ist der Mensch?Wissen ist noch nicht HandelnMacht der WorteSpiritualitätMaschinen und SpiritualitätDas Universum ist einsHeilen – Heil – HeilungDistanz und NäheHeil und HeilungSchicksalsbeutelHeilweisenEsoterik als KonsumVertrauen und SelbstheilungSchamanisches Heilen und QuantentheorieIntuitionTräume und andere WirklichkeitenTagträumeSterben – Hoffen – WiederkehrenDie Angst nehmenNahtoderfahrungAus dem Leben gehenGlückWissen und WeisheitAltes Wissen, neue TechnikWirkwelt und MerkweltVerstand und VernunftBrücken bauenDank

Anmerkungen

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Über Galsan Tschinag

Über Maria Kaluza

Über Klaus Kornwachs

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Einleitung

Ich will

Weil ich muss

Bei dir ankommen und

Mich mit dir zusammentun

Damit ich

Um das mehr bin

Was du bist

Und du

Um das mehr bist

Was ich bin1

Galsan Tschinag

Am Anfang stand ein Traum, der mich geträumt hat. Der Traum, eine Brücke zu bauen zwischen Ost und West, der Nomaden- und der Fortschrittswelt, dem Schamanentum und der Wissenschaft. Eine Brücke durch Zeit und Raum, gangbar für beide Kulturen, eine jede behaust in der ihr eigenen Welt mit ihren Denk- und Lebensvorstellungen.

Ich fragte mich, sind schamanische Spiritualität und Heilweise dialogfähig mit moderner Wissenschaft, schließen sich Wissenschaft und Spiritualität aus, oder sind es einander ergänzende Zugänge zur Welt, fähig, sich gegenseitig zu befruchten? Wie wird der Mensch gesehen in der jeweiligen Kultur, Gesundheit und Krankheit, Glück und Tod?

In Galsan Tschinag, Häuptling der Tuwa, Schamane und Dichter, und Klaus Kornwachs, Philosoph und Physiker, habe ich zwei Gesprächspartner gefunden, die sich einlassen konnten auf eine tief gehende Begegnung. An jeweils zwei Klausurtagen im Mai und Oktober 2006 führten wir mehr als fünfundzwanzig Stunden Gespräche über Grundfragen der Menschen, erlebten Resonanzen zwischen der Erfahrungs- und der Wissenschaftswelt.

Eine Begegnung trägt in sich die Chance, mehr zu werden um das, was der jeweils andere mit sich bringt. Oder wie Galsan Tschinag sagt: »Man erweitert seine Heimat und vermehrt seine Verwandtschaft. Zunächst sucht man nach Ähnlichkeiten, stellt die Unterschiede fest. Nach einer Weile reicht der Altai bis ins Allgäu, ich weiß nicht mehr, wo Asien aufhört und Europa anfängt. Ich denke vielmehr immer an ein Eurasien. Das ist ja ein einheitlicher Erdteil in sich. Alle Pflanzen, die wir haben, wachsen auch hier. Und so bin ich selbst eine menschliche Pflanze und komme hierher mit den Freuden und Sorgen meines Volkes, mit den Träumen meiner Vorfahren und meiner Nachkommen. Also habt ihr nicht nur mich, Galsan Tschinag, jetzt als Gast aufgenommen, ihr habt vielmehr auch meine Weltecke, den asiatischen, den östlichen Teil Eurasiens, und mein Volk, unsere Vergangenheit, unsere Schwächen, unsere Stärken, unsere Sorgen, Freuden, alles, alles aufgenommen. Das muss man erst einmal verdauen. Man kommt als Gast nicht nur selbst an, man kommt auch mit seinen Problemen, seiner Geschichte an.«

Ein Dialog galt in der abendländischen Philosophie schon immer als ein mögliches Mittel, um sich in guter sokratischer Tradition die Grenzen des eigenen Wissens aufzuzeigen und gerade dadurch zu einer Erweiterung der eigenen Erkenntnisse zu kommen. Ein gelungener Dialog basiert nicht nur auf dem geistigen Zusammenklang der Beteiligten, sondern auch auf der Atmosphäre freundschaftlicher Harmonie. Hier ist es ein Trialog geworden. Die Gespräche waren getragen von gegenseitigem Respekt, vom Einander-Zuhören, aber auch von einer herzlichen Heiterkeit. Es gab überraschende Übereinstimmungen, manches auch, bei dem die unterschiedliche Sichtweise stehen bleiben konnte. Das Eigene wurde deutlicher sichtbar durch den Blick des jeweils anderen.

Galsans Erkenntnis: »Alle Zeiten treffen sich im Jetzt und alle Orte im Hier. Und so gesehen, schwindet jeglicher Gegensatz von selbst, und dort, wo dieses geschieht, öffnen sich die menschlichen Sinne den Zuströmungen des Daseins wohl am weitesten.«

Maria Kaluza, Januar 2009

Vom Werden eines Schamanen

GALSAN TSCHINAG: Schamane wird man nicht, das ist man. Das ist die eine Seite der Wahrheit. Die andere ist: Der Schamane wird aufgebaut. Es geht ja um ein besonderes Talent, um die Fähigkeit, mehr hören, mehr sehen, mehr wahrnehmen zu können als andere. Das ist in meiner Weltecke eine kostbare Gabe. Hierzulande gibt es geniale Menschen mit allen möglichen Fähigkeiten. Aber weil die Wissenschaft davor steht und die Paragrafen, haben die Menschen Angst, ihre Fähigkeiten zu zeigen, sie zu leben. Sie sind scheu oder schämen sich. Sie befürchten, in die Psychiatrie gesteckt zu werden. Deshalb verstecken sich viele Menschen mit ihren besonderen Fähigkeiten.

Bei uns achten die Leute darauf, wenn sich der erste Wahnsinn gelegt hat, welche Aussagen vom Schamanen, der Schamanin kommen. Wenn so etwas auftaucht, Hellsehen, Vorausschau, Gedankenübertragung, das wird bewusst gelebt, das ist kein Grund, sich zu schämen, sondern ein Grund, sich zu freuen. Vielleicht beginnt damit etwas Großes, etwas Geniales. Alle Menschen nehmen daran Anteil. Und fangen an, diesen Menschen aufzubauen, ihm Selbstsicherheit zu geben, der- oder diejenige soll seine/ihre Fähigkeiten weiterentwickeln. Jeder Schamane, jede Schamanin, jeder Khan (König) ist auch des Volkes gemeinsames Werk, alle werden aufgebaut, bestärkt in ihren Fähigkeiten. Die anfänglichen Quoten, dass man Zutreffendes aussagt oder vorhersagt, sind zum Verzweifeln niedrig. Ein junger Schamane macht zehn Aussagen, fünf sind falsch, fünf sind richtig. Aber die nomadische Gesellschaft ist eine sanfte, gutmütige Gesellschaft. Die nicht getroffenen Aussagen werden einfach weggeschickt, vergessen, der ist ja noch jung, der muss ja erst werden. Die wenigen zutreffenden Aussagen werden weitererzählt, groß propagiert, es wird Werbung gemacht. (Lacht) Dadurch kommen immer neue Erwachsene, und das sind die künftigen Kunden. Mit jedem neuen Kunden wird man sicherer. Man bekommt Festigkeit unter den Füßen, man bekommt Gewissheit in den Fingern, und man bekommt Klarheit im Kopf.

Und dann kommt noch hinzu: Auch beim Schamanen ist ein Teil Begabung, der Rest ist harte Arbeit, Bildung, Ausbildung, Lernen und nochmals Lernen. Ich bin mit etwa vier bis fünf Jahren schon in die Lehre gekommen. Die erste Ausbildungsstunde – schrecklich.

Die Schamanin2 hat erkannt, der Junge ist wach, der kann es aufnehmen. Deswegen hat sie sich mit mir abgequält und ich mich mit ihr. Zum Beispiel: In der ersten Stunde hatte ich einen Felsen anzusingen, musste einen hohen dunklen Felsen ansingen. Die Schamanin hat mir zwei Zeilen gesagt: »Du sollst so anfangen. Singe ihn an und sag mir dann, was der Fels zu dir sagt.«

Ich singe und singe … Nichts – tauber, toter Fels. Ich war auch überzeugt davon, dass der Fels mir nichts sagen würde. Was kann so ein tauber toter Fels mir sagen? Also war ich selbst nicht überzeugt. Dann wiederholten sich diese Stunden Tag für Tag. Jeden Tag dasselbe, bis zur Heiserkeit. Blasendruck, Darmdruck. Nein, nein, die lässt mich nicht gehen, lässt mich stehen, bei Hitze, bei Wind. Alle anderen Kinder spielen, spielen, ach wie schön. Ich möchte auch wegrennen. Aber die sitzt da und gerbt Felle und näht Sachen, kocht dies und jenes. Und ich soll wieder zum Felsen hin singen und wieder, weiter, weiter … Irgendwann ist die Grenze erreicht, dass ich anfange, so ein klein bisschen wahnsinnig zu werden, und dann höre ich plötzlich: Der Fels spricht doch. Aber das war nicht der Fels, den ich zu sehen und zu kennen geglaubt habe. Das war ein Fels in mir. In mir hat etwas gesprochen, ich habe in mir also den Felsen gesehen und ihn gespürt. Und dann wusste ich und weiß es seitdem: Alles ist in uns …

Mit jedem Patienten bekommt man mehr Wärme und Sanftmut in der Seele. Man verliebt sich in das Leben, in das Universum, in jeden Menschen, in jeden Patienten ein wenig. Ja, als Heiler muss man sich in jeden seiner Patienten ein bisschen verlieben. In jedem Mann einen Bruder, vielleicht in einem alten Mann einen Vater, in einem jüngeren Mann einen Sohn und in einer jüngeren Frau eine Tochter, in einer älteren Frau eine Mutter sehen. Wenn das also geschieht, dann ist man auf einem richtigen Wege. Ich werde immer besser. Das geschieht sogar innerhalb eines Seminars. Wenn ich die ersten drei Patienten weich geknetet habe, spüre ich in den Fingern die Gewissheit mehr als vorher. Von Patient zu Patient werde ich besser, von Erfolg zu Erfolg. Aber auch von Niederlage zu Niederlage. Jede Niederlage, jeder Patient, der sich gegen mich gewehrt, der blockiert hat und der mir eine Schlappe geschenkt hat, ist eine gute Lehre. Gemeint ist die schamanische Lehrmeisterin

So wie Patient und Arzt einander beeinflussen, so helfen sich auch Heiler und Patient. Aber der Patient hilft dem Heiler genauso. Wenn der Patient dem Heiler entgegenkommt und ihn annimmt, dann geschieht Heilung sehr schnell. Ich baue an dem gesundenden Patienten auf, und der Patient baut am Heiler genauso auf. Das ist gegenseitig. So wird der Schamane aufgebaut. Ich bin ja ein Ergebnis von vielen Jahren.

KLAUS KORNWACHS: Der Schamane ruft seine zehntausend Geister … Sind das deine Helfer?

GT: Ich bin der Sekretär der guten Geister, ich bin der Geisterdompteur. Ich bin der Schlafraum eines großen Heeres von Geistern, ich muss sie nur wecken. Ich unterhalte sie, und sie unterhalten mich. Ich sage ja, alles ist beseelt, begeistet, die ganze Natur ist begeistet. Ich verbünde mich mit den Kräften der Natur. Ich fühle mich als Teil, als Splitter des Universums, ich bin nicht getrennt. Wie ich in einem Gedicht sagte: Wenn ich Stein bin, bin ich einfach Stein, ich ruhe. Wenn ich durch die Steppe gehe, bin ich Gras, ich wachse, raschle, verdorre. Gehe ich im Wasser, dann fließe ich und verstehe die Sprache des Wassers. Alles hat seinen eigenen Geist, es gibt zum Beispiel gute und böse Steine. Manche Steine wollen in Ruhe gelassen werden. Das ergibt in heutigen Zeiten einen Doppelsinn, Uran ist ja ein Gestein, das man besser nicht mit sich herumträgt. Wenn ich mich vollkommen mit der Natur vereine, dann lege ich die Person Galsan weg, ich bin dann einfach Stein, ich habe keine andere Aufgabe. Wenn man diese Fähigkeit erreicht hat, steht einem die Natur zur Verfügung, steht einem bei, wenn man sie ruft. Ich weiß auch, ich bin vom Himmel geliebt, er steht hinter mir. Ich kann ihn jederzeit herbeibitten, herbeibeschwören, und er ist da. Die Gebete geben mir selbst Festigkeit.

Trance, Gesang, Widerstand

KK: Welche Technik benutzt du, um dieses Einssein mit allem zu erreichen? Ist das eine Art Meditation, ein Leerwerden, wie man es aus dem Buddhismus kennt?

GT: Die Schamanen machen das nicht, sie haben eine andere Technik. Aber die Schamanen können sich sehr schnell in die Lage der anderen versetzen. Sie heben ab, sie fahren aus sich heraus, gehen in Trance. Wenn man das als junger Mensch einigermaßen geübt und einige Male gut gekonnt hat, dann gelingt es einem immer leichter. Die ersten Male sind die schwierigsten. Ich habe mich mit Kräutern vollgeraucht, ich musste mich mit Gewalt verdummen, mich vergessen.

KK: Was ist Trance in diesem Verständnis? Ein Rauschzustand? Ein veränderter Bewusstseinszustand?

GT: Das ist ein Rausch, ja, ich berausche mich an meinem eigenen Gesang, an der eigenen Weisheit. Gesang, das bedeutet ja, Texte, Verse aus dem Stegreif zu singen. Man erfindet auch eine Weise, eine Melodie. Der Schamane ist immer gleichzeitig ein Dichter und Komponist, der seine Musik sofort realisiert. Welche Melodie ich mir wähle, das ist Spinnerei. Der Schamane versteht schon etwas vom Improvisieren. (Singt) Beliebig lang halten … Und wenn mir nichts einfällt, einfach wiederholen: Lei lei lei tralalala – frei gewählt.

KK: Wenn ich lange alleine bin, dann stelle ich plötzlich fest, dass ich zuweilen singe. Eine Melodie, die nicht aus meinem Repertoire kommt.

GT: Die Melodie hat einen gefunden.

KK: Eine völlig neue Melodie, und das für mich Verblüffende: Ich singe auch Silben und Worte dazu, die ich aber nicht verstehe. Ich kann auch nicht sagen, aus welcher Sprache ich singe und ob das überhaupt eine Sprache ist.

GT: Da wärst du ja auf dem richtigen Weg zum Schamanen. (Lacht) Die Melodien fliegen auf einen zu – genau so ist das. Man ertappt sich bei irgendeiner unverständlichen Melodie. Woher ist sie gekommen? Aus Brasilien oder aus Nepal, zu einem irgendwie hereingeflogen. (Singt) Und das passt sich meistens der Arbeit an, die man macht. Wenn ich Holz hacke (Singt) … Es ist auf dem Wege, sich zu einer Melodie zu entwickeln. (Singt) Das kann auch der Name von einem jungen Weib sein, das man irgendwo auf dem Bahnhof getroffen hat, wie man ihr den Koffer getragen und alles Gute gewünscht hat. Wie heißt das Mädelchen? (Singt)

Ja, man ertappt sich, und man wundert sich, aber keine Angst, bitte, wenn die Melodie einmal da gewesen ist, kommt sie immer wieder. Schau, alles hat seinen Schlüssel, sein Lied, Steine sind eingefrorener Gesang, sie singen dir, wenn du sie belebst. Stein ist mein Gefährte, der mit mir redet. Alles hat seinen Gesang, die Gräser, die Bäume, wenn eine Melodie zu dir kommt, singst du den Gesang des Lebens mit. Das ist ja das Schamanische: Alles ist eine Einheit, nichts wird getrennt. Alles ist Teil des Runden, Ganzen, der alles beseelenden Lebenskraft. Ich kann auch sagen, ein Schamane muss an allen Seiten brennen, nicht nur an zwei Enden, die Dochte gehen durch mich hindurch. Mein Feuer entzündet sich an allem und wird von allem genährt.

Gesang ist für mich auch der Klang, die Sprache der Seele. Ich schwinge mich ein in den Klang der Seele eines Patienten. Jeder Mensch ist auch Klang, Ton im Universum. Wenn er seinen Ton verloren, verändert hat, nicht mehr mitschwingt, wird er krank. Ich greife nach seinen Innensaiten, um ihn wieder »einzustimmen«, modern könnte ich auch sagen, um seine Resonanzen zu beeinflussen. Eure Sprache hat sich von dieser Weisheit noch etwas bewahrt: Dein Ton gefällt mir nicht, das gehört zum guten Ton, der Ton macht die Musik, bei jedem Menschen den richtigen Ton anschlagen.

KK: Wir sagen ja auch: Der hat aber eine schlechte Schwingung, bad vibrations.

GT: So gesehen, kann ich keinem Menschen etwas geben, was er selbst nicht hat. Ich bin der Auslöser, der Sonnenstrahl, der in dich hineindringt. Jeder Mensch ist auch Schamane, kann Himmel und Erde verbinden, er muss sich wieder erinnern. Ich gehe in deine dunklen Tiefen und zünde das Licht an. Dann gehen wir gemeinsam ein Stück, denn wir sind vereinigt. Wenn uns die Heilung gelingt, ist das eine ungeheure Verdichtung, Konzentration. Man könnte auch westlich sagen: Es ist uns eine Art Orgasmus auf geistiger Ebene gelungen.

MARIA KALUZA: Oder eine Einschwingung auf den Klang des Universums, den Urklang. In unserer Bezeichnung Person ist davon noch etwas enthalten: per sonare – hindurchtönen. Wenn ich keine Dissonanz mehr bin im Weltenklang, wenn ich meinen Ton wiedergefunden habe, fühle ich mich gesund.

KK: Wir haben öfter über den Klang gesprochen. Seit vielen Jahren beschäftigt mich die Frage: Was ist eigentlich Musik? Ist das eine Sprache der Gefühle, hat sie wenig, zumindest im westlichen Verstehen, mit Rationalität zu tun? Warum ist Musik eigentlich für jeden Menschen, ob als Zuhörer oder im Spielen, in jeder Kultur von solcher Bedeutung? Fast jeder Mensch macht Musik, auch wenn er nur unbewusst singt.

Ich denke, das ist eine zweite Ebene, die dieser sprachlichen, dieser mathematischen, dieser wissenschaftlichen Rationalität, sogar der Alltagsrationalität völlig entzogen ist. Trotzdem leben wir ganz selbstverständlich damit.

Fluch und gute Wünsche

KK: Welchen Einfluss haben meine Gedanken auf meine Wirkfähigkeit in der Welt?

GT: Sie sind die Spur, die du deinen Worten und Taten vorausschickst. Oder nimm die guten Wünsche: Hunderttausende notleidende Menschen haben bewiesen, dass ihnen gute Wünsche helfen.

KK: Ebenso wie ein Fluch wirken kann?

GT: Genau, wie ich nur immer wieder sagen kann: Mir ist von meiner Schamanenmutter streng verboten, dass ich jemals jemanden verfluche. Die Meisterin hat es so gesagt: Dein Fluch wird treffen. Das ist ein Pfeil, der fliegt und sucht wie ein Bumerang. Er trifft, fällt aber nicht hin und bleibt liegen. Er fliegt so lange weiter und bleibt auf der Suche, bis er dich trifft. Jeder Fluch findet am Ende zum Ausgangsort zurück. Schon deswegen sollte man nicht fluchen.

Aber es steckt noch ein anderer Gedanke mit drin: Die schlechten Gedanken machen mich schmutzig von innen heraus, sie verderben mich selbst. Also gar nicht erst die schlechten Gedanken in mich einlassen, sondern gut denken, hell und weich denken, das macht mich von innen heraus edler, heller, weicher, wärmer.

KK: Kommen die guten Wünsche auch zum Ausgangsort zurück?

GT: Genau, das ist ja das Schöne, die guten Wünsche kommen auch zurück. Güte bringt Glück und Güte zurück, einen warmen, milden Schein in meine Seele. Bosheit bringt Bosheit zurück.

KK: Wenn die Gedanken eine solche Wirkkraft entfalten, gibt es denn auch Schamanen, die kranke Gesellschaften heilen können?

MK: Es war zu allen Zeiten auch die Aufgabe der Schamanen, kranke Gemeinschaften, Gesellschaften zu heilen. Sie suchten die Ursache des Ungleichgewichts. Häufig war ein Tabubruch die Grundursache, warum eine Gemeinschaft aus dem Gleichgewicht kam, krank geworden ist.

Durch das Wiedererstarken schamanischer Kräfte gibt es heute immer wieder Zeiten, in denen sich Menschen mit guten Kräften weltweit zusammenschließen, um Heilendes für die Erde oder für eine kranke Gemeinschaft zu erreichen. Die Schamanen bringen auf diese Art und Weise Heilendes in die Welt, nicht nur von Mensch zu Mensch, sondern eben auch für kranke Gemeinschaften. Das ist auch meine Antriebskraft, an weltweiten Vernetzungen heilender Menschen zu arbeiten. Wenn wir die Kräfte besser bündeln, können wir besser heilen, ob es sich nun auf den Einzelnen bezieht oder auf die Weltgemeinschaft.

KK: Auch wenn vieles noch im Ungleichgewicht ist, meine ich trotzdem, haben wir einen Fortschritt gemacht. Ich denke, die Globalisierung bringt ja nicht nur Kapitalströme und eine Angleichung der Kulturen, sie bringt auch die Begegnung der Kulturen mit sich, und sie übermittelt auch ein Bewusstsein von bestimmten Wertevorstellungen, die fast auf der ganzen Welt als unstrittig angesehen werden.

Ich denke, dass sich im Weltbewusstsein schon etwas verändert hat. Wir sind uns in den letzten fünfzig Jahren der Begrenztheit unserer Welt, ihrer Ressourcen und unseres Wirtschaftens klarer geworden – die Nationalökonomien lösen sich auf in eine Weltbinnenwirtschaft. Diese zwingt uns, nochmals neu nachzudenken. Da gebe ich die Hoffnung nicht auf.

MK: Die australischen Ureinwohner, die Schamanen der Traumzeit, waren der Meinung, wir erschaffen die Welt jeden Tag. Wenn uns der kollektive Traum nicht gefällt, müssen wir lernen, anders zu träumen und uns träumend eine andere Wirklichkeit erschaffen.

GT: Das sage ich doch auch: Die Welt wird jeden Tag neu erschaffen, und wir stehen dem Schöpfer bei …

Jeden Tag und jedes Jahr

Wird die Welt neu erschaffen

Wer seine fünf Sinne zusammenhat

Erkennt dies und weiß

Ehrfürchtig zu leben

Angesichts der andauernden

Schöpfung

Und wer seinen sechsten Sinn

Noch wach hat

Steht dem Tag und dem Jahr bei

Beteiligt sich an deren Schaffen

Zupft dieses zurecht

Fügt jenes hinzu

Die Welt ist ein gemeinsames

Fortlaufendes Werk .3

Schamanenkrankheit

GT: Bei Beethoven gibt es in den zehn Briefen an die Unsterbliche Geliebte eine sehr schöne Stelle: »Wenn die Sprache das, was ich ausdrücken will, nicht auszudrücken vermag, dann greife ich zur Musik. Was ist Wort, was ist Sprache?«4

Beethoven hatte ein sehr feines Gefühl für Sprache. Das berühmte Zitat: »Ich möchte dem Schicksal in den Rachen greifen. Ganz niederbeugen soll es mich gewiss nicht.« Als er dies niederschrieb, als Beginn des Heiligenstädter Testaments, da wollte er sich umbringen. Als er das Testament zu Ende geschrieben hatte, war der Druck raus, er wollte leben. Er war gerade zweiunddreißig. Aber er litt schon vier Jahre unter Taubheit. Mit achtundzwanzig hatte das schon angefangen. Eines der typischen schamanischen Leiden. Diese schamanischen Krankheiten stellen sich ja immer in den Weg. Einem Musiker wird das Gehör, einem Maler möglicherweise die Hand genommen. Oder er kann plötzlich die Hände nicht mehr bewegen. Dann kämpft dieser Maler, um mit dem Mund zu malen oder mit den Füßen. Das wäre auch schamanisch.

MK: Ich konnte nicht mehr lesen zwei Jahre lang nach einem schweren Unfall. Das war für mich von existenzieller Bedeutung. Am Ende der Genesungszeit habe ich einen Schnelllesekurs gemacht. Zunächst wollte ich mir beweisen, dass ich es wieder kann. Ich habe Camus’ Der Fremde in sechs Minuten gelesen und danach eine Prüfung abgelegt bis in alle Details. Aber im Grunde wollte ich über das hinausgehen, was ich vorher war und konnte. Es war ein Grundtraining, das mir später auch geholfen hat, große Zusammenhänge mit vielen Details im Ganzen aufzunehmen.

GT: Hawking5 heißt dieser Bursche, der zeitlebens im Bett liegt, nicht? Das ist bestimmt ein Schamane.

Ich bin entschieden gegen die naiv-bequeme Annahme, dass die Schamanenkunst eine Angelegenheit lediglich der Völker der vierten Welt wäre. Nein, sie ist eine allumfassende Erscheinung, die das ganze All angeht. Öffnet euer Gehör einige wenige Pulsschläge lang in Richtung meiner Muttersprache. Hamm ist Schamane auf Tuwa. Nun nenne ich immer das ganze Wort zuerst und übersetze dann lediglich den zweiten Teil: Hamm guschgasch (Sperling), hamm howagan (Schmetterling), hamm yjasch (Baum), hamm ot (Gras), hamm dasch (Stein), hamm dschyldys (Stern), hamm aaryg (Krankheit), hamm dschajaan (Schicksal) … Ihr seht: Nicht nur die hellbehäuteten Wohlstandseuropäer, sondern auch Schmetterlinge, Vögel, Bäume, Gräser, Steine, Sterne, sogar Krankheit und Schicksal können schamanisch veranlagt sein.

Warum sollten da die Nachkommen der schamanischen Germanen gefeit oder taubstummblind vor einer natürlichen Gabe aus dem Urkern des Universums heraus dastehen?

KK: Stephen Hawking, ja. Er liegt aber nicht im Bett, er ist im Rollstuhl und steuert mit der Stimme und ganz kleinen Muskelbewegungen seinen Rollstuhl und seinen Sprachcomputer. Er kann auch nicht mehr sprechen. Aber er gibt Interviews und arbeitet unermüdlich weiter.

Er war ein mathematisches Genie, schon bevor er krank wurde. Eine Aufgabe, wofür ein normaler Student zwei Wochen gebraucht hätte, hat er sich nur kurz angeschaut und die Lösung hingeschrieben, ohne Zwischenrechnung. Mit einundzwanzig Jahren hat er diese Krankheit bekommen. Er wusste, man kann es ein bisschen aufhalten, aber es wird immer schlechter und schlechter. Er konzentriert alle Kräfte, um so viel wie möglich von seinen Ideen in die Welt zu bringen.

Nach dem, was du sagst, entwickelt sich der Schamane an diesem Widerstand. An diesen Blockaden, an dem, was ihm nicht in die Wiege, sondern in den Weg gelegt wird.

GT: Der Widerstand ist ja der Schleifstein. Da schleift der Schamane sich, dort wetzt er sich. Er reibt sich an diesem Stein, und er legt alle Teile von seinem Körper, von seinem Wesen, die er nicht braucht, ab. Dann bleibt nur die Schneide des Schamanen. Dass er auf seine innere Schneide kommt, geschärft wird in allen Sinnen, das ist der große Sinn.

KK: Und nur das zählt noch, alles andere ist nur Beiwerk und kann weggelassen werden …

GT: Also, ich hab ja meine ganze Haut verloren, in heißer Milch verbrüht.6Dieser Hautverlust ist auch symbolisch. Es muss ja die Elefantenhaut von jedem Menschen abgepellt werden. Bei mir geschah das wörtlich. Die erste Haut, die ich auf die Welt mitgebracht hatte, war weg, und dann ist die andere, wohl feinere Innenhaut nachgewachsen. Das war auch eine Prüfung für meine Seele, für meinen Geist. Ich hätte ja dadurch auch wahnsinnig oder einfach zerstört werden können. Aber ich bin geblieben, habe die Prüfung gut bestanden. Ein wenig sieht man die Narben immer noch; als ich noch zur Schule ging, war alles vernarbt. Aber die Narben verblassen, verschwinden zum Teil im Laufe des Lebens. Soll ich jetzt für jene grausame Prüfung dankbar sein? Ich weiß es nicht.

KK: Im Neuen Testament heißt es: »Zieht an den neuen Menschen.«7

MK: Diese Prüfungen verändern das Leben grundlegend, man ist nicht mehr derselbe Mensch. Vielleicht ist das gerade nötig, um ein anderes Bewusstsein zu bekommen.

GT: Nicht immer sind die Prüfungen lebensbedrohend. Jeder Mensch erlebt hin und wieder kleine heilsame Verluste. Heilsam, weil sie ihn aus der Selbstgewissheit, Selbstzufriedenheit aufwecken.

Dieser blöde Laptop, den ich liegen lassen habe, der mir dann flugs geklaut wurde. Er war voller schamanischer Texte, warum haben die sich nicht gemeldet, ein Alarmsignal gegeben? Meine blöden Steine, das alte Orakel, das ich in der anderen Tasche hatte, die haben gepennt. Als ich dummer alter Hund den teuren Laptop da stehen ließ – was haben die gemacht, warum geben die mir kein Zeichen? All die schamanischen Lieder, warum machten sie sich nicht bemerkbar? Nichts da, aber das ist eine Heilung gewesen für mich. Da habe ich begriffen, dass ich selbst in Deutschland, in meiner geistigen Heimat, so sicher nicht sein, so traumwandlerisch leben darf. Ab jetzt werde ich vorsichtiger mit mir umgehen. (Lacht)

Nach dem ersten Schreck ging es mir ja wunderbar. Ich hatte nur noch zwei Gepäckstücke. Eine Hand war frei, ich konnte Leuten wieder zuwinken. Vorher konnte ich nur Grimassen schneiden, weil die Hände des alten Esels vollbepackt waren.

Also aufwachen, nach neuen Horizonten, neuen Möglichkeiten forschen. Ankommen, fertig sein, das ist etwas Schreckliches. Das habe ich einmal erlebt, 1991, ein Jahr nach der Wende. 1991 habe ich erstmalig im Leben das große Geld gemacht. In einem Film mitgespielt, Günter Ederer vom ZDF hat über mich einen Film gedreht, Die Geister kehren zurück. Dann kamen die ersten Touristen ins Land. So bin ich in Kontakt gekommen mit Westdeutschland, auch da gab es kleine Geldsummen. Das waren alles Dollars. Als ich sie wechseln ließ, habe ich einen Schreck bekommen: einen Rucksack voller Geldscheine. Bis dahin habe ich nicht gewusst, dass ein einzelner Mensch so viel Geld haben könnte. Ich habe ganz lieblos den Rucksack ins unterste Fach eines Schrankes hineingestopft. Anstatt mich zu freuen, bin ich sehr traurig geworden und habe gedacht: Eigentlich brauche ich jetzt nichts mehr zu tun. Diese Scheine werden mir für das ganze Leben ausreichen. Natürlich war das falsch gedacht, die Inflation kam, und die Scheine waren nichts mehr wert.

Ich hatte aber schon vorher aus lauter Aberglauben das ganze Geld in meine Heimat getragen und verschenkt. Habe nur so viel behalten, dass ich weiterkämpfen konnte. Die Leute in meinem Heimatwinkel haben sich furchtbar gefreut, als ich mit meinem Koffer, gefüllt mit den größten Scheinen, kam. In der Kreissparkasse hatte ich angekündigt, ich bringe am Nachmittag um vier Uhr Geld vorbei. Das ist viel Geld, das muss gezählt werden. Zwei, drei Kasachen und zwei, drei Tuwa waren gerade auf der Bank. Der Kassenmensch wollte sie rausscheuchen: »Jetzt wird Geld gezählt. Galsan bringt Geld und schenkt es dem Kreis. Verlasst bitte den Raum.« Alle sind geblieben. Haben sich hingehockt und gefragt wie kleine Kinder: »Dürfen wir zuschauen?« – »Ja, ihr dürft zuschauen. Aber ihr dürft nicht reden. Stillhalten.« Das ist eine feierlich-komische Lebensstunde gewesen. Es gab ja keine Maschine, der Kassierer musste mit der Hand abzählen. Er hat sich immer wieder verzählt. Es hat einige Stunden gedauert, bis er damit fertig war. Aber als er mir dann eine Quittung gab, war ich wohl plötzlich ein Neuer im Bewusstsein der Menschen. Wer hatte je in den eigenen Kreis so viel Geld in bar gebracht? Die kleinen Sparkassen auf dem Land lieben Bargeld. Die Summen, wofür sie berechtigt sind, sind nicht so groß. Nun war ihre ganze Geldkiste vollgestopft mit den größten Scheinen. Damals hatten wir nur Hundert-Tugrik-Scheine. Heute haben wir Zwanzigtausender-Scheine.

Ich habe begriffen, wie gefährlich, wie lähmend es ist, wenn man glaubt, angekommen zu sein. Am Ende, weiter nichts mehr. Auch wenn man nur ein bisschen Raum hat, der Weg führt weiter. Dann ist es interessanter. Auch im Schamanischen ist man nie fertig, hat nie ausgelernt, es gibt immer neue Stufen.

KK: Carl Friedrich von Weizsäcker hat es mal so benannt: Man lebt eine Zeit lang auf einem Plateau, und dann bricht man seine Zelte ab und wandert weiter.8Das heißt natürlich auch, dass man ein Fachgebiet verlässt, wenigstens zeitweilig, zum Beispiel als Wissenschaftler, als Philosoph oder als Schriftsteller, und sich neuen Dingen zuwendet. Das heißt aber nicht, dass man alles im eigenen Fachgebiet gelöst hätte. Sondern man packt seinen Rucksack, seine Siebensachen und wandert auf ein anderes Plateau, um sich dort eine Weile niederzulassen. Ich denke, interessante Biografien von Menschen, die uns viel zu sagen haben über Lebenssinn, zeigen solche Wanderungen von Plateau zu Plateau. Die sind in ihrem Leben nie bloß »Schuster bei ihrem Leisten« geblieben. Da bleiben immer ungelöste Fragen zurück.

GT: Ein, zwei ungelöste Problemchen braucht der Mensch auch.

Das Ich und die wärmende Gemeinschaft

GT: Ich gehe von drei Jurten aus, die ein jeder Mensch hat. Die erste ist die Herzjurte, da ist jeder allein. Man kann noch so sehr Teil einer Familie sein, letzten Endes ist der Mensch, wenn man die volle Wahrheit aussprechen will, eigentlich allein. Immer dann, wenn er sich zurückzuziehen hat in seine Herzjurte. Wenn er mit sich einig ist, sich selbst gegenüber kein schlechtes Gewissen hat, dann ist dies ein gemütlicher Ort. Der Mensch fühlt sich glücklich, er ist zwar allein, aber einsam ist er nie.

Die mittlere Jurte ist die Behausung. Das kann eine Wohnung, ein Haus sein, ein Zelt, eine Jurte, ein Ort der Gemeinschaft. Aber diese Jurte ist nur zeitweilig, nach mir wird sie zur Ruhe gehen oder anderweitig genutzt werden. Dieser Ort bedeutet auch Gemeinschaft mit der Mitwelt.

Die große Jurte, das ist die Heimat. Das ist für uns die Altaiwelt. Wenn wir unseren Altai in Ordnung gehalten haben, sauber, so wie die Steine, die Felsen, die Bäume, wie die Gewässer gewesen sind, wenn wir ihn so an unsere Kinder weitergeben können, dann sind wir reich. Dann ist die große Jurte in Ordnung. Das ist auch unser Empfinden, was Gemeinschaft und Individuum anbelangt.

Wie kommt diese Lebenseinstellung zustande? Die natürlichen Bedingungen des Überlebens formten das Leben der Gemeinschaft. Solange wir von der übrigen Außenwelt nichts wussten, war das selbstverständlich. Wir haben gedacht, es gibt nur uns, es gibt nur den Altai, und so hat das Leben immer ausgeschaut, und so wird es für immer ausschauen.

Bis man uns entdeckt hat und bis wir selbst auch Fremde gesehen haben, die anders ausschauten als wir. Diese Fremden besitzen natürlich viel mehr als wir, sind »reicher«, haben es »besser« als wir. Sie bringen Wohlstand mit, Jeans, elektronische Geräte und Kaugummis und Schirmmützen und all die Belanglosigkeiten, die aber, in der Altaiwelt angekommen, sehr belangvoll ausschauen. Das wird im Laufe der Zeit auch unseren Gemeinsinn verändern.

Die Temperatur, die große Kälte, der große Weltenwind, der in meiner großen Jurte wohnt, wie ich das mal dichterisch ausdrückte, zwingen die Menschen zusammen. Das lässt sich gut auf der materiellen Ebene beschreiben: In der Jurte zieht es immer, man fühlt den kalten Wind. Wenn wir drei Menschen wie drei Pflöcke sitzen, frieren wir, dann sind wir alle drei dumm. Jeder hat kalte Knie. Jeder spürt den schneidend kalten Wind von der Seite, in den Rippen. Der Wind geht durch die Rippen hindurch, nicht nur durch die rippenhaften Gitterwände der Jurte, sondern durch Haut und Fleisch und Rippen eines jeden Menschen hindurch. Was machen wir also? Wir rücken zusammen. Ich bin der Ältere, sehe hier eine weiche, warme Frau, und dort ist ein Mann, der ist noch jung, hat Hitze und ist auch gut gepolstert. Also werde ich als schlauer Nomade jetzt beide in die Arme nehmen, während wir sitzen. Sie ist wenigstens von der einen Seite geschützt, gewärmt, er von der anderen. Wir sehnen uns immer im Stillen danach, dass weitere Menschen kämen. Und diese Menschen rückten auch dicht heran, dann ist sie wohl versorgt und er auch beidseits gewärmt. Das ist das Jurtenleben.

Ich habe immer heiße Hände. Aus meinen Händen fließt immer Hitze. Hitze ist gefragt im Altai. Vielleicht hat sie so ein Buckelteil, das Hilfe braucht, und er hat ein Brustbein, das der Hitze bedarf, und während ich rede, ist meine linke Hand mit ihr, meine rechte Hand mit ihm beschäftigt. Wir wärmen einander, wir helfen einander. Die Seelen, die haben auch ihre Händchen und berühren einander. Auch die anderen haben ihre Hände, zwar nicht so heiß und heilend, so bilde ich es mir ein, wie es die meinen sind, aber immerhin menschliche Hände. Die behandeln mich an der übrigen Haut. Einer vielleicht an der Backe, der andere vielleicht an der Hand oder am Knie. So müssen die Menschen, durch die Natur aufgefordert, zusammenrücken. Jeden Tag wird die Frage des Überlebens gestellt. Jeder Tag ist ein Kampftag ums Überleben. Wenn das im Vordergrund steht, ist nicht viel Platz für das sogenannte Ego, wir brauchen das Kollektivdenken, das Wir.

Distanz und Zweifel

KK: Durch die Kälte wird die Nähe erzwungen, das ist eine Überlebensbedingung, hast du für eure Kultur festgestellt. Überlebensbedingungen werden von jeder Kultur immer überhöht zu etwas emphatisch Gutem, an sich Gutem. Ich könnte mir vorstellen, dass bei der westlichen Kultur, aber vielleicht schon bei den Römern und Griechen, die Distanz das Entscheidende ist. Das hängt – als erste Vermutung – möglicherweise auch mit der Waffentechnik zusammen. Je mehr Distanz ich zum Feind habe, umso besser ist es. Die Reichweiten der Waffen werden immer länger, zuerst war es nur der Faustkeil, dann das Messer, dann verlängert das Schwert den Abstand, dann kommt – noch länger – der Speer, und irgendwann kommen die Pfeile, die über hundert Meter und mehr tödlich treffen können. Also Distanz – nichts wie weg – als Überlebensbedingung. Diese Distanz wird – zumindest in der westlichen Kultur – wiederum zu etwas Emphatischem, zu etwas Gutem an sich: Halte dich von den anderen fern.

Vielleicht gehört zur Distanz auch der Zweifel. Denn der Zweifel ist ja schon in der Philosophie der griechischen Aufklärung konstituierend, die erfüllt war von Skepsis gegenüber den bloßen Erscheinungen. In der römischen Philosophie entstand aus der Skepsis gegenüber der menschlichen Tugendhaftigkeit das moderne Rechtssystem. Ich könnte mir vorstellen, dass das die Wurzeln dieses Distanzgedankens sind, der im Westen meiner Ansicht nach vorherrschend ist und der zu all den Erscheinungen der Vereinzelung und Vereinsamung führt.

Die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Individuum und Gemeinschaft ist in der westlichen Geschichte sehr wechselhaft. Nur mit einem Blick auf die geschichtliche Entwicklung kann man die Brüche verstehen, mit denen wir es heute beim Verhältnis Individuum und Gemeinschaft gerade im Westen zu tun haben. In der Antike war der Mensch in der Polis überzeugt, dass diese Form, die Stadt mit Umland, die dem Menschen gemäße Form des Zusammenlebens sei.

Dabei gab es zwei Richtungen. Platon war der Auffassung, dass dieses menschliche Zusammenleben nach Ideen geformt werden müsse. Deshalb sei nur jemand, der sehr gebildet ist in Philosophie, Musik, Rhetorik, in der Diskussionskunst, aber auch in Mathematik, in der Lage, einen Staat zu führen, weil der Staat auf dieser Grundlage strukturiert sein muss, damit eine gelingende Form des Zusammenlebens gewährleistet ist. Aristoteles ging ganz anders vor. Er beobachtete das menschliche Zusammenleben und stellte fest: Offensichtlich ist es einerseits dem Menschen gemäß, als zoon politikon, als Gemeinschaftswesen, nicht zu sehr von der Gemeinschaft versklavt zu sein, also im Kollektiv aufzugehen. Andererseits will er aber nicht als alleiniges Individuum nur seinen einzelnen Weg gehen, er braucht die Gemeinschaft. Dieses Verhältnis war bei Aristoteles austariert. So auch seine Tugendethik: nicht zu viel fasten – aber auch keine Völlerei, kein Geld verschwenden – aber nicht geizig sein, Maß halten eben. Entsprechend sah er auch das ideale Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft als maßvolle Mitte zwischen kollektivem Wahn und Einzelexistenz, Herdenmensch und Einzelgängertum. Dieses Verhältnis wird bei Aristoteles durch den vernünftigen Menschen selbst bestimmt, indem er versucht, dieses rechte Maß durch Abwägung zu finden.

Das wird mit der Christianisierung der Philosophie anders: Der mittelalterliche Mensch stellt sich eingebunden vor in die ordo, in eine Schöpfungsordnung. Diese Ordnung spiegelt sich wider beim Bau von Domen, im Staatswesen und auch in der Familie und in den Gemeinschaften, in die der Mensch eingebettet ist, zum Beispiel die Zünfte. Mitglieder einer Zunft helfen sich gegenseitig, der Einzelne muss aber auch ihren Geboten und Verboten folgen. Man identifiziert sich mit den Regeln, gibt seine eigene soziale Rolle an diese Zunft, an diese Gemeinschaft ab. Das Individuum kann also aus der Gemeinschaft gar nicht herausfallen, so etwas wie Einzelgängertum, ein sich absonderndes Individuum gibt es in dieser Vorstellung gar nicht – wenn doch, dann wäre dieser Mensch im Stand der Sünde. Er würde verdammt, ausgestoßen und fiele dem Unglück anheim. In dieser ordo kann der Mensch gar nicht anders als Mitglied einer Gemeinschaft sein.

In der Renaissance, mit dem Zusammenbruch dieses ordo-Gedankens, beginnt die Entdeckung des Ichs. Das erste Symptom dafür ist die Entdeckung der Perspektive. Die Perspektive ändert sich, wenn ich als Betrachter meinen Standpunkt ändere. Wenn ich handle, ändert sich meine Sicht der Welt. Die Perspektive erscheint in der bildlichen Darstellung erstmals 1410 und vollendet sich innerhalb von sechzig Jahren – also für eine kunstgeschichtliche Entwicklung sehr schnell. Der Renaissance-Mensch entdeckt sein Ich und lernt dieses auszuspielen. Damit verändert er sein Handeln und Denken.

Erst Kant mit seiner Kritik der Reinen Vernunft versucht, diese einseitige Ausrichtung wieder in Beziehung zu setzen mit der Gemeinschaft, indem er sagt: Alles, was du meinst, was dieses Ich ausmacht, ist ja nur eine Bedingung der Möglichkeit, dass du Erfahrungen machen kannst, dass du dein Ich in Bezug zur Gemeinschaft setzen kannst.

Damit wird in der Aufklärung der Weg frei für ein neues Nachdenken über das Verhältnis der Gemeinschaft zum Ich. Der Staatsvertrag bei Hobbes beispielsweise geht aus vom Urzustand: Zunächst der Kampf aller gegen alle – ein unsicherer Zustand, der jeden gefährdet, die Überlebenswahrscheinlichkeit ist nicht groß. Zwar kann jeder machen, was er will, es hat jeder das eigene souveräne Ich, aber es lebt sich ungemütlich. Um als Einzelner mehr Sicherheit zu gewinnen, muss eine Gemeinschaftsform gebildet werden, der Staat. Jeder gibt von seiner eigenen Ich-Souveränität etwas an ihn ab, an diesen Leviathan. Man entwickelt mit diesem Gebilde einen Vertrag, den contrat social, den Gesellschaftsvertrag. Der Staat garantiert eine Ordnung, in der man leben kann. Dieser Ordnung muss man sich aber auch fügen. Das Individuum hat darin eine bestimmte austarierte Freiheit. Dies ist die Freiheit, die da endet, wie Rosa Luxemburg festgestellt hat, wo die Freiheit des anderen beginnt.

Dieses Erklärungsmodell funktionierte einige Zeit ganz gut, bis die totalitären Systeme entstanden, die den Einzelnen nur noch als Glied der Gemeinschaft sahen. Im radikalen Faschismus ist das so, aber auch im radikalen Kommunismus, allerdings mit einer etwas anderen ideologischen Grundlage. Nach dem Zusammenbruch dieser totalitären Systeme musste das Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft von der Philosophie konstruiert werden: Können wir dieses Verhältnis mithilfe der Wissenschaft rational bestimmen?

GT: Ich habe noch einen Verdacht dazu. Im Mittelalter gab es ja hier die Pest und die anderen gefährlichen ansteckenden Krankheiten. Auch das könnte zur Distanz beigetragen haben: Wenn wildfremde Menschen zusammenkommen, weiß man nie, ob da nicht ein Kranker dabei ist. Weil wir nun in unserer Kultur bislang – toi, toi, toi – solch ansteckenden, epidemiehafte Krankheiten nicht kennen, haben wir vor den Mitmenschen keine Angst in dieser Hinsicht. Aber das müssen wir jetzt lernen. Jetzt brechen verschiedene Krankheiten über uns herein. Ab jetzt wird es heißen: Aufpassen, der Mensch könnte krank sein. Das wird möglicherweise auch unser Nähebedürfnis verändern.

MK: Ich habe den Eindruck, dass gerade in Deutschland die Vereinzelung zunimmt und gleichzeitig damit auch die Verantwortlichkeit für die Gemeinschaft abnimmt. Es gibt interessenbezogene Gemeinschaften wie Vereine, Kirchengemeinden und Sonstiges, die aber nur in einem engen Kreis eine gewisse Verantwortlichkeit füreinander übernehmen. Wir leiden daran, dass durch diese Individualisierung, durch die Vereinzelung, wichtige Verantwortlichkeiten für die Gemeinschaft, für die Alten und auch für die Kinder – man kann es besonders gut an den Schwächeren der Gesellschaft erkennen – nicht mehr übernommen werden.

Die Verarmung der gemeinschaftlichen Verantwortung kann man auch daran festmachen, dass bei uns Gier nicht als Krankheit angesehen wird, sondern eher als Lebensmodell. Diese Gier fördert eine weitere Vereinzelung. Sie zeigt sich besonders deutlich in der Wirtschaft, wenn Firmen Entlassungen vornehmen, um Gewinne zu maximieren. Eine betriebswirtschaftliche Verantwortung für die Mitarbeiter, wie das noch bis vor fünfundzwanzig Jahren der Fall war, gibt es nicht mehr. Die Ethik auch des wirtschaftlichen Handelns ist uns in ganz kurzer Zeit abhanden gekommen. Man erklärt es mit der Globalisierung, die zu einem solchen Handeln zwinge, das ist aber nur ein kleiner Teil der Wahrheit. Ich denke, es ist eher mit einem Wertewandel zugunsten des Einzelnen, zugunsten meiner Firma gegen die anderen verbunden. Wir sind nicht mehr austariert zwischen den Bedürfnissen des Einzelnen und der Gemeinschaft.

KK: Die Tendenz in der Gesellschaft zur Vereinzelung geht bis hin zum individuellen, event-orientierten Genuss. Das zeigen auch die Statistiken. Die Entwicklung reicht bis zu einer Ökonomisierung des Denkens: Wie erreiche ich meinen Vorteil? Es gibt viele Bücher, die diesen Trend aufnehmen: Die Kunst, ein Egoist zu sein; Sag nicht Ja, wenn du Nein sagen willst; Mach endlich, was du willst und dergleichen. Die Medien erziehen mit, die Werbung erzieht mit. Von den Plakatwänden schallt es: »Sei ein Egoist, sei individualistisch.« Wenn jemand auf eine gemeinschaftliche Verantwortung verweist, heißt es: Der ist aber altmodisch.

GT: Zunächst möchte ich eure Selbstkritik an die Adresse des Westens oder der städtischen modernen Lebensweise etwas relativieren, abmildern, aus meiner Beobachtung. Der Mensch in Westeuropa hat einen sehr tief geprägten Sinn für Verantwortung. Hier sitzend könnt ihr das nicht sehen. Aber wenn ich das mit dem Osten, mit dem heutigen Osten, vergleiche, mit Russland, mit China, mit der Mongolei, mit der städtischen Mongolei, finde ich den Westen verantwortungsbewusster. Zum Beispiel werfen Leute Flaschen und alles Mögliche aus dem fahrenden Auto. Da ist jetzt eine Freiheit, eine falsch verstandene Freiheit ausgebrochen wie eine Seuche, und die kleinen erwachten Ichs in den Städten, die vielen hunderttausend Ichs, die florieren explosionsartig und wüten. Der normale Bürger hier im Westen in Deutschland, in der Schweiz, würde nie auf den Gedanken kommen, aus dem fahrenden Auto Flaschen auf die Straße zu werfen. Bei uns hat man das Ich gerade entdeckt. Wir stecken in der krankhaften Kindheitsphase des gerade entdeckten Ichs.

Jetzt wird versucht, dem mit Gesetzen beizukommen. Jedes Jahr werden Dutzende von Gesetzen erlassen. Sie haben keine Wirkung, außer, dass sie das Wachstum der Bürokratie befördern. Wir haben gedacht, der Kommunismus wäre bürokratisch. Aber wir sehen, der Kapitalismus ist um das Zehnfache bürokratischer, das hat sich zu einer Plage ausgewachsen. Die Bürokratie ist ja eine Kettenreaktion, die sich auf dem Wege vermehrt, verlängert, verschlimmert. Das sehen wir an einem Ministerium, das wir aufgebaut haben, einem Umweltschutzministerium. Das hatten wir früher nicht. Die Mongolei hatte ja bis vor wenigen Jahren dieses Problem nicht. Anfangs hat dieses Ministerium mit sehr wenig Personal funktioniert. Mittlerweile ist das ein breites Feld geworden, in jede Richtung gewachsen. Da sitzen nicht Umweltexperten, da sitzen Bürokraten. Es werden Paragrafen hergestellt, aber sie verändern nichts am Verhalten des Einzelnen oder an der Verantwortlichkeit von Firmen.

KK: In der ethischen Diskussion gibt es folgendes Problem: Die politischen Entscheidungen, die technologischen Entscheidungen, die ja sehr weitreichend auch in unser Leben hineingreifen, werden im Allgemeinen nicht mehr von Einzelpersonen getroffen, sondern von Gremien, von Institutionen, von Board of Trustees,