Die Dubharan - Norbert Wibben - E-Book

Die Dubharan E-Book

Norbert Wibben

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Beschreibung

Eila spürt, wie sich ihre Härchen im Nacken aufrichten. Jetzt sind eindeutig tastende Schritte auf der Stiege hörbar. Ein Brett knarrt. Die Luft wird kälter. Etwas Bedrohliches ist auf dem Weg in den Keller. Eilas Gedanken rasen, ihr Herzschlag beschleunigt sich. Trotz aufkommender Panik sucht sie nach einem Ausweg, nach Hilfe. Instinktiv spürt sie, dass sie sich nicht bemerkbar machen darf. Also kann sie den Großvater nicht zur Hilfe rufen. Fluchtmöglichkeiten gibt es nicht, da nur die Stiege aus dem Keller führt. Wie kann sie entkommen, sich vor der drohenden Gefahr schützen? Ihre Gedanken überschlagen sich. In Büchern und Erzählungen gibt es doch immer einen Ausweg! "Die Dubharan" ist der erste Band der Trilogie "Eila – die Leuchtende". Ein junges Mädchen wird in Zauberei ausgebildet und kämpft, mit Unterstützung mehrerer Freunde, gegen böse Zauberer, die immer mächtiger werden.

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Seitenzahl: 339

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Die Dubharan

 

Fantasy Roman

 

 

Warum ich das Buch geschrieben habe

Als meine Kinder Nils, Malte und Maraike jung waren, habe ich ihnen abends Geschichten vorgelesen. Die allabendlichen Unterbrechungen, damit der Schlaf nicht zu kurz kam, erhöhten zwar die Spannung, waren aber nicht immer willkommen.

Meine Tochter Maraike versuchte mich stets zu überreden, doch noch eine Geschichte vorzulesen, oder besser, eine ausgedachte zu erzählen.

Wenn ich dann mit dem bekannten Dreizeiler begann:

»Ein Huhn und ein Hahn — die Geschichte fängt an…«, versuchte sie sofort zu unterbrechen: »Papa! Eine andere!«  

Ich fuhr fort: »Eine Kuh und ein Kalb — …« 

»PAAPAA!!! Nicht diese!«, ein neuer Versuch.

»… — die Geschichte ist halb.«

»Papa, du bist gemein!«

»Eine Katz’ und eine Maus — …«

»Papa, nur eine kleine Geschichte.«

»… — die Geschichte ist aus.«

 

Natürlich ließ ich mich manchmal gerne überreden, doch noch eine kleine Geschichte vorzulesen, die nur ein paar Minuten dauerte.

Seit vielen Jahren trage ich die Aufforderung Maraikes in mir, eine eigene Geschichte zu erzählen. Mit dieser Trilogie ist es soweit.

In Erinnerung an viele schöne Vorleseabende verpacke ich diese in den bekannten Dreizeiler:

Ein Huhn und ein Hahn — ….

 

Norbert Wibben

Die Dubharan

 

 

 

 

Dies Buch ist meiner Tochter Maraike gewidmet.

Du hast mich zu diesem Buch inspiriert.

Ich vermisse dich!

 

 

 

 

 

Den mørke kraften vil bare styrke én gang og grusomhetene stige, snart er det mørkt overalt.

 

Die dunkle Macht wird einst erstarken und die Schrecken steigen, bald herrscht Dunkelheit allenthalben.

 

 

 

Prolog

Sommerferien

Im Weidenweg

Ein dringender Auftrag

Plötzliche Bedrohung

Maireads Vermächtnis

Beratung mit Brian

Aufbruch

Ein neuer Auftrag

Im Turm

Fahrt mit der Eisenbahn

Sörens Erfolg

Wanderung zum Kloster

Bearachs Anweisung

Die Klosterruine

Ortung der Aktivierung

Ausbildungsbeginn

Erdmuthe

Die Jagd beginnt

Selbstverteidigung

Zurück in Coimhead

Beratung mit Professor Hlin

Angriff der Wolfskrieger

Die Befreiung

Bearach

Nach dem Kampf

Ein Fehlschlag

Prolog

 

Ein Huhn und ein Hahn – die Geschichte fängt an

 

Vor vielen Jahrhunderten im Westen des Landes.

Eine Burg aus graugelbem Sandstein, steht auf einem steilen, sehr schroffen Felsen. Viele Türme mit Zinnen und verbindende Wehrgänge, mit umlaufenden Brustwehren, sind zu sehen. Sie erhebt sich in großer Höhe direkt über einer Meeresbucht, die tief ins Land einschneidet.

 

Flackernde Fackeln beleuchten eine Szene in einem karg eingerichteten Raum dieses trutzigen Gebäudes. Die vier Wände aus Sandsteinquadern besitzen keinen Schmuck. In den Raum führt nur eine schmale, dunkle Tür. Fenster sind nicht vorhanden. Einen Kamin mit Feuerstelle gibt es nicht. Zu beiden Seiten der Tür und an allen vier Wänden verteilt, brennen blakend Fackeln in ihren Halterungen.

 

Fünf Personen in dunklen Umhängen sitzen in der Mitte des Raumes in einem Kreis beisammen. Sie beraten bereits seit Stunden.

»Wir haben uns lange genug von den »Oberen Drei« bevormunden lassen. Wir werden »Berater« genannt, doch hören sie auf unsere Ratschläge? Nein! In Abstimmungen sind die »Sieben Auserwählten« stets auf ihrer Seite, so dass unsere Meinung mit Leichtigkeit überstimmt wird. Für sie sind alle Menschen und Zauberer gleich wichtig, obwohl sie mit unterschiedlichen Eigenschaften ausgestattet sind. Nach ihrer Auffassung hat jeder, ob Mensch oderZauberer, gleiche Rechte. Entsprechend der Position in der Gesellschaft sind lediglich die Pflichten unterschiedlich verteilt, ihre Handlungen sollen dabei immer dem Wohl aller dienen.  

Wir sehen das aber differenzierter.

Die Talente von Menschen reichen keinesfalls an unsere Fähigkeiten heran. Was also offensichtlich bedeutet, dass sie uns dienen sollen. Gleiches gilt für weniger befähigte Zauberer, da diese nicht unsere Meisterschaft erreichen. Eine Verwirklichung ihrer Anschauungen und Wünsche sollte nicht gestattet werden, es sei denn, sie fördern damit unsere Ziele!« Der Redner blickt sich im Kreis um.

»Richtig gesprochen«, antwortet einer der anderen. »Wir müssen uns diese niederen Wesen unterwerfen! Sie haben keine Daseinsberechtigung, außer unserem Nutzen zu dienen!«

Ein dritter entgegnet: »Wir werden es den anderen beweisen, nur unsere Auffassung kann zu wirklicher Größe führen. Jeder der nicht für uns ist, ist ein Gegner und muss beseitigt werden!«

»Wie an dieser stattlichen Burg zu sehen ist, können Menschen und niedere Zauberer Großes schaffen, wenn sie entsprechend angeleitet werden. Es ist doch eine herausragende Leistung von ihnen, dass sie dieses Bauwerk innerhalb eines Jahres erschaffen konnten. Andere hätten bei der propagierten Selbstbestimmung mehrere Jahre benötigt, unsere Arbeiter waren Dank entsprechender »Anleitung« besser und schneller.« Hier grinst der vierte der Anwesenden, während er bei seiner Rede an die vielen Folterungen und Todesfälle denkt.

 

»Jedes Mittel ist erlaubt, der Zweck heiligt sie. Ärgerlich war nur, dass wir oft neue Arbeiter benötigten, die an unser System angepasst werden mussten. Aber es gab dafür genügend Nachschub in unserem Land. Armut und Hunger trieben uns die Bevölkerung zu. Reich wurden sie nicht, dafür gab es viel Arbeit und ausreichend Nahrung.« Der fünfte Sprecher ist sich sicher, dass er mit diesem Essen keineswegs zufrieden gewesen wäre. Es gab oft nur Haferbrei, der nicht appetitlich aussah. Aber die Arbeiter aßen ihn.

 

»Da wir die drei Oberen und die sieben Auserwählten nicht überzeugen können, müssen wir sie töten! Dann sind wir die mächtigsten der Zauberer, so dass sich uns kein anderer Magier zu widersetzen wagt. Die Oberen und die Auserwählten unterstützen sich gegenseitig, also wären sie uns in einer direkten Auseinandersetzung überlegen. Was ratet ihr, was wir unternehmen sollten?«, fragt der erste der Zauberer.

»Wir müssen sie einzeln vernichten. Wir töten nach und nach alle uns bekannten Zauberer, die nicht eindeutig auf unserer Seite sind. Wenn bei diesen Aktionen Menschen sterben, ist das nicht weiter schlimm«, kommt es sofort vom zweiten der Männer.

Der Dritte schlägt vor: »Einige der Zauberer könnten wir vorher foltern. Vielleicht erfahren wir dadurch, wo sich die Auserwählten oder die drei Oberen befinden. Dann würden wir imstande sein, sie dort zu töten.«

»Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass die Oberen oder die Auserwählten bedrängten Zauberern zu Hilfe eilen. Darum müssen wir stets gemeinsam agieren, um sie überwältigen zu können. Es könnte sogar sein, dass wir auf mehrere von ihnen treffen«, wendet der Vierte vorsichtig ein.

»Damit hast du Recht! Auch wenn diese Art des Vorgehens wesentlich mehr Zeit beansprucht, werden wir dadurch letztlich erfolgreich sein!«

Alle stimmen nickend zu.

»Wir treffen uns jeden Tag hier, um unsere Informationen auszutauschen. Wir bestimmen daraufhin den nächsten Ort, an dem wir dann gemeinsam zuschlagen. Jetzt auf zum ersten Ziel im Osten.«

Die Zauberer fassen sich an den Händen und sind verschwunden.

 

Sommerferien

Das Internat Coimhead liegt etwa in der Mitte des Landes, nahe einer großen Stadt. Es ist ein ehemaliges Schloss und bildet ein Ensemble aus Gebäuden im klassizistischen Stil. Das Haupthaus hat drei Etagen mit vielen Fenstern. An den Seiten sind nach vorne ausgerichtete, ehemalige Kavaliershäuser mit zwei Etagen angeordnet.

 

 

 

Das Kellergewölbe des Haupthauses hat außer der Innentreppe einen weiteren Zugang von der Parkseite und wird als Vorratslager und Abstellraum genutzt. Das Archiv mit alten Dokumenten und Unterlagen ist vor einigen Jahren von hier unter das Dach verlegt worden. Die Feuchtigkeit im Keller begann die Dokumente zu schädigen. Im Erdgeschoss befinden sich ein großer Sportraum, einige Unterrichtsräume und der Wohnbereich der Schulleiterin Professor Rose Hlin.

 

Das Hausmeisterehepaar verlässt gerade seine Wohnung, die sich neben der von Professors Hlin befindet. Sie trennen sich. Die Frau geht hinüber in den angrenzenden, großen Speisesaal, in dem die langen Tischreihen bereits für das Abendessen gedeckt werden. Viele Helfer sind hier tätig. Jetzt betritt sie die Küche, um nach letzten Wünschen der Köchin zu fragen.

 

Der Hausmeister steigt über eine breite Innentreppe in die erste Etage hinauf. Er betritt eine große, umfangreich ausgestattete Bibliothek mit kleinem Lesebereich. Sie liegt direkt über dem Wohnbereich der Schulleiterin. Er stellt seinen Werkzeugkasten ab und untersucht die Fenster des großen Raumes. Eines davon lässt sich nicht richtig verriegeln, hatte ein Schüler berichtet. Nachdem die Reparatur erledigt ist, wirft er einen Blick in den nächsten Raum auf dieser Etage. Er wird nur selten für die medizinische Versorgung genutzt. Hier ist alles in Ordnung.

 

Anschließend betritt er den großen Versammlungssaal. Dieser wird für Veranstaltungen und Feiern, aber auch für Proben und Aufführungen des Schulorchesters und der Theatergruppe genutzt. Jetzt ist er prachtvoll geschmückt, da morgen die Schüler des letzten Jahrgangs hier ihre Abschlusszeugnisse erhalten sollen. Die meisten ihrer Eltern werden ebenfalls teilnehmen, so dass die vielen Stühle sehr eng angeordnet werden mussten. Aber hier gibt es für den Hausmeister nichts zu tun. Heute Morgen hatte er die letzten Girlanden angebracht.

 

Auf dieser Etage gibt es außerdem noch ein großes Lehrerzimmer sowie mehrere Klassenräume, in denen er in den nächsten Tagen kleinere Reparaturen ausführen wird. Diese eilen aber nicht, dafür hat er noch genügend Zeit in den kommenden Wochen der Ferien.

In der obersten Etage liegen mehrere Schlafräume für jeweils acht Schüler oder Schülerinnen der unteren fünf Jahrgänge, sowie Einzelzimmer für einige der Lehrer und Lehrerinnen. Der rechte Flügel ist für die männlichen, und der linke für die weiblichen Bewohner. Von dort hört er den Lärm vieler Kinderstimmen, während er wieder ins Erdgeschoss hinunter geht. Er lächelt verstehend. Die Schüler freuen sich auf die Ferien und packen ihre Sachen für die morgige Heimreise.

 

Die beiden ehemaligen Kavaliershäuser werden für die oberen drei Jahrgänge genutzt. Hier befinden sich auf zwei Etagen verteilt Zimmer für jeweils zwei oder drei Schüler bzw. Schülerinnen, sowie drei Einzelzimmer für Lehrer. Die Zuordnung der Kavaliershäuser ist wie die Aufteilung der obersten Etage im Haupthaus festgelegt: das rechte Haus ist für die männlichen, und das linke für die weiblichen Bewohner. Auch hier hat der Hausmeister demnächst Einiges zu tun.

 

Alle Gebäude sind aus rotem Backstein errichtet. Sie haben Fenster- und Türeinfassungen aus grau gelbem Sandstein. Dunkler Schiefer deckt die Walmdächer, aus denen mächtige Schornsteine herausragen. Mittig in der Vorderfront des Haupthauses sieht man eine fünfstufige, sehr breite Sandsteintreppe. Sie führt von einem großen, mit weißem Kies bestreuten Vorplatz zur zweiflügeligen Eingangstür des erhöht liegenden Erdgeschosses hinauf. Der Vorplatz füllt die gesamte Fläche zwischen den drei Gebäuden aus.

 

Zu diesem Platz führt eine Allee aus alten Eiben. Diese Zufahrt wird durch ein großes, schmiedeeisernes Tor unterbrochen. Das meistens geschlossene Tor ist Teil einer umlaufenden Backsteinmauer, die das gesamte Internatsgelände einfasst. Vor den beiden Kavaliershäusern und um sie herum wird die Kiesfläche weitergeführt. Sie umschließt somit alle Gebäude an den Seiten als breiter Weg.

An der Hinterseite des Hauptgebäudes befindet sich mittig, in Höhe des Erdgeschosses ein breites Podest. Davon ausgehend führen zwei Treppen, rechts und links, etwas geschwungen nach unten auf den Kiesweg. Der Weg geht in den Park über.

 

Die Schüler des Internats Coimhead sind aufgeregt. Morgen beginnen endlich die Sommerferien. Die letzten Klassenarbeiten sind bereits vor einer Woche geschrieben worden. Morgen erfahren sie die erzielten Ergebnisse. Sie erhalten ihre Zeugnisse und werden abgeholt. Einige, der von weiter weg kommenden, älteren Schüler, reisen eigenständig mit dem Zug zu ihren Familien.

Nicht jeder der Schüler im Alter von 10 bis 17 Jahren ist froh. Einige fühlen sich hier geborgener als Zuhause, manche haben hier ihre besten Freundinnen oder ihren besten Freund – auch geschlechterübergreifend. Oft vermissen sie diese jetzt schon. Unabhängig davon sind aber alle doch froh, den Abläufen und Zwängen des Internats für mehrere Wochen zu entkommen.

 

Eila ist eine der etwa 150 Schüler des Internats. Sie ist ein 16 jähriges Mädchen mit mittelblondem, nicht ganz schulterlangem, glatten Haar, das in der Mitte gescheitelt ist. Ihre Stirn ist sichtbar, da sie die vorderen Haare eines längeren Ponys oft hinter die Ohren streicht. Ihre Figur ist noch etwas jungenhaft. Sie ist schlank und wirkt sportlich.

Eila trägt gerne lange Hosen und dazu Pullover oder Shirts. Hier im Internat muss sie allerdings fast immer Schuluniform tragen, die keine langen Hosen für Mädchen zulässt. Da sie aber zu den Schülerinnen gehört, die die Schulpferde pflegen dürfen, trägt sie dabei selbstverständlich lange Hosen. Das ist sowohl beim Stall ausmisten, als auch beim Reiten in der Koppel durchaus angemessen. Beim Reiten fühlt sie sich glücklich, sie vergisst dann alles um sich herum. Das Mädchen kann besonders gut mit den Pferden umgehen, besser als alle anderen Schüler oder Schülerinnen.

 

Im Umgang mit anderen Menschen ist Eila zurückhaltend, nicht schüchtern, sondern eher etwas vorsichtig. Sie drängt sich nicht in den Vordergrund. Hat sie jedoch mit jemandem Freundschaft geschlossen, steht sie ihm fest und engagiert zur Seite. Abhängig von der Situation kann sie sehr energisch sein. Dies ist immer dann der Fall, wenn es um den Schutz oder Einsatz für Benachteiligte geht.

 

Eila freut sich sehr, dass sie morgen zu ihrem Großvater Brian aufs Land in den Norden reisen wird. Dann kann sie täglich in Hosen herumlaufen, durch die einsame Gegend wandern und mit ihm im gemütlichen Wohnzimmer sitzen und heißen Kakao trinken. Etwas Wehmut verspürt sie aber doch, da sie während dessen nicht bei ihren geliebten Pferden sein kann. Trotzdem wird sie die Zeit mit Großvater genießen. Da ist sie sich ganz sicher!

 

Auch die bevorstehende Trennung von ihrer Freundin Anna versetzt ihr einen leichten Stich ins Herz. Außerdem ist da noch der gleichaltrige Simon, den sie gut leiden mag. Er ist eher still, nicht so laut, polternd und auf Selbstdarstellung fixiert wie viele andere Jungen. Er liest gern. In der Bibliothek hat sie ihn schon des Öfteren in einer Ecke lesend angetroffen. Dabei konnte sie immer wieder feststellen, dass er verstohlen zu ihr hinüberschaute. Ob sich daraus während des nächsten Schuljahres mehr entwickeln wird? Nach den Sommerferien wird sie in Coimhead die letzte Klasse absolvieren. Danach möchte sie an einer der großen Universitäten des Landes Tiermedizin studieren. Was Simon wohl werden will?

 

Eila hat ihre beste Freundin Anna im ersten Schuljahr im Internat kennengelernt. Bereits nach zwei Wochen waren sie unzertrennlich. Anna ist etwa gleich groß, ebenfalls schlank und sportlich aussehend. Ihre leicht gewellten, mittelblonden Haare sind etwas kürzer als Eilas. Eila und Anna bewohnen ein gemeinsames Zimmer in der oberen Etage des Mädchenhauses. Das Fenster geht zum Park hin. 

Beide haben viele gemeinsame Interessen. In ihrer Freizeit lesen sie oft, albern herum, laufen durch den Park oder unterhalten sich über Jungen. Aber Anna teilt Eilas Liebe zu den Pferden nicht, sie hat eher etwas Angst vor den großen Tieren.

 

Die derzeitige Lieblingsbeschäftigung der beiden Mädchen ist das Erfinden und Fortführen kleiner Kurzgeschichten. Sie halten diese in einem Tauschbuch fest. Eila schreibt einen Teil einer erfundenen Geschichte und macht Zeichnungen dazu. Dann gibt sie es Anna, die in den nächsten Tagen die Geschichte weiterführt, bevor sie das Buch an Eila zurückgibt. Nun ist Eila wieder an der Reihe, usw. Beide genießen dies sehr. Oft lesen sie das bisher Festgehaltene und müssen heftig lachen.

 

An diesem Spätnachmittag sind die beiden Freundinnen in ihrem Zimmer. Anna liest in einem Buch, während Eila die Geschichte im Tauschbuch fortführt.

»Freust du dich auch so auf die Ferien?«, fragt Anna zu Eila blickend. »Ich kann es kaum noch erwarten, zu meinen Eltern und Geschwistern zu kommen. Wir wollen gemeinsam in die Berge verreisen. Dort werden wir zwei Wochen wandern und in Berghütten übernachten.«

 

Eila unterbricht ihre Zeichnung eines etwas sonderbaren, kleinen, gefleckten Hundes.

»Natürlich freue ich mich auch riesig auf die Ferien!« Helle, blaue Augen mit kleinen, grauen Einsprenkelungen blicken Anna an. Auf und um ihre gerade Nase sind vereinzelt schwache Sommersprossen sichtbar. »Es gibt dann keinen Zwang zum Tragen der Schuluniform, es stehen keine Klassenarbeiten oder Tests an, und ich kann bei Großvater Brian sein.«

»Fährst du diesmal zu deinen Eltern?«

»Nein, die müssen arbeiten. Ich fahre zu Großvater, wo ich sehr gerne bin. Wir können aber nicht verreisen, so wie ihr, dafür ist Großvater nicht mehr kräftig genug. Seine alten Knochen wollen nicht so, wie er wohl möchte, und er ist manchmal schnell außer Atem«, erwidert Eila, sie freundlich anblickend.

 

»Das ist schade.« Anna macht eine kleine Pause und fährt dann fort. »Es ist schön in den Bergen. Die Wanderung einen Berghang hinauf, weiter über schmale Gipfelpfade, die ungehinderte, weite Rundumsicht, und nachts das Schlafen im Heu der Berghütten, so etwas ist einfach toll. Wie du weißt, haben wir das bereits mehrfach gemacht. Ich werde dir alles berichten.«

»Gut, da freue ich mich drauf. Bitte halte das genau in deinem Tagebuch fest. — Ich werde bei Großvater in seinen alten Büchern schmökern. Er hat so viele. Es sind auch sehr interessante darunter, mit geheimnisvollen Geschichten. Du weißt, dass ich so etwas mag. Manche Geschichten sind sehr spannend. Ich weiß noch, dass ich in den letzten Ferien ein Buch mit dem Titel »Anwendung magischer Sprüche« gesehen habe. Es kommt mir immer wieder in den Sinn. Das werde ich mal studieren.«

»Willst du eine Hexe werden?«, neckt Anna sie.

»Na klar, und zwar die größte unter allen Hexen. Ich werde dann das Böse aus der Welt vertreiben und allen wird es gut gehen!«, lacht Eila. Anna vertieft sich wieder in ihr Buch und Eila denkt an ihre Familie.

 

Wie eben zu Anna gesagt, fährt sie zu ihrem Großvater Brian, der, seit Großmutter Maireads Tod vor zwei Jahren, jetzt alleine in dem gemütlichen Haus wohnt, das auch ihr Heim ist. Ihre Eltern, John und Maggie, sind oft auf Reisen. Sie sind Historiker und forschen an geschichtlichen Stätten. Da beide viel Erfahrung in derartigen Forschungsarbeiten haben, bekommen sie immer wieder Aufträge an oft weit entfernten Orten. Die dafür notwendige Zeit ist ziemlich groß, so dass Eila kaum mit ihnen zusammen gelebt hat. Sie wohnte also bei den Eltern ihrer Mutter, Brian und Mairead. Diese haben sie groß gezogen, bis sie ins Internat kam. In den Ferien fährt sie immer dorthin zurück.

Da so gut wie nie vorher gesagt werden kann, wann ihre Eltern ihre Arbeit beenden oder unterbrechen können, sind gemeinsame Zeiten mit ihnen nicht planbar. Besuche in Brians und Maireads Haus fanden immer unerwartet statt, meistens zur Winterzeit.

Eila erinnert sich gerne an die langen Gesprächsabende zwischen den Eltern und Großeltern, denen sie oft aufgeregt lauschte. Je älter sie wurde, desto mehr meinte sie, von den Forschungsarbeiten zu verstehen. Obwohl sie nicht oft für längere Zeit mit ihren Eltern zusammengelebt hat, liebt sie diese sehr. Eila ist ein Einzelkind – für mehr Kinder wäre es in dem kleinen Haus der Großeltern auf Dauer wohl etwas eng geworden.

Ihre anderen Großeltern sind bereits vor Eilas Geburt bei einem Unfall gestorben. Die Eltern ihres Vaters waren auch Forscher und sind bei einem Erdrutsch in einem großen Gebirgszug, fern im Osten, umgekommen.

Eila lächelt in Vorfreude auf das Wiedersehen mit ihrem Großvater und zeichnet weiter an der Geschichte mit dem gefleckten Hund.

 

Nach etwa einer Stunde gehen Eila und Anna nach unten, über den Vorplatz, die Treppe hinauf in das Haupthaus und dort zum Speisesaal. Sie essen mit den anderen Schülern, an langen Tischen sitzend. Die Tische sind in regelmäßigen Abständen unterbrochen, damit nicht die ganze Länge der Tafeln umrundet werden müsste. Die Lehrer haben drei separate Tische, die entsprechend den drei Gebäuden besetzt werden. Sie stehen auf einem erhöhten Podest, quer zu den Tischen der Schüler. Die Schülertische sind den Lehrertischen der einzelnen Gebäude zugeordnet.

Nach dem Essen wandern die beiden Freundinnen gemeinsam durch den Park. Dort stehen verstreut angeordnet, mächtige, alte Bäume. Es sind hauptsächlich Eichen und Eiben, aber es befinden sich auch einige Blutbuchen, Maronen und Rosskastanien darunter. Zwischen den Bäumen liegen große, gepflegte Rasenflächen. Der schon etwas ältere Gärtner kann die Pflege aller Außenanlagen nicht alleine schaffen. Er erhält Unterstützung von weiteren fünf Mitarbeitern, die er, je nach Bedarf, aus der nahen Stadt anfordert.

 

Eila und Anna gehen an dem ehrwürdig wirkenden, großen Mammutbaum vorbei. Er steht zentral innerhalb der Parkflächen, in etwa 200 Metern Entfernung zum Hauptgebäude. Durchbrochen wird die Parkanlage von Kieswegen, auf denen auch heute Abend Schüler und Schülerinnen des Internats in kleinen Gruppen spazieren, so wie Eila und Anna.

 

Rechts ist im hinteren Teil des Parks eine feine Rauchfahne zu sehen. Dort duckt sich ein kleines Backsteingebäude mit niedrigem Dach. Es steht in Verlängerung zu dem Haus der älteren Jungen. Dies ist das Wohnhaus des Gärtners und gleichzeitig sein Geräteschuppen. Das Haus ist mit einem kleinen Garten umgeben, in dem er etwas Gemüse für den Eigenbedarf anbaut. In einem eingezäunten Hof laufen pickend viele große, braune Hühner und zwei Hähne. Das daran anschließende Hühnerhaus ist hinter dem Wohnhaus versteckt. Auch von der Treppe, vom Schulgebäude zum Park, ist es nicht zu sehen.

 

Eila und Anna kommen an der Außen-Sportanlage vorbei. Deren Rennbahnen, Weitsprunggrube, Plätze für Hochsprung und Kugelstoßen und mehrere Tennisfelder sind in einigem Abstand zu einer Pferdekoppel links im Park angeordnet. Das ebenfalls dort liegende Freibad mit mehreren Wettkampfbahnen wird besonders an warmen Tagen gern genutzt. Jetzt ist es hier aber ruhig, die sonst übliche Geräuschkulisse fehlt.

 

Von links hören sie ab und zu Pferdegewieher. In einem größeren Abstand zum Schlafhaus der älteren Schülerinnen steht ein weiteres, großes Backsteingebäude mit drei Toren. Daneben ist eine große Koppel zu sehen, in der eine kleine Pferdeherde grast. Das Gebäude ist Stall, Heulager und Reithalle in einem. Die Pferde werden von einigen Schülern der Oberstufe, hauptsächlich aber von den Schülerinnen, gepflegt und versorgt.

»Lass uns jetzt aufs Zimmer gehen und unsere Koffer packen«, meint Anna.

»Geh du schon vor, ich muss mich noch von den Pferden verabschieden«, entgegnet Eila. Sie trennen sich. Anna kehrt zum Mädchenhaus zurück, während Eila zur Pferdekoppel geht.

Eila ruft mit heller Stimme die Pferde mit ihren Namen. Bereits nach dem zweiten Namen kommen alle schnaubend, mit wehenden Mähnen, zu ihr ans Gatter galoppiert. Sie krault sie nacheinander zwischen den Ohren und tätschelt ihre Hälse. Das Mädchen lehnt seinen Kopf an die der Pferde und pustet ihnen langsam in ihre Nüstern.

»Ich bin für einige Wochen bei Großvater, aber ich komme wieder. Vergesst mich nicht und seid brav!« Einige der Pferde wiehern leise, sie bewegen nickend den Kopf auf und nieder, so als ob sie verstanden hätten. Eila verlässt die Pferde, blickt sich auf dem Weg zum Mädchenhaus aber noch einmal kurz um. Die Pferde stehen noch am Gatter und schauen ihr nach.

 

Anna ist mit dem Packen fertig, auch Eila benötigt nicht lange dafür. Anschließend lesen sie noch etwas und legen sich dann schlafen. Am nächsten Vormittag werden alle Schüler durch die Schulleiterin in die Ferien entlassen. Einige Schüler verabschieden sich etwas traurig von ihren Lehrern, besonders die jüngeren unter ihnen. Viele Schüler werden bereits von ihren Eltern mit Kutschen abgeholt. Der Vorplatz bietet kaum genügend Platz für alle.

 

In der Mitte des Kiesplatzes ist ein großes Blumenrondell angeordnet, das durch eine niedrige Buchsbaumhecke eingefasst ist. Das Beet ist in zwölf Kreissegmente geteilt. Felder mit dunkelroten und weißen Rosen wechseln sich ab, jeweils durch eines der insgesamt sechs, sehr schmalen Lavendelfelder getrennt. Die Felder mit den roten und weißen Rosen stehen sich jeweils gegenüber. Das Blumenbeet stellt das Wappen der Schule nach, das oben in der Front über dem Eingang angebracht ist. Heute ist das Gegenstück des Wappens nicht zu sehen, da die Kutschen es dicht an dicht umschließen.

 

Die von weiter entfernt kommenden Schüler, die nicht abgeholt werden, nutzen bereit stehende Fuhrwerke. Sie werden damit in Begleitung einer Lehrkraft zum Bahnhof der nahen Stadt gebracht. Natürlich nutzen Eila und Anna nebeneinander liegende Plätze in einem dieser Transportmittel. Im Bahnhofwartesaal sitzen sie noch eine halbe Stunde zusammen, dann muss Eila in den Zug Richtung Norden. Annas Zug Richtung Süden kommt erst in einigen Minuten.

»Viel Spaß in den Ferien, und pass auf den schmalen Bergpfaden auf, wohin du trittst!«, lächelt Eila, trotz ihres mahnend erhobenen Zeigefingers.

»Und du pass auf, dass du dich nicht in irgendein Fabelwesen verzauberst!«, entgegnet zwinkernd Anna.

Beide umarmen sich, dann eilt Eila zum bereits eingefahrenen Zug und steigt ein. Als sie ein freies Abteil gefunden hat, öffnet sie das Fenster und winkt zu Anna zurück, während der Zug bereits losdampft.

 

Im Weidenweg

Eila weilt bereits seit einigen Tagen bei ihrem Großvater, in einem kleinen Dorf im Norden des Landes. Sie hat die Hektik, Zwänge und Vorschriften des Lebens im Internat schon fast vergessen. Das Gedränge in der nahen Stadt, die sie etwa einmal im Monat zusammen mit Mitschülern der Oberstufe besuchen darf, ist ebenso schon fast vergessen.

 

Wie meistens sind ihre Eltern auch in diesen Ferien auf einer Forschungsreise. Sie reden nicht oft über ihre Arbeit. Aber das, was Eila darüber weiß, findet sie sehr spannend. Sie würde ihre Eltern sehr gern begleiten, doch das ist zu gefährlich, sagt ihr Vater John jedes Mal. Seine Stirn umwölkt sich dabei, und er blickt sie etwas traurig an. Vermutlich denkt er dann an den Tod seiner Eltern, auf deren letzter Forschungsreise.

 

Also verbringt Eila die Ferienzeit wieder einmal bei ihrem Großvater auf dem Land. Es ist nicht so, dass es ihr hier nicht gefällt. Sie ist hier groß geworden und genießt die Ruhe der sie umgebenden Natur. Sie riecht die duftenden Gräser und hört das Gesumme der Insekten. Sie saugt täglich die Bilder der leicht gewellten Hänge, der hügeligen Berge und Täler, in sich auf. Die Flächen sind mit Gras oder auch mit Heide bewachsen. Die Heidebüschel sind vereinzelt schon leicht violett überhaucht. Es dauert sicher nur noch kurze Zeit, bis alle voll erblüht sind.

Auf von Steinmauern eingefassten Weideflächen sind zottelige Schafe zu sehen, die, oft in großen Gruppen langsam weidend wandern. Manchmal ist das Geblöke von allen Seiten zu hören, trotz Eilas Entfernung zu ihnen. An vielen Stellen ist der Pflanzenbewuchs aber eher karg, so dass oft Gestein oder Geröll zum Vorschein kommt. Bäume sind dort meist nur vereinzelt zu sehen. In den saftig grünen Wiesen, in der Nähe vom Flusslauf im Tal, stehen sie auch schon mal in größeren Gruppen. Eila liebt diese Gegend, die trotz des teilweise rauen Eindrucks viel Ruhe und Frieden ausstrahlt.

 

Das kleine Haus des Großvaters, mit den weiß gerahmten Fenstern und einer ebenfalls weißen Eingangstür, steht etwas abseits zum Dorf, an einer, sich durch sanfte Hügel windenden Straße. Es ist von einem nicht mehr ganz weißen Holzzaun umgeben, der an vielen Stellen einen grünen Überzug aus Flechten oder Moosen aufweist.

Die altmodischen, roten Dachschindeln sind von Flechten und Moos überzogen. Durch eine mittlerweile wackelige Pforte im Zaun führt ein, mit roten Ziegeln eingefasster, gerader Kiesweg, durch die Beete des Vorgartens zum Eingang des Hauses. Dieser Vorgarten, zwischen Zaun und Haus, hat früher einmal sehr schön ausgesehen, jetzt haben sich die Stauden und Blumen aber ungehindert im Beet ausgebreitet.

Seit Eilas Großmutter vor zwei Jahren plötzlich gestorben ist, wird der Vorgarten etwas vernachlässigt. Der Großvater verlässt das Haus nur ungern, viel lieber liest er stundenlang in einem seiner vielen Bücher. Großmutter und Großvater haben sich sehr geliebt, so dass das Alleinsein für Brian nicht einfach ist. Eila ist sich sicher, dass er sich genauso auf die gemeinsame Zeit mit ihr freut, wie sie auch. Sie hat ihren Großvater sehr gern.

 

Innen ist das Haus heimelig eingerichtet. Vom Eingang gelangt man in einen kleinen Flur, von dem es nach rechts in eine kleine Küche mit niedriger Decke geht. Der Fußboden besteht dort aus Sandsteinplatten. Ausgestattet ist die Küche mit einem alten Herd, einem Sideboard mit dem Tagesgeschirr, einem schon wackeligen Küchenschrank für Töpfe und die Vorräte, einer Spüle und einem kleinen Ess- und Arbeitstisch mit vier Stühlen. Die Spüle befindet sich unterhalb eines zweiflügeligen Fensters mit Oberlicht, von dem aus der Vorgarten und der Weg zum Eingang einsehbar sind.

 

Von der Eingangstür liegt linker Hand vom Flur das Wohnzimmer. Es ist ein sehr großer Raum mit vielen Teppichen auf dem Sandsteinboden. An den Wänden stehen, bis zur Decke reichende, mächtige Bücherregale mit unzähligen Bänden. Trotzdem stapeln sich unzählige Bücher in allen Ecken auf dem Boden, für die in den Schränken und Regalen kein Platz mehr ist. Mittig im Zimmer steht ein großer, dunkelbrauner Tisch mit ovaler Platte, um den vier Stühle angeordnet sind. Zwei Ohrensessel und ein Sofa laden zum Verweilen ein. Ein offener Kamin gibt dem Zimmer, zusammen mit den Regalen und den vielen Büchern, eine besonders gemütliche Atmosphäre.

 

Gegenüber der Tür befindet sich ein großer Schreibtisch mit einem festen Aufsatz. Dieser besteht aus jeweils drei übereinander angeordneten Schubkästen an der linken und rechten Seite und einem offenem Fach dazwischen, mit einem Ablagebrett auf halber Höhe. Diese Schubfächer sind nie abgeschlossen und scheinen auch nichts von besonderem Wert zu enthalten. Auf dem Aufsatz stehen Bilder von Großvater zusammen mit Großmutter, je ein einzelnes von Großmutter und Eila, und eins von ihren Eltern vom letzten Treffen in den Winterferien,  vor einem großen, geschmückten Baum. Links von der Tür befindet sich wiederum ein zweiflügeliges Fensters mit Oberlicht und Blick in den Vorgarten.

 

In diesem Zimmer liest Brian oft in einem der Bücher oder schaut sich Fotografien in Alben an. Eila kann sich ebenso wie er völlig in ein Buch versenken. Sie liest gerne, so dass sie sich mit den vielen Büchern in Großvaters Wohnzimmer wie im Paradies fühlt. Gerade wenn das Kaminfeuer lustig prasselnd wohlige Wärme abstrahlt und die Flammen Schatten und Muster über die Bücherschränke und in die Ecken wandern lässt, wirkt das Wohnzimmer zauberhaft und friedlich. Ein heißer, dampfender Kakao oder auch ein Kräutertee passen dabei vorzüglich zu den Butterplätzchen von Frau Dixon.

 

Die Großeltern hatten vor fünf Jahren Frau Dixon in ihre Dienste genommen. Mairead konnte Haushalt und Garten wegen ihres Alters nicht mehr bewältigen und hatte sich damals für die Pflege des von ihr angelegten Gartens entschieden. Frau Dixon übernahm die Tätigkeiten im Haushalt. Seit Großmutters Tod kommt sie weiterhin zwei bis drei mal in der Woche und unterstützt den Großvater. 

Ein dringender Auftrag

Mitten in Nordland stürmt ein junger Mann in das Studierzimmer von Roarke.

Roarke ist ein älterer Mann in unbestimmbarem Alter. Er hält sich gerade und überragt die meisten seiner Landsleute. Um seine langen, etwas gewellten, dünnen Haare trägt er ein dunkelgrünes Stirnband, damit sie nicht ständig vor seine Augen fallen. Sie sind weiß mit einem leichten, silbernen Schimmer. Die Augenbrauen sind etwas buschig und ebenso wie sein langer Bart von gleicher Farbe wie sein Haar. Sein wettergegerbtes Gesicht ist oval und etwas gebräunt. Wenn die blau-grauen, mit grünen Sternchen gesprenkelten Augen auf sein Gegenüber blicken, scheinen sie bis tief in dessen Seele schauen zu können. Roarke trägt ein langes, weißes Gewand, um die Taille mit einem grünen Gürtel gerafft. Die Hände sind feingliedrig und haben lange Finger. In der linken Handfläche ist ein Sonnensymbol zu sehen. Seine Fußbekleidung ist unter dem Gewand nicht zu sehen, es sind jedoch weiche, warm gefütterte Lederschuhe.

 

»Maireads Armreif wurde in ihrem Haus aktiviert«, sprudelt es aufgeregt aus dem jungen Mann heraus. Er hat weder an die Tür geklopft, noch eine Anrede abgewartet. Roarke saß bis zu diesem Moment lesend und immer wieder nachdenkend in einem bequemen Lehnstuhl. Er hat dabei eine Pfeife geraucht und kleine Rauchringe in die Luft gepafft. Damit muss er bereits längere Zeit verbracht haben, da in dem Zimmer eine dichte Wolke schwebt.

 

Erschrocken blickt er auf und überlegt laut: »Mairead ist seit etwa zwei Jahren tot. Wer hat dann dort ihren Armreif aktiviert? Wer ist dieser Zauberer? Ist ein Mitglied ihrer Familie ein auserwählter Zauberer, der jetzt den Reif nutzt? Falls ja, ist dieser wahrscheinlich unerfahren, obwohl er sehr viel magisches Potenzial haben muss, sonst wäre er nicht auserwählt. —

Die Aktivierung dieses Armreifs ist vielleicht auch von den dunklen Zauberern bemerkt worden. Ihre Macht wird bereits seit Längerem wieder größer. Konnte der Aktivierungsimpuls auch von ihnen lokalisiert worden sein? Ich befürchte, dass das so ist. Damit ließe sich das Verschwinden von mittlerweile drei oder sogar vier der Armreife erklären. Ich weiß, dass zwei bisherige Besitzer getötet wurden, Riley und Robert, aber deren Armreife konnten nicht sichergestellt werden. Außerdem wird Knuth, ein junger Träger eines der Armreife, seit mehreren Wochen vermisst. Falls ich Recht habe, und die Dubharan tatsächlich die Aktivierung eines Armreifs orten können, bedeutet das eine Bedrohung für uns! Ich muss sichergehen und das prüfen lassen!«

Im Bruchteil einer Sekunde weiß er, wer dafür geeignet ist. Er befiehlt dem jungen Mann: »Hole schnellstens Finley zu mir!«

Der Bote stürzt zur Tür, reißt sie wieder auf und will aus dem Zimmer stürmen. Dabei stolpert er fast über einen anderen jungen Mann, der gerade an die Tür klopfen will. Beide straucheln heftig.

 

Der zweite Jüngling mag etwa 20 Jahre alt sein und hat ein schmales Gesicht. Seine blonden Haare sind mit einem grünen Band zu einem kurzen Pferdeschwanz im Nacken gebunden. Er hat eine schlanke Gestalt, die durchtrainiert und etwas muskulös ist. Bekleidet ist er mit einem eng anliegenden, weißen Obergewand und einer grauen, grün abgesetzten Hose. Die Hose wird von einem dunkelgrünen Gürtel gehalten. Der Gürtel ist nur zu sehen, da das Obergewand durch den Zusammenprall etwas hochgerutscht ist. Dieser junge Mann blickt mit seinen graublauen, hellen Augen ernst zu dem anderen und öffnet den Mund.

 

Bevor er etwas fragen kann spricht ihn Roarke an.

»Es ist gut, dass du hier bist, Finley. Ich wollte dich gerade holen lassen. Eigentlich ist es nichts Ungewöhnliches, wenn einer der sieben Armreife aktiviert wird. Obwohl es in letzter Zeit des öfteren an ungewöhnlichen Orten geschah …«, er stockt kurz, um dann fortzufahren: »Ich habe gerade von der Aktivierung eines Armreifs an dem Wohnsitz eines Zauberers erfahren, der aber vor zwei Jahren gestorben ist. Du musst überprüfen, was das zu bedeuten hat. Stelle unbedingt sicher, dass der Armreif nicht durch einen der dunklen Magier genutzt oder erbeutet wurde. Der Aktivierungsimpuls kam aus Maireads Haus. Sei vorsichtig, vielleicht ist ein Angriff der Dubharan abzuwehren!«

 

Finley schaut Roarke an.

»Ich weiß, wo Maireads Haus steht, und werde das sicher mit Leichtigkeit schaffen, sei unbesorgt! Falls ich nicht gleich gegen mehrere Zauberer antreten muss, bin ich in wenigen Augenblicken wieder zurück! Falls doch, dauert das vielleicht etwas länger.«

Er hält seine linke Hand an eine Stelle seines Obergewandes vor der Brust. Unter dem Gewand trägt er, für andere unsichtbar, eine Kette mit einem goldenen Medaillon, auf dem kurz seine Hand ruht.

»Du musst vorsichtig sein!«, will Roarke noch sagen, während Finley: »Portaro«, spricht und schon verschwunden ist. 

Plötzliche Bedrohung

Eila hat gerade im Wohnzimmer etwas aufgeräumt. Sie ist in dem hinteren Teil des Erdgeschosses, über eine etwas wackelige Stiege, in den Vorratskeller hinuntergegangen.

Eila steht jetzt in dem etwas spärlich erleuchteten Kellerraum. Sie will als Mittagessen Kartoffelsuppe mit Stücken von durchwachsenem Speck kochen, Großvaters Lieblingsessen. Da dafür zu wenig Kartoffeln im Korb in der Küche sind, muss sie noch einige aus dem Keller herauf holen.

 

Abrupt steht Eila still. Da ist ein unbekanntes Geräusch. Das hört sich nicht nach Großvater an. Der saß gerade noch im Wohnzimmer und war in ein Buch vertieft. Und Frau Dixon kommt doch heute am Mittwoch nicht.

Knarrte gerade die Stiege? Kommt jemand in den Keller? Sie spürt ein Kribbeln im Nacken.

Da vernimmt sie ein leises Zischen: »Wo ist es, wo versteckt es sich?«

 

Eila fühlt, wie sich ihre Härchen im Nacken aufrichten. Kann es hier im Weidenweg eine Gefahr geben? Das ist in dem gemütlichen Haus, in dem kleinen Dorf, doch nicht vorstellbar.

Jetzt sind eindeutig tastende Schritte auf der Stiege hörbar. Ein Brett knarrt. Die Luft wird kälter. Etwas Bedrohliches ist auf dem Weg in den Keller.

Eilas Gedanken rasen, ihr Herzschlag beschleunigt sich. Trotz aufkommender Panik sucht sie nach einem Ausweg, nach Hilfe. Instinktiv spürt sie, dass sie sich nicht bemerkbar machen darf. Also kann sie den Großvater nicht zur Hilfe rufen. Fluchtmöglichkeiten gibt es nicht, da nur die Stiege aus dem Keller führt. Wie kann sie entkommen, sich vor der drohenden Gefahr schützen?

 

Ihre Gedanken überschlagen sich. In Büchern und Erzählungen gibt es doch immer einen Ausweg!

Das Zischen kommt näher: »Wo ist es, wo versteckt es sich?«

Plötzlich ist ein Gedanke in ihrem Kopf, eine vage Erinnerung. Eilas Eltern hatten vor einigen Jahren mit den Großeltern über ein Buch gebeugt am Kaminfeuer gesessen. Sie sprachen, wie so oft, über abenteuerliche Geschichten, voller Gefahren und Magie. Aber waren es erlebte oder nur ausgedachte Geschichten? Sie war damals noch zu klein, um den Unterschied zu wissen.

Ihr rechter Fuß steht nur noch mit den Zehenspitzen auf dem Boden, ihre Ferse dreht sich dabei immer wieder nach Rechts und Links. Ein Wort oder Begriff, ein ganzer Satz tauchen aus Eilas Erinnerung auf. Die Kellerbeleuchtung beginnt zu flackern. Eilas Atem gefriert in der Kellerluft und ist als weißer Hauch zu sehen. Das Zischen scheint immer näher zu kommen. Ein eisiger Schauer läuft über ihren Rücken.

 

Da sie keinen anderen Ausweg weiß, hofft sie auf Hilfe durch das vermeintlich Unmögliche. Voller Angst flüstert sie die Worte dieser Erinnerung: »Incantamentum cuddio diogelu«. Ihr Haar beginnt zu knistern und leuchtet kurz mit einem rotgoldenen Schimmer an den Spitzen.

Sie kann plötzlich die Art des Bodens unter ihren Füssen fühlen, obwohl sie nicht barfuß ist, sondern Schuhe trägt. Er ist lehmig, mit feinen Quarzkristallen durchsetzt, festgestampft und trocken. Sie versinkt im Boden. Panik steigt in ihr auf. Sie verspürt aber keinen Druck der Erde auf ihren Körper und kann ungehindert atmen. Obwohl sie im Boden zu sein scheint, kann sie hören und sehen, was im Keller geschieht.

Sie hört weiter das Zischen, sieht wie eine dunkle Gestalt sich suchend durch den Keller hin und her bewegt, während ihr Herz immer stärker hämmert.

»Wer oder was ist das? Was hat es vor? Was kann ich tun?«

Das Wesen scheint sie nicht wahrnehmen zu können, hat der Spruch das bewirkt?

Da taucht plötzlich, wie aus dem Nichts, ein Glitzern auf, das sich zu einer weißen Gestalt verdichtet. Kurz darauf leuchtet ein Blitz in dem kleinen Keller auf. Er blendet fürchterlich, so dass Eila einige Zeit nichts sehen kann. Dafür hört sie aber Geräusche eines Kampfes. Die beiden Wesen poltern durch den Keller. Die Regale stürzen um, die Vorräte fliegen durch den Raum. Sie wird erstaunlicherweise weder verletzt noch bemerkt.

 

Nach einigen Minuten kann sie wieder etwas sehen und, obwohl einige Vorratsdosen direkt durch ihren Blick auf sie zu fliegen, fühlt sie sich nicht davon getroffen. Sie erkennt eine glänzend weiße Gestalt im Kampf mit der schwarzen. Der weiße Kämpfer ist ein junger Mann. Er hat ein schmales Gesicht und blonde Haare, die mit einem Band zu einem kurzen Pferdeschwanz im Nacken gebunden sind. Der schwarze scheint einem Menschen ähnlich, der aber zwei gebogene, kurze Hörner auf seinem Kopf hat. Es könnte sich aber auch um eine Art Kopfschmuck handeln, einen Helm mit daran befestigten Hörnern. Genaueres kann Eila nicht erkennen, da die beiden einander umklammern und ringend durch den Raum wirbeln.

Kurz darauf hört sie etwas, das wie »Dealanach« klingt. Ein erneuter Blitz erhellt den Keller, von dem der dunkle Kämpfer getroffen wird. Anschließend hört sie aus der Richtung noch »Portaro«.

Jetzt ist alles ruhig im Keller. Auch das Kribbeln in ihrem Nacken ist verschwunden.

»Sind die beiden fort? Ist sie die Gefahr vorbei? War sie wirklich bedroht?«

 

Nach einiger Zeit kann Eila in der Kellerbeleuchtung durcheinander geworfene Vorräte und zerstörte Regale erkennen. Das Zischen, die dunkle Gestalt und der weiße Kämpfer sind verschwunden. Nur eine dunkle, etwas rauchende Stelle ist noch zu sehen, dort hatte der schwarze Kämpfer zuletzt gestanden.

Sie will so schnell wie möglich aus dem Keller, sehnt sich nach der Beruhigung durch ihren Großvater. Eila möchte dringend eine Erklärung für das gerade erlebte bekommen, aber sie kann nicht aus dem Boden »auftauchen«.

Panik steigt wieder in ihr auf: »Wer war das, was ist hier passiert, warum kann ich nicht gehen?«

Sie zwingt sich zur Ruhe: »Denk’ nach. Es muss eine logische Erklärung geben.

Was ist alles geschehen, was hast du gesagt und was hast du gehört?«

 

In ihrer Angst hatte sie die Worte ausgesprochen, die in ihrer Erinnerung aufgetaucht waren. Langsam formen sich weitere Teile aus der Geschichte in ihrem Kopf. »Incantamentum cuddio diogelu« sind darin magische Worte. Sie wurden genutzt, wenn sich eine Person für andere unsichtbar im Erdreich verstecken und gleichzeitig einen Schutz für sich aktivieren wollte. Aufgehoben wurde dieser Zauber durch andere Worte, aber welche waren das nur? Diese Worte kamen ganz bestimmt auch in der damaligen Geschichte vor. Obwohl sie jetzt dringend von ihr benötigt werden, kann sie sich aber nicht erinnern! Die Gedanken rasen in ihrem Kopf.

 

Halt, was hatte sie gerade gehört, kurz bevor der Spuk vorbei war? Richtig, es klang nach einem lateinischen Wort. Latein kennt Eila aus der Schule. Auch eines der vorhin von ihr genutzten Worte ist lateinisch.

Kann mit Worten aus dieser und aus anderen Sprachen Zauberei bewirkt werden? Warum passiert dann in der Schule beim Lateinunterricht nichts Dergleichen?

Eila überlegt lange, welche Worte sie wählen soll. Falls sie Pech hat wird ihre Situation möglicherweise schlimmer. Vielleicht wirkt jetzt jedes von ihr gesprochene Wort magisch?