Die unendliche Kostbarkeit der Frauen - Ernst-Günther Tietze - E-Book

Die unendliche Kostbarkeit der Frauen E-Book

Ernst-Günther Tietze

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Beschreibung

In den neunziger Jahren gefährdet ein unheimliches biologisches Phänomen die Menschheit: Auf der ganzen Erde werden keine Mädchen mehr geboren. Die junge Biologin Anke Bau-meister findet heraus, dass weiblich orientierte Spermien nicht in die Eizelle eindringen kön-nen. Dabei entdeckt sie, dass diese Sperre zwischen den Keimzellen von Geschwistern nicht be-steht. Ein Selbstversuch mit Spermien ihres Bruders und weitere Versuche bestätigen das, doch die Veröffentlichung des Ergebnisses ruft starke ethische Bedenken hervor. Sie verliebt sich in einen kanadischen Reporter indianischer Abstammung, der ihre Arbeiten durch Veröffentlichungen unterstützt. Die beiden finden wundervoll zueinander und heiraten im Lauf der Handlung. Auch Ankes Bruder, der ihr bei den Forschungen behilflich ist, begegnet einer Frau aus Ost-deutschland, die Anke sehr ähnlich sieht, doch vom Wesen her ganz anders ist als sie, und erlebt mit ihr aufregende Stunden. Um weiterhin Mädchen zur Welt kommen zu lassen, legalisieren einige Regierungen, den Inzest zwischen Geschwistern. Die politischen Aktivitäten im Pro und Contra des Inzestver-bots werden ausführlich geschildert. In einer eingeschobenen Geschichte wird gezeigt, wie schwer sich das Problem auswirken könnte, wenn keine Lösung gefunden wird. Im östlichen Teil der in zwei Staaten gespaltenen USA wird eine nicht geschädigte junge Frau zum regelmäßigen Gebären von Mädchen ge-zwungen. Nachdem ihr die Flucht in den "freien" Westen gelungen ist, wird sie dort von jun-gen Männern ermordet, weil sie ihnen nicht zu Willen sein will. Anke Baumeister entdeckt schließlich die Ursache des Problems in den Auswirkungen des ersten Golfkrieges. Gemeinsam mit Kollegen gelingt ihr die Entwicklung eines Mittels, das die Sperre in den Frauen beseitigen kann. Die Liebe als schönste Sache der Welt spielt eine wesentliche Rolle in allen Teilen des Ro-mans und durchmischt die wissenschaftliche Seite mit wunderschönen menschlichen Ele-menten.

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Ernst-Günther Tietze

Die unendliche Kostbarkeit der Frauen

Als keine Mädchen geboren wurden

Roman

© Copyright 2000 Ernst-Günther Tietze, Hamburg

Zweite verbesserte Auflage 2014

Published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

ISBN 978-3-7375-0491-1

Inhalt

Prolog

Das Problem

München

Forschung

Pressekonferenz

Begegnung

Bundesregierung

Ausflug

Kanada

Besuch

Politik

Prolog

Jede Frau ist unendlich kostbar:

als Tochter für ihre Eltern;

später als Frau für den Mann, der sie liebt;

ihm ist sie kostbarer als irgendetwas anderes auf der Welt.

Doch auch für die Menschheit sind die Frauen kostbar:

Sie gebären die Kinder und ziehen sie auf.

Sie bewahren das Heim für die ganze Familie.

Frauen treffen die wesentlichen Entscheidungen in der Liebe und im Leben. Viele von ihnen haben die Geschichte geprägt.

Der Roman erzählt von einer Zeit, als durch äußere Ereignisse kaum Mädchen geboren wurden.

Die Ökonomen würden sagen, sie waren ein knappes Gut geworden.

Dadurch wurden die Frauen nur noch kostbarer.

Für Dietlind und Karin, die ich bis zu ihrem Tode innig geliebt habe,

und für Rosemarie, die mir jetzt das Kostbarste auf der Welt ist.

Das Problem

Als die ersten Nachrichten durchsickerten, glaubten die meisten an einen böswilligen Scherz. So unwahrscheinlich schien die Information, dass selbst die Boulevardblätter nicht wagten, auch nur eine Schlagzeile daran zu geben. Doch als am Abend des 17. August 1992 der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika in einer eilig einberufenen Pressekonferenz die Zahlen des Gesundheitsministeriums bekannt gab, war kein Zweifel mehr möglich: Eine heimtückische Gefahr mit noch nicht überschaubarem Ausmaß griff auf die Welt zu.

Anke Baumeister hatte die Nachricht schon vor zwei Tagen von ihrer Chefin Jennifer Chun, der Leiterin des INGENETIC-Labors in Rochester, USA, erfahren: „Die Firmenleitung hat mir eben vertraulich mitgeteilt, dass seit einer Woche weltweit die Früh- und Totgeburten mit einem Alter von etwa vier Monaten nur noch männlich sind“, informierte Jennifer aufgeregt ihre Mitarbeiterin und Freundin. „Daraufhin durchgeführte Geschlechtsuntersuchungen an abgetriebenen Föten zeigen das Anhalten der Tendenz. Wegen der großen Schwierigkeit werden solche Untersuchungen normalerweise nicht durchgeführt. Es erübrigt sich fast zu sagen, dass Untersuchungen schwangerer Frauen mit verschwindend geringen Ausnahmen das Bild bestätigen. Irgendein Ereignis verhindert seit April dieses Jahres die Zeugung von Mädchen. Ich weiß noch nicht, was das bedeutet, aber ich sehe eine Menge Arbeit auf uns zu kommen.“

Als Anke „April“ hörte, erinnerte sie sich, dass ihr das Problem schon bei ihrer Dissertation über die DNA der Drosophila aufgefallen war: Für kurze Zeit waren kaum noch weibliche Fliegen entstanden. Nur zwei Stämme hatten sich normal fortgepflanzt: Bei einem war es nicht vor der Geschlechtsreife gelungen, die männlichen und weiblichen Exemplare zu trennen. Der zweite Stamm lebte in einer Helium-Sauerstoff-Atmosphäre, um die Möglichkeiten für Weltraumexperimente zu testen. Wegen der großen Gene und der kurzen Generationsfolge ist die Fruchtfliege ein beliebtes Forschungsobjekt der Genetiker. Sie kreuzen mutierte Exemplare, um Veränderungen in der DNA-Sequenz zu erkennen und so die Abschnitte einzelnen Organen zuordnen zu können. Zu diesem Zweck müssen unmittelbar nach dem Schlüpfen weibliche und männliche Fliegen getrennt werden.

Die Hoffnung trog, dass das „Problem“, wie jetzt der allgemeingültige Begriff hieß, auf eine kurze Zeitspanne begrenzt sein könnte. Alle weiteren Untersuchungen zeigten dasselbe Bild. Auch bei allen Tierarten, mit Ausnahme der Fische, Krusten- und Schalentiere hatte es einen Rückgang der weiblichen Tiere gegeben. Am stärksten war er bei monogam lebenden Arten und solchen mit langer Generationsfolge reduziert, jedoch waren nirgends die Relationen so dramatisch wie bei den Menschen. Besonders schlimm war das Verhältnis im westlichen Asien und in Ostafrika. Die Statistiker berechneten das Risiko, falls sich keine Lösung für das „Problem“ finden würde: Die Menschen würden zwar nicht völlig aussterben, doch für die nächsten 15 bis 20 Jahre würde die Zahl der neugeborenen Mädchen auf etwa 1% zurückgehen und damit auch die Zahl der Menschen in der folgenden Generation. Die Tierwelt zeigte allerdings, dass diese Generation wieder Mädchen zeugen könne. Unter Annahme einer Verdoppelung der üblichen Kinderzahl je Frau wäre bereits nach fünf bis zehn Generationen der jetzige Bevölkerungsstand wieder erreicht. Einige europäische Politiker begrüßten zunächst diese Entwicklung, weil sie die rasante Vermehrung der Menschheit beenden könne. Allerdings sollte das „Problem“ doch möglichst Europa verschonen.

Anke vermutete einen Zusammenhang zwischen ihrer damaligen Beobachtung und dem „Problem“, doch um dafür Beweise zu finden, müsste sie wieder mit den kleinen Fliegen arbeiten, wozu sie wenig Lust hatte. Ihr Berliner Doktorvater, Professor Heinz von Gassner, nahm ihr mit einem Anruf die Entscheidung ab. Er wollte die grundlegende Unterscheidung weiblich und männlich orientierter Spermien anhand der gut bekannten DNA der Drosophila versuchen und bat Anke, diese Forschung in seinem Institut zu übernehmen. Jennifer riet ihr, den Ruf anzunehmen. „Es fällt mir zwar schwer, dich abzugeben“, sagte sie, „denn du leistest hier ausgezeichnete Arbeit, aber ich wüsste keinen, der besser geeignet wäre, die Idee von Heinz zu verfolgen.“

Unterschiedlicher als diese beiden Frauen konnten Freundinnen kaum sein. Jennifer, dreiundvierzig Jahre alt und chinesischer Abstammung war ein Quirl an Aktivität und hauptsächlich wegen ihrer Kreativität in diese verantwortliche Stellung gelangt. Anke, zweiunddreißig, hatte eher das bedächtige norddeutsche Naturell, das man ihr an ihren goldblonden Haaren ansah. Ihre Freundschaft beruhte vor allem auf der Liebe zur Natur und zum Wandern. Jennifers Worte gaben den Ausschlag, und da plötzlich kein Mangel an Mitteln bestand, wenn es um das „Problem“ ging, kehrte Anke nach Berlin zurück.

„Ich freue mich sehr, dass Sie zurückgekommen sind, Anke“, begrüßte Professor von Gassner sie herzlich und drückte ihr beide Hände. Er war Mitte fünfzig, schlank und schon völlig grau, doch sprühte das Temperament aus seinen Augen. „Und ebenso sehr freue ich mich, dass ich Ihnen jetzt endlich die Arbeitsbedingungen und das Salär bieten kann, die einer Wissenschaftlerin Ihres Ranges würdig sind. Die Zeit der halben Doktorandenstellen, mit denen ich Sie jahrelang abspeisen musste, ist endgültig vorbei, solange es nur in irgendeiner Weise um das ,Problem’ geht“. Dann zeigte er Anke ihr modern eingerichtetes Labor und machte sie mit ihren Mitarbeitern, fünf Doktoranden und Diplomanden sowie einigen Laboranten, überwiegend Frauen, bekannt.

Im Gegensatz zu anderen Forschern war Anke von vornherein von der Idee des Professors überzeugt, die DNA der Drosophila als Hilfsmittel zur Unterscheidung der Spermien zu benutzen. Und in der Tat gelang es ihrer Arbeitsgruppe schon nach vier Wochen, den entscheidenden Abschnitt im Kern der Keimzellen zu isolieren. Nachdem sie aus dem Zellkern feststellen konnten, ob ein Spermium weibliche oder männliche Nachkommen erzeugen würde, fanden sie äußere Unterscheidungsmerkmale, um die beiden Spermienarten lebend zu selektieren, allerdings nur in kleinsten Mengen. Sie konnten jetzt weibliche oder männliche Drosophila nach Wunsch erzeugen. Bei dieser Arbeit fiel Anke das Tagebuch ihrer Dissertation in die Hände. Anhand der Eintragungen konnte sie den genauen Termin bestimmen, an dem kurzzeitig bei den meisten Stämmen die weiblichen Nachkommen ausgeblieben waren: Es war der 5 April 1992.

In ihrem kurz darauf in der Zeitschrift BIOS veröffentlichten Bericht über die Spermienerkennung bei Fruchtfliegen erwähnte sie dies Datum und beschrieb ihre Beobachtung. Selbstbewusst wie sie schon immer gewesen war, setzte sie hinzu: „Damit dürfte einwandfrei bewiesen sein, dass – unter Berücksichtigung der Reifezeit der Drosophila Malenogaster – das auslösende Ereignis des ,Problems’ am 01. 04. 1992 eingetreten sein muss. Mögen berufenere Wissenschaftler diese Angabe zu weiteren Untersuchungen nutzen, um damit vielleicht dem ,Problem’ von einer anderen Seite auf den Leib zu rücken, als wir es mit der Spermienerkennung getan haben.“

Die Angabe über das Datum des auslösenden Ereignisses fand zunächst große Beachtung, doch Historiker stellten bald fest, dass an dem genannten Tag nicht das Geringste passiert war, wenn man von den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien und in Somalia absah. So kam man allgemein zu der Ansicht, dass diese kühne Aussage wohl nicht ernst zu nehmen sei. Mit erheblichem Interesse wurden jedoch Ankes Mitteilung über die Spermienerkennung aufgenommen. Doch wie auch sie erkannt hatte, existierten leider die beschriebenen Unterscheidungsmerkmale zwischen weiblich und männlich orientierten Spermien bei höheren Tierarten nicht. Nach drei Wochen waren sie immer noch nicht weiter. Verzweifelt saß Anke im Arbeitszimmer des Professors und berichtete von ihrer Erfolglosigkeit. Und wie meistens hatte er eine ausgefallene Idee. Schon immer hatte Anke seine Fähigkeit bewundert, eingefahrene Denkstrukturen völlig zu verlassen und ein Problem von einer ganz anderen Seite anzupacken. „Lassen Sie uns nach Rochester fliegen“, schlug er vor. „Ich habe gehört, dass Jennifer einen exzellenten Nachfolger für Sie gefunden hat. Als Arzt kann er uns vielleicht auf eine andere Fährte bringen.“

Da sich die INGENETIC Gewinne von einer möglichen Lösung des „Problems“ versprach, hatte Jennifer jetzt den früheren Militärarzt Tom Peters in ihrem Team, der sich nach dem Golfkrieg angewidert von der Army abgewandt hatte. Tom war ein feingliedriger Schwarzer, Mitte dreißig, mit Goldbrille und einem schmalen Backenbart. Als er den von Anke festgestellten Termin und ihre Vermutung hörte, das auslösende Ereignis müsste sich in der Luft über die Erde verteilt haben, sah er wieder die brennenden Ölfelder vor sich, die die irakischen Soldaten angesteckt hatten. Tagelang hatten die Verbündeten diese Armee durch eine verrußte Landschaft bis an die irakische Grenze gejagt. Zwar war das schon ein Jahr vor dem von Anke ermittelten Termin, doch wurde Tom den Verdacht nicht los, dass der Auslöser für das „Problem“ irgendwo im Irak zu suchen sein müsse.

Nachdem Anke über ihre Schwierigkeiten berichtet hatte, rekapitulierte er die bisher gültigen Spielregeln für das Entstehen der Geschlechter: Maskulinogene (Jungen erzeugende) Spermien bewegen sich schneller, sind aber nur kurzlebig, feminogene (Mädchen erzeugende) sind langsamer, bleiben aber länger befruchtungsfähig. Eine Eizelle kann bis zu zwölf Stunden nach dem Eisprung, der durch genaue Temperaturmessung feststellbar ist, befruchtet werden. Früher machten sich informierte Paare dieses Wissen zunutze. Wenn sie einen Jungen haben wollten, liebten sie sich kurz nach dem Eisprung, für ein Mädchen war es am Tage davor am günstigsten. „Sollte es nicht genügen, diese unterschiedliche Geschwindigkeit der Spermien zur Unterscheidung zu nutzen?“, fragte er mehr sich selbst als seine Zuhörer. Doch dann entsann er sich seiner ärztlichen Erfahrungen: „Es wird nicht gehen“, fuhr er traurig fort, „es handelt sich nur um Zentimeter pro Stunde und um Millimeterbruchteile Distanz.“

Enttäuscht rekapitulierten die Berliner auf dem Rückflug das Gespräch. Plötzlich packte der Professor Anke an der Schulter. „Was bringt eigentlich die Spermien dazu, zur Eizelle zu wandern und nicht irgendwohin?“, fragte er aufgeregt. „Es muss ein Botenstoff sein, eine Art Pheromon“, antwortete Anke und sprang auf, denn schon war ihr die Lösung klar: „Die Verstärkung des Botenstoffes sollte die Geschwindigkeit erhöhen und den Stoff selbst werden wir aus der Drosophila-DNA heraus finden. Ich hoffe nur, dass bei den Menschen derselbe Stoff wirkt. Da es sich aber um einen der ältesten Botenstoffe handeln dürfte, ist die Wahrscheinlichkeit hoch.“ Noch aus dem Flugzeug riefen sie Jennifer und Tom an und teilten ihnen mit, dass die Reise ihnen doch noch die entscheidende Idee gebracht hatte.

Verbissen arbeiteten Anke und ihr Team daran, den Botenstoff der Fruchtfliege zu isolieren. Nach vielen Tag- und Nachtschichten waren sie zwar völlig erschöpft, aber erfolgreich. Ihre detaillierte Kenntnis des Genoms hatte es ihnen ermöglicht, den Stoff zu finden. Nun mussten sie den Befruchtungsvorgang genau beobachten. Ein Videofilmer in ihrem Team wusste etwas von Lennart Nilsson, der vor 25 Jahren einen Filmband über das Aufwachsen eines Embryos im Mutterleib veröffentlicht hatte. Anke erinnerte sich, dass ihre Eltern sie und ihren Bruder mit Hilfe dieses Buches über das Wachstum des werdenden Menschen aufgeklärt hatten. Der Schwede gab bereitwillig die notwendigen Tipps, nach denen eine Elektronikfirma ihnen ein modernes Videomikroskop konstruierte. Jetzt konnten sie die Bewegung und das Auseinanderdriften der männlichen und weiblichen Spermien riesengroß auf dem Bildschirm beobachten.

Wie Anke vorausgesagt hatte, ließ sich mit der Konzentration des Stoffes die Geschwindigkeit der Spermien regeln. Der Abstand zwischen beiden Arten ließ sich so gut einstellen, dass eine Trennung in großem Umfang eindeutig möglich wurde. Weil die Synthese des Stoffes für sie sehr aufwendig war, wandten sie sich an Jennifer, die die notwendigen Einrichtungen besaß. Doch bei den Versuchen mit menschlichen Spermien mussten sie enttäuscht feststellen, dass der Botenstoff selbst in höchster Konzentration nur eine so geringe Geschwindigkeit der Spermien bewirkte, dass er für die Selektion nicht zu gebrauchen war. Wieder hatte eine erfolgversprechende Fährte sie in die Irre geführt. Niedergeschlagen saß Anke dem Professor gegenüber. „Heinz, ich weiß nicht mehr weiter“, sagte sie ziemlich verzweifelt. „Wir haben alles versucht, aber sind keinen Schritt weiter gekommen. Ich glaube, ich sollte diesen Job aufgeben. Sie können dann jemand geeigneteren einstellen.“

Schmunzelnd sah der Professor seine ehemalige Doktorandin an. Stets hatte sie zur Elite seiner Schüler gehört. So ehrlich würde kaum jemand sein Scheitern eingestehen. Aber er kannte solche Verzweiflungsausbrüche aus seiner eigenen Arbeit zur Genüge. „Kommen Sie mit auf einen Spaziergang“, schlug er nach kurzem Nachdenken vor. „Bewegung bringt Blut ins Gehirn und den Denkapparat auf Trab.“ Sie fuhren zum nahen Grunewald und wanderten um die Krumme Lanke. Ankes finstere Gedanken lichteten sich beim Anblick des Wassers, der grünen Bäume und vor allem beim Gesang der Vögel. Was hatte Heinz immer gepredigt? „Niemals kann man ein Problem als Ganzes lösen, sondern immer nur in Teilen. Je kleiner die Stücke sind, in die man es zerlegt, je mehr Einzelheiten man kennt, desto näher ist man der Lösung.“

Was wusste sie? Ganz genau die Zeichenfolge und die Stelle in der DNA-Sequenz der Drosophila, mit der der Botenstoff beschrieben war. Was konnte man mit diesem Wissen anfangen? Vielleicht könnte man damit die Stelle und daraus die Zeichenfolge in der menschlichen DNA decodieren? „Kennen Sie jemanden, der in der menschlichen DNA genauso gut Bescheid weiß wie wir bei der Drosophila?“, fragte sie mit einiger Hoffnung. „Genau auf diesen Vorschlag habe ich gewartet, aber ich wollte, dass Sie selber darauf kommen“, schmunzelte der Professor und klopfte ihr anerkennend auf die Schulter. „Und solch ein kreativer Mensch will einfach die Flinte ins Korn werfen!“, fügte er mit gespielter Entrüstung hinzu. In der Tat kannte er einen Kollegen in Moskau, der an einer Kartographie der menschlichen DNA arbeitete. Schon am nächsten Morgen saßen sie im Flugzeug.

„Ich freue mich sehr, dass Sie mir die Ehre Ihres Besuchs erweisen“, begrüßte sie Yuriy Kazachkov in fließendem Deutsch auf dem Moskauer Flughafen, „und ich bin mir ziemlich sicher, Ihnen helfen zu können.“ Von Gassner hatte Anke schon im Flugzeug auf ihren Gesprächspartner vorbereitet: Yuriy hatte lange als Assistent an der biochemischen Fakultät der Berliner Humboldt-Universität gearbeitet, bevor er nach Moskau gerufen wurde, um dort eine ähnliche Fakultät aufzubauen. Von jeher hatte sein Interesse der Erforschung des menschlichen Genoms gegolten und er war zu einem der wenigen Spezialisten dieses Gebietes auf der Erde geworden. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wollte ihn eine amerikanische Firma in die Staaten holen, aber er hatte darauf bestanden, in Russland zu bleiben. Es zeugte von seinem Renommee, dass die Amerikaner darauf eingingen und ihm gestatteten, mit ihrem Geld in Moskau eine Firma zu gründen. Nach diesen Informationen wunderte sich Anke nicht, dass Yuriy zunächst über das Honorar für seine Arbeit verhandelte. Da der deutsche Etat für das Problem reichlich dotiert war, einigte man sich schnell auf einen Tagessatz von 2.000,- $ und Lizenzgebühren bei der Weitergabe von Forschungsergebnissen.

Jetzt war es an Anke, ihre Ergebnisse der Fliegen-DNA auf den Tisch zu legen. Der Russe kleidete seine Anerkennung für ihre präzise Arbeit in die Worte: „Ich gäbe viel dafür, wenn wir mit dem Decodieren der menschlichen DNA nur halb so weit wären, wie Sie es bei der Drosophila gebracht haben.“ Anke errötete. Yuriy versuchte, in seiner Kartierung den entsprechenden Abschnitt zu finden, kam aber zu keinem Ergebnis. „Jetzt gibt es nur noch eine Möglichkeit“, sagte er sichtlich enttäuscht, „die wirkt aber nur, wenn der Abschnitt schon erfasst ist.“ Er gab die von Anke genannte Zeichenfolge in seinen Computer ein, stellte die Abweichungstoleranz auf 2 und ließ die Maschine loslaufen. „Es wird ein Weilchen dauern, lassen Sie uns inzwischen Kaffee trinken“, schlug er vor. Anke stimmte zu, doch vor Aufregung schmeckte ihr der Kaffee wie Spülwasser und sie drängte zur baldigen Rückkehr. Der Russe warf nur einen Blick auf den Monitor, dann atmete er tief auf und sagte feierlich: „Herzlichen Glückwunsch, meine Herrschaften, es hat geklappt. Die Abweichung ist nur 1, das bedeutet, in der ganzen Sequenz ist nur ein Zeichen mutiert. Die Stoffe müssen nahezu identisch sein.“

„Ich denke, die viel größeren Entfernungen, die die Spermien bei den höheren Tierarten zu überwinden haben, erfordern einen kräftigeren Botenstoff“, warf Heinz ein, „dafür war die Mutation notwendig.“ Anke war viel zu aufgeregt, um sich an derartigen Mutmaßungen zu beteiligen. Sie interessierte vor allem das weitere Vorgehen. Sie einigten sich darauf, dass Yuriy ihnen eine kleine Menge des Stoffes anhand der Sequenz synthetisieren würde, damit sie die Wirksamkeit an menschlichen Spermien erproben konnten. Zu einer Produktion in größerem Umfang war sein Forschungslabor nicht in der Lage, er würde aber Lizenzen an beliebige Institute vergeben. Von Gassner rief Jennifer an, die sich schnell mit dem Russen einigte.

Als sie spät abends wieder in Berlin ankamen, fuhren sie sofort ins Institut. Anke hatte ihre Arbeitsgruppe dorthin bestellt und mit den Vorbereitungen beauftragt. Natürlich war auch der Professor dabei. In der Tat wanderten die Spermien in Richtung zum Botenstoff, wobei sich die wahrscheinlich männlich orientierten schneller bewegten. Durch Regeln der Konzentration ließ sich die Geschwindigkeit so stark beeinflussen, dass eine Separation möglich war. Sie waren einen entscheidenden Schritt weiter gekommen. Noch in der Nacht informierten sie Yuriy und Jennifer. „Ich habe nie an dem Ergebnis gezweifelt“, war Yuriys selbstbewusste Antwort.

Am nächsten Tag starteten sie dann die eigentliche Versuchsreihe. Wegen der großen Wichtigkeit hatte Anke entschieden, dass sie ausgeschlafen und erst nach sorgfältiger Vorbereitung damit beginnen würden. Zuerst erprobten sie die Befruchtung mit den als männlich angenommenen Spermien. Sie klappte fast ausnahmslos. Leider mussten sie bis zur definitiven Geschlechtsfeststellung 18 Stunden warten, da die Zellkerne von Ei und Samenfaden erst nach dieser Zeit verschmelzen. Als sie danach die langsameren, als feminogen angenommenen Spermien auf die Reise schickten, erkannten sie die Ursache des „Problems“: Die Spermien wuselten um die Eizelle herum wie eine Horde Rüden um die läufige Hündin, aber sie konnten nicht in das Ei eindringen, um es zu befruchten. Ob der Fehler bei den Spermien oder bei der Eizelle lag, ließ sich nicht feststellen.

Über das Internet informierten sie eine Reihe befreundeter Institute über ihre Entdeckungen. Die INGENETIC produzierte fleißig den Botenstoff, so dass die Versuche weltweit nachvollzogen werden konnten. Doch das Ergebnis war überall das gleiche. Um die lange Wartezeit nach dem Eindringen zu verkürzen, entwickelte Tom Peters ein Enzym, das diese Zeit auf 20 Minuten reduzierte. Es hatte die Nebenwirkung, dass der entstandene Embryo nicht lebensfähig war. Das war den Forschern ganz recht, denn dadurch entfiel das Töten der überschüssigen Embryos, das von manchen Lebensschützern als Mord angesehen wird.

Trotz der offenen Frage nach dem eigentlichen Grund der Sperre brachte der nächste Bericht in BIOS, in dem Anke gemeinsam mit Yuriy und Tom die DNA-Sequenz, den Botenstoff und das Beschleunigungsenzym vorstellte, weltweite Anerkennung. Dank Ankes aufsehenerregenden Erfolgen und ihren Verbindungen zu amerikanischen Genetikern beauftragte die Bundesregierung sie mit der Koordination der deutschen und internationalen Forschergruppen zur Lösung des „Problems“. Zunächst zögerte sie, diesen Auftrag anzunehmen, weil sie ahnte, dass sie damit die praxisbezogene Arbeit aufgeben musste, die ihr so viel Freude machte, und weil die Art der Aufgabe ihr kaum noch ein geregeltes Leben ermöglichte. Andererseits war sie sich des Einflusses bewusst, den sie haben würde. Ein wesentlicher Teil der Verantwortung für die Lösung des menschheitsbedrohenden „Problems“, wofür sie schon viele Ideen beigesteuert hatte, lag nun in ihren Händen. Deshalb sagte sie nach einer kurzen Bedenkzeit zu.

Während überall die Forschungslabors mit großem Eifer nach Ursachen und möglichen Lösungen für das „Problem“ suchten, steigerte sich bei der Bevölkerung der ganzen Welt die Besorgnis teilweise bis zur Hysterie. Seit Ende des Jahres waren kaum Mädchen geboren worden, das auslösende Ereignis musste etwa neun Monat zurück liegen. Ähnlich wie bei AIDS kannte man zwar die biologische Ursache genau, hatte jedoch noch kein Gegenmittel gefunden.

Die jungen Frauen in Arabien und in den Slums der indischen Großstädte hatten das „Problem“ zunächst als eine besondere Gnade Allahs, oder des vielarmigen Wischnu oder auch nur ihres Körpers angesehen: Galten doch bisher Mütter, die Söhne gebären konnten, so viel mehr in den Augen ihrer Männer. Nur Männer konnten die Familie weiter vererben, nur Männer, und wenn sie auch noch so arm waren, durften in den Kaffeehäusern sitzen, spielen und reden. In Indien wurden immer wieder neugeborene Mädchen umgebracht, weil sie wegen der hohen Mitgift die Familie ruinieren konnten. Doch nun hatten sich die Ansichten radikal geändert: Jetzt galt die Frau als gesegnet, die einer Tochter das Leben schenkte.

Jede noch so absurde Nachricht, die in irgendeiner Weise das „Problem“ betraf, wurde begierig aufgenommen. Das gesamte gesellschaftliche und politische Leben war darauf konzentriert, und diejenige Partei fand die größte Beachtung, die die meisten Vorschläge zur Lösung des „Problems“ machte. Dass nach wie vor in den Slums der Großstädte und den Trockengebieten der Sahelzone die neugeborenen – jetzt fast nur männlichen – Babys verhungerten und verdursteten, berührte nur wenige Menschen. Fanatische Prediger, die das „Problem“ als Strafe Gottes brandmarkten und der Liberalisierung des Lebens in den westlichen Demokratien die Schuld in die Schuhe schoben, fanden begeisterte Anhänger. Überall bildeten sich Sekten, die zunächst nur ihren Glaubensgenossen, später aber auch unverhohlen der Allgemeinheit ihre jeweils einzige Wahrheit mit massivem Druck aufzuzwingen versuchten. Anke Baumeister spürte das vor allem dadurch, dass sie mehr vor Politikern und Medien die bisherige Erfolglosigkeit der Forschung rechtfertigen musste, als dass sie zu ihrer Koordinationsaufgabe kam. Nur die buddhistische Weisheit „Sei dein eigenes Licht!“, die sie auf einer ausgedehnten Wanderung durch den nepalesischen Teil des Himalaja kennen gelernt hatte, bewahrte sie manchmal vor einer handfesten Verzweiflung.

München

Schon eine Woche nach ihrer Ernennung musste Anke im Bayerischen Landtag Fragen zum „Problem“ beantworten. Als eine Abgeordnete wissen wollte, ob auch die Möglichkeit des bevorstehenden Jüngsten Gerichts in die Forschung einbezogen würde, denn schließlich kämen die Gelder ja überwiegend von christlichen Bürgern, platzte ihr der Kragen: „Nur im hintersten afrikanischen Busch ist noch der Medizinmann sowohl für die Wissenschaft als auch für das Seelenheil zuständig. In den zivilisierten Staaten, wozu sich meines Wissens auch der Freistaat Bayern zählt, übernimmt die Kirche den Part der Religion und um die Wissenschaft kümmern sich nüchterne Fachleute. Sicherlich kann Ihr Bischof diese Frage viel besser beantworten als ich“, schoss es schneller aus ihr heraus, als sie denken konnte. Die freche Antwort trug ihr eine Ermahnung des Landtagspräsidenten ein, die sie gelassen zur Kenntnis nahm. Vielleicht würde sie dadurch von künftigen Einladungen zu diesem Gremium verschont bleiben.

Lachend erzählte Anke die Geschichte ihrem Bruder Sven, der in München eine renommierte Unternehmensberatung leitete und bei dem sie übernachten wollte. Er hatte nach Abschluss seines Studiums das Glück gehabt, in die Beratungsfirma eines bekannten Unternehmenssanierers aufgenommen zu werden, der von seinem analytischen Geist und den umfassenden Computerkenntnissen angetan war. Svens erste Aufgabe war denn auch die Umstellung des gesamten Betriebes auf ein PC-Netzwerk gewesen. Dabei hatte er sich nach der simplen Regel gerichtet, die sein Chef zur Arbeitsgrundlage der Firma erhoben hatte: „Jede anspruchsvolle Tätigkeit kann nur erfolgreich sein, wenn sie in der richtigen Reihenfolge abläuft:

Informationsaufnahme,

Strategieplanung,

Aktion,

Erfolgskontrolle.

Projekte, die nicht diese Sequenz einhalten, müssen schief gehen.“

Natürlich hatte der Chef diese Regel nicht erfunden, aber die Anwendung im Geschäftsablauf trug wesentlich zum Erfolg der Firma bei. Vor einem Jahr war ihm angeboten worden, an der Universität Rostock eine Fakultät für Wirtschaftswissenschaften aufzubauen. Getreu seiner Devise, um geistig jung zu bleiben, müsse man alle fünf Jahre etwas Neues, Interessantes anfangen, hatte er begeistert zugegriffen und Sven die Leitung der Firma übertragen.

Nach langer Zeit saßen die Geschwister abends wieder einmal gemütlich bei einem Glas Wein zusammen. Anke berichtete über ihre Arbeit, die Erfolge, die sie in der letzten Zeit gehabt hatte und über die Berufung zur internationalen Koordinatorin. Dabei schilderte sie auch die Bedenken, die sie bei der Berufung in dieses Amt gequält hatten und die sie selbst jetzt noch nicht ganz abschütteln konnte. „Die Arbeit am Objekt hat mir immer viel Spaß gemacht“, sagte sie. „Da konnte ich direkt den Ablauf beeinflussen und aus dem Ergebnis sofort meine Schlüsse ziehen.“

Sven lachte leise. Liebevoll sah er seine Schwester an, die noch genau so frisch aussah wie auf dem großen Foto an der Wand, das ihr Vater vor Jahren auf seinem Boot gemacht hatte. Beide standen sie auf dem Kajütdeck, an das weit geöffnete Großsegel gelehnt und er hatte die Hand um ihre Schulter gelegt. „Weißt du eigentlich, Schwesterchen, dass diese Entscheidung jeden Menschen trifft, der in eine Führungsrolle berufen wird?“, erklärte er freundlich. „Du kannst nicht wissen, dass eine derartige Aufgabe viel mehr Freude macht, wenn du die zu koordinierende Tätigkeit selber jahrelang ausgeführt hast. Die dabei gewonnene Erfahrung ist dein Schatz, den du in die neue Aufgabe einbringst. Mit Sicherheit kannst du jetzt viel mehr bewegen und bewirken als vorher. Ich habe das in meiner eigenen Karriere hautnah erlebt.“ Er dachte eine Weile nach. „Auf jeden Fall bist du jetzt wieder an mir vorbeigezogen, und im Gegensatz zu unserer Kinderzeit freue ich mich darüber. Erinnerst du dich noch an die fürchterliche Rivalität zwischen uns, bis wir etwa zehn oder zwölf waren?“

„Sehr gut erinnere ich mich und ich habe darunter gelitten, denn körperlich warst du mir über. Trotzdem war ich mir ganz sicher, dass du mich gegen andere bis zum letzten Blutstropfen, verteidigen würdest. Unser Vater hat einmal zu mir gesagt: ,Sven verteidigt sein Erstgeburtsrecht, das er durch dich, Anke, laufend in Frage gestellt sieht.’ Das konnte ich teilweise begreifen. Was mir aber völlig unbegreiflich war, obwohl ich es sehr begrüßt habe, war deine plötzliche Wendung zu einem liebevollen Bruder, wie ich ihn noch heute schätze.“

„Ich glaube, das hatte zwei ganz verschiedene Gründe“, meinte Sven nachdenklich. „Irgendwann hatte ich begriffen, was dir schon immer klar war und du damals schamlos ausgenutzt hast, dass du nämlich die intelligentere von uns beiden bist. Vorher hatte ich immer gemeint, unsere Eltern bevorzugten dich, in Wirklichkeit war es die Natur, die dich bei der Auswahl der Gene bevorzugt hat. Diese Erkenntnis hat mich damals sehr getroffen, mir aber auch gezeigt, dass kein Mensch die Schuld hat und dass Kampf und Borstigkeit zwecklos sind.“

Er stockte, denn was er als nächstes sagen wollte, war ungewöhnlich und ihm selbst erst vor kurzem klar geworden. Er strich sich ein paar Mal mit der Hand durchs Haar, dann fand er den Mut, weiter zu sprechen: „Es kam aber noch etwas anderes hinzu: Ich merkte plötzlich, dass du außer einer Intelligenzbestie auch ein schönes Mädchen mit weiblichen Reizen warst, und bald eine Frau sein würdest. Ich wollte dich für mich gewinnen und musste deshalb lieb zu dir sein. Als sich dann die ersten fremden Jungen um dich kümmerten, wurde ich richtig eifersüchtig auf sie. Das hat sich später zwar gelegt, zumal ich ja auch gar kein Recht dazu hatte, aber die Zuneigung von damals ist geblieben, und wenn du nicht meine Schwester wärst, hätte ich längst um dich geworben. Ich glaube fast, die Probleme, die mich bisher von einer dauerhaften Bindung abgehalten haben, rühren hauptsächlich daher, dass ich jede Frau mit dir vergleiche.“

Während seiner Worte hatte Anke die Schuhe ausgezogen und es sich auf dem breiten Sofa bequem gemacht, indem sie die Füße neben sich hoch legte. Dabei rutschte ihr kaum knielanger Rock noch ein ganzes Stück höher. Interessiert betrachtete Sven ihre wohlgeformten Oberschenkel. Anke bemerkte seine Blicke, aber um den Rock herunter zu ziehen, hätte sie ihre bequeme Lage aufgeben müssen. „Was soll’s“, sagte sie leichthin, „du weißt ja eh’, wie ich aussehe.“ Sie hatte Sven immer sehr gern gehabt und viel von ihm gelernt, als sie jung waren. Doch so, wie er es jetzt ausdrückte und sie mit männlichem Interesse betrachtete, hatte sie ihn nie gesehen, eher von einer mehr mütterlichen Seite, obwohl sie ein gutes Jahr jünger war als er. Trotzdem nahm sie im Scherz den Faden auf.

„Ich versuche gerade, mir vorzustellen, es gäbe nicht die Inzestschranke und wir dürften heiraten – oder zumindest miteinander schlafen und Kinder bekommen. Also, meine Phantasie reicht dafür nicht aus.“ Beide lachten. „So weit bin ich sogar in meinen kühnsten Träumen nicht gegangen“, antwortete Sven, „aber es wäre sicherlich reizvoll, dich grenzenlos zu lieben, denn du bist eine attraktive und bestimmt auch leidenschaftliche Frau.“ Doch dann spürte er, wie dieser Gedanke, einmal gedacht, sich selbständig machte und ihn körperlich zu erregen begann. Zuerst schämte er sich, aber da sie an diesem Abend so vertraut miteinander waren, erzählte er es seiner Schwester, wobei er sich verlegen durch die Haare strich.

Anke lachte wieder ihr verhaltenes Lachen, das er so gerne hörte. „Ich empfinde es als große Ehre für mich, dass ich überhaupt noch einen Mann erregen kann und dann sogar den eigenen Bruder“, sagte sie. „Ich dachte schon, ich sei nur noch Wissenschaftlerin und völliges Neutrum. Jedenfalls lebe ich schon seit geraumer Zeit so.“ In der Tat war für sie das ganze Geplänkel nur ein harmloses theoretisches Konstrukt gewesen und in Gedanken war sie schon wieder bei ihrem Beruf. „Ich überlege gerade“, dachte sie laut vor sich hin und ließ ihre Kette durch die Finger gleiten, „welche Eigenschaften unsere gemeinsamen Kinder, wenn wir denn welche hätten, von uns vererbt bekommen würden. Denn bei aller Ähnlichkeit im Aussehen sind wir doch recht verschieden. Und da unsere Eltern sich bemüht haben, uns möglichst gleich zu erziehen, müssen diese Unterschiede genetisch bedingt sein.“

„Nun“, meinte Sven, „da gibt es sicherlich Hunderte von Möglichkeiten der Vererbung bis hin zu Eigenschaften, die wir beide nicht haben, die aber in unseren Genen verborgen und vor ein paar Generationen bei einem Urahn aufgetreten sind. Ich glaube, Kinder von uns beiden würden sich nicht weniger unterscheiden als Geschwister von nicht miteinander verwandten Eltern. Das Auftreten rezessiver negativer Eigenschaften, die immer als Gefahr des Inzests beschrieben werden, dürfte sich wohl nur über Generationen hinweg auswirken.“ Das Stichwort hatte Anke schon lange interessiert. „Wodurch ist eigentlich dieses Inzesttabu überhaupt begründet?“, fragte sie.

„Es ist in nahezu allen Kulturen seit uralten Zeiten angelegt“, antwortete Sven. „Es besteht sowohl in den mosaischen Gesetzen als auch in der griechischen Mythologie. Selbst bei den australischen Aborigines galt für den Mann die Regel, bei der Frauensuche weit zu laufen, um der Inzestgefahr aus dem Wege zu gehen. Ihre Kultur zählt sogar zu den ältesten der Erde. Natürlich gibt es in diesen Mythologien immer wieder Verstöße, die böse enden, allerdings nicht aus biologischen Gründen, sondern wegen des Verstoßes an sich. Nimm nur die Ödipus-Sage als Beispiel. In Australien ging die Geschichte dagegen nicht ganz so schlimm aus. Der Bruder wurde später Ahnherr der Krokodile. Interessant wäre wirklich die Frage, was eigentlich biologisch an der Sache begründet ist. Gibt es bei Kindern von genetisch verwandten Eltern mehr negative Mutationen als sonst?“

„Meines Wissens nicht, zumindest nicht bei Tieren“, überlegte Anke, „Schon im Grundstudium hörte ich, dass nichts daran sei. Bei meiner Züchtung von Mutationen bei Fruchtfliegen wollte ich diese Möglichkeit sogar gezielt ausnutzen, aber es brachte nichts.“ Sie stockte und starrte Sven an. „Was ist los?“, fragte er verwundert. „Lass mich einen Moment nachdenken“, antwortete sie zögernd. Eine senkrechte Falte stand auf ihrer Stirn und die Finger waren intensiv mit dem kleinen Diamanten an der Halskette beschäftigt, den sie seit dem Studium ständig trug. Nach ein paar Minuten klärte sich ihr Gesicht auf. „Ich glaube“, fuhr sie langsam und stockend fort, „du hast mir, nein wahrscheinlich der ganzen Menschheit mit deiner Frage einen großen Dienst erwiesen. Seit Monaten suche ich einen Schlüssel zur Lösung des ,Problems’ und eben habe ich ihn gefunden.“ Sven war aufmerksam geworden, denn das „Problem“ war ihm durchaus bewusst, da er immer lebhaften Anteil an Ankes Arbeit genommen hatte.

Anke war jetzt Feuer und Flamme. Sie rief sich und Sven die plötzlichen Schwierigkeiten ins Gedächtnis, die sie bei ihrer Dissertation mit der Vermehrung weiblicher Drosophila gehabt hatte und durch die sie den Termin des auslösenden Ereignisses so präzise hatte nennen können. Dann erzählte sie von den beiden Stämmen, die das Ereignis anscheinend unbeschadet überstanden hatten: dem einen in der Helium-Sauerstoff-Atmosphäre und dem anderen, bei dem sie nicht rechtzeitig die Geschlechter trennen konnte. „Wie konnte ich das nur vergessen“, schlug sie sich an die Stirn. „Jetzt ist mir bei beiden Stämmen klar, warum sie normal fortpflanzungsfähig geblieben sind: Die Fliegen in der Heliumatmosphäre hatten keine Gelegenheit, mit dem auslösenden Element in Berührung zu kommen, das offenbar über die Luft die ganze Erde verseucht hat. Und daraus, dass sie sich später auch in gewöhnlicher Luft normal fortpflanzen konnten, ist zu schließen, dass das Ereignis nur kurzzeitig wirksam war. Doch das ist noch einfach und leicht nachzuvollziehen. Die Sache mit dem anderen Stamm ist viel komplizierter und außerdem von erheblicher Brisanz. Durch deine Frage ist mir der scheinbar ungestörte Vermehrungsmechanismus klargeworden: Es kann sich nur um unkontrollierte Geschwisterzeugung handeln. Jetzt begreife ich, warum weltweit die monogam lebenden Tierarten größere Probleme hatten, wieder eine normale Population aufzubauen, als die polygamen Arten, bei denen Geschwisterzeugung häufiger vorkommt.“

„Das hieße also“, nahm Sven nachdenklich den Faden auf, „dass die bisher nicht enträtselte Sperre zwischen weiblich orientierten Spermien und Eizellen anscheinend zwischen Geschwistern nicht besteht.“

„Genau das meine ich.“ Anke dachte bereits über die Konsequenzen ihrer Erkenntnis nach. Keinesfalls durfte von dieser Vermutung, die für sie schon eine Gewissheit war, vorläufig etwas an die Öffentlichkeit dringen. Zunächst mussten hieb- und stichfeste Beweise gefunden werden, und das ging nur durch Befruchtungsversuche zwischen Keimzellen von Geschwistern. Aber wenn diese Versuche erfolgreich wären, wovon sie überzeugt war, stünde sie irgendwann in gar nicht so ferner Zukunft vor der Aufgabe, das Ergebnis zu veröffentlichen. Sie ahnte, was ihr dabei bevor stand, denn in aller Regel wird der Bote geprügelt, wenn die Botschaft nicht genehm ist.

Die Lösung des „Problems“, die ihr glasklar vor Augen stand, verstieß gegen ein uraltes, gewaltiges Tabu und würde ihr die Feindschaft einer großen Zahl von Menschen eintragen. Sven ahnte, was seine Schwester bewegte, denn ähnliche Gedanken gingen auch ihm durch den Kopf. Deshalb wartete er, bis sie das Schweigen brach.

„Ich muss es tun“, stieß sie schließlich kaum hörbare hervor und nur die Härte schützte den Diamanten an dem Goldkettchen davor, von ihren Fingern zerdrückt zu werden, „selbst, wenn sie mich dafür als Hexe verbrennen. Wenn mein Wissen erst einmal verifiziert ist, darf ich es den Menschen nicht vorenthalten. Es wäre ein Verbrechen.“

Sven setzte sich neben seine Schwester und legte ihr ehrfürchtig den Arm um den Nacken. „Ich habe dich schon immer bewundert“, sagte er zärtlich und strich ihr über das Haar, „aber jetzt weiß ich, dass du eine Heilige bist. Ich verspreche dir: Was ich tun kann, um dir zu helfen, das will ich tun. Du kannst dich immer auf mich verlassen.“

Anke war bewegt von seinen Worten. Sie hatte eine vollkommen neue Seite an ihrem Bruder kennen gelernt, schon die zweite an diesem Abend. Doch es war genau das, was sie in dieser Situation brauchte. „Ich danke dir sehr“, sagte sie leise, „ich werde deine Hilfe brauchen.“ Eine tiefe Liebe zu ihm übermannte sie, sie umarmte und küsste ihn leidenschaftlich, ganz vergessend, dass er ihr Bruder war, so aufgewühlt war sie von ihren Gefühlen. Es war so schön, sich bei einem vertrauten Menschen anlehnen zu können.

Ankes enge Umarmung und wilde Küsse lösten in Sven das Gefühl aus, sie begehre ihn als Mann. Das erregte ihn so stark, dass er bereit war, ihr alles zu geben. Unter dem hochgerutschten Rock streichelte er ihren Oberschenkel, und ihre noch wilderen Küssen zeigten ihm, dass sie es genoss. Erst als er den Saum ihres Slips fühlte, kam er zur Besinnung. Anke wollte ihn doch gar nicht verführen, sondern war nur in ihrer augenblicklichen begeisterten Zerstreutheit gefangen. Einer anderen Frau könnte er nach einer solchen Situation aus dem Weg gehen, doch Anke war ihm dafür zu lieb. So machte er sich schweren Herzens los. „Wenn wir so weiter machen, können wir in neun Monaten den Beweis für deine Vermutung auf den Tisch legen“, sagte er möglichst scherzhaft, „vielleicht wäre es ja doch besser, erst mal im Labor die Richtigkeit festzustellen.“

„Verzeih“, sagte Anke, die wie aus einem tiefen Traum erwachte, „ich hatte ganz vergessen, dass du nicht nur mein Bruder, sondern auch ein Mann bist, dem ich, wie du mir vorhin gestanden hast, als Frau nicht gleichgültig bin. Aber ich brauchte für einen Moment das Gefühl, einem Menschen ganz nahe zu sein. Übrigens, meine Anerkennung für deine Stärke. Ich bin im Augenblick so durcheinander, dass ich mich dir wahrscheinlich sogar hingegeben hätte.“

Die halbe Nacht saßen die Geschwister und überlegten, wie Anke jetzt am besten vorgehen sollte. Svens Erfahrungen in der Strategieplanung waren ihnen dabei eine wertvolle Hilfe. Notwendig waren als nächstes streng geheime Befruchtungsversuche zwischen Keimzellen von Geschwistern in vitro mit einem möglichst kleinen Kreis von Eingeweihten. Dann musste die Fachwelt vorsichtig informiert werden, damit die Versuche international nachvollzogen werden konnten. Hier lag wohl die größte Gefahr, denn damit war die Sache in der Öffentlichkeit. Sven empfahl, Ankes internationale Verbindungen zu nutzen und einige renommierte Forscher einzuweihen, die die Ergebnisse verifizieren und dann gemeinsam veröffentlichen konnten. Dabei sollten unbedingt alle menschlichen Rassen untersucht werden. Und wenn es möglich wäre, bei der Auswahl dieses Kreises neben der Fachkompetenz und dem kollegialen Vertrauen auch alle großen Religionen und politischen Weltrichtungen zu berücksichtigen, wäre es für die weltweite Akzeptanz vorteilhaft. Nur wenn die Veröffentlichung auf viele Schultern verteilt würde, ließe sich vermeiden, dass Anke allein in der Schusslinie stünde.

So entwickelten die beiden ein mehrstufiges Programm:

Ein streng geheimer Versuch in Ankes Labor, um überhaupt die Richtigkeit der These festzustellen. Zwar hatte ein einziges Ergebnis noch keine Beweiskraft, ob es nun positiv oder negativ ausging, doch es gab eine gewisse Sicherheit.

Unabhängig vom Ausgang des ersten Versuches etwa zehn weitere Versuche in Berlin unter ebenso strenger Geheimhaltung. Hier würde die volle Gewissheit ans Licht kommen.

Weitergabe der Ergebnisse an etwa zehn internationale Wissenschaftler mit der Bitte um geheime Verifikation und dem Hinweis auf die geplante gemeinsame Veröffentlichung.

Weil spätestens hier die Gefahr bestand, dass die Sache an die Öffentlichkeit kam, musste gleichzeitig eine Sprachregelung geschaffen werden, mit der man sofort auf Nachfragen reagieren konnte. Die Themen könnten „Große Verantwortung“, „Erst Gewissheit haben“, „Nicht beunruhigen“ heißen. Außerdem war eine Vorab-Information vorzubereiten, die im Notfall an den in der nächsten Stufe genannten Kreis geschickt werden könnte.

Gemeinsame Veröffentlichung der Ergebnisse in den angesehensten Wissenschaftszeitschriften mit der Bedingung, keine Vorab-Informationen heraus zu geben. Gleichzeitige Information aller Regierungen auf der Erde, aller großen Religionsgemeinschaften und der Vereinten Nationen in Form von Kopien der Veröffentlichung mit einem gleichartigen, aber persönlich gehaltenen Anschreiben.

Unmittelbar danach ein kurzes präzises Telefax zur gezielten Information an alle namhaften Medien und am nächsten Tag eine internationale Pressekonferenz mit den Leitern der beteiligten Labors.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt würde der Sturm losbrechen, und keiner von ihnen konnte im Augenblick sagen, was dabei von den Beteiligten übrig bleiben würde. Immerhin würde es Anke nicht allein treffen. Zunächst war also der erste Schritt zu planen. Anke wusste, dass sie Heinz von Gassner und seinen engsten Mitarbeitern blind vertrauen konnte. Schwieriger war es schon, Keimzellen eines Geschwisterpaares zu bekommen, ohne den Grund zu erklären.

Sven sah seine Schwester an. „Es ist doch nicht das erste Mal, dass Forscher Selbstversuche machen. Ich weiß zwar nicht, wie man an deine Eizellen kommt, aber meine Spermien habe ich schnell bei der Hand.“ „Ja, machst du denn auch mit?“, fragte Anke, doch dann fiel ihr ein, dass er ihr bedingungslose Hilfe versprochen hatte. Da beschloss sie, ihm ihre Dankbarkeit auf ganz besondere Weise zu zeigen.

Der Morgen graute schon, als die Geschwister mit ihrem Plan zufrieden waren. Anke sagte, sie müsse etwas besorgen. Sie kannte in der Nähe eine Klinik, wo sie auch um diese Zeit einen Tiefkühlbehälter bekommen konnte. Als sie in Svens Wagen durch die nächtliche Stadt fuhr, bekam sie langsam wieder einen klaren Kopf und fragte sich, ob sie ihm wirklich so danken durfte, wie sie es vorhatte. Normalerweise wäre sie nie auf diese Idee gekommen, doch seine Standhaftigkeit vorhin hatte sie beeindruckt. Er hatte als Mann auf eine lustvolle Begegnung verzichtet, da wollte sie ihm wenigstens einen kleinen Ersatz schenken, das Notwendige mit dem Schönen verbinden.

Wieder zurück, goss sie die Gläser noch einmal voll und sie stießen auf das Gelingen des Planes an. Dann legte sie die Hand in Svens Schoß und sagte leise, weil es ihr nun doch etwas peinlich war: „Du hast vorhin gesagt, dass du deine Spermien schnell bei der Hand hast. Ich denke, es ist schöner für dich, wenn ich die Sache in meine Hände nehme.“ Ehe Sven antworten konnte, drückte sie noch einmal die Lippen auf seinen Mund und küsste ihn lange und leidenschaftlich. Dann öffnete sie seine Hose und streichelte ihn zärtlich, bis er aufstöhnte und der warme Strahl in den Behälter zuckte. Erst als seine Erregung nachließ, löste sie sich von ihm und strich ihm über die Haare. Sven konnte kein Wort sagen. Er hatte erkannt, dass Anke jetzt ganz genau wusste, was sie tat, und es war unsagbar schön für ihn. Er nahm sie noch einmal in den Arm, drückte sie an sich und küsste sie. „Du bist ein wunderbarer Mensch“, stammelte er schließlich. „Wärst du doch nur nicht meine Schwester.“ Auch Anke war tief bewegt. Sie wusste, dass sie den Abend und Svens Worte nie vergessen würde.

Zwei Stunden hatten sie noch, dann musste Anke nach Erding. Sven überredete sie, noch ein wenig zu schlafen. Er sah zu, wie sie sich auszog. „Du bist schön, Schwesterchen“, sagte er liebevoll. „Glücklich der Mann, der dich einmal in seine Arme schließen darf.“ Doch Anke war so müde, dass die Worte des Bruders gar nicht mehr in ihr Bewusstsein drangen. Nach fünf Minuten hörte er nur noch ihre ruhigen Atemzüge. Er textete den Strategieplan in den PC und bereitete das Frühstück vor.

Nachdem er geduscht und sich frisch angezogen hatte, musste er Anke schon wieder wecken. Wie früher war sie sofort hellwach. Ihm gelang das nie, er brauchte immer fünf Minuten zur Orientierung, vor allem, wenn er nicht von selbst aufwachte. Nachdem sie ausgiebig und gemütlich gefrühstückt hatten, brachte er Anke im Wagen zum Flughafen. Lange stand er noch und sah ihr nach, als sie im Kontrollbereich verschwand. Was für eine Frau! Ob er wohl irgendwann eine gleichwertige Partnerin finden würde?

Forschung

In Berlin fuhr Anke sofort ins Institut. Als sie mit Sven das Experiment plante, wusste sie, dass sie bald einem Eisprung haben würde. Sie sagte für die nächsten Tage alle Termine ab, deponierte Svens Sperma und bat ihre Kollegen, ein Befruchtungsexperiment mit „besonders interessanten“ Keimzellen vorzubereiten. Genaueres war aus ihr nicht heraus zu bringen. Nach zwei Tagen wurde Ihre reife Eizelle abgesaugt, im Sperma wurden die feminogenen Zellen selektiert, und dann saß man im vertrauten Kreis vor dem riesigen Bildschirm, auf dem die mikroskopischen Vorgänge beobachtet werden konnten. Anke hatte es schon hundertmal gesehen, aber diesmal berührte es sie ganz besonders, ihre eigene Eizelle und die Spermien des Bruders auf dem Bildschirm zu sehen. Ihre Finger streichelten den kleinen Diamanten an ihrem Hals, aber ihr war, als ob es Svens Penis wäre. Als dann ein Raunen durch den Kreis ging, das sich zu einem Jubelruf steigerte, sah sie ein Spermium in die Eizelle eindringen, die ihre Hülle in der charakteristischen Weise veränderte.

Es gab keinen Zweifel, die Befruchtung war geglückt!

Heinz von Gassner, der sich sehr für das Experiment interessiert hatte, und die Kollegen gratulierten ihr und drängten sie, die Herkunft dieses offensichtlich erfolgreichen Keimmaterials zu nennen. Doch sie verweigerte standhaft die Aussage, solange der Beweis ausstand, dass wirklich ein weiblicher Embryo entstanden war. Als dann aber die durch das Enzym beschleunigte Teilung so weit fortgeschritten war, dass die DNA untersucht werden konnte, fühlte sie einen großen Widerstand in sich gegen das, was nun getan werden musste. Es war doch ihr eigenes Kind und das ihres Bruders, das jetzt zerschnitten werden sollte! Sie dachte gar nicht daran, dass der Embryo nicht lebensfähig war. Sie presste die Hand auf den Mund und dachte „Mit dieser Hand habe ich ihn gestreichelt und mit diesem Mund geküsst und nun muss ich sie aufeinander pressen, um nicht laut aufzuschreien.“ Sie hatte große Sehnsucht nach Sven, er könnte sie jetzt stützen. Im Innersten wusste sie, dass sie diesen Schnitt durch ihr gemeinsames Kind irgendwann wieder gut machen würde.

Schließlich lag das Ergebnis vor: Der Embryo war weiblich. Anke bat um einen Moment Geduld und stürzte zum Telefon. Nach fünf Minuten hatte sie ihren Bruder aus einer Konferenz herausgeholt. Sven hatte seiner Sekretärin aufgetragen, dass er für seine Schwester immer zu sprechen sei. Er wusste, dass Anke nur in dringenden Fällen davon Gebrauch machen würde. Erstaunt hörte er ihre Worte: „Es hat geklappt, unser Kind wäre ein Mädchen geworden!“ „Wieso ,wäre’“, fragte er, denn er kannte die Prozedur der Geschlechtsbestimmung nicht. „Schade“, meinte er dann, „ich hätte schon gerne ein Kind mit dir.“ „Ich auch“, antwortete sie, ohne weiter zu überlegen. Hinterher fragte sie sich, was sie wohl mit dieser Antwort gemeint hatte. Doch sie bewahrte diesen Satz in ihrer Seele.

Nun war es an der Zeit, Farbe zu bekennen. Nachdem Anke die Kollegen um strengstes Stillschweigen gebeten hatte, berichtete sie über ihre Beobachtungen zum Ende der Dissertation, sowie über ihre kürzlich entstandene Vermutung, dass Geschwisterzeugung das „Problem“ lösen könne, und gab die Herkunft der Keimzellen preis, deren erfolgreiche Verschmelzung sie soeben beobachtet hatten. Die Kollegen waren sichtlich ergriffen. Einerseits sahen sie eine Teillösung des „Problems“ nahe vor sich, wenngleich sie auch die damit verbundenen ethischen Schwierigkeiten erkannten. Andererseits bewegte sie ein Gefühl tiefer Bewunderung für diese Frau, die ihr eigenes Keimmaterial für das Experiment zur Verfügung gestellt hatte, um die Richtigkeit ihrer Vermutung nachzuweisen.