Der Unfall am herault - Ernst-Günther Tietze - E-Book

Der Unfall am herault E-Book

Ernst-Günther Tietze

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2014
Beschreibung

Arabische Terroristen erpressen Giscard Méritant, Ingenieur in einem Atomkraftwerk, der bei einem Unfall einen Menschen getötet und Fahrerflucht begangen hat. Seine Freundin Nathalie unterstützt ihn durch seelische Zuwendung und rät ihm, sich bei seinem Chef zu offenbaren, der sofort die Polizei einschaltet. Die Terroristen entführen Giscard und bekommen dadurch Zugang in das Kraftwerk, wo sie eine Bombe installieren. Die Gefahr einer Kernschmelze mit weiträumiger Kontamination der Umgebung kann nicht ausgeschlossen werden. Durch Giscards Offenbarung kann die Polizei jedoch die Terroristen festnehmen und die Bombe rechtzeitig unschädlich machen. Giscard und Nathalie leisten dabei wertvolle Hilfe. Die anfangs nur harmlose Liebesbeziehung zwischen den beiden entwickelt sich vor der Entführung und erst recht während eines kurzen Erholungsurlaubs danach zu einer intensiven heißen Liebe, die im Roman offen beschrieben wird. Die übrigen Mitglieder der Terrorbande wollen sich an Giscard rächen und verletzen ihn bei einem Überfall lebensgefährlich. Nathalie bewahrt ihn vor dem Tod. Ihr Vertrauen und ihre tiefe Liebe zeigen ihm eine Perspektive, seine Schuld zu akzeptieren und vor Gott Vergebung zu gewinnen. Nach seiner Heilung heiraten die beiden. Kurz danach wird Nathalie entführt, doch sie kann der Polizei den Ort ihrer Entführung kundtun und damit die ganze Bande unschädlich machen. Wie schon in den früheren Romanen des Autors spielt neben dem spannenden Kriminalfall auch hier die Liebe eine wesentliche Rolle, wobei wieder eine starke und selbstbewusste Frau durch ihre einfühlsame Klugheit das Geschehen entscheidend bestimmt.

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Seitenzahl: 333

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Ernst-Günther Tietze

Der Unfall am Herault

Gefahr im Atomkraftwerk

Kriminalroman

Der Herault ist ein kleiner Fluss im südfranzösischen Languedoc – Roussillon

© Copyright 2011 Ernst-Günther Tietze Hamburg

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN 978-3-0494-2

Prolog

Ein sonst sehr verantwortungsvoller Ingenieur in einem Kernkraftwerk tötet leichtsinnig einen Menschen.

Daraus entsteht eine Reihe krimineller Ereignisse, in denen das Kraftwerk gefährdet wird und er nur knapp dem Tode entgeht.

Das Vertrauen und die tiefe Liebe einer Frau helfen ihm, diese Gefahren zu bestehen und weisen ihm den Weg, mit seiner Schuld zu leben.

Denn nur wahre, innige Liebe macht fast alles möglich, sie versetzt Berge und bewirkt Wunder.

Ich widme dieses Buch meiner Frau Rosemarie, die mir nach Tod und Trauer eine neue Liebe geschenkt hat.

Unfall

„Ich habe einen Menschen getötet!“

Immer wieder drängte sich jener verhängnisvolle Augenblick vor zwei Stunden ins Bewusstsein von Giscard Méritant. Mühsam rief er sich den bis dahin so schönen Tag ins Gedächtnis, um zu begreifen, welche Katastrophe dann am Abend geschehen war:

Nachdem er drei Wochen beim Naturistenstrand von Cap d’Agde gezeltet hatte, wollte er heute Vormittag nach Hause fahren, um Montag ausgeschlafen seine Schicht im Kraftwerk Tricastin zu beginnen. Doch er wollte auch die Frau noch einmal sehen, die ihn fasziniert hatte. Kurz entschlossen parkte er den Wagen am Straßenrand und ging am Strand zu der Stelle, wo die Frau schlafend auf ihrem Handtuch lag. Sie war wohl Anfang dreißig, schlank und etwa 1,70 m groß. Ihr hübsches Gesicht mit dem vollen Mund wurde von langen dunkelbraunen Haaren eingerahmt und sie hatte eine tolle Figur.

Nathalie fühlte im Halbschlaf, dass sie betrachtet wurde und öffnete die Augen einen Spalt. Was sie sah, gefiel ihr: ein schlanker Mann, kaum älter und etwas größer als sie, mit einem gepflegten Backenbart und dichten dunklen Haaren auf Brust und Bauch. Da er nur wenig von ihr entfernt stand, hatte er wohl großes Interesse an ihr. Sie erinnerte sich, ihn schon gestern gesehen zu haben und er hatte ihr gefallen. Sie öffnete die Augen vollkommen und sagte lachend: „Na, wie ich gut erkennen kann, sind Sie zufrieden mit meiner Begutachtung.“

Giscard schämte sich seiner Aufdringlichkeit. Doch sie lud ihn mit einer Handbewegung ein, sich neben sie zu legen und sagte leichthin: „Sie sind mir schon gestern aufgefallen. Unter den vielen Männern, die mich mit den Augen verschlungen haben, waren Sie der einzige akzeptable. Übrigens, ich heiße Nathalie.“ Giscard wusste nicht, wie ihm geschah, doch schließlich stotterte er seinen Namen heraus und legte sein Handtuch in einigem Abstand neben sie. „Sie brauchen keine Angst zu haben, ich beiße nicht“, lachte Nathalie und zog das Handtuch dicht zu sich heran, bevor er sich darauf legen konnte. „Und nun stehen Sie nicht so dumm in der Gegend herum.“ Sie wunderte sich, ein derart zurückhaltender und schamhafter Mann war hier eine Seltenheit.

Als Giscard sich endlich neben Nathalie legte, beugte sie sich über sein Gesicht und küsste ihn auf die Nasenspitze. Er empfand diese Art Begrüßung als angenehm, wenn auch ungewöhnlich. Es war ein Zeichen von Nähe und Sympathie und erinnerte ihn an das Nasenreiben der Eskimos. Nathalie wehrte sich nicht, als er ihren Kopf hinab zog, bis er ihre Lippen warm auf den seinen spürte. Als er den Mund öffnete, fühlte er ihre weiche Zungenspitze, die vorwitzig eindrang und seinen Gaumen kitzelte, bis er diesen Gruß erwiderte. Nathalie strich ihm sanft über Kopf und Oberkörper, dann legte sie sich zurück und sagte leise: „Es ist schön mit dir.“

Giscard hatte Nathalies zärtliche Finger und den Kuss als sehr beglückend empfunden. Gerne würde er diese Zärtlichkeit zurückgeben. Doch obwohl sie ihn so nett zu sich gebeten und lieb gestreichelt hatte, hielt ihn seine natürliche Scheu zurück, ihr zu näher zu treten. Sie kannten sich doch gar nicht, noch fehlte ihm die Vertrautheit, die er für intime Kontakte einfach brauchte. Andererseits fühlte er sich unwahrscheinlich zu dieser schönen jungen Frau hin gezogen. Er war fürchterlich aufgeregt und das Herz schlug ihm bis in den Hals wie einem Sechzehnjährigen, der zum ersten Mal ein Mädchen berührt. Nathalie verstand sein Zögern, es rührte sie. „Er ist ja ein richtig anständiger Kerl“, dachte sie erfreut und überlegte, wie sie seine Scheu überwinden könnte, denn sie wollte ihn für sich gewinnen, zumindest hier und heute. Sein leichter Körpergeruch war ihr angenehm. Sie nahm seine Hand, küsste die Innenseite und legte sie auf ihre Brust. Sie war ja schon lange mit keinem Mann zusammen gewesen und dieser schien in seiner zurückhaltenden Art ein guter Partner zu sein. „Komm mit in mein Zelt, da sind wir unter uns“, flüsterte sie, als er begann, die Brustspitzen zu liebkosen. Giscard war von ihrer Zärtlichkeit und sichtbaren Zuneigung so angerührt, dass er sich gerne einladen ließ. Unter einer Freiluftdusche wuschen sie sich gegenseitig den Sand ab. Beide empfanden es als angenehm, die Hände des andern an ihrem Körper zu spüren.

Nathalie hatte ein recht großes Zelt mit einer bequemen Schaumstoffmatte und einer Decke darüber. Sie wies Giscard, sich auf das Lager zu setzen und holte eine Flasche Rotwein mit zwei Gläsern aus einem Campingschrank. Giscard sah mit einem kurzen Blick auf das Etikett, dass es ein hervorragender VSOP aus der Umgebung war, den er auch gerne trank. Dann schenkte sie den Wein ein und stieß mit ihm an. „Wo zeltest du, oder bist du in der Ferienanlage?“, fragte sie. Giscard erzählte ihr, dass er sein Zelt im Sirenencamp schon abgebrochen hatte, weil er morgen wieder arbeiten müsse. Wo er denn her komme, wollte sie wissen. Da erzählte Giscard ihr, dass er in Pierrelatte wohne und Schichtführer im Kraftwerk Tricastin sei. „Ah, deshalb bist du so aufgeladen“, lachte Nathalie, „dann lass uns schnell etwas essen und danach die Zeit nutzen, damit du noch früh genug weg kommst.“ Giscard stimmte gerne zu, denn er hatte Hunger bekommen. Nathalie zündete den Gaskocher an, öffnete eine Dose Ravioli mit Tomatensoße und stellte sie auf die Flamme. „Normalerweise esse ich solch Zeug nicht, es ist nur meine eiserne Reserve, falls die Zeit mal knapp ist“, meinte sie etwas verlegen. „Macht nichts, der Hunger treibt’s rein“, tröstete Giscard sie und fragte: „Wo kommst du eigentlich her?“ „Ich habe eine Boutique in Lyon“, antwortete sie kurz. „Und hast du einen Mann?“ Für einen Moment blitzte Nathalie ihn böse an, doch dann überzog ein Lachen ihr Gesicht. „Du hast wohl Angst vor Prügeln“, sagte sie schelmisch. „Nein, ich lebe alleine. Aber wie ist es denn bei dir?“ „Auch ich bin nicht gebunden“, sagte Giscard ernst und schaute ihr ins Gesicht. Noch scheute er sich, von Madeleine zu erzählen. „Der Schichtdienst ist nicht günstig für eine dauerhafte Beziehung.“

Das Essen war fertig und schmeckte mit dem guten Wein ausgezeichnet in der Zweisamkeit, die zwar noch jung, aber schon sehr intensiv geworden war. Als Nathalie danach noch Café und Calvados kredenzte, war Giscard rundum zufrieden. Sie räumte nur schnell das Geschirr in die Ecke, dann überlegte sie, wie es jetzt zwischen ihnen weiter gehen könne. Sie sehnte sich danach, seinen Körper zu fühlen, aber mehr wollte sie jetzt noch nicht, trotz der Zuneigung, die sie von Anfang an für diesen Mann empfunden hatte. Wie konnte sie ihm das zeigen, ohne ihn zu verletzen? Schließlich hatte sie eine Idee und zog ihn aufs Bett. Giscard war überrascht, wollte sie etwa mit ihm schlafen? Sie kannten sich doch kaum. Nathalie drückte sich an ihn und küsste ihn leidenschaftlich. Während ihre Zungen miteinander spielten, fühlte sie seine zunehmende Erregung und streichelte sie ganz behutsam, bis er immer schwerer atmete und schließlich stöhnend explodierte. Das bei einem Mann zu erleben, war schon immer unwahrscheinlich schön für sie gewesen. Danach lagen sie eng umschlungen beieinander und waren glücklich. Nathalie dachte, dass selten ein Mann derart feinfühlig auf sie eingegangen war. Auch Giscard war bewegt und flüsterte: „Es ist wunderschön mit dir, danke.“ Diese Frau hatte ihn von Anfang an beeindruckt.

Eigentlich wollte er schon längst auf dem Heimweg sein, doch ihm war klar, dass er Nathalie jetzt nicht einfach verlassen konnte. Sie musste wohl etwas Ähnliches fühlen, denn sie sagte: „Komm, lass uns schwimmen gehen, damit wir uns erfrischen.“ Hand in Hand gingen sie die 400 Meter durch das flache Wasser bis zur Sandbank. Einige spielten hier Ball und andere Paare nutzten eng umschlungen die Gelegenheit zur innigen Begegnung. Sie schwammen weit über die Bojenreihe hinaus, bespritzten sich, tauchten untereinander durch und umarmten sich schließlich wassertretend. Erfreut stellten sie fest, dass sie beide Wasserratten waren.

Von dem langen Bad war ihnen kalt geworden. Um trocken und wieder warm zu werden, liefen sie den Strand entlang bis zur Einfahrt in den kleinen Hafen Port Ambonne, wo der Naturistenstrand endet. Familien mit Kindern waren hier am Strand, die Kinder bauten Burgen und planschten im Wasser. Langsam rollte die Sonne zu den Betonburgen der Ferienanlage am Cap d’Agde hinunter und der Strand leerte sich. Giscard dachte traurig an seine Heimfahrt, zu der er noch gar keine Lust hatte. Zu sehr hatte ihn diese Frau in ihren Bann geschlagen. Als wenn Nathalie seine Gedanken gelesen hätte, meinte sie: „Wenn du jetzt fährst, kommst du genau in den Rückreisestau hinein. Du solltest später fahren. So weit kann es doch gar nicht bis Pierrelatte sein.“ „Nein, es sind nur 150 Kilometer und du hast Recht. Ich sollte zwar morgen ausgeschlafen zur Arbeit kommen, aber etwas Zeit habe ich noch.“ „Dann lass‘ uns etwas essen“, meinte Nathalie, „ich kann für uns noch mal kochen.“ Doch Giscard meinte, nach dem provisorischen Mittag sollten sie ordentlich essen. Nathalie schlug daraufhin Cap d’Agde vor. „Das ist ungünstig für mich“, gab Giscard zurück, „denn ich muss mir etwas anziehen und mein Wagen steht am Marseillan Plage. Lass uns ins Charlemagne gehen. Dort kann man sehr ordentlich essen und für dich ist es nicht so weit zurück zum Zelt.“ Nathalie kannte es nicht, hatte aber schon davon gehört. „Dann willst du also nach dem Essen gleich fahren?“, fragte sie etwas traurig. „Ich muss“, antwortete Giscard. „Von meiner Aufmerksamkeit hängt der sichere Betrieb des Kernkraftwerkes ab. Dafür muss ich noch ein paar Stunden schlafen.“ Auch er war traurig und diese Antwort fiel ihm gar nicht leicht.

Es dämmerte schon, als sie den Weg durch die Dünen nach Marseillan Plage nahmen. Bei Giscards Wagen stoppten sie und er zog sich an. Bis zum Charlemagne waren es nur noch wenige Schritte und sie fanden einen Tisch, der gerade frei wurde. Giscard bestellte einen Salade de chèvre chaude und Fischsuppe, Nathalie auch den Salat und ein Entrecote. Vorweg tranken sie Pastis und zum Essen eine Flasche Cote du Rhone. Giscard genoss das Essen neben dieser attraktiven und erotischen Frau, die er leider viel zu spät kennen gelernt hatte. Bisher hatte er meist alleine gegessen. „Ich würde dich gerne wieder sehen“, sagte er nach der Vorspeise und bemühte sich, nicht zu drängend zu klingen. Ein Schalk blitzte in Nathalies Augen auf: „Wenn es denn unbedingt sein muss, kannst du mir ja mal eine E-Mail schicken, aber ich bin erst in einer Woche wieder zu Hause“, meinte sie lächelnd und nannte ihre Mailadresse, die er auf der Serviette notierte. Etwas von ihm zu notieren, hielt sie nicht für notwendig. Nach einer Mousse au chocolat und dem obligaten Café zahlte Giscard für sie beide. „Du hast mich heute Mittag verpflegt, jetzt bin ich dran“, sagte er, als sie protestieren wollte. Es war kurz nach 22:30. Eng umschlungen gingen sie zu seinem Wagen zurück. „Soll ich dich noch zum Zelt bringen“, fragte Giscard besorgt. Doch lachend antwortete sie, das sei absolut nicht nötig, sie sei ja eine erwachsene Frau. Sie schlang die Arme um ihn, küsste ihn leidenschaftlich und war plötzlich im Dunkeln verschwunden. Verzweifelt sah Giscard sich nach allen Richtungen um, doch nichts war mehr von ihr zu sehen. Nur ihr Duft hing noch in der Luft. Traurig startete er seinen Wagen und machte sich auf den Weg. Dass er zu viel getrunken hatte, kam ihm gar nicht in den Sinn.

Nathalie verbarg sich am Eingang des Euro Camp hinter dem Pförtnerhaus. Sie konnte jetzt keine lange Abschiedsszene ertragen. Die Begegnung mit Giscard hatte sie völlig durcheinander gebracht und immer wieder fragte sie sich, was wohl an diesem Mann sei, dass sie ihm so hemmungslos ihre Gefühle gezeigt hatte. Das war ihr nur einmal in ihrer Jugend passiert, seitdem hatte sie sie immer unter Kontrolle gehabt. Aber solch einen zärtlichen und auf die Partnerin bedachten Mann hatte sie noch nie erlebt, diese Verbindung wollte sie sich auf jeden Fall bewahren. Schnell merkte sie sich noch sein Autokennzeichen, bevor er los fuhr. Falls er nichts von sich hören ließ, was sie nicht glaubte, konnte sie so den Kontakt mit ihm aufnehmen.

Als Giscard den Wagen startete, schaltete sich das Radio ein, das wie immer auf France Culture eingestellt war. Das zweite Klavierkonzert von Chopin wurde gespielt. Eigentlich mochte er diesen Komponisten nicht so sehr, aber die Musik war ruhig und passte zu seiner Stimmung. Er kreuzte die Hauptstraße am Kreisel und kam schnell nach Marseillan hinein. Nach einigem Suchen fand er die D 28 zur Autoroute de Soleil. Irgendwie hatte er das Gefühl, in leichtem Nebel zu fahren, doch immer wieder übermannte ihn ein unwahrscheinliches Glücksgefühl, wenn er an den Tag mit Nathalie dachte. Drei Wochen war er am Strand gewesen und hatte nichts Besonderes erlebt, und nun am letzten Tag, an dem er eigentlich schon fort sein wollte, war er dieser fantastischen Frau begegnet. Wie war es nur möglich, dass sie beide, die sich kaum kannten, in so kurzer Zeit so unwahrscheinlich vertraut miteinander geworden waren? Das konnte nicht nur der Körperkontakt gewesen sein, nein, da musste mehr dahinter stecken.

Als Ingenieur glaubte Giscard nicht an übernatürliche Phänomene, aber hier musste zwischen ihnen eine besondere Schwingung wirksam geworden sein, die er sich nicht erklären konnte. Und Nathalie war kein Dummchen, sondern durchaus ein kultivierter Mensch, vielleicht nur etwas schnell in der Wahl ihrer Partner. Ein warmer Strahl durchfuhr ihn bei dem Gedanken, dass er die Verbindung mit ihr auf keinen Fall abreißen lassen würde, schließlich hatte er ja ihre Mailadresse. Unwillkürlich trat er das Gaspedal durch und drückte für einen Augenblick den Kopf rückwärts in die Kopfstütze.

Als Giscard die Augen wieder auf der Fahrbahn hatte, sah er ein paar Meter vor sich einen dunkel gekleideten Körper in den Lichtkegel seiner Scheinwerfer torkeln. Es dauerte einen Moment, bis der Fuß vom Gas auf die Bremse kam und der Wagen den Lenkausschlag nach links annahm, da fühlte er auch schon den Aufprall des Körpers auf den Kühler, dann flog die Person nach rechts in den Graben. Giscard bremste wie verrückt, doch es dauerte noch eine ganze Weile, ehe der Wagen stand. Er nahm die Taschenlampe und lief zurück. Im Graben lag ein älterer Mann, Blut lief ihm aus dem Mund, der Kopf war weit nach hinten gebogen. Atem oder Herzschlag waren nicht mehr feststellbar, die Augen des Opfers blickten ihn starr an. Zweifellos war der Mann tot.

Giscard war jetzt hell wach. „Du bist ja betrunken!“, schoss es ihm durch den Kopf. Er überschlug, dass er etwa 1 Promille im Blut haben musste. In Verbindung mit dem Toten bedeutete das mit Sicherheit Gefängnis und Ende seiner Karriere. Er lief zurück zum Wagen. Nur der Kühlergrill hatte eine winzige Delle, sonst war kein Schaden zu erkennen, vor allem war das Glas heil, keine Scherben oder andere Teile lagen herum. Dem Toten war nicht mehr zu helfen und kein Mensch hatte etwas gesehen. Doch er durfte ihn nicht neben der Straße liegen lassen. Fünf Meter entfernt floss der Hérault, dort an die Böschung wollte er den Toten legen, vielleicht würde man dann keinen Autounfall vermuten. Giscard zog seine Arbeitshandschuhe an, schleifte den Toten die wenigen Meter zur Böschung und legte ihn dort an den Rand. Doch als er ihn auf den Rücken drehen wollte, rutschte der tote Körper ihm aus den Händen und hinab in den Fluss. Giscard atmete tief auf, vielleicht war das sogar noch besser. Dann deckte er die Blutflecke mit Blättern ab. Niemand würde ihm jetzt etwas nachweisen können.

Er startete den Wagen. Chopin ging ihm jetzt auf die Nerven, deshalb schaltete er das Radio aus. Mit einem Mal schoss ihm durch den Kopf, dass er genau das getan hatte, was er dem Fahrer, der Madeleine getötet hatte, bisher nicht verzeihen konnte. Nun war er selbst ein betrunkener Mörder. Diese Erkenntnis traf ihn mit derartiger Schärfe, dass er nicht gleich fahren konnte. Doch dann war sein Verstand wieder da. Hier an der Unfallstelle durfte er auf keinen Fall bleiben. Zitternd fuhr er los, zog das Ticket aus dem Automaten an der Autobahnauffahrt und achtete darauf, die vorgeschriebene Geschwindigkeit strikt einzuhalten. Nach anderthalb Stunden verließ er die Autobahn, zahlte jedoch nicht wie sonst mit der Kreditkarte, sondern bar. Er wollte keinerlei Spur hinterlassen. Zu Hause setzte er den Wagen in die Garage, was er sonst aus Bequemlichkeit selten tat.

Trotz der späten Stunde setzte Giscard sich noch für einen Moment auf die Couch und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Seine Blicke schweiften im Wohnzimmer umher, das Madeleine mit sicherem Geschmack eingerichtet hatte, nachdem sie das Haus gekauft hatten. Sonst dachte er immer wieder gerne an sie, doch heute kam ihm nur mit aller Wucht das Geschehene in den Sinn. Er hatte einen Menschen getötet! Nach einer halben Stunde war er noch kein bisschen zur Ruhe gekommen und ging ins Bett.

Als am Montag um 5:30 die Musik aus dem Radiowecker klang, glaubte Giscards zunächst, wirr geträumt zu haben. Zeitweise hatte er Nathalie in den Armen, doch abrupt wechselte ihr Gesicht in das des toten alten Mannes. Schlagartig wurde ihm klar, dass er überhaupt nichts von ihr wusste, außer ihrer E-Mail-Adresse und dass sie eine Boutique in Lyon hatte. Einmal war er von fürchterlichen Kopfschmerzen aufgewacht, hatte halb verschlafen zwei Tabletten genommen und fühlte sich jetzt noch ziemlich benommen. Hatte er den Unfall wirklich verursacht oder das nur geträumt? Noch im Morgenmantel lief er zu seinem Wagen. Ja, die kleine Delle im Kühlergrill war da, aber kaum erkennbar. Dann hatte er also wirklich ein Menschenleben auf dem Gewissen! Bedrückt kaute er am Croissant herum, doch bald stand er auf und fuhr zur Arbeit. Hoffentlich war er klar genug, um die Schichtübergabe mit den Ereignissen der letzten drei Wochen zu begreifen. In einer derart langen Zeit hatte sich meist eine ganze Menge verändert.

„Hey, Giscard, ich hoffe, du hast dich gut erholt“, begrüßte ihn um 6:50 der Kollege von der Nachtschicht im Kontrollraum. Keine Störung stand an, der Reaktor fuhr Volllast, wie Giscard mit einem raschen Rundblick feststellte. „Es sieht zwar ruhig aus, aber wir haben ein Problem: Die Kühlwasserpumpe 2 von Block 1 hat anscheinend einen Lagerschaden, man hört Geräusche. Zu 7:30 ist die Wartung bestellt, die sollen das Lager aufmachen. Der Chef hat die Arbeit genehmigt, wir haben ja noch die Pumpen 1 und 3. Sonst liegt heute nichts Besonderes an. Mich siehst du erst in drei Wochen wieder. Ich fahre in die Bretagne zum Fischen. Viel Spaß bei der Arbeit!“ „ Moment noch“, hielt Giscard den Kollegen zurück. „Wie steht es mit der Notbereitstellungszeit?“ „Ja, das ist ein Problem: mindestens vier Stunden, wenn das Lager offen ist. Aber auch das hat der Chef genehmigt. Er hat wohl an die Bombe im Flugzeug gedacht.“ „Na denn einen schönen Urlaub“, antwortete Giscard zerstreut. Natürlich kannte er den blöden Witz: „Wie kann man beim Fliegen sicher gehen, dass kein anderer Passagier eine Bombe dabei hat? Selber eine mitnehmen, denn die Wahrscheinlichkeit ist sehr gering, dass zwei Bomben in einem Flugzeug sind.“

Giscard nahm sich das Betriebstagebuch an und sah, dass während seines Urlaubs nichts Wesentliches geschehen war. Der Reaktor war die ganze Zeit über mit Volllast gefahren, Die einzige Unregelmäßigkeit waren die gestern festgestellten Geräusche an der Pumpe 2. Daraufhin war die in Reserve stehende Pumpe 3 ein- und die schadhafte Pumpe ausgeschaltet worden. Wenn nichts weiter dazwischen kam, würde er einen ruhigen Tag haben. So miserabel, wie er sich fühlte, war ihm das gerade Recht. Denn immer wieder sah er den Fußgänger auf der Straße vor sich, duckte sich instinktiv, als der Körper zur Seite flog und blickte dann in das Gesicht des toten Mannes. Er hätte sich die Hand abbeißen können, dass er so viel getrunken hatte. Nie wäre er sonst derart unaufmerksam gefahren. Diese Schuld machte die ganze herrliche Erinnerung an den Tag mit Nathalie zunichte. Wie er sich kannte, würde er noch lange mit diesem Druck leben müssen. Wenigstens war es höchst unwahrscheinlich, dass seine Schuld an diesem Tod jemals ans Tageslicht käme.

„Kühlwasserpumpe 2 ist geerdet und gesichert“, meldete Vincent Leman in seine schwarzen Gedanken hinein, „genehmigst du die Freigabe zur Arbeit?“ „O.K., wir müssen damit leben“, antwortete Giscard, dann merkte er, dass er Hunger hatte. Zu Hause hatte er ja kaum etwas gegessen. Er ging in die Pantry neben dem Kontrollraum, goss sich Kaffee aus der Maschine ein und schmierte sich zwei Scheiben Baguette. Das besserte seine trübe Stimmung. Er durfte hier nicht auffallen, galt er doch als besonnen und ausgeglichen. Beruhigt begann er seinen täglichen Kontrollgang durch die wichtigsten Teile der Anlage, denn er nahm seine Aufgabe ernst. Einmal blieb er dadurch mit den örtlichen Gegebenheiten vertraut und zum anderen hatte er auch schon ein paar Mal Unregelmäßigkeiten entdeckt, die die turnusmäßigen Kontrollgänger übersehen hatten.

Giscard hatte gerade die Generatorhalle betreten, als eine Sirene ertönte. Sekunden später krächzte Vincents Stimme aus dem Lautsprecher: „Block 1, Kühlwasserpumpe 3 durch Erdschluss ausgelöst!“ „Also waren diesmal doch zwei Bomben im Flugzeug“, dachte Giscard und musste grinsen. 30 Sekunden später war er im Kontrollraum. Mit einem Blick sah er, dass die Steuerstäbe automatisch einfuhren, um die Leistung des Reaktors zu reduzieren. Vincent hatte schon die Landeslastverteilung am Telefon und meldete die Störung. Giscard übernahm das Gespräch. Nebenbei sah er, wie Vincent ihm einen Isolationsmesser zeigte und auf die Tür deutete. Er wusste, dass der Kollege jetzt den Motor prüfen wollte und nickte ihm zu. Immer wieder freute er sich über die selbstständige Arbeitsweise der Mitarbeiter seiner Schicht.

Wann der Reaktor wieder volle Leistung fahren könne, wollte der Lastverteiler wissen. „Spätestens in dreieinhalb Stunden, wenn alles klar geht“, antwortete Giscard. „Wissen Sie, was uns das kostet, jetzt zur Hochlastzeit 300 MW einzukaufen?“, fragte der Lastverteiler. „Nein, aber ich kann es mir denken“, rief Giscard ärgerlich in den Apparat, „doch wenn Sie mich weiter mit solchen Fragen aufhalten, dauert es noch länger!“ Dann legte er den Hörer auf, denn M. Giroud, der Werkleiter war im Kontrollraum erschienen, ein altgedienter Maschinenbauingenieur, der kurz vor der Pensionierung stand. Eigentlich wäre Claude Flotard jetzt der Richtige gewesen, der Leiter der Produktion und Giscards direkter Vorgesetzter, aber der war seit einer Woche im Urlaub. Giscard schickte einen Mann zur Pumpe, um festzustellen, ob die Wartung vielleicht schneller fertig würde, dann erstattete er dem Chef Bericht. „Sehen Sie eine Möglichkeit, die Leistung des Reaktors zu erhöhen, obwohl er nur mit einer Kühlwasserpumpe fährt?“, wollte der wissen. „Nein, nicht mit zulässigen Maßnahmen“, antwortete er höflich, aber bestimmt „wir fahren schon an der Grenze der Kühlung.“ Kurz danach kam Vincent zurück in den Kontrollraum. „Leiter 1 von Kühlwasserpumpe 3 hat nur 10 Ohm gegen Erde“, meldete er. „Der Motor muss getauscht werden.“

Giscard hatte sich im Studium neben dem Maschinenbau auch für die Grundlagen der Elektrotechnik interessiert und wusste, was ein Erdschluss bedeutet. Jetzt kam ihm eine Idee. „Können wir die Pumpe 3 mit einem Trafo auf eine getrennte Sammelschiene schalten?“, fragte er. Vincent begriff sofort, was Giscard wollte. „Ja natürlich“, antwortete er, „Die Wicklung ist ohnehin im Eimer, und dadurch dürfte überhaupt nichts passieren, abgesehen von der höheren Spannung auf den beiden anderen Leitern.“ M. Giroud schaute die beiden verständnislos an, doch Giscard brauchte von ihm die Genehmigung für diesen außergewöhnlichen Betriebszustand. Er bat Vincent, ihn aufzuklären und rief zunächst den Lastverteiler an. „Wir wollen versuchen, die schadhafte Pumpe auf einem getrennten Netz im Erdschluss zu fahren. Wenn das klappt, sind wir in einer halben Stunde wieder auf Volllast.“ „Vielen Dank“, war die Antwort, „wir sind noch beim Handeln über die fehlende Leistung, das erleichtert die Sache.“

Der Chef hatte inzwischen ein wenig von Giscards Idee begriffen, doch er wollte bestätigt haben, dass dabei nichts passieren könne. „Das kann ich nicht“, sagte Giscard mit einem leichten Anflug von Arroganz, „wir erhöhen die Spannung auf den beiden anderen Leitern auf das 1,7-fache. Damit sind der Trafo und die Kabel gefährdet, obwohl ihre Isolierung dafür ausgelegt ist. Deshalb brauchen wir ja Ihre Genehmigung.“ Dem Chef war die Sache sichtlich unangenehm, doch als Giscard ihn an die wartende Lastverteilung erinnerte, stimmte er schließlich zu. Vincent nahm den Erdschlussschutz der Pumpe außer Betrieb und bereitete die notwendigen Schaltungen vor. Als sie die defekte Pumpe 3 einschalteten, ertönte die erwartete Erdschluss-Meldung, dann wurde sie hydraulisch zugeschaltet und nahm problemlos den Betrieb auf. Als die Steuerstäbe wieder aus dem Kern fuhren, meldete Giscard dem Lastverteiler dass der Reaktor in 10 Minuten auf Volllast sein würde.

Der Chef bat Giscard, ihn in sein Büro zu begleiten. Giscard fürchtete, dass er ihn wegen seiner herablassenden Haltung tadeln wollte, doch der war des Lobes voll über seine Idee und wollte wissen, woher Giscard so gute Kenntnisse der Elektrotechnik habe. So erzählte er von seiner Studienzeit. Der Chef wollte noch einige persönliche Worte loswerden und fragte, wo Giscard seinen Urlaub verbracht habe. Giscard hatte in der letzten Stunde seine Gedanken nur bei der Störung gehabt, jetzt stand ihm schlagartig wieder der tödliche Unfall vor Augen, den er vor 12 Stunden verursacht hatte. Er musste vorsichtig sein. „Ich habe am Golf de Lion gezeltet“, sagte er so ungenau wie möglich. Der Chef war damit zufrieden und erzählte, dass er lieber weiter östlich nach Fréjus in Urlaub fuhr, weil das Wasser dort wärmer sei. Damit war Giscard entlassen.

Er kam nicht weiter zum Nachdenken, denn er musste für die Aufsichtsbehörde einen ausführlichen Bericht über die Störung und die vorgenommenen Schaltungen verfassen. Damit war er noch nicht fertig, als die Arbeiten am Lager der Kühlwasserpumpe 2 fertig gemeldet wurden. Sie wurde geprüft und in Betrieb genommen, dann konnte das Provisorium mit der Pumpe 3 ausgeschaltet werden. Als Giscard danach den Bericht fertig hatte, war seine Schicht fast zu Ende. Er trank noch einen Kaffee, übergab den Betrieb an den ablösenden Schichtführer und machte sich auf den Heimweg.

Erst zu Hause merkte er, wie wenig er letzte Nacht geschlafen hatte, ihm fielen fast die Augen zu. Obwohl es erst 16 Uhr war, legte er sich hin und schlief fast drei Stunden, bis er wieder im Traum das Gesicht des toten alten Mannes vor sich sah. Er sprang aus dem Bett und duschte, dann fühlte er sich wohler. Nach einer kräftigen Mahlzeit sah er sich seinen Wagen noch einmal an. Er nahm den Kühlergrill ab und beulte die winzige Delle mit einem Gummihammer vorsichtig aus, das war in dem weichen Aluminium nicht schwer. Zufrieden betrachtete er sein Werk: Nichts war mehr zu erkennen. Dann verbrannte er die Arbeitshandschuhe, an denen etwas Blut klebte.

In den folgenden Nächten sah Giscard immer wieder das Gesicht des alten Mannes mit den starren Augen vor sich und wachte schweißgebadet auf. Nur ganz langsam verblasste die Erinnerung an das schlimme Ereignis.

Bis zum Sonntag. Nach einer Woche hatte Giscard am frühen Nachmittag die Frühschicht beendet und war jetzt zwei Tage frei. Er war gleich vom Kraftwerk nach Montélimar gefahren, um etwas zu erleben, aber am Sonntagabend war auch hier tote Hose, so dass er bald wieder nach Hause fuhr. Gegen 23 Uhr war er gerade dabei, sich auszuziehen, um ins Bett zu gehen, als das Telefon klingelte. „Eine Störung im Kraftwerk?“ dachte er, doch zunächst antwortete niemand auf sein „Hallo“. Er wollte schon wieder auflegen, als er eine alte Männerstimme hörte: „Leg’ nicht auf, ich will mit dir reden“. Giscard war ärgerlich. „Wer sind Sie?“, fuhr er den anderen an. „Ich bin der alte Mann, den du jetzt genau vor einer Woche angefahren und dann ins Wasser geworfen hast“, sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung, und man konnte hören, wie sie das Sprechen anstrengte.

Giscard fühlte, wie ihm die Haare zu Berge stiegen. „Was wollen Sie von mir?“, zwang er sich, mit fester Stimme zu fragen. „Das wirst du bald hören“, war die Antwort, dann wurde aufgelegt. Tausend Gedanken fluteten ihm durch den Kopf. Schlafen würde er jetzt nicht können, so zog er sich wieder an und wanderte die ausgestorbenen Straßen von Pierrelatte entlang. Er hatte doch ganz genau gesehen, dass der alte Mann tot war, bevor er ihm in den Herault gerutscht war. Irgendjemand trieb hier ein Spiel mit ihm, nur hatte er nicht die leiseste Ahnung, was für eins.

Zwei Stunden lang zermarterte Giscard sich das Hirn, bis er merkte, dass seine Gedanken immer wieder im Kreise liefen. Um 1 Uhr ging er schließlich nach Hause und legte sich ins Bett, zweifelnd, ob er überhaupt schlafen könne. Doch war er so müde geworden, dass er bald einschlief. Im Traum sah er wieder das Gesicht des alten Mannes vor sich, doch jetzt wechselte es in das von Natalie über. Das sah er als Zeichen an. Noch in der Nacht setzte er sich an den Laptop und schickte eine Mail an sie, dass er sich noch gerne an den Tag mit ihr erinnere und die Verbindung aufrechterhalten wolle. Dann schlief er weiter. Doch als er spät am Morgen nach dem Frühstück seine Mailbox aufrief, war die Mail als unzustellbar zurückgekommen. Entweder hatte Natalie ihm eine falsche Adresse gegeben oder er hatte sie falsch notiert.

Im Internet wählte Giscard das Branchentelefonbuch von Lyon an und schaute unter den Boutiquen nach den Namen der Inhaber. Leider fehlten bei den meisten der über 200 Läden die Vornamen. Wo sie angegeben waren, handelte es sich fast ausschließlich um Frauen, doch eine Natalie war nicht darunter. Fast zweifelte er, dass sie ihren Beruf richtig angegeben hatte. Er sah sich die E-Mail-Adresse auf der Serviette noch einmal genau an: <[email protected]> las er. Kein Familienname aber anscheinend ihr Geburtsdatum vor dem @. Und das hatte er wohl falsch geschrieben. Auch er hatte seinen Account bei dem Netzanbieter Wanadoo und fragte jetzt per Mail den Administrator, ob dort eine ähnliche Adresse vorhanden sei. Doch bald hatte er die Antwort, dass aus Datenschutzgründen keine Auskünfte über Adressen erteilt würden. Giscard sah sich die Adresse noch einmal an. Ein Zahlendreher konnte höchstens beim Tag vorliegen. Er versuchte es mit einer 12 hinter dem Punkt, doch auch diese Mail kam als unzustellbar zurück. Er änderte das Jahr in 77 und 78, wieder ohne Erfolg.

Was könnte er noch tun? Heute war nicht mehr viel zu machen, morgen hatte er noch frei und am Mittwoch würde die siebentägige Spätschicht beginnen. Sollte er morgen nach Lyon fahren und die Boutiquen durchkämmen? Das war an einem Tag überhaupt nicht möglich, er musste es auf die nächste Freizeit verschieben. Die war ja drei Tage lang, fiel ihm dabei ein. Und er könnte vorher vielleicht noch weitere Informationen gewinnen.

Nathalie kam an diesem Sonntagabend von Cap d’Agde nach Hause, und als sie sie ihre Mailbox checkte, wunderte sie sich, dass Giscard ihr nicht geschrieben hatte. Entweder wollte er nichts mehr von ihr wissen oder er hatte ihre Adresse verloren. So, wie sie ihn kennen gelernt hatte, schien ihr das wahrscheinlicher. Nun sie würde noch zwei Tage warten und dann etwas unternehmen.

Giscard wollte den freien Montag so angenehm wie möglich verbringen. Er stand früh auf, schnappte sich seine Badesachen und fuhr mit dem Rad nach St. Martin d’Ardèche, wo es einen guten Badestrand gab. Bis zum späten Abend blieb er dort, schwamm viel, aß in einem Bistro zu Mittag und lag auf den Kieseln am Strand. Doch immer wieder kreisten seine Gedanken um den mysteriösen Anruf gestern Abend und um die Frage, wie er Natalie aufspüren könnte. Für beide Probleme hatte er keine Lösung gefunden, als er sich um 18 Uhr auf den Heimweg durch den Wald und an St. Marcel vorbei machte. Das war zwar bergig, aber das Grün der Bäume und Blumen beruhigte ihn und die Stille wurde nur durch den Gesang der Vögel unterbrochen.

Am Dienstag fand Nathalie noch immer keine Mail von Giscard. Sie wandte sich an die Zulassungsstelle für Kraftfahrzeuge und bat um Name und Anschrift des Halters zu dem Kennzeichen, das sie sich notiert hatte. Ob es sich um eine Versicherungsangelegenheit handle, wollte man wissen, was sie bestätigte. Man werde ihr die Daten zusenden, wenn sie 20,- Euro überweise. Sie tat das sofort und fand am Samstag Name und Anschrift im Briefkasten. Sonntag suchte sie die Telefonnummer aus dem Internet und rief an, aber nur der Anrufbeantworter meldete sich. „Hallo, Giscard, hier ist Nathalie. Seit einer Woche warte ich auf eine Mail von dir. Willst du nichts mehr von mir wissen? Ruf doch wenigstens mal an“, sprach sie auf das Band und nannte ihre Telefonnummer.

Für Giscard verging die Schicht ab Mittwoch ohne besondere Ereignisse. Er hatte von 15 bis 23 Uhr Dienst und fiel abends müde ins Bett, sobald er zu Hause war. Doch am Sonntagabend klingelte sein Handy, kaum dass er nach der Arbeit in seinem Wagen saß. Er hatte noch nicht einmal den Motor angelassen. Wieder hörte er die müde, alte Stimme: „Na, denkst du noch ab und zu an mich? Die Sache ist jetzt genau zwei Wochen her.“ „Sagen Sie endlich, was Sie von mir wollen!“, schnauzte Giscard in den Hörer. Eine ganze Weile hörte er keine Antwort, dann ein leises Lachen. „Wer wird denn so ungeduldig sein!“, sagte die Stimme mit leichtem Spott, „du wirst noch früh genug hören, was wir alles von dir wollen.“ Dann war die Verbindung zu Ende. Giscard schaute auf das Display: „Nummer gesperrt“, stand dort und kurz danach: „Teilnehmer hat aufgelegt.“

Mit dem Gefühl, dass ihm jemand den Hals zuschnürte, saß Giscard lange in seinem Wagen, bis der Wachmann an die Scheibe klopfte und fragte, ob ihm nicht gut sei. Er antwortete, er habe nur über etwas nachgedacht, dann startete er den Wagen und fuhr los. „Wer ist der Anrufer und was will er von mir?“, zermarterte er sich den Kopf, während er den Wagen langsam über die leeren Straßen nach Hause lenkte. Der musste ja seine Lebensgewohnheiten ganz genau kennen, vielleicht ihn sogar beobachten, sonst hätte er ihn nicht gerade in diesem Moment in seinem Wagen anrufen können.

Nachdem Giscard eine halbe Stunde ziellos in der Gegend umher gefahren war, kam er langsam wieder zur Ruhe. Das hatte doch keinen Zweck! Irgendwie musste er mit der Sache fertig werden, obwohl ihm die Furcht vor dem nächsten Anruf wie ein Stein auf der Seele lag. Als er das Wohnzimmer betrat, sah er den Anrufbeantworter blinken. Sofort war wieder das Gefühl in ihm, er müsse ersticken. War das wieder der alte Mann? Eine ganze Weile saß er vor dem Schreibtisch und starrte die blinkende Diode an. Doch wie vorhin kehrte auch jetzt die Vernunft zurück und kurz entschlossen drückte er auf den Abspielknopf. Die Stimme, die er hörte, ließ einen Felsen von seiner Seele plumpsen, es war die Nachricht von Natalie. Dreimal ließ Giscard das Band ablaufen, um sich an ihrer Stimme zu erfreuen, doch plötzlich kamen ihm Bedenken. Woher wusste sie seine Telefonnummer? Er hatte weder seinen Namen noch irgendeine Nummer genannt. Steckte sie vielleicht mit dem alten Mann unter einer Decke? Das musste er heraus bekommen. Er schaute auf die Uhr: es war kurz nach Mitternacht. Konnte er sie jetzt noch anrufen? Seine Sehnsucht einerseits und sein Misstrauen andererseits waren so groß, dass er alle Bedenken beiseite schob und ihre Nummer wählte.

Ein verschlafenes „hallo“ meldete sich, unzweifelhaft Natalies Stimme. Doch als Giscard seinen Namen nannte, wurde die Stimme sehr schnell lebendig: „Mensch, warum hast du dich denn nicht gemeldet. Ich dachte schon, du hast mich abgehakt. Bist du überhaupt noch an mir interessiert?“ „Sonst hätte ich ja wohl nicht gleich nach der Arbeit zurück gerufen“, antwortete Giscard erleichtert und erklärte ihr das Problem mit ihrer E-Mail-Adresse. Nathalie nannte sie ihm noch einmal und er fand keinen Fehler. Schließlich buchstabierte sie jedes einzelne Zeichen und da sah er, dass er ihren Namen ohne „h“ notiert hatte. Ja natürlich, Nathalie wird ja mit „h“ geschrieben!

Giscard erklärte ihr, wie froh er sei, dass sie sich nun doch noch wieder gefunden hatten. Doch die Zweifel kamen ihm wieder und er fragte, wie sie zu seiner Telefonnummer gekommen sei. Ja, das sei gar nicht so einfach und auch recht kostspielig gewesen, antwortete sie lachend, zum Glück habe sie sich sein Autokennzeichen gemerkt. Wieder fiel Giscard ein Stein von der Seele. Sie plauderten eine Weile, dann verabredeten sie, dass Giscard sie am Mittwoch, seinem ersten freien Tag nach der Spätschicht, in Lyon besuchen würde. Er hatte gesagt, dass er drei Tage frei habe, doch sie sprachen nicht darüber, wie lange er bleiben sollte. „Das wird sich ergeben“, dachte er. Den Anruf des alten Mannes auf seinem Handy hatte er völlig vergessen, als er glücklich einschlief.

Nach dieser frohen Nachricht konnte Giscard es kaum erwarten, dass die drei letzten Tage der Schicht vorüber gingen. Doch Montag früh rief Nathalie noch einmal an. Ob er nicht besser am Wochenende kommen könne, da hätte sie mehr Zeit. In der Woche müsste sie ja ihre Boutique offen halten. Giscard überlegte kurz, dann sagte er, er wolle versuchen, zwei Schichttage mit einem Kollegen zu tauschen. Nathalies Wort vom Wochenende legte er sehr erfreut so aus, dass sie mindestens zwei Tage beieinander bleiben würden. Und er hoffte, dass der alte Mann ihn am Sonntagabend nicht anrufen könne, wenn er noch bei Nathalie wäre.

Nach einer halben Stunde war die Sache geklärt: Er würde am Mittwoch und Donnerstag die Nachtschicht übernehmen und der Kollege, der eigentlich dran wäre, würde dafür Samstag und Sonntag nachts arbeiten. Er könne am Freitagmittag, nachdem er etwas geschlafen hatte, nach Lyon fahren und sie hätten bis in den Montag hinein Zeit füreinander. Freudestrahlend rief er Nathalie zurück und auch sie war sehr erfreut über seine gute Nachricht. „Wir haben ja eine ganze Menge nachzuholen“, sagte sie schelmisch, bevor sie ihm ihre Adresse nannte. An den alten Mann dachte er nicht mehr, bis er mittags zur Arbeit fahren wollte. Unter den Scheibenwischer war ein mit dem Computer gedruckter Zettel geklemmt: „Viel Spaß am Wochenende in Lyon! Glaub nicht, dass ich dich da zufrieden lasse. Der alte Mann.“

Jaqueline

Am Donnerstagnachmittag klingelte es, Jacqueline stand vor der Tür. Giscard seufzte innerlich, doch als höflicher Mensch ließ er sie ein und lud sie zum Tee, den er gerade gebrüht hatte, wobei seine Geschichte mit ihr wie ein Film in seinem Gedächtnis ablief:

Er hatte Jacqueline zwei Monate nach Madeleines Tod bei einem Literaturabend über das Werk von Françoise Sagan kennen gelernt, die er sehr mochte. Weil er ein paar Minuten zu spät kam, fand er nur noch einen freien Platz neben der jungen Frau, die mit leicht hellbraunen Teint und halblangen schwarzen Haaren fantastisch aussah. Auch ihr Outfit war bezaubernd, sie trug ein kurzes beiges Seidenkleid mit einem leichten hellgrünen Moirémuster, dazu hochhackige Sandalen und eine lange Bernsteinkette. Während der Lesung von Beispielen aus Sagans Romanen beeindruckten ihn ihre sachverständigen Kommentare, weshalb er sie anschließend zu einem Café einlud, um mit ihr über den Abend zu diskutieren. Dabei faszinierte ihn ihr fundiertes Wissen über die Schriftstellerin, anscheinend war sie eine intelligente und belesene Frau, mit der sich der Kontakt lohnte. Deshalb gab er ihr zum Abschied seine Visitenkarte. Die Veranstaltung war mit einem literarischen Fragespiel verbunden, bei der sie einen Preis gewann. Durch den Aufruf des Preises kannte er ihren Namen: Jacqueline Baton.