Ein Maler, ein Gärtner & ein Geist - Tanja Rast - E-Book

Ein Maler, ein Gärtner & ein Geist E-Book

Tanja Rast

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Beschreibung

Ein Wasserschaden hat sein Atelier geflutet. Hagen – mitsamt Kater, vielen Gemälden und Farben – sucht einen Unterschlupf. Da kommt die Nachricht gerade recht, dass er für einige Monate ein Anwesen mit einer umgebauten Wassermühle hüten darf. Mit einem altersschwachen Bulli und seiner Staffelei zieht er also in ein beschauliches norddeutsches Kuhdorf. Kopfsteinpflaster, alte Gemäuer und malerischer Kirchhof inklusive. Außerdem kreuzt alsbald der ebenfalls malerische Dorfgärtner Nico Hagens Weg. Wortkarg und pragmatisch scheint ihn nichts aus der Ruhe zu bringen, bis eines Nachts Nordlicht über der Wassermühle auftaucht. Und mehr … Denn die ländliche Idylle zwischen Kirche, Dorfladen und Moor trügt. Auch wenn Hagen so sehr wünscht, dass Nicos Stimme der Vernunft den nächtlichen Spuk vertreibt … Die Romane der Reihe sind in sich abgeschlossen und können in beliebiger Reihenfolge gelesen werden.

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Ein Maler, ein Gärtner & ein Geist

 

Tanja Rast

Inhaltswarnungen

 

Kann Spuren von Erdnüssen enthalten!

 

Es gibt Inhalte, die Betroffene triggern können, das heißt, dass womöglich alte Traumata wieder an die Oberfläche geholt werden. Deswegen habe ich für diese Personen eine Liste mit möglichen Inhaltswarnungen für alle meine Romane zusammengestellt:

 

www.tanja-rast.de/inhaltswarnungen

 

Inhaltsverzeichnis

1. Zuflucht in ländlicher Einöde
2. Klärendes Rasenmähen
3. Die alte Mühle
4. In freier Wildbahn
5. Nico und die Wikinger
6. Politik der kleinen Schritte
7. Hagens Wikingergott
8. Date mit Kaffee und Kuchen
9. Dorfleben
10. Regen im Moor
11. Kavallerie
12. Ode an einen Knöchel
13. Angeschlagener Wikinger
14. Lausige Einladung
15. Vorräte aufstocken
16. Frühstück und Feuerwerk
17. Das Wasserrad
18. Durch Hagens Augen
19. Kohlekomplimente
20. Bagels, Tee und Donuts
21. Nordlicht
22. Eine frische Brise
23. Ein roter Punkt im Nebel
24. Ruhe nach dem Sturm
25. Das Gesicht im Nebel
26. Der letzte Rollladen
27. Karottenweitwurf
28. Die Fütterung des Löwen
29. Sturmbetrachtungen
30. Vorbereitung ist alles
31. Warten auf den Spuk
32. Der Karton der Fröhlichs
33. Planungen
34. Archäologie
35. Ausflug ins Moor
36. Müde Helden
37. Rosenkavaliere
Epilog: Worte aus der Vergangenheit

 

Die Autorin
Eine kleine Bitte
Danke
Bücher, die mitgespielt haben

1.Zuflucht in ländlicher Einöde

Hagen

»Das ist doch perfekt für dich«, äffte Hagen die Stimme seines Vaters nach, während er das Lenkrad umklammerte und Todesängste um die Stoßdämpfer des alten Bullis ausstand. »Du findest ganz bestimmt ganz viel Inspiration. Außerdem bist du der Einzige, dem ich das anvertrauen kann, der keine vernünftige Arbeit hat und deshalb flexibel ist. Obendrein erhältst du jeden Monat eine feste Summe, mit der du rechnen kannst. Und du tust mir einen Gefallen.«

Er musste sich vor lauter Dankbarkeit doch wie das Tapfere Schneiderlein mit den sieben Fliegen auf einen Streich vorkommen. Obwohl sein Vater noch etliche Beweggründe – einer davon war eine trockene Wohnung – mehr aufgezählt hatte, bis Hagen um des lieben Friedens willen einfach zugestimmt hatte. Und weil er es hasste, wenn Papa seinen hoffnungsvollen Dackelblick zum Einsatz brachte. Hatte er dieses Mal nicht getan, sondern glücklich gestrahlt, dass er seinen Sprössling so wundervoll unterbringen konnte. Das mit den vielen Inspirationen meinte er nämlich ernst, als würden alle Künstler nur in ländlicher Einöde aufblühen.

Zwei der väterlichen Mandanten begaben sich auf Weltreise und hatten ihren Anwalt beauftragt, derweil jemanden in das Haus zu setzen. Das Haus, das eine alte Wassermühle war. Klang romantisch, war bestimmt ungemütlich. Außerdem am Arsch der Welt. Den Namen des Kaffs hatte Hagen noch nie zuvor gehört. Jetzt hoffte er, dass das Navi in seinem Handy ihn nicht in die Irre führte. Das Kuhdorf selbst war überschaubar, doch jetzt rumpelte der Bulli durch einen schmalen Hohlweg, der von Klaxdonnersbüll weg und in Richtung der dänischen Grenze führte. Zumindest vermutete Hagen das, denn die … Nein, eine Straße konnte er das nicht nennen! Der Weg kurvte zwischen Feldern und Baumgruppen mal hier hin, mal da hin. Immer wieder standen Findlinge am Wegesrand. Bei jeder engen Kurve brach Hagen in Schweiß aus, weil er fürchtete, das Ende einer Sackgasse ohne Wendemöglichkeit erreicht zu haben. Dann durfte er rückwärts zurück ins Dorf rumpeln.

Aus der Tiefe des Beifahrerfußraums erhob nun Borean klagend sein zartes Stimmchen, weil er einfach die Schnauze voll hatte. Wie Hagen und die Stoßdämpfer des Bullis ebenfalls.

»Ich weiß«, antwortete Hagen.

Der Wagen schleppte alles durch die Einöde, was Hagen nach dem Wasserrohrbruch in der Wohnung über seiner noch hatte bergen können. Die meisten Möbel waren von der Nässe aufgequollen und unbrauchbar auf dem Sperrmüll gelandet, aber die Staffelei, Farben und einige klamme Klamotten hatte er retten können. Sowie das Meiste von Boreans Privatbesitz. Am Ende hatte Hagen befürchtet, nicht alles in den Bulli stopfen zu können. Ein Schuhlöffel wäre hilfreich gewesen. Das war natürlich auch nicht gut für die Stoßdämpfer.

Wieder eine Kurve, und Hagen verfluchte stumm seinen reizenden Herrn Papa, der ihm diese Fahrt eingebrockt hatte.

Die sachliche Stimme aus dem Handylautsprecher teilte ihm kurz darauf mit, was er gleichzeitig mit Erleichterung sah: Ziel erreicht!

Ein großer, mit Steinen gepflasterter Hof verbreiterte den Hohlweg schlagartig. In den Hang gebaut erstreckte sich ein großes, dreistöckiges Gebäude aus rotem Backstein mit weißen Fenstern und Türen. Links davon rauschte der Mühlbach auch heute noch und verschwand in einem Rohr unter dem Asphalt, um auf der anderen Seite der Straße durch den angrenzenden Wald zu plätschern.

Hagen atmete auf und lenkte den Bulli auf den Hof. »Wir sind da«, teilte er Borean mit. Dieser grollte leise zur Antwort.

Eine Brücke überspannte den sprudelnden Mühlbach links vor dem Haus und gab so den Weg zu einem großen Carport frei. Hagen sandte ein Stoßgebet zu allen Brücken- und Autogottheiten, ehe er den Bulli hinüberlenkte und vorsichtig unter das Dach quetschte.

Dann schaltete er den Motor aus, befreite sich vom Sicherheitsgurt und streckte sich ausgiebig. War nicht wirklich weit von Rendsburg hierher gewesen, aber gerade die letzten zwei Kilometer mit Kurven, Alleebäumen und Findlingen hatten ihn wirklich gestresst.

»Soll ich mich erst umsehen? Oder willst du gleich mit?«, fragte er.

Borean maunzte herzerweichend.

»Ich hab keine Ahnung, was uns erwartet, Kleiner.«

Na ja, eine alte Wassermühle. Voll möbliert, Küche, Bad. Und in dem übrigen Gebäude sowie den alten Stallungen waren Ferienwohnungen und wohl auch der eine oder andere Dauermieter untergebracht. Auch deswegen hatten Papas Mandanten gewünscht, dass er jemanden als Mühlenmeister und Haussitter stellte, damit es einen Ansprechpartner gab, falls das Dach wegflog, die Heizung explodierte oder jemand zu viel Lärm mit Mülltonnen veranstaltete. Einfach grandios. Hagen, der Großgrundbesitzer. Oder zumindest Großgrundverwalter oder so. Vielleicht konnte Borean renitente Mieter einschüchtern. Dem Löwen zum Fraß vorgeworfen. Klang gut.

Er kletterte aus dem Bulli, streckte sich noch einmal, grub nach dem Haustürschlüssel in der Tasche der Jeans und stiefelte dann einmal um den Wagen herum, um Borean herauszuheben. Der Spanngurt um den Transportkorb herum ächzte leise unter dem kolossalen Gewicht. Am Tragegriff wagte Hagen nicht, das Behältnis zu schleppen, seitdem Borean ein halbes Jahr alt war. Der Kater verlagerte sein Gewicht, um ausblicken zu können, und Hagen schnaufte, spannte die Muskeln und trug seinen Herrn und Meister zur Haustür.

Er setzte die Kiste ab, schloss auf und wuchtete Borean über die Schwelle. Er fand sich in einem kleinen Flur wieder. Zwei Türen gingen davon ab, und eine Treppe führte nach oben in die eigentliche Wohnung. Mit einem erleichterten Keuchen stellte Hagen den Transportkennel erneut ab. Dann rannte er zurück zum Bulli, um das Katzenklo zu holen. Das war natürlich auch Kingsize, und er hoffte, dass er es ohne Unfall die Treppe hinaufbekommen würde.

Borean nörgelte in der Kiste, als Hagen mit Klo und der in einem Müllsack gesicherten Streu zurückkehrte.

»Gleich. Will nur erst deine Kiste aufstellen. Badezimmer oder so. Dann kannst du das erkunden, während ich unseren Kram reinhole.«

Er schleppte das Klo die Treppe hinauf und fand sich in einer großen Diele wieder, die einen dunklen Esstisch mit Sitzbank beherbergte. Und einen gigantischen Katzenkratzbaum. Gut, dann kannten Papas Mandanten Miezen, das war beruhigend. Zumindest dachte er das so lange, bis er den Baum ein wenig genauer betrachtete und den frischen, neuen Duft wahrnahm. Hagen zwinkerte verdutzt. Auf dem Esstisch lag ein dicker Briefumschlag, auf dem mit geschwungener Handschrift sein Name prangte. Das musste warten. Borean war schon übellaunig genug nach der Autofahrt.

Er orientierte sich. Links der Diele befand sich offenbar das Wohnzimmer, rechts ging sie in eine halb offene Küche über, und da waren noch zwei Türen. Er stellte das Klo ab und öffnete die Erste: Schlafzimmer. Die Zweite offenbarte ein großes Badezimmer. Also schleppte Hagen die Katzenkiste hinein, fädelte die Klorolle vom Halter und verstaute sie sicherheitshalber auf dem Spiegelschrank. Borean zerfetzte so etwas zu gerne!

Danach holte er den empörten Kater und setzte ihn vorerst im Badezimmer aus, damit Borean nicht zu sehr auf Erkundungstour ging und womöglich nach draußen entkam, während Hagen die Sachen aus dem Bulli ins Haus schleppte.

Hoheitsvoll entstieg Borean der Transportkiste, wobei er sich regelrecht entfaltete. Die Kiste war groß, der Kater war größer, und es verblüffte Hagen immer wieder, dass er die Tür überhaupt schließen konnte, nachdem er zuletzt den puscheligen Katzenschwanz hineingestopft hatte.

Borean war die Quintessenz einer Norwegischen Waldkatze. Er war riesig, haarig, besaß statt niedlicher Pfötchen Pranken und konnte verächtlich wie kein anderes Lebewesen an seiner Ramsnase vorbei auf jemanden hinabblicken. Außerdem war er eine Schmusebacke erster Güte. Mit Qualitätssiegel.

»Mach’s dir bequem, Kleiner. Ich hole dich, sobald ich unser restliches Gerümpel ausgeladen habe.«

Borean sah sich um, schien abgrundtief zu seufzen und spähte nach der Klorolle auf dem Spiegelschrank.

»Wehe!«, sagte Hagen inbrünstig und verließ das Bad. Sorgfältig schloss er die Tür und machte eine kleine Bestandsaufnahme des Erdgeschosses. Denn das Gebäude war in den Hang gebaut, und von der Diele aus führte eine Tür in den Garten.

Das Haus war vollständig eingerichtet, wirkte aber ein wenig kahl. Die meisten der persönlichen Gegenstände waren wahrscheinlich vor Aufbruch zur Weltreise irgendwo eingelagert worden. Hätte er genauso gemacht, wenn er einem Wildfremden die eigene Wohnung überlassen hätte. Alles in Umzugskartons und ab auf den Dachboden.

Das Schlafzimmer beinhaltete Schränke, Kommoden und ein gutes Doppelbett. Die Schränke waren bis auf schlichte Bettwäsche leer. Nicht ein einziges Stück Nippes stand herum. Gut, er mochte es schlicht.

Die Küche war modern eingerichtet, obwohl sie einen Landhaus-Look aufwies. Ein Geschirrspüler war ebenso vorhanden wie Waschmaschine und Trockner, die übereinandergestapelt standen. Perfekt. Er hatte das Gefühl, dass die meisten seiner Klamotten irgendwie klamm waren, weil er sie so überhastet in Müllsäcke gestopft hatte, um sie überhaupt zu retten. Also würde er in Ruhe alles durchwaschen, den Luxus eines Trockners genießen, der vielleicht sogar Boreans Haare von seiner Wäsche bekam. Wäre ja mal ein völlig neues Lebensgefühl, nicht haarig wie ein Yeti herumzurennen.

Das Wohnzimmer war groß, sonnig und wies ein riesiges, gemütliches Sofa voller Wolldecken und Kissen auf. Ein Kaminofen, ein Flachbild-TV und Bücherregale vervollständigten den Raum.

Hagen überlegte, was er nun zuerst in Angriff nehmen sollte. Den Brief, den Bulli oder den zweiten Stock. Er entschied sich für den Brief, denn der funkelnagelneue Kratzbaum – Geruch und komplette Haarfreiheit waren eindeutig – irritierte ihn immer noch. Außerdem musste er wissen, wie bald er als Ferienwohnungsvermieter auftreten sollte. Und wie das überhaupt ging!

Sein Vater hatte von einem pensionierten Lehrerehepaar gesprochen, das seine Ersparnisse auf einer möglicherweise mehrjährigen Weltreise auf den Kopf hauen wollte. Nun, ganz so hatte Papa sich natürlich nicht ausgedrückt.

Hagen nahm rittlings auf der Bank Platz und holte mehrere Bögen Papier aus dem Umschlag.

Ein freundlicher Willkommensgruß – und ja, der Kratzbaum war neu. Seine Gastgeber hatten von Borean gehört und dafür Sorge getragen, dass es Seiner Hoheit an nichts mangelte. Das fand Hagen mehr als zauberhaft. Es folgten mehrere Seiten, die in einer ordentlichen, eindeutig weiblichen Handschrift diverse Namen, Nummern und Funktionen auflisteten. Handwerksbetriebe, Wartungsdienste, all so etwas. Und die Rufnummern des Lehrerehepaares. Wenn Papa eines noch lernen musste, dann Gendern. Seine Mandanten. Lehrer. Ja, Pustekuchen. Natascha und Dorothea, die Weltenbummlerinnen, Mandantinnen und Lehrerinnen.

Sie hatten ihm wirklich alles aufgelistet. Wann die Müllabfuhr kam, welche Wartungstermine regelmäßig anstanden, wen er in jedem erdenklichen Notfall anrufen konnte. Den Hinweis, dass im unteren Stockwerk das Büro mit allen Büchern war, vermerkte er dankbar. Dazu ein Lageplan des Anwesens und Informationen, welche Wohnung vermietet war, für welche er Feriengäste zu begrüßen hatte. Alle Rechnungen hatten an Papas Kanzlei zu gehen. Es war einfach perfekt. Selbst an ihr WLAN-Passwort hatten sie gedacht.

Zwei Wohnungen waren dauerhaft vermietet. Eine an den Gemeindegärtner, der auch hier auf dem Anwesen nach dem Rechten sah, eine andere an eine junge Frau, die ihre beiden Ponys auf einer Weide in der Nähe stehen hatte. Gut, bei beiden musste Hagen sich noch vorstellen. Falls sie ihn nicht umgehend überfielen, sobald sie den Bulli im Carport entdeckten und daraus messerscharf schlossen, dass der Großgutverwalter der Wassermühle eingetrudelt war.

Dann kam ein Hinweis, der ihm fast den Atem nahm. Ihr Vater hat uns informiert, dass sie Künstler sind. Wir haben den großen Raum im zweiten Stock für Sie leer geräumt. Er hat das beste Licht und bietet Ihnen hoffentlich ausreichend Platz. Sie finden dort auch Folien zum Schutz des Bodens. Viel Erfolg und mögen Sie hier auf viele, schöne Inspirationen treffen!

Natascha und Dorothea schlossen mit lieben Grüßen, warmherzigem Dank für seine Bereitwilligkeit, ihr Heim vorübergehend als sein eigenes anzusehen, und dem Hinweis, dass im Küchenschrank oben links Katzenleckerchen auf seinen kleinen Kater warteten. Papa hatte offenbar entweder ein schreckliches Gedächtnis oder unverfroren geflunkert, als er von Borean erzählt hatte. Vielleicht hätte die Aussicht, einen halbwüchsigen Luchs in der Mühle wohnen zu lassen, die beiden Damen verschreckt. Auch wenn Borean allgemein sehr kultiviert war. Meistens. Nun, gelegentlich aber ganz bestimmt!

Hagen faltete die Bögen und verstaute sie sorgfältig wieder im Briefumschlag. Nicht verbummeln! Er würde Platz an einer Pinnwand oder so finden müssen. Am besten unten im Büro, damit er alles an einem festen Ort beisammen hatte. Auf jeden Fall wusste er jetzt schon, dass er Dorothea und Natascha aufrichtig mochte. Selbst, falls sie sich bei ihrer Rückkehr als zwei fiese Hexen entpuppen sollten, würde er sie trotzdem von Herzen lieb haben. Kratzbaum, Atelier und Leckerchen für Borean! Ey, noch süßer ging nicht!

Testweise ruckelte er am Kratzbaum. Stand erdbebensicher! Die wenigsten Kratzmöbel waren einem Kater wie Borean gewachsen.

Aber jetzt stand die Entladung des Bullis auf dem Plan. Die Kratzbaumerstbesteigung musste noch ein wenig warten. Glücklicherweise schien Borean im Badezimmer friedlich auszuharren. Keine Klagelaute, keine Geräusche von Zerstörung.

Hagen eilte die Treppe wieder hinab und ahnte schon, dass die ihn in den nächsten Tagen noch sehr oft freuen würde, bis er sich an sie gewöhnt hatte. Sie war nicht sehr breit, und die Stufen waren relativ klein und vor allem hoch. Wahrscheinlich würde er morgen Muskelkater haben, nachdem er seine bewegliche Habe ins Haus geschleppt hatte. Aber half ja nichts.

Er machte sich Mut, dass es so viel gar nicht war. Viel Kleinkram, und er hatte alles in Tüten, Säcken und Faltkisten verstaut und irgendwie in den Bulli gestopft.

Ehe er vor die Tür trat, tastete er nach dem Schlüssel in seiner Hosentasche. Fehlte ja noch, dass er sich aussperrte!

Während er über die Brücke ging, sah er nach rechts zu einem gemauerten, halb offenen Kasten, der das Wasserrad beherbergte. Hagen blieb stehen und musterte das Ungetüm leicht verblüfft. Das sah alles andere als alt aus. Wahrscheinlich war es aus optischen Gründen eingebaut worden, denn Mehl wurde hier nicht mehr hergestellt. Die Räumlichkeiten, wo das früher einmal stattgefunden hatten, waren jetzt seine Wohnung. Das Wasserrad mit seinen großen Fächern, in die sich früher von oben Wasser ergossen hätte – dafür gab es bestimmt einen Fachbegriff, ob es von oben bewegt wurde oder unten in einem Bach steckte, der es antrieb – stand still, aber irgendwo plätscherte ein wenig Wasser munter vor sich hin und ergoss sich in den Mühlbach unter der Brücke. Hagen war gespannt, wie er mit diesem ständigen Hintergrundgeräusch schlafen würde! Und wie oft er deswegen nachts zum Klo tappen musste.

Schwungvoll zog er die Seitentür des Bullis auf und fing einen Pappkarton voll Katzenfutter gerade noch rechtzeitig auf. Dank der Schaukelei um Kurven und Findlinge herum war einiges ins Rutschen geraten. Das würde unterhaltsam. Tetris anders herum.

»Moin«, erklang ohne Vorwarnung eine tiefe Stimme hinter ihm.

Beinahe hätte Hagen gequietscht und mit dem Pappkarton geworfen. Er schaffte es gerade noch, sich das Katzenfutter vor die Brust zu drücken, und wirbelte herum.

Vor ihm stand ein nordischer Gott. Weißblondes, kurzes Haar, ein ebenso heller, gepflegter Bart, eisblaue Augen und ein leicht mokantes Lächeln, das dem mühsam unterdrückten Quietschen geschuldet sein mochte. Ein bisschen kleiner als Hagen selbst, aber deutlich bulliger gebaut. Fast meinte er, das Stöhnen der Nähte des schlichten Langarmshirts zu hören, die sich den schwellenden Muskeln entgegenstemmen mussten.

»Ich helfe.« Und damit entwand der Gott Hagen den Pappkarton. Winzige Lachfältchen sammelten sich in seinen Augenwinkeln. »Nico Petersen.«

Reflexe aus guter Kinderstube rüttelten Hagen auf. Mama wäre stolz auf ihn. »Hagen de Vries.«

»Ich weiß. Sie wurden angekündigt. Katze schon im Haus?«

Hagen nickte verblüfft. »Im Badezimmer eingesperrt, damit ich in Ruhe schleppen kann.«

»Wir.« Und damit wandte sich der Gott – Nico, korrigierte Hagen sich im Geiste – um und trug den Karton zur Haustür.

Hastig belud Hagen sich mit einem Sack klammer Wäsche und eilte seinem unerwarteten Helfer hinterher. Nicht, ohne den Blick anerkennend über dessen breite Schultern, schmale Hüften und knackigen Hintern fliegen zu lassen. Er fühlte sich gerade komplett überwältigt. Von allem.

Er riss sich zusammen. Immerhin bekam er hier gerade handfeste Unterstützung, den Bulli zu entladen und seine Sachen in die Wohnung zu schaffen. Das half soweit, dass es allmählich in seinen Kopf sickerte, dass Nico der erwähnte Mieter und Gemeindegärtner sein musste. Dachte er noch ein Stückchen weiter, erinnerte er sich an den Schrebergarten seiner Großeltern und dass die Pflege von Beeten und Obstbäumen, Umgraben und Ernten wirklich in schweißtreibende Arbeit ausarbeiten konnten. Das erklärte Nicos muskulöse Statur bestimmt. Was ein Gemeindegärtner im Einzelnen so machte, blieb allerdings nebulös.

Hagen hatte die Haustür erreicht und schloss eilig auf.

»Ich kann Ihnen alles nach oben tragen. Sie sortieren. Sonst sind wir uns auf der Treppe dauernd im Weg«, sagte Nico.

Alles klang bei ihm knapp und präzise – trotz des deutlichen nordischen Dialekts, der sich offensichtlich ans Plattdeutsche anlehnte – und ganz so, als würde er mit Widerworten gar nicht rechnen.

Eigentlich müsste Hagen widersprechen. Es war etliches im Bulli, das nicht ganz leicht war. Nico hatte bestimmt auch noch anderes zu tun. Aber der Mann gefiel ihm, und Hagen war nach der Fahrt und all den neuen Eindrücken nicht wirklich wild darauf, seine Habseligkeiten die Treppenstufen hinaufzuschleppen. Wäre Nico nicht aufgetaucht, hätte er diese Arbeit auf mehrere Tage verteilt! Also stimmte er dieser Arbeitsteilung mit einem dankbaren Lächeln zu.

Er ging mit dem Wäschesack voraus und trug diesen umgehend in die Küche, um nachher die Waschmaschine zu starten. So schnell wie möglich, bevor die Klamotten schimmelten oder Stockflecken bekamen.

Hinter sich hörte er, wie Nico das Katzenfutter abstellte, gleich darauf leichte Schritte die Stufen wieder hinab. Der Mann würde den Großteil der Arbeit erledigen, verflixt. Vor allem die Treppe!

Und doch kam Hagen kaum hinterher, seine Sachen einigermaßen sinnvoll zu verstauen, so rasch sorgte Nico für Nachschub. Er klang nicht einmal außer Atem, obwohl er dauernd die Treppe heraufrannte.

Als sie sich wieder trafen, fragte Hagen: »Woher wussten sie, dass ich eine Katze habe?« Einfach, weil er mit Nico sprechen wollte, damit der nicht nur den Lastenträger gab.

Mit einem knappen Nicken wies dieser auf den Kratzbaum. »Hab ich aufgebaut. Dorothea sagte etwas von klein und langhaarig. Ich hoffe, der Baum reicht. Ist der Gleiche, den mein Kater hat.«

»Borean ist eine Norwegische Waldkatze«, antwortete Hagen grinsend.

»Borean?«

»Nach einer Romanfigur.« Hagen hoffte, dass Nico nicht weiter nachfragen würde.

Ein knappes Nicken war die Antwort. »Meiner ist ein Siamese. Lilac Point. Nicht so groß und schwer, aber das macht er durch Temperament wett. Sie sind Maler?«

Das war sichereres Terrain, fand Hagen. »Größtenteils Auftragsarbeiten, aber ich probiere mich an allem aus.« Im Augenblick könnte er sich verdammt gut Kohleskizzen von Nico vorstellen. Ohne das Shirt, obwohl es nicht wirklich viel verbarg. Da sie sich als Nachbarn noch öfter über den Weg laufen würden und dank der gegensätzlichen Kater auch Gesprächsthemen finden sollten, konnte er noch ausloten, wie es um Nicos Neigungen stand. Heteros hatten es da erheblich einfacher!

Wenn denen jemand gefiel, konnten sie einfach mal angraben, ohne mehr als ein Nein befürchten zu müssen. Aber gerade wegen der nachbarschaftlichen Nähe wollte Hagen vorsichtig vorgehen. Er saß die nächsten Monate in der Wassermühle fest, und das Letzte, was er haben wollte, war jemand wie Nico, der ihn voller Abscheu betrachtete, ihm hässliche Worte nachrief oder ihm gar eine Abreibung verpasste. Also vorsichtig erkunden.

Verdammt, vielleicht hatte er sogar schon zu viel gesagt. Romanfigur. Das konnte man im Internet suchen, wenn man wollte, wenn es einen wirklich interessierte. Mit einem Mal wünschte Hagen sich weit weg. Oder Nico weit weg. Aber er nahm einen Karton voller Leinwände entgegen, den Nico ihm behutsam reichte. Stand ja drauf, was drin war.

»Ist auch nicht mehr viel. Hab mich zu den Künstlerutensilien vorgearbeitet. Muss ich irgendetwas beachten? Außer Vorsicht?«

»Nein. Soll ich das sonst alleine machen?«

Knappes Kopfschütteln. »Ich möchte sehen, wie Ihr Kater auf den Kratzbaum springt. Notfalls dübel ich den noch an die Wand.« Er zögerte kurz und setzte zur Verdeutlichung hinzu: »Den Kratzbaum.«

»Ich habe schon daran gerüttelt, er scheint sehr sicher zu stehen. Mein Kleiner ist eher gemächlich. Aber er wetzt die Sisalbespannung recht schnell in Fetzen.«

Nico nickte, und dann flammte ein Lächeln auf, das Hagen den Atem nahm. »So sind sie. Ich hole den Rest.«

Hagen sah ihm nach und wünschte sich nicht zum ersten Mal, dass die Welt unkomplizierter wäre. Er gab sich einen Ruck, Platz für die letzten Sachen zu schaffen, alles, was er nach oben bringen wollte, zum zweiten Treppenaufgang zu schleppen. Das machte er aber später in Ruhe. Notfalls in den nächsten zwei, drei Tagen. Er würde ja auch noch den Boden abdecken müssen. Und musste das Arbeitszimmer von Dorothea und Natascha in Augenschein nehmen.

2.Klärendes Rasenmähen

Nico

Der Bulli war wirklich vollgestopft gewesen, und trotzdem fand Nico, dass es erbärmlich wenig war, was Hagen mitgebracht hatte.

Passte zum leicht abgerissenen Eindruck, den der Mann machte. Zumindest die Farbflecken auf Jeans und Turnschuhen wurden aber durch die Tätigkeit als Maler und Künstler erklärt. Das Gesamtbild erschien Nico nicht ganz stimmig, immerhin war das der Sohn des Rechtsanwalts, der Dorothea und Natascha seit Jahren beriet und alles für sie regelte.

Kleiner Rebell, vermutete Nico, und das gefiel ihm. Das, was er bislang von Hagen gesehen hatte, war auch nicht übel. Etwas größer als er selbst, aber schlank, fast zierlich gebaut. Die langen, in einem unordentlichen, geflochten Zopf gebändigten Haare waren ebenfalls rebellisch und lockig; die dunklen Augen blickten irgendwie die ganze Zeit leicht überrascht. Als würde Hagen als Künstler die Welt mit kindlichem Staunen auf der steten Suche nach Inspiration betrachten.

Ein Teil des Rätsels löste sich auf, als Nico als Letztes zwei große Einkaufstaschen voller Farbtuben nach oben schleppte. Hagen kniete in der Küche neben der Waschmaschine und befüllte sie aus einem der Müllsäcke.

»Puh! Das fängt schon an zu müffeln. In der Wohnung über meiner ist ein Wasserrohr geplatzt. Ehe ich auszog, habe ich meine Möbel auf den Sperrmüll werfen müssen«, erklärte er und stopfte rasch noch etwas mehr Kleidung in die Trommel.

»Scheiße«, sagte Nico ehrlich. »Einmal sauber vor dem Nichts stehen.«

»Ich habe das Wichtigste retten können. Ich war glücklicherweise zu Hause, als mit einem Mal Wasser von der Decke tropfte. Aber … ja, das war ein unschönes Erlebnis.« Er schloss die Maschine und erhob sich, was mühelos und geschmeidig wirkte. »Ich hätte zur Not in meiner alten Einliegerwohnung im Haus meiner Eltern unterkommen können … Aber nein, lieber nicht. Deren Biorhythmus bringt mich um. Wie man morgens um sechs schon fröhlich singend durch das Haus ziehen kann, erschließt sich mir nicht.«

»Ab acht. Nach dem ersten Kaffee«, stimmte Nico zu. »Aber nicht um sechs.« Er selbst liebte seine Unabhängigkeit, die Möglichkeit, sich seinen Arbeitstag frei einteilen zu können, konnte Hagen also voll verstehen.

Dieser lachte jetzt und nickte. »Ab acht singe ich zwar auch nicht, aber ich bin dann wenigstens wach!«

Nico bemerkte, dass er in einem kleinen Dilemma steckte. Hagen gefiel ihm. Dabei kannte er ihn erst seit einer knappen Stunde, und viel gesehen hatte er in der Zeit nicht von ihm, geschweige denn, viel mit ihm gesprochen, denn er hatte ja den Bulli ausgeräumt. Änderte nichts daran, dass der Mann ihn faszinierte und anzog.

Aber trotzdem zögerte er, Hagen das auch zu zeigen, ihn anzuflirten und seine langjährige Erfahrung im Verführen in die Waagschale zu werfen. Irgendwie … irgendwie war es anders.

Er war niemand, der sich ernsthaft binden wollte. Wenn es nur um Sex ging, konnte er immer noch auf gefällige Ex-Freunde zurückgreifen. Oder auf Männer, die wie er nur ein paar Stunden Spaß ohne Verbindlichkeiten suchten. Da standen die Regeln von vorneherein fest, und keiner von ihnen erwartete mehr. Hier, erkannte er, war es auch anders, weil sie beide auf dem Gelände der Mühle wohnten und in den nächsten Wochen und Monaten öfter miteinander zu tun haben würden. Das konnte echt ungemütlich werden. Nein, erst einmal besser kennenlernen und ausloten, wie Hagen so tickte.

Doch … Einerseits wollte er mehr, andererseits schreckte er vor Komplikationen zurück. Ach, erst einmal abwarten! Nur, weil Hagen einen guten ersten Eindruck machte und ihm gefiel, musste das gar nichts heißen.

»Ist die Haustür unten zu? Dann würde ich jetzt den Kater aus seinem Badezimmerkerker lassen.«

»Unbedingt. Falls der Baum schwankt, hole ich Werkzeug.«

Hagen lächelte dankbar und öffnete die Tür des Badezimmers. »Komm, mein Kleiner. Du hast einen neuen Baum, und wir haben Besuch.«

Nico erkannte, dass er eine falsche Vorstellung gehabt hatte. Er hatte einen etwas größeren Perser erwartet. Etwas Niedliches, Flauschiges mit Kulleraugen. Aber würdevoll wie eine kaiserliche Hoheit schritt ein halber Puma aus dem Badezimmer. Pinselohren wie ein Luchs, der Schwanz ein Kriegsbanner, das Fell ein seidiges Wogen wie frisch aus einer Shampoowerbung geklaut. Lange Haare, die jeden Schritt und die unter all dem Flausch liegenden Muskeln betonten.

Große, hellgrüne Augen richteten sich auf Nico. Er fühlte sich von Kopf bis Fuß gemustert und musste lachen. Das war wirklich voll die Audienz.

Hagen ging schon voraus und kratzte mit den Fingernägeln über eine der Sisalsäulen. »Du sollst zur Probe klettern, ob der Baum dir gewachsen ist.«

Borean stolzierte zum Kratzbaum und beäugte diesen kritisch. Dann sprang er mit einem langen Satz auf die zweite Plattform und schnurrte seinen Menschen an. Volltönend und fast so laut, wie Nicos Kater das tat.

»Es wackelt nichts«, verkündete Hagen.

»Was wiegt der?«, fragte Nico. Oben auf dem Kratzmöbel wirkte Borean noch gewaltiger.

»Zehneinhalb Kilo. Er ist jetzt ein gutes Jahr alt. Ich denke, er wird noch ein bisschen massiger und schwerer werden.« Er schien vor Stolz auf seinen Riesenfussel zu leuchten. Liebevoll krabbelte er den Kater hinter einem Ohr.

Nico stand nur still da und sah dieser Hand zu, den schlanken, sensiblen Fingern, beobachtete das Spiel der Sehnen auf dem schmalen Handrücken. So ein dünnes, zierliches Handgelenk!

Der letzte Mann, mit dem er eine lebhafte Nacht verbracht hatte, war der Schnuckel von der Tankstelle gewesen. Ein Athlet mit breiten Schultern und eindrucksvollen Muskeln. Ein Mann, der seine Homosexualität mit Anstecknadel und Regenbogenschlüsselband ebenso offen zeigte wie mit der Pride-Flagge, die vor dem Ferienhaus wehte, in dem er gewohnt hatte. Ein Krieger, der eine Attacke notfalls abwehren konnte. Jetzt lebte Jarl mit einem Mann am anderen Ende von Klaxdonnersbüll zusammen. Nico hatte den dortigen Obstgarten wieder in Fasson gebracht und erleichtert festgestellt, dass seine Anwesenheit Jarl nicht unangenehm gewesen war. Und dass er selbst keinerlei Eifersucht auf den Mann an dessen Seite verspürt hatte.

Hagen war ganz anders. Anders als die meisten Männer, mit denen Nico kurz zusammengewesen oder auch nur im Bett gelandet war.

Er sollte zusehen, dass er hier raus kam, bevor sein Kopf sich alberne Dinge zusammenspann. Aber erst zog er das Handy aus der Hosentasche, klappte die Schutzhülle auf und zog eine der Visitenkarten hervor. Er war der Gemeindegärtner, aber er übernahm auch andere Gelegenheitsjobs, sobald es um Pflanzen, Rasen und Ähnliches ging. Bei ein paar der älteren Leutchen mähte er regelmäßig den Garten. Wie bei Edith Voigt, die den Senioren-Klub im Dorf leitete und ihm auch den Obstgartenjob bei Jarl und dessen Partner vermittelt hatte. Deswegen hatte er diese Karten, weil es einfach bequemer war.

»Falls etwas sein sollte«, sagte er und reichte die Karte an Hagen. »Bin tagsüber meistens im Dorf unterwegs.«

»Oh, danke.« Hagen zückte sein Smartphone ebenfalls, tippte die Nummer eilig ein und rief dann Nico an, damit dieser den Kontakt ebenfalls in seinem Gerät einstellen konnte.

»Wichtig«, sagte Nico, während er genau das tat, »ist das Buch im Arbeitszimmer. Termine, wann Ferienleute kommen und so. Das Zimmer hat von außen einen eigenen Eingang, aber Sie erreichen es auch vom Treppenhaus.«

»Das sehe ich mir gleich an, danke. Und lieben Dank für die Hilfe beim Entladen.« Er zögerte kurz. »Darf ich Sie auf einen Kaffee einladen?«

»Demnächst gerne«, antwortete Nico. Langsam angehen, verdammt. Es fühlte sich gerade einfach zu … heimelig an. Einfach nur zusammen reden, sich wohlfühlen. Er wurde eindeutig flauschig im Hirn. »Muss nur gleich los zur Arbeit. Heute ist der Sportplatz an der Reihe. Ein letztes Mal vor dem Winter mähen und die Umgebung inspizieren.«

»Das verschafft mir Zeit, hier ein wenig für Ordnung zu sorgen, indem ich meinen ganzen Kram verstaue.« Hagen lachte.

»Guter Plan. Vielleicht bringe ich sogar Kuchen mit beim nächsten Mal.« Er nickte Hagen zu und nahm seinen Abschied.

Unten schloss er sorgfältig die Haustür, damit Borean nicht entwischen konnte. Dann marschierte er am Backsteinbau der Wassermühle vorbei zu dem lang gestreckten Gebäude, das die vormalige Remise war. Unten standen sein alter Kombi mit Allrad und der Fuhrpark der Gemeinde, der für den Erhalt des Dorfes wichtig war. Aufsitzrasenmäher, Anhänger, der riesige Shredder, der Trecker mit Schneepflug und anderem Zubehör und mehr. Der Rasenmäher war schon verladen, der Anhänger aber noch nicht am Allrad angekuppelt. Das ging ja schnell. Außerdem wollte Nico noch einen Rechen und die Heckenschere ins Auto packen.

Aber erst eilte er in seine Wohnung, die im Dachgeschoss der Remise lag und eigentlich fast zu gewaltig für ihn war. Aber günstig, weil er ja auch Natascha und Dorothea bei der Grundstückspflege half.

Großes Wohnzimmer mit offener Küche, schönes, modernes Bad, geräumiges Schlafzimmer, eine Abstellkammer unter der Dachschräge und noch ein Raum, der wohl als Kinderzimmer geplant gewesen war und jetzt Kratzbaum, Spielzeugtonne und Katzenklo enthielt.

Er stieg die Treppe nach oben, schloss auf und blieb dann im Vorraum stehen. Er war sich selbst ein wenig unsicher, warum er nichts gesagt hatte. Nicht zugegeben hatte, das Buch zu kennen. Sonst war er direkter. Immer. Wenn ein Mann ihm gefiel … Aber … Irgendwie … vielleicht, weil er mit Hagen so dicht zusammenwohnte. Das könnte anstrengend werden. Oder unangenehm für Hagen. Genau. Und wenn er sich das noch ein paar Mal vorsagte, wurde es bestimmt wahr.

Er schüttelte die Gedanken ab, trat ins Wohnzimmer und rief nach seinem Kater: »Calino! Papa ist wieder da. Aber nur kurz.«

Ohrenbetäubendes Geschrei antwortete ihm enthusiastisch. Er hörte das leise Plumpsen, als Calino vom Kratzbaum sprang. Lautstarkes Plappern markierte den Weg des Siamesen durch das kleine Zimmer und den winzigen Flur zwischen Schlafzimmer, Bad und dem Katzenraum, dann sauste Calino ins Wohnzimmer, maunzte noch einmal lauthals und sprang Nico in die Arme.

Klein, zart und agil wie ein Aal auf vier Pfoten. Eine Handvoll Mieze – vor allem im Vergleich zu Hagens gewaltigem Kater. Ganz wie im Buch. Der kleine Kaiser und sein Arenakrieger.

Nico drückte Calino liebevoll an sich. Laut wie ein Staubsauger … nein, wie der Aufsitzrasenmäher auf Vollgas. Calino hämmerte seinen lang gezogenen Schädel gegen Nicos Ohr und schnurrte. Seine Krallen bohrten sich mühelos durch das Shirt in Nicos Schulter. Lebensversicherung, falls sein Papa ihn nicht vernünftig festhalten sollte. Was Nico natürlich tat!

»Hab eben dein Roman-Herzchen getroffen«, brummte er und streichelte den warmen, drahtigen Körper. »Und sein Herrchen.«

Calino steckte ihm die kalte Nase ins Ohr und schnurrte noch lauter.

»Ich war schüchtern, glaube ich.« Er seufzte und drückte den Kater an sich. Ja, er hatte das Buch auch gelesen, deswegen war er sich so sicher, dass Hagen schwul, bi oder pan sein musste. Hetero Männer lasen keine Liebesromane mit schwulen Helden, auch wenn in diesem Buch Arenakämpfe und ein Komplott vorkamen. Liebesgeschichte war es trotzdem. Was für ein total unglaublicher Zufall, dass sie nicht nur das gleiche Buch gelesen hatten, sondern beide auch ihre Kater nach den Helden benannt hatten!

Calino stemmte sich mit den Vorderpfoten gegen seine Brust, als wollte er ihm ganz genau ins Gesicht sehen. Der Silberblick der quietschblauen Augen wirkte ganz ernst und aufmerksam.

»Muss den Sportplatz mähen. Aber dann hab ich Feierabend. Pizza, Thunfisch und Glotze heute Abend?« Ein Date mit seinem Kater. Wie jeden Abend.

Calino schnurrte und schien die Aussicht berauschend zu finden.

»Abgemacht. Halt noch eine oder zwei Stunden durch, ja?«

Das Maunzen hätte Tote erwecken können.

Nico wusste, dass er wortkarg war. Ebenso auffällig war, dass sein Kater sehr viel offener auf Menschen zuging und sie mit seinem Dampfplaudern zu Boden streckte. Na ja, einer in diesem Haus musste für die Unterhaltung sorgen. Das Reden übernimmt mein Kater. Nico lachte leise und drückte den Siamesen noch einmal fest an sich.

»Der blöde Rasen mäht sich nicht von alleine«, sagte er. Zum Teil zum Kater, aber auch, um sich selbst in den Hintern zu treten. Wurde Zeit, dass er losfuhr. Das Ausladen von Hagens Bulli hatte genug Zeit verbraucht, und Nico wollte vor Einbruch der Dämmerung fertig sein. Keine Lust, noch das Flutlicht anschalten zu müssen.

Er setzte Calino auf dem Sofa ab, streichelte über das schmale Köpfchen und raffte sich auf. Arbeit würde ihm guttun. Tat sie immer. Er brauchte Bewegung und frische Luft, war nur glücklich, wenn er abends komplett ausgepowert aufs Sofa fallen konnte. Lediglich die Zeit im Moor – Calino an der Leine neben ihm oder vergnügt im Rucksack sitzend – war noch besser. Halb gehörte das Moor zu Klaxdonnersbüll, zur Hälfte zu Prillsande, und es war wunderschön dort. Die Wanderwege, die Bänke, die Pflege der Bachläufe – das alles gehörte auch zu Nicos Aufgaben. Und immer, wenn er im Moor war, hielt er die Augen nach kleinen Schätzen offen. Nach Steinen mit besonderen Einschlüssen, nach bearbeiteten Stücken Flintstein. Er hatte sogar Glasperlen aus der Wikingerzeit und die Reste von Bernsteinschmuck gefunden. Der Dorflegende nach hatte es auch schon Ausgrabungen im Moor gegeben, und man hatte die Moorleiche eines Torfhundes gefunden. Ob nun bei den offiziellen Ausgrabungen oder beim Torfstechen vor Jahrzehnten, das hatte Nico nicht in Erfahrung bringen können. Dorfgerede war leider chronisch unzuverlässig, wenn es um Einzelheiten ging. Genau wie die Erzählungen, dass irgendwo zwischen Klaxdonnersbüll und Rothenbüll eine Wikingersiedlung gelegen haben sollte. Für die es bislang keinerlei Beweise gab. Aber fühlte sich wichtig an. Klar.

So sehr er aber Bücher und Archäologie liebte, der Hauptgrund, warum er im Augenblick sesshaft war, hatte blaue Augen und Silberblick. Vor dem Einzug Calinos in sein Leben war er halbwegs ein Nomade gewesen. Die Zeit an der Uni war ein beständiger Wechsel von WG-Zimmer, irgendwo zur Untermiete oder Übernachtungen bei Freunden gewesen. Er hatte Ameisen im Hintern gehabt, sich treiben lassen und es nie lange an einem Ort ausgehalten.

Bis seine Tante Mareike, die Siamesen züchtete, ihn über den Sommer in ihr Haus eingeladen hatte, damit er ihren Garten komplett umgestalten konnte. Als er am ersten Abend halb tot unter die Dusche und von da ins Bett taumelte, saß auf dem Kopfkissen ein winziges Kerlchen mit blauen Augen und einer Stimme wie ein Nebelhorn. Calino.

Es war Liebe auf den ersten Blick. Von beiden Seiten. Der kleine Kater klebte an ihm, ließ sich in der Jackentasche herumschleppen, kommentierte alles, was Nico tat, plapperte den lieben langen Tag, ohne Muskelkater im kleinen Schnütchen zu bekommen.

Nico kehrte ins Hier und Jetzt zurück, da Calino sich auf die Hinterbeine aufrichtete, die Krallen der Vorderpfoten in das Shirt trieb und ihn laut anmaunzte.

»An dich denk ich doch gerade«, murrte Nico und streichelte über ein großes Ohr.

Und an Mareike, die ihm unumwunden klargemacht hatte, dass sie niemals eines ihrer Kitten einem Herumtreiber geben könnte, gleichgültig, wie sehr sie Nico liebte. Und dann zauberte sie nicht nur den Gärtnerjob in Klaxdonnersbüll, sondern auch die Wohnung in der alten Wassermühle aus dem Hut und verbat Nico auch nur Besuchsrechte bei Calino, bis er Job und Wohnung vorweisen konnte.

Wundervolle alte Schachtel! Die hatte den Lütten garantiert absichtlich in sein Bett geschmuggelt.

»Okay. Ich sause los. Halt das Sofa warm, Calino.« Damit machte er sich endlich auf die Socken.

Zurück im Vorraum zog er die neongrüne Windjacke an, nahm die Schlüssel des Allrads und seine Arbeitshandschuhe und rannte nach unten in die Remise.

Er stieg ins Auto und manövrierte dieses rückwärts, bis er den Anhänger mit dem Rasenmäher ankuppeln konnte. Fünffach-Check, weil er es schon einmal vermasselt und den Kupplungsstecker abgerissen hatte. Da hatte sich die Kupplung nicht richtig verriegelt, und als Nico angefahren war, war der Anhänger von der Kupplung geplumpst und hatte brav und wie vorgesehen eine Notbremsung ausgelöst. War zwar in der Tankstelle rasch alles wieder repariert worden, aber peinlich war es ihm gewesen. Seitdem war er sorgfältiger und zählte die Punkte leise mit: Kupplung, Stecker, Bremsseil, Handbremse und Stützrad des Anhängers. Alles richtig.

Das Gespann rumpelte vom Mühlenhof. Vorbei an den Beeten, die Nico seit seinem Einzug liebevoll pflegte, vorbei an Hagens Bulli, entlang des Mühlbaches und links auf die schmale Straße. Rechts erstreckte sich ein Naherholungsgebiet mit ausgeschilderten Wanderwegen und Rastplätzen – die zum Teil auch in Nicos Hoheitsgebiet fielen. Sonntags war auf der engen Piste ganz schön was los. Leute, die spazieren gingen, die Strecke mit dem Rad, mit Hunden, Kinderwagen oder hoch zu Pferd nahmen. Wenige Autos, und dafür war Nico immer dankbar. Die Strecke war kurvig und teilweise böse eng, auch wenn es immer wieder breite Ausweichbuchten gab.

Er ließ den Wagen gemächlich rollen, scrollte mit dem Schalter am Lenkrad durch den Inhalt des USB-Sticks, der im Radio steckte. Er brauchte jetzt etwas Instrumentales!

Die Straße ging in Kopfsteinpflaster über, und Nico fuhr die halbe Runde um den Kirchhof, um die Dorfstraße zu erreichen. Von dieser bog er rechts ab, kaum dass die Tankstelle am Ende des lang gezogenen Dorfes in Sicht kam. In einer friedlichen Dreißiger Zone mit neueren Einfamilienhäusern hinter Hecken und Zäunchen kam die Abfahrt zum Sportplatz. Die Grundschule lag nur zwei Straßen entfernt, und die Anlagen des Sportvereins wurden auch für den Schulsport genutzt. Alles gut verzahnt in Klaxdonnersbüll.

Nico parkte den Kombi, stieg aus und holte über die ausziehbaren Rampen den Rasenmähertrecker vom Anhänger. Er mochte diesen Job. Danke, Tante Mareike! Er war gerne draußen, Wind und Wetter störten ihn nicht. Er liebte die Möglichkeit, sich seine Zeit ziemlich frei einteilen zu können. Die Bürgermeisterin interessierte sich nicht dafür, wann er arbeitete, solange er alles unter Kontrolle hatte. Anfang eines jeden Monats besprachen sie Schwerpunkte oder Arbeiten außer der Reihe – wie die Bankette im Mühlenweg mit frischem Kies aufzufüllen oder auf dem Wanderweg durch das Prillsander Moor eine Bank instand zu setzen. Dazu kamen die Sachen, die immer wiederkehrten. Rasenmähen, Hecken schneiden, darauf achten, dass Grünzeug nicht die Sicht auf die Straße versperrte, tote Äste aus Bäumen sägen.

Gemütlich zuckelte der Mähtrecker über die gepflasterte Auffahrt zum großen Fußballplatz. Nico schaltete das Mähwerk an und fuhr zum ersten Tor, wo er abstieg, um das Netz zu sichern, damit das Mähwerk es nicht zu Konfetti verarbeitete.

Rasen mähen hatte etwas Meditatives für ihn. Gemächlich zog er seine Bahnen, hängte auch das zweite Tornetz hoch und fuhr weiter. Er rollte an der Hecke vorbei, die die lange Seite des Sportplatzes säumte, und betrachtete sie in aller Ruhe. Die sah gut aus. Konnte er noch eine Woche aufschieben. Dann auch gleich den Shredder mitbringen und das Häckselgut unter die Hecke streuen. Er drehte die nächste Runde auf dem Sportplatz.

Und dachte an diese schmale Hand, die den Kater so zärtlich hinter dem Ohr gekrabbelt hatte. An große, staunende Augen, die die Wunder der Welt zu entdecken schienen, an denen andere einfach vorbeirannten.

Vielleicht tat er das tatsächlich. Nico hatte gelernt, Ausgrabungen zu skizzieren, sauber mit einem Raster die Fundstücke – manchmal nur dunklere Flecken in einem gebuddelten Loch – zu erfassen, ihre Lage zueinander, ihre Größenverhältnisse. Aber Hagen war Maler, da musste der Blick auf die Welt einfach anders sein.

Zu gerne hätte Nico einen Blick auf die Bilder erhascht, die er die Treppe hinauf geschleppt hatte, zu gerne eines der Skizzenbücher aufgeschlagen und sich angesehen, was Hagen erschuf. Aber das wäre natürlich übergriffig gewesen. Falls Hagen es wünschte, würde er ihm Bilder oder Zeichnungen zeigen.

Die Vorstellung bereitete Nico wohliges Herzklopfen aber auch ein wenig Angst. Was, wenn der Titel Künstler eher hochtrabend und Hagen nur ein stümperhafter Farbkleckser war? Oder was, falls Nico das nur dachte, weil er keine Ahnung hatte? Mit abstrakter Kunst konnte er echt nichts anfangen. Er musste etwas auf Bildern erkennen können, dann gefielen sie ihm, dann konnte er versuchen, den Bildaufbau zu begreifen, was ein Künstler sich dabei gedacht haben mochte, warum dieses und jenes Stilmittel ihm erstrebenswert erschienen war.

»Und ob du dich vergafft hast«, brummte er.

Irgendetwas an Hagen hatte ihn angerührt. Nicht nur, dass er ihn aufregend fand und sich dringend wünschte, ihn besser kennenzulernen. Hagen unterschied sich total von den Männern, mit denen Nico bislang Bett und ein paar Wochen Leben geteilt hatte. Dieses elfenhaft Zierliche, die leuchtenden Augen, sein Lachen … ach, irgendwie alles.

Und dann kam ihm endlich, warum er nicht mit einem frechen Grinsen gesagt hatte, wie sein Kater hieß, dass sie da offenkundig das gleiche Buch gelesen hatten, warum er die Nähe der Wohnungen und angeblichen Stress vorgeschoben hatte: Hagen hatte sich nicht absichtlich geoutet, nicht wie Jarl zum Beispiel deutlich gemacht, dass er schwul war. Er hatte nur den Namen seines Katers gesagt und erwähnt, dass dieser nach einer Romanfigur hieß.

Es war ein süßes, kostbares Geheimnis, das Nico nun hüten würde.

Bis sie sich besser kannten, bis sie herausfanden, ob sie Interesse aneinander hatten. Und nötigenfalls für den Rest von Hagens Aufenthalt in der alten Wassermühle, ohne dass es je zur Sprache kam.

3.Die alte Mühle

Hagen

Im Geiste erstellte Hagen eine To-do-Liste und erwog sogar, sie auf Papier zu übertragen. Es war viel, und alles war wichtig, und er wusste, wie vergesslich er war. Besonders Dinge, die ihn nicht wirklich interessierten – gleichgültig, ob sie wichtig waren –, entfielen ihm sehr rasch.

Gut. Waschmaschine anschalten, damit seine Kleidung nicht vergammelte. Wichtig und schnell erledigt. Borean Futter und Wasser hinstellen. Außerordentlich wichtig.

Der Kater blieb auf seinem Kratzbaum, ließ einen Hinterlauf und den Schwanz hängen und sah sich hoheitsvoll um. Offenkundig hatte er das Möbel als Basis akzeptiert und würde bald den Rest der Wohnung inspizieren. Wie Hagen ihn kannte, würde Borean sich den unmöglichsten Ort im ganzen Haus als Lieblingsschlafplatz aussuchen.

Auf den Rest vom ganzen Chaos hatte Hagen keine Lust. Das würde sich auch in den nächsten Tagen nicht ändern, wie er genau wusste. Musste aber sein. Nur: nicht jetzt! Wichtiger war das Arbeitszimmer, denn er musste vorbereitet sein, wenn Feriengäste kamen. Er nahm den Briefumschlag mit den wichtigen Nummern und Terminen für Müllabfuhr und Wartungen mit nach unten.

Ganz wie Nico gesagt hatte, ging eine unscheinbare Tür vom Eingangsflur ab. Hagen betrat ein im Landhausstil gehaltenes Büro. Eine Tür führte nach draußen auf den gepflasterten Hof. Eine halbhohe Theke trennte eine Art Empfangsraum mit kleinem Bistrotisch und zierlichen Stühlen von dem wirklichen Büro ab. An den Wänden hingen Bilder von Klaxdonnersbüll. Die Kirche – Feldstein mit einem gewaltigen Turm, der sich aus Backstein gemauert über dem Hauptschiff erhob – fehlte ebenso wenig wie blühende Rapsfelder, der kurvige Weg, die Mühle selbst und Fotografien von Birken am Ufer eines dunklen Sees, auf dem Enten schwammen. Dazwischen waren kleine Regale mit Trockenblumensträußchen, hübschen Steinen und Flyerständern befestigt. Sehenswürdigkeiten in der näheren und weiteren Umgebung. Das Danewerk, Haithabu, Dagebüll und die Fähren nach Wyk und Amrum, der Schleswiger Dom, Wanderkarten für das Naherholungsgebiet im Wald und das Moor. Gemütlicher Familienurlaub auf dem Land zum Seele-baumeln-Lassen schien das Motto der Wassermühle.

Hagen zupfte eine gefaltete Infobroschüre über die Mühle aus einem Ständer, betrachtete ein Foto, das laut Bildunterschrift Dorothea und Natascha auf einer Bank unter einem blühenden Rosenbogen zeigte. Auch einige Grundrisse von Ferienwohnungen waren abgedruckt. Das sah er sich bei Gelegenheit noch in Ruhe an. Denn schlauerweise sollte er sich mit dem Lageplan bewaffnen und das Gelände nach den Wohnungen absuchen, damit er Gästen zuverlässig den Weg weisen konnte.

Er trat hinter die Theke. Zwei Schreibtische. Einer mit einem flachen Laptop, Telefon und einem Drucker. Auf dem zugeklappten Laptop lag ein weiterer Brief. Hagen nahm auf dem Bürostuhl Platz und überflog das Schreiben. Genaue Anweisungen, wie er die erfolgreiche Zahlung überprüfen konnte, wie er Gäste einzutragen hatte, wo er die Verträge fand. Uff. Jede Wette, sein Vater hatte das alles aufgesetzt und dreimal geprüft? Vielleicht sollte er einen Schwung Verträge auf Vorrat ausdrucken?

Er stand wieder auf und ging zum zweiten Schreibtisch, auf dem das Buch lag, von dem auch Nico gesprochen hatte. Es war auf jeden Fall ein dicker Wälzer. Über dem Tisch hing ein großer Terminplaner, in den mit sauberer Handschrift knappe Notizen eingetragen waren: Fam. Fröhlich, Whg. 4

Er blätterte im Buch einige Tage vor und fand auch dort den Eintrag für Familie Fröhlich. Ein langes Wochenende. Zwei Erwachsene, ein Hund, drei Kinder. Am Freitag kamen sie. Das war übermorgen. Er würde früh aufstehen und seiner Gäste harren.

Wer putzte eigentlich die Wohnungen, nachdem die Gastfamilien abgereist waren? Der Gedanke alarmierte ihn. Er war … nun, er war eine Haushaltsschlampe. Er wohnte hier kostenfrei und bekam laut seinem Vater ein angemessenes Entgelt als Aufwandsentschädigung. Aber … Seine Gäste würden sich bestimmt beschweren, falls er irgendwo einen Fussel übersah! Und das würde er! Er war doch selbst dauerhaft fusselig von Borean!

Hastig nahm er den Brief vom Laptop wieder zur Hand, blätterte durch die Seiten. Verdammt, warum waren Dorothea und Natascha schon abgereist, ehe er ankam? Warum hatte man ihn direkt ins kalte Wasser geworfen? Das schaffte er doch alles gar nicht! Wie hatte Papa auf die hirnverbrannte Idee kommen können, ausgerechnet ihn hierher zu schicken?

Dann fand er den Eintrag: Jeden Montag kam ein Reinigungsteam und putzte sich durch alle vier Gästewohnungen.

Erleichterung rauschte wie eine warme Woge durch Hagen, und er ließ sich auf den Stuhl fallen. Halleluja und Hosianna und was noch alles.

Jetzt las er die Anweisungen aber noch einmal gründlich. Vielleicht war das alles doch gar nicht so schlimm.

Da! Das meiste machte das Buchungssystem von alleine! Er musste nur regelmäßig ins System sehen, den Vertrag ausdrucken, sobald das Geld eingegangen war, und dann am Anreisetag unterschreiben lassen, Schlüssel aushändigen und die Leute zur Wohnung führen. Am Abreisetag Schlüssel wieder annehmen und durch die Wohnung gehen, ob etwas explodiert war. Oh, und alle Termine ins Buch und in den Planer von Hand eintragen. Das schaffte er! Irgendwie. Und notfalls fragte er Nico. Genau. Warum hatten Natascha und Dorothea den eigentlich nicht gefragt?

Hagen strich sich verirrte Haarsträhnen aus dem Gesicht. Gut, dass er jetzt Mitte Oktober hier anfing. Herbstferien brachten ihm diese Familie Fröhlich und eine Woche später noch zwei weitere Familien. Er konnte üben und sich einleben, bis wahrscheinlich über Weihnachten und Silvester mehr Gäste kamen. Und Ostern! Aber danach war er für die Sommerferien, in denen bestimmt mehr los war, gewappnet und hatte die Abläufe verinnerlicht.

Ja, das war mehr, als sein Vater ihm gesagt hatte. Der hatte nur von Haussitting gesprochen und die Ferienwohnungen nebenbei erwähnt, als würden die sich quasi von alleine erledigen. Typisch. Dass da so viel mit dran hing, hatte Hagen nicht geahnt. Oder schlichtweg nicht begriffen.

Er sah noch einmal auf den Planer und atmete auf, weil dieser nicht überfüllt aussah. So viele Gäste beherbergten Dorothea und Natascha also offenbar nicht. Es sei denn, er verzagte bei dem Gedanken wieder ein wenig, die Ferienwohnungen waren noch relativ neu, das Ganze lief erst langsam an. Dann hatte er im Sommer vielleicht doch sehr viel mehr zu tun.

Sicherheitshalber fuhr er den Laptop hoch und folgte den handgeschriebenen Anweisungen, wie er Zugriff auf das Buchungssystem bekam. Keine neue Anmeldung. Das gefiel Hagen!

Er fuhr den Rechner wieder herunter, setzte in seinem Smartphone einen Wecker für Familie Fröhlich und bewaffnete sich mit dem Lageplan des Anwesens, um die Wohnungen zu finden. Auch Nicos. Er lächelte bei diesem Gedanken, kontrollierte die Anwesenheit des Haustürschlüssels in seiner Hosentasche und trat nach draußen.

Es war deutlich kühler als bei seiner Ankunft, aber noch schien die Sonne, und solange er nicht in den Schatten trat, war es gut auszuhalten.

Er drehte sich langsam um die eigene Achse, bis die Lage der Gebäude mit dem Plan in seiner Hand übereinstimmte. Mühle. Remise mit einer vermieteten Wohnung. Das war die Richtung, in die Nico gegangen war, und von wo aus wenig später ein Kombi mit Anhänger abgefahren war. Hagen stapfte also dorthin, um den Eingang zur Wohnung aufzustöbern.

In der Remise stand ein bulliger, aber nicht allzu großer Trecker, und allerlei Zubehör und Werkzeug war ordentlich und einsatzbereit ringsum verstaut. Eine hölzerne Treppe führte zu einer kleinen Plattform an der Seite des lang gestreckten Gebäudes, und da oben befand sich eine Haustür.

Zufrieden orientierte Hagen sich erneut an seinem Plan. Vier Ferienwohnungen und die Bleibe der jungen Frau mit den Ponys galt es noch zu finden. Oh! Letztere befand sich im Erdgeschoss des Mühlengebäudes ganz rechts neben dem Büro.

Blieb die große Scheune, die am Rand des Blumengartens im rechten Winkel zur Remise stand. Hagen nahm sich vor, sich das ganze Gebäudeensemble auf einer Satellitenkarte anzusehen. Das musste hübsch aussehen von oben.

Der Fahrweg, der direkt auf die Ecke zuhielt, wo sich früher das Wasserrad gedreht hatte, führte vor dem Mühlgebäude entlang zur Remise und bog dann rechts ab zu einem kleinen Parkplatz unter alten Bäumen nahe der Scheune. Hagen folgte diesem Weg, womit er um den Blumengarten herum ging. Alles war mit sorgfältig gestutzten Buchsbaumhecken eingefasst, und selbst jetzt erspähte Hagen noch einige Blüten, mit Sandstein gepflasterte Wege, den Rosenbogen, eine Gartenbank und eine Sonnenuhr. Das gefiel ihm alles sehr. Seine Finger juckten, einige Skizzen anzufertigen, vielleicht in Gedanken und Fantasie eine Zeitreise vorzunehmen, das Wasserrad in Bewegung zu versetzen, ein Pferdefuhrwerk vor das Backsteingebäude zu stellen.

Er seufzte. Noch hatte er dazu keine Zeit, außerdem waren alle notwendigen Utensilien noch in Kartons und Tüten verstaut. Angenehm immerhin, dass seine Kreativität tatsächlich schon ansprang und ihm Bilder in den Kopf malte.

Nicht, dass er bislang je in einer Schaffenskrise gewesen war, aber der heutige Tag war schon stressig gewesen. Da war es erfreulich, dass die Muse sich lautstark meldete und nach ihrem Recht verlangte.

Er fand vier Türen in der Scheunenwand, hübsche, getöpferte Wohnungsnummern neben diesen, und wusste nun auch, wo die Feriengäste unterkamen.

Gemächlich trat er den Rückweg an – durch den Blumengarten. Die Bank sah einladend aus, und Hagen nahm sich vor, in den nächsten Tagen hier Skizzen zu fertigen. Sobald er seinen ganzen Krempel ausgepackt hatte.

Er ging durch das Büro zurück ins Haus, versorgte sich mit einigen Flyern und Karten und kehrte zu Borean in die Wohnung zurück.

Der Kater lungerte immer noch gemütlich auf dem Kratzbaum herum. Aber jetzt erhob er sich würdevoll und sprang zu Boden, um Hagen in die Küche zu begleiten, wo Kartons sich stapelten. Der Anblick machte ihn schier mutlos. Aber er wollte Kaffee. Der musste doch irgendwo hier sein.

Nach einer Viertelstunde fruchtloser Suche entschloss Hagen sich, doch lieber Tee zu kochen. Wie gut, dass Nico die Einladung auf einen Kaffee nicht angenommen hatte! Das wäre sehr peinlich geworden.

Er füllte den Wasserkocher und schaltete ihn ein, öffnete den Schrank über der Arbeitsfläche und fand sich einfachem Geschirr und … einer Kaffeebüchse gegenüber. Egal! Jetzt wollte er Tee.

Während er auf das Wasser wartete, suchte er sich freie Schränke – Dorothea und Natascha hatten viel ihres Hausrats und ihrer vermuteten Vorräte aus dem Weg geschafft – für seine Sachen und verstaute einiges, bis es an der Zeit war, das Wasser auf den Teebeutel zu gießen. Dann räumte er noch eine Kiste leer. Sah schon viel besser aus.

Borean sprang kühn auf die Küchenarbeitsfläche, und Hagen hob ihn mit einem liebevollen Verweis wieder auf den Boden. »Komm, wir gehen ins Wohnzimmer und machen es uns da gemütlich. Da warst du noch gar nicht, glaube ich.«

Borean maunzte leise und folgte ihm. Ganz überzeugt schien er nicht. In der Tür zum Wohnzimmer blieb er stehen und sah sich erst einmal um, ehe er vorsichtig eintrat, überall schnupperte und sich nur langsam an die neue Umgebung zu gewöhnen schien.

Hagen setzte sich auf das bequeme Sofa, stellte den Teebecher auf einen Korkuntersetzer und breitete die Flyer auf dem Tisch aus.

Er fühlte sich ein bisschen einsam, wenn er ehrlich war. Gut, auch vor der Überschwemmung waren es meistens nur er und Borean in der Wohnung gewesen. Rendsburg war keinesfalls eine Großstadt, doch so isoliert wie hier hatte er sich nie gefühlt. Er hatte einfach nur aus der Wohnung gehen müssen, ein paar Hundert Meter weiter gab es ein Café, einen Supermarkt, nachts Straßenlaternen. Hier … Himmel, hier würde es dunkel wie im Hintern eine Kuh sein! Er hatte gar nicht darauf geachtet, ob es auf dem Gelände irgendeine Art von Beleuchtung gab. Das nächste Geschäft war der Supermarkt im Dorf, und bis dahin war es eine ganz nette Strecke, sodass jeder Einkauf sich wie eine halbe Weltreise anfühlen würde und auf jeden Fall den Einsatz des Bullis erforderte. Verdammt, dass er nicht einmal ein Fahrrad besaß!

Fahrrad! Moment! Hagen blätterte in den Prospekten. Da! Die Feriengäste konnten Räder ausleihen. Dann konnte er das ja wohl auch! In der Remise gab es einen Radschuppen.

Gleich fühlte er sich nicht mehr ganz so erbärmlich wie mitten in der Pampa ausgesetzt. Und als Borean schließlich befand, dass das Wohnzimmer nicht von katzenfressenden Unholden bevölkert war, und zu ihm auf das Sofa sprang, ging es Hagen gleich noch ein wenig besser.

Er blätterte sich durch die Prospekte, fand eine Übersicht der Einkaufsmöglichkeiten im Dorf. Der Supermarkt wurde ebenso erwähnt wie eine Töpferwerkstatt, ein Hofladen – er lächelte, als er das Bild einer Henne auf grünem Gras und den Slogan Ich lebe froh bei Bauer Stroh entdeckte – sowie weitere wichtige Anlaufstellen wie ein Tierarzt im Nachbarort Prillsande. Tierarzt, gut und wichtig zu wissen. Er streichelte über Boreans Kopf und kraulte den Kater unter dem Kinn, als dieser sich zur Seite plumpsen ließ.

Hagen trank seinen Tee, studierte die Karten mit den Wanderwegen und das kleine Faltblatt mit den Sehenswürdigkeiten, bis er sich immer schläfriger fühlte. Frische Landluft, die Anreise, viel Schlepparbeit. Boreans sanftes Schnurren sorgte auch nicht gerade dafür, dass er sich hellwach fühlte.

Er sah zum Fenster, vor dem blaue Dämmerung aus den Wolken sickerte. Ob Nico schon wieder da war? Hagen hatte kein Motorengeräusch vernommen, aber das musste nichts bedeuten. Außerdem … Mann, ja, Nico war attraktiv und hilfsbereit. Aber so wortkarg. Als müsste er jeden Satz mühsam ins Freie entlassen. Außerdem wusste Hagen einfach zu wenig über diesen schönen Mann. Er rieb sich die Augen. Aufstehen und das Bett beziehen? Nein, dazu fühlte er sich einfach zu müde. War auch noch ein bisschen früh, um ins Bett zu fallen.

Also zog er eine der dicken Decken, die auf dem Sofa lagen, auseinander und über sich, packte ein Kissen und rollte sich neben Borean auf dem Sofa ein.

Sofort hob dieser den Kopf, maunzte leise und wühlte sich wie ein besonders haariger Maulwurf unter die Decke, um sich an Hagens Bauchdecke zu kuscheln und dort weiter zu brummen.

Lächelnd zog Hagen die Decke über ein Ohr, schmiegte die Wange in das Kissen und schloss die Augen. Nachher noch etwas zu essen machen, dachte er. Seit dem Frühstück beim Bäcker neben der väterlichen Kanzlei hatte er nichts mehr zu sich genommen. Er driftete in Schlaf, begleitet von Boreans Schnurren und der geteilten Wärme unter der Wolldecke.

 

Als Hagen erwachte, war es zappenduster. Nur das kleine, rote Licht am Fernseher war in der Schwärze zu erkennen. Er zwinkerte einige Male, aber heller wurde es nicht. Super. Wo war der Lichtschalter für diesen Raum?

Seine Blase drückte und ermahnte ihn ernsthaft, sehr bald über die Entsorgung des Tees nachzudenken. Nun, nicht bald, sondern sofort! Zackzack, aber pronto!

Mühselig angelte er nach dem Smartphone, wobei er fast den leeren Teebecher umwarf. Unter der Decke erklang ein gedämpftes, aber eindeutig empörtes und verschlafenes Maunzen.

»Tut mir leid«, murmelte Hagen und versuchte, den haarigen Koloss unter der Wärmehülle irgendwie zu umschiffen, ohne dass kalte Luft durch dessen Fell zausen konnte. Borean lag auf seinem Bein!

Die Blase erneuerte ihren Warnruf, während Hagen sich wie ein Aal unter Decke und Kater hervor wand, das Smartphone aktivierte und die Taschenlampe anschaltete. Ohne Licht fand er nie zum Lokus! Prompt stieß er sich den kleinen Zeh am Tischbein und fluchte atemlos, stemmte sich in die Senkrechte und hinkte durch das so unbekannte Wohnzimmer.

Hinter ihm ein Plumpsen. Borean wollte offenkundig nicht alleine in der Fremde verweilen, während sein Lakai ausrückte.

Nicht lachen! Denn das würde im wahrsten Sinne des Wortes in die Hose gehen. Mann, er war so verdammt müde gewesen, hatte so tief gepennt, dass die volle Blase ihn viel zu spät geweckt hatte. In seiner kleinen Wohnung war der Weg zum Bad auch nicht so weit gewesen. Da hätte die Vorwarnzeit ausgereicht.

Durch die Eingangsdiele, in der er Kartons und Tüten umrunden musste, während der Schmerz in seinem Unterleib langsam unerträglich wurde. Da! Ein Lichtschalter! Winzige LED-Lampen erhellten die Diele, und Hagen kam schneller vorwärts als nur mit seiner Funzel. Rein ins Bad und Borean die Tür vor der Nase schließen. Auf X-Beinen gelangte Hagen an der Katzenkiste vorbei, rupfte den Toilettendeckel in die Höhe und zerrte seine Beinkleider abwärts, um sich mit einem erleichterten Keuchen auf dem Porzellanthron niederzulassen.

»Uff«, sagte er auch noch und lachte dann über sich selbst.

Jetzt hatte er Muße, auf die Uhr im Smartphone zu sehen, nachdem er die Taschenlampe deaktiviert hatte. Kurz vor Mitternacht! Er hatte wirklich wie ein Stein geschlafen.

Er wischte sich Haare aus dem Gesicht. Der Zopf war in Auflösung begriffen. Wahrscheinlich hatte Borean darin herumgewurschtelt. Das tat er zu gerne. Geheimer Berufswunsch: Starfriseur.

Jetzt noch das Bett beziehen? Auf gar keinen Fall! Das Sofa war gemütlich genug, um die erste Nacht in der Wassermühle darauf zu verbringen.

Aber Hagens Magen knurrte nun lauthals, um ihn daran zu erinnern, dass er wirklich seit dem Frühstück im Café nichts mehr gegessen hatte.

»Okay, okay, okay. Eine Scheibe Brot schmier ich mir gleich.« Außerdem würde er Boreans Näpfe inspizieren. Und keinesfalls noch einen Tee trinken.

Er wusch sich gründlich die Hände, öffnete die Zopfgummis, kämmte die lange Mähne durch und flocht sie frisch wieder ein. Sonst sah er am nächsten Morgen aus wie ein Löwe, nachdem der in eine Steckdose gepinkelt hatte.

Dann tappte er in die Küche, wo der Kater ihn bereits erwartete. Borean hatte die Pinkelpause offensichtlich genutzt, um die Futternäpfe makellos rein zu lecken.

»Mal gucken, was für Futter die im Dorfladen haben. Streu brauchst du auch.« Hagen füllte Trockenfutter nach. Dosenfutter gab es erst wieder zum Frühstück.

Gähnend suchte er den Vollkorntoast, schenkte sich das Schmieren mit Butter und legte nur eine Käsescheibe auf das Brot. Keine Lust, in die Essdiele zu gehen, also lehnte er sich nur mit dem Hintern an die Arbeitsfläche und aß seinen Toast im Stehen. Er war immer noch hundemüde! Konnte nicht nur an der frischen Landluft liegen, sondern kam garantiert auch vom Stress, nachdem Hagen entdeckt hatte, dass er wirklich zum Großgrundverwalter mutiert war. Hoffentlich bekam er das alles wirklich auf die Reihe.

Er erwog, seinem Vater eine geharnischte Mail zu schreiben. Auch wenn das nichts bringen würde. Niemand konnte so perfekt unschuldig gucken wie Papa, wenn er im Brustton der Überzeugung Aber das habe ich dir doch gesagt? fragte. Verdammt. Wahrscheinlich hatte er das auch. Aber sehr geschickt verklausuliert, ohne sich dessen bewusst zu sein. Alternativ konnte er das auch gerade dann erwähnt haben, als Hagen gerade verträumt aus dem Fenster gesehen hatte.

Eine Jammernachricht an Mama schied aus. Sie würde ihrem Gatten in Verteidigung ihrer kostbaren Brut dermaßen den Kopf abreißen, dass das nächste Wiedersehen sehr ungemütlich für Hagen werden würde, weil Papa dann nämlich vor Schuldbewusstsein – ob echt oder gespielt, war unerheblich – vergehen würde.

Er liebte sie beide von Herzen, auch wenn er nicht sicher sagen konnte, welcher oder welche von beiden anstrengender war.

Der letzte Bissen Toast verschwand, und Hagen stäubte sich die Finger an der Hose ab. Die zog er gleich aus, ehe er sich erneut aufs Sofa kuschelte.

»Bettchenzeit, Borean.«

Der Kater sah ihn verwirrt an. Das war doch eben Frühstück gewesen, oder?

»Es ist mitten in der Nacht. Ich gehe wieder pennen.«

4.In freier Wildbahn

Nico

Ein herrlicher, frischer, aber sonniger Tag. Nico teilte sich das Frühstück mit Calino, nachdem sie den Abend gemeinsam vor der Glotze verbracht hatten. Calino mit seinem gedünsteten Lachs, Nico mit Pizza.

Und Gedanken an Hagen im Kopf, von denen ihn auch der Film nicht ganz hatte ablenken können. Da half der Entschluss, den anderen Mann erst einmal besser kennenzulernen, auch nicht wirklich.

Jetzt aber warf er sich in seine Laufsachen. Calino hatte sich ins Bett zurückgezogen, um noch ein wenig Schönheitsschlaf nachzuholen, doch der Morgen lockte Nico. Eine Runde durch den Wald war der perfekte Auftakt für den Tag. Er wollte den Rasen hinter der Mühle mähen und im Garten von Dorothea und Natascha nach dem Rechten sehen. Vielleicht kam ja auch Hagen nach draußen, um den Sonnenschein zu genießen. Das erinnerte Nico daran, dass er Kuchen kaufen wollte. War vielleicht albern, aber immerhin hatte er es angeboten.

Er eilte die Holztreppe hinab, reckte und streckte sich und vernahm Klappern aus dem Fahrradschuppen.

Da dieser mit einem guten Schloss gesichert und Nico schon das Abfahrtgeräusch von Jasmin gehört hatte, konnte es nur einen möglichen Fahrradklapperer geben. Mit einem Grinsen ging Nico also an seinem Fuhrpark vorbei zum Schuppen, der sich im hinteren Ende der Remise befand.

Nico gab sich Mühe, laut aufzutreten. Er wollte Hagen nicht erschrecken. Das war ihm gestern ja schon ausnehmend gut gelungen, und es hatte ihm leidgetan. Nicht leidgetan hatte ihm dieser Blick aus geweiteten Augen, die Art, wie Hagen nach Luft geschnappt hatte. Reizvoll.

Sicherheitshalber klopfte er mit den Fingerknöcheln gegen den Holzrahmen der Tür. »Moin.«

Hagen machte trotzdem beinahe einen Luftsprung. Das Fahrrad klapperte protestierend, als er mit ihm ein anderes anrempelte.

»Tut mir leid«, sagte Nico ehrlich. »Bin extra getrampelt.«

»Ich bin fürchterlich schreckhaft.« Hagen lachte leicht unbehaglich. Dann weiteten sich seine Augen noch mehr, als er den Blick über Nico fliegen ließ. »Wollen Sie joggen?«

Nico nickte knapp.

»Darf ich … darf ich mitkommen? Ich habe gestern Karten studiert mit den Wanderwegen und wollte auf eine Radtour in den Wald gehen. So man da überhaupt Rad fahren kann.«

»Kann man. Ich kenne eine gute Runde dafür. Sie radeln – ich laufe?« Ja, verflixt, er wollte mehr Zeit mit Hagen verbringen und ihn besser kennenlernen.

Der sah heute auch noch besonders gut aus, fand er. Vielleicht lag es auch nur an den leicht geröteten Wangen, weil er sich schämte, sich erschreckt zu haben. Nein, alles. Der dünne Strickpullover betonte den schlanken Oberkörper, die Jeans saß gut, und selbst die Farbkleckse verbesserten den Look. Es passte alles zusammen.

Nico trat leicht beiseite, damit Hagen das erwählte Rad aus dem Schuppen schieben und diesen wieder abschließen konnte.

»Müssen wir Sattel und Lenker noch einstellen?«, fragte er.

»Nein, eben probiert. Das passt alles.« Dann schien Hagen nach Worten zu suchen, wie er eine Unterhaltung anknüpfen konnte.

Nico suchte prompt ebenfalls nach einem Einstieg.

Hagen kam ihm zuvor, während sie sich nebeneinander in Bewegung setzten. »Morgen kommen die ersten Gäste. Ich bin ziemlich aufgeregt, muss ich gestehen. Dass hier eine Ferienwohnungsvermietung ist, wusste ich natürlich, als ich hierher fuhr. Aber jetzt wird es ernst!«

»Familie Fröhlich, nicht wahr?«

Hagen nickte.

»Die sind in Ordnung. Kommen immer mal wieder für ein langes Wochenende. Die Kinder sind lebhaft, aber keine Quatschköppe. Der Hund mag Katzen.«

»Lassen Sie Ihren Kater auch raus? Meiner ist ein reiner Stubentiger.«

Nico schüttelte den Kopf. »Nie alleine. Er ist es aber gewohnt, an Leine und Geschirr zu gehen. Ich nehme ihn manchmal mit ins Moor. Mit Rucksack, falls er müde wird.«

»Ich würde nach hundert Metern mit meinem großen Flauschball auf dem Rücken erschöpft zu Boden sinken!«, stieß Hagen aus und lachte. Dieses Mal klang es lockerer und echt.

Nico schoss einen raschen Blick seitwärts. Sonnenlicht ließ die aus dem Zopf entfleuchten Haare wie Goldfäden schimmern. Ebenmäßige weiße Zähne blitzen beim Lachen auf. Hagen wirkte entspannter.

Schreckhafte Leute gab es eben, aber es tat Nico leid, dass er nun schon zweimal als überraschendes Monster aufgetaucht war.

Sie erreichten nun die schmale Straße und überquerten die Brücke, unter der der Mühlbach plätscherte.

»Wollen wir?«, fragte Nico.

Hagen schwang sich mühelos auf das Rad. Machte eine gute Figur dabei, das ließ sich nicht leugnen. Nico lief langsam los und zog das Tempo an, als Hagen mit dem Rad zu ihm aufschloss. Fühlte sich gut an. Er selbst hielt sich auf der Bankette, wo der Boden weicher war als der Asphalt.

Weit mussten sie nicht laufen und fahren, bis Nico auf einen Seitenweg wies. »Da beginnt ein Rundweg. Vier Kilometer. Okay?«

»Das klingt gut.« Hagen schwenkte leicht zur Seite, um Nico Platz zu machen, und sie bogen in den breiten Forstweg ein. Nicht zu matschig und für sie beide gut zu bewältigen. Nach ein paar Metern verbreiterte der Weg sich und bot Stellplätze für Ausflüglerautos, die aus Klaxdonnersbüll oder dem kleinen Ort Rothenbüll von der anderen Seite des Waldes kamen. Nicht alle hatten den Luxus, bei der Wassermühle zu starten und deswegen auf das Auto verzichten zu können.

Ein Wagen stand hier auch. Nico sah beiläufig hin. Den Dörflerblick für Autos hatte er während seines Aufenthalts in der Mühle auch schon entwickelt. Der Wagen gehörte einer jungen Mutter, die mit Kinderwagen und einem kläfffreudigen Jack-Russell-Mix ihre sportlichen Runden drehte. Und die ihren Hund nicht von der Leine ließ. Nico hatte gelernt, Menschen zu fürchten, die ihre Hunde frei durch den Wald stromern ließen. Plötzlich brach so ein Kalb aus dem Unterholz und schnappte begeistert nach Joggerwaden. Davon abgesehen, dass es die Förster zurecht erzürnte, die sich um die Wildtiere sorgten.

»Ich will nachher den Hausgarten von Natascha und Dorothea mähen und auf Vordermann bringen«, sagte er.

»Den habe ich noch gar nicht besichtigt. Kann ich helfen?«

»Den Teich schon gesehen?«, fragte Nico mit einem Grinsen, da er die Antwort zu ahnen glaubte.

»Den … Teich? Nein. Was für ein Teich?«

»Den Mühlteich. Grenzt direkt an den Garten an.«

»Riesengroß und nicht zu übersehen, es sei denn, man heißt Hagen de Vries?«

»So ungefähr.« Jetzt musste er lachen.

»Oh, Mann. Ich weiß, dass ich verpeilt bin und mit Tunnelblick durchs Leben streife, aber jetzt hab ich regelrecht Angst, in den Garten zu gehen und mich scheckig zu schämen.«

»Bitte nicht. Garten und Teich sind schön. Es gibt sogar ein Ruderboot.«

Hagen wich einem Matschloch aus. Trotzdem sah Nico, dass er wieder ein wenig rot geworden war. Okay, das gefiel ihm!

Eine Brise streichelte durch die Baumkronen, sodass die durch das Blätterdach fallenden Sonnenflecken ständig in Bewegung blieben. Sie malten helle Punkte auf Hagens Rücken, seine Oberschenkel, ließen die Haare immer wieder aufleuchten.

Er wünschte sich, so gesprächig zu sein wie Calino. Nun, nicht ganz so sehr, denn dann würde er Hagen zu Tode sabbeln. Aber ein klein wenig mehr. So rang er um jeden Satz und kam langsam dahinter, dass er sich wirklich in Hagen verguckte, was Reden noch ein wenig schwieriger gestaltete.