Ein Millionär, ein Tankwart & ein Geist - Tanja Rast - E-Book

Ein Millionär, ein Tankwart & ein Geist E-Book

Tanja Rast

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Beschreibung

Raphael ist märchenhaft reich und am Ende seiner Kräfte. Vor dem Burn-out flieht er in ein norddeutsches Kuhdorf. Dort hat er ein altes Haus gekauft. Raphael will es eigenhändig renovieren und hofft, dass er sich zwischen Tapetenrollen und Wandfarbe erholen und zu sich selbst zurückfinden kann. Natürlich inkognito. Ehe die Realität ihn einholt, dass er noch nie eine Farbrolle in der der Hand gehalten hat, trifft er auf Jarl. Dieser humorvolle Überlebenskünstler ist bettelarm und hat schon in allen Nebenjobs dieser Welt gearbeitet. Immerhin kann er tapezieren. Und ist Balsam für Raphaels angegriffene Nerven. Doch das alte Haus birgt mehr als abblätternde Farbe und scheußliche Tapeten. Etwas scheint darin sein Unwesen zu treiben … Die Romane der Reihe sind in sich abgeschlossen und können in beliebiger Reihenfolge gelesen werden.

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Ein Millionär, ein Tankwart & ein Geist

 

Tanja Rast

Für Oma

 

Danke für alles

und noch so viel mehr

Inhaltswarnungen

 

Kann Spuren von Erdnüssen enthalten!

 

Es gibt Inhalte, die Betroffene triggern können, das heißt, dass womöglich alte Traumata wieder an die Oberfläche geholt werden. Deswegen habe ich für diese Personen eine Liste mit möglichen Inhaltswarnungen für alle meine Romane zusammengestellt:

 

www.tanja-rast.de/inhaltswarnungen

 

Inhaltsverzeichnis

1. Das Haus im Maisfeld
2. Ein Graben und ein Retter
3. Einladung zum Frühstück
4. Tapeten des Grauens
5. Frühstück für drei
6. Hexenhaus
7. Der Retter auf dem Rennrad
8. Ferienhausfrieden
9. Entschlossenheit und Nachforschungen
10. Notwendige Anschaffungen
11. Frühstückseier
12. Ein Schlüssel
13. Apfelkuchen und ein Sofa
14. Einsame Tapetenschlacht
15. Tankstelle und mehr
16. Chili und Mohnblüten
17. Das Erwachen des Drachen
18. Ordnung wie von Geisterhand
19. Eiskalte Dusche
20. Mein Kühlschrank ist dein Kühlschrank
21. Offiziell genug
22. Wir fahren nach Kiel
23. Mohn am Kleinen Kiel
24. Die Löwin
25. Spielzeug und Socken
26. Chip oder nicht Chip
27. Es spukt im Hexenhaus
28. Rätselhafte Fundstücke
29. Fingerzeig
30. Frühstück und Gedanken
31. Zeit der Entdeckungen
32. Klaras Schatz
33. Jarl fällt eine Entscheidung
34. Heimwerker in Ausbildung
35. Kaffeekränzchen
36. Simon
37. Klaras Erbe
38. Ein Haus in Emden
Epilog: Weihnachten

 

Die Autorin
Eine kleine Bitte
Danke
Bücher, die mitgespielt haben

1.Das Haus im Maisfeld

Raphael

Raphael – nicht Johannes Meinhard Raphael Winterhagen. Er hatte seinen ersten Vornamen noch nie gemocht. Klang nach Papst und altbacken. Von Meinhard ganz zu schweigen. Auf seinen Visitenkarten stand Johannes M. Winterhagen. Raphael war geheim, unbekannt, neu und voller Hoffnung. Raphael klang nach jemandem, der diesen ganzen Mist hinter sich lassen und neu durchstarten konnte. Zumindest für eine Weile, bis Johannes Meinhard wieder auf den Plan treten musste.

Er umklammerte das Lenkrad fester. Nein, nicht jetzt. Er hatte Zeit, er brauchte sie, und er würde sie sich nehmen. Weil er es wert war, weil er ein Anrecht darauf hatte, frei atmen zu können, leben zu dürfen.

Doktor Brandecker hatte es ihm ganz behutsam beigebracht, ihn nicht sofort ins kalte Wasser gestoßen, aber mit jeder Sitzung bei seiner Psychologin war die Aussicht auf diese Auszeit schöner und wichtiger geworden.

Dann hatte Raphael den Schritt gewagt. Ein Haus gekauft. Nicht sein erstes, aber sein erstes geheimes Haus. Eines, das bestimmt weder Bidet, noch Whirlpool, noch Billardtisch im Keller hatte. Keine riesige, überdachte Terrasse für Gartenpartys mit Kaviar, Häppchen und Champagner. Keine Jetsetter, keine Geschäftspartner, kein verdammter Druck.

Diagnose Burn-out. Dunkle Gedanken, die wie ein eiernder Mühlstein Raphaels Welt ausfüllten und alles zermalmten, was ihm früher Freude gemacht hatte. Herzrasen, Enge in der Brust, dauernd müde, aber nicht schlafen können.

Also war Raphael geflohen. Alle wichtigen Dinge in fähige Hände gelegt, das Auto vollgestopft und auf dem Weg zu einem kleinen Haus am Waldrand in totaler, ländlicher Einöde, wo niemand jemals von Johannes Winterhagen gehört hatte.

So sein Navi ihn wirklich dorthin brachte. Bis zur Autobahnabfahrt hatte es ganz vernünftig gewirkt. Ebenso auf der Landstraße, bis es ihm einen winzigen, ziemlich holprigen Weg präsentiert hatte. Der im Laufe der letzten Kilometer an zwei Bauernhöfen vorbeigeführt hatte. Schwarzbunte Kühe hatten Raphaels Auto neugierig gemustert. Spatzenschwärme waren empört über die Ruhestörung aufgeflogen. Der Weg – Straße konnte Raphael den schmalen Asphaltstreifen, der kaum für sein Auto ausreichte, nicht nennen – schien den Hauptort elegant zu umschiffen. Vorbei an Wiesen, Kühen und Getreidefeldern hinein in einen Wald, wo sich hinter Hecken offensichtlich Ferienhäuser vor Neugierigen versteckten.

In mancher Auffahrt stand ein Auto, mitunter flatterte eine Fahne in Blau, Weiß und Rot an einem Mast. Sonst sah Raphael nur zwei Hasen und ein paar Krähen.

Das Navi besaß bestimmt einen albernen Sinn für Humor und bot ihm gerade eine Rundfahrt durch das nördlichste Bundesland. Wahrscheinlich endete die Fahrt gleich in einem Tümpel oder vor einem Weidegatter – ohne Wendemöglichkeit selbstverständlich.

Raphael war erstaunt, dass diese Aussicht ihm beinahe Spaß machte. Zumindest sorgte sie nicht dafür, dass sein Herz vor Anspannung wieder einmal schmerzhaft pochte und sich alles in seinen Eingeweiden zusammenkrampfte.

Noch mehr Wald, der Weg wurde noch ein wenig schmaler, und dann leuchtete im grünen Dämmerlicht ein Regenbogen auf.

Vor einem winzigen Häuschen, das auf einer kleinen Lichtung am Wegesrand stand, wehte die Regenbogenfahne in einer milden Brise.

Das eigene Lächeln erstaunte Raphael, ebenso die Wärme in seiner Brust; aber es tat so gut, kam derart unerwartet, die Fahne dort zu sehen.

Er verlangsamte die Geschwindigkeit und hielt Ausschau, ob er einen Blick auf jene erhaschen könnte, die in diesem Ferienhäuschen wohnten. Er sah ein Fahrrad, das an einem Rosenbogen lehnte, und vor der offenen Haustür standen Farbeimer. Da renovierte wohl jemand.

Genau das hatte Raphael auch vor. Er hatte das Haus, zu dem er unterwegs war, für das er seine teure Wohnung im Herzen Berlins verlassen hatte, nur aufgrund der Bilder und der Beschreibung gekauft, ohne es bislang besichtigt zu haben. Nur rasch ein Haus kaufen, dessen Preis für ihn keine Rolle spielte, das weit abseits von allem war, was sein Leben bislang ausgemacht hatte.

Lediglich die Ladestation für seinen neuen Kombi und den Festnetzanschluss hatte er natürlich vorab installieren lassen. In dieser ländlichen Einöde, so der Makler, war der Handyempfang unterirdisch schlecht. Das kam Raphael entgegen! Er hatte Smartphone und Tablet in der Wohnung gelassen, nur einen neuen Laptop erworben. Ein Handy diktierte ihm zu sehr ständige Erreichbarkeit. Einen Laptop hatte er noch nie mit auf die Toilette oder ins Schlafzimmer genommen. Entschleunigung, nicht dauernd auf Abruf und erreichbar sein, das war für die nächsten Wochen oder Monate sein Plan.

Und das Häuschen eigenhändig renovieren. Konnte so schwer doch nicht sein, hoffte er.

Auf jeden Fall würde ihn das sinnvoll beschäftigen, sodass er gar nicht auf die Idee kommen konnte, bei seiner Schwester Cäcilie oder jemand anderem aus dem Aufsichtsrat anzurufen und Fragen nach dem Stand der Dinge zu stellen. Nein. Kam nicht infrage. Johannes machte das. Raphael nicht. Raphael entrümpelte das Haus, malte Wände und Türen an und baute Möbel auf. Eigenhändig. Raphael würde einkaufen und sich Spiegeleier auf Toast machen. Und Kuchen backen, genau. Außerdem hatte er eine Hängematte in den Kofferraum gestopft und viele Bücher, die er so lange schon hatte lesen wollen.

Als der Wald das Auto in eine Schneise zwischen zwei Maisfeldern entließ, beschloss Raphael, dass er jeden Abend schmutzig und glücklich auf sein Sofa fallen wollte. Zum Teufel mit der teuren Maniküre! Er wollte irgendetwas im Garten einpflanzen. Und den Zaun streichen.

Das Navi verkündete freudig, dass es gar nicht mehr weit wäre.

Himmel, wie groß konnte Mais werden? Das waren wirklich grüne Mauern links und rechts der Fahrbahn. Schroff und abweisend wirkte das, und Raphael musste bewusst gegen die aufsteigende Enge in seiner Brust atmen.

Gleich darauf stampfte er das Bremspedal ins Bodenblech, als eine gedrungene, braune Gestalt aus dem Mais brach, über die Straße galoppierte und auf der anderen Seite wieder ins Grün eintauchte. Ein Wildschwein! Himmel, war das riesig!

Raphael wartete nervös, ob noch mehr von der Sorte das Feld wechseln wollten, aber der Mais stand still und grün da, sodass er es schließlich wagte, das Auto erneut anrollen zu lassen. Langsam und vorsichtig, denn das Wildschwein war kolossal gewesen. Mit so etwas wollte Raphael bestimmt nicht zusammenstoßen. Nicht nur wegen des Wagens, der einen Zusammenprall nicht unbeschadet überstehen könnte, sondern auch wegen des Tiers. Das futterte sich bestimmt quer durch den Mais und hielt Raphaels Auto für den Störenfried.

Eigentlich hatte er gehofft, dass er nach einiger Zeit wieder mit Joggen anfangen könnte. Jetzt dachte er über den Kauf eines Fahrrades nach. Mit dem sollte er nötigenfalls schnell genug sein, um einem Wildschwein zu entkommen. Oder?

Er war fast da. Links sollte das Haus gleich in Sicht kommen. Leider sah er nur Mais. Das Zeug musste drei Meter hoch sein!

Dank des Navis konnte er die Einfahrt nicht übersehen. Sonst wäre er tatsächlich daran vorbei gefahren. Buschwerk und Bäume übernahmen hier die Rolle des Mais und wirkten undurchdringlich. Wie die Hecke um Dornröschens Schloss.

Die Auffahrt war gepflastert, hatte aber schon deutlich bessere Tage gesehen. Der Wagen rumpelte über sie hinweg. Das Haus kam in Sicht. Und nicht nur das. Wie eine Insel in einem Meer aus Grün lag die Hofstelle im Maisfeld.

Raphael erkannte leicht erbittert, dass die Fotos, die der Makler ihm geschickt hatte, im Frühjahr geschossen worden waren, als der Mais nur aus zaghaften kleinen Pflänzchen bestanden hatte, während er nun einen Wall um das Grundstück bildete. Und der Makler musste eine Gärtnerfirma beauftragt haben, um das Gras zu mähen, ehe er fotografiert hatte. Das war nun einige Monate her. Und so sah es hier auch aus.

Lange Halme wiegten sich in einer leichten Brise, Brennnesseln und Disteln ragten eindrucksvoll hoch auf, bildeten grüne Kissen für Riesen.

Vor der Abfahrt hatte Raphael sich Baumärkte in der Nähe herausgesucht. In Flensburg zum Beispiel. Er brauchte einen Rasenmäher! Nein, eigentlich brauchte er ein Team geübter Machetenmänner.

Er gab sich einen Ruck und fuhr das Auto in den geräumigen Carport, dessen Holz grün von Moos war. Neu war hier nur die Ladestation.

Raphael schnappte sich die kleine Reisetasche vom Beifahrersitz, stieg aus, stöpselte den Ladestecker ein und verriegelte den Wagen. Mehr aus Gewohnheit, wie er sich mit einem schiefen Grinsen sagte, denn hierher würde sich wohl kaum ein Koffermarder verirren.

Aus dem sogenannten Obstgarten leuchteten ihm grasgrüne, kleine Äpfel entgegen. Sie mussten sich ziemlich anstrengen, um sich bemerkbar zu machen, weil die Brennnesseln so hoch wucherten, dass ihre Spitzen bis ins Geäst der Bäume reichten.

Eine alte Frau sollte hier zuletzt gewohnt haben. Laut Aussage des Maklers hatten deren Enkelkinder nur flugs alles Wertvolle abgeholt, ehe das Haus zum Verkauf gestellt worden war. Raphael hatte weder diese Kinder noch den Sohn der Verstorbenen kennengelernt, sondern die Möglichkeit der getrennten Beurkundung genutzt. Eine Reise quer durch Deutschland hätte er nicht geschafft.

Er blieb auf der Auffahrt stehen und musterte das Gebäude. Vielleicht hatte er sich wirklich zu viel vorgenommen. Aber dies war seine Zeit, seine Flucht aus der Welt, die ihn erdrückte. Ja, er hätte in die Karibik, die Staaten oder sonst wohin fliegen können. Hotelzimmer, Ferienbungalow, Personal … Nein, damit wäre er nicht entkommen. Da wäre er immer noch Johannes Winterhagen gewesen, ständig per Smartphone zu erreichen, zu viele Bekannte, zu viele Forderungen von außerhalb. Genau darüber hatte er mit seiner Psychologin gesprochen. Gut, sie hatte wahrscheinlich nicht damit gerechnet, dass er so ein Haus kaufen würde. Mitten in der Pampa zwischen Mais und Wildschweinen und Brennnesseln. Er ließ den Blick in den Hausgarten auf der rechten Seite des Gebäudes schweifen, wo eine rostige Hollywoodschaukel stand. Brombeeren. Sie hatten den halben Garten in Besitz genommen.

Er straffte die Schultern und setzte sich in Bewegung. Jetzt war er hier. Er hatte eine Haustür, die er hinter sich schließen konnte, um die stressige Welt auszusperren. Er konnte und durfte dilettantisch mit Farbe hantieren. Aber das hier war seine Zeit, sein kleines Reich. Und wuchs auch dreimal Moos auf dem Dach.

Es war … wie ein Baumhaus! Ein Campingurlaub! Dinge, die er nie erlebt hatte. Privatschule und Internat, Universität. Johannes Meinhard Winterhagen.

Raphael schloss die Tür auf und flüchtete in den Hausflur, schloss die Welt aus und atmete tief durch, ehe die Beklemmung erneut Besitz von ihm ergreifen konnte.

Den Grundriss hatte er im Kopf. Es war kein großes Haus. Aber wenn nicht gerade Mais eine Mauer um das Grundstück bildete, sollte Raphael von den Zimmern im ersten Stock einen schönen Ausblick haben. Doch zuerst eine Bestandsaufnahme, damit er sich entscheiden konnte, wo er sein Campingbett aufstellen würde. Nachsehen, ob irgendetwas Funktionsfähiges in der Küche stand. Die Wasserhähne in dem Bad mit dem scheußlichen grünen Fliesen eine Weile laufen lassen, um die Leitungen durchzuspülen.

Schritt für Schritt, das klang machbar. Auch die Schuppen und die kleine Scheune würde er später oder in den nächsten Tagen noch in Augenschein nehmen. Doch zuerst wollte er sich um seine Basis kümmern. Abenteuerurlaub mit körperlicher Arbeit – das klang doch großartig.

Das Licht im Haus war irgendwie gedämpft und mild. Lag wahrscheinlich an den staubigen Gardinen und dreckigen Fenstern. Nun, das ließ sich beheben.

Raphael stellte die Reisetasche ab und drehte eine Erkundungsrunde durch das Erdgeschoss. Das Wohnzimmer war wundervoll groß, die Küche wies eine separate Speisekammer, einen alten E-Herd und Schränke auf, die leicht muffig rochen. Raphael drehte den Wasserhahn auf, und nach einem asthmatischen Keuchen spuckte dieser Wasser aus, das rostig aussah, sich aber nach kurzer Zeit klärte. Kein Kühlschrank, aber das hatte Raphael auch nicht erwartet. Eigentlich hätte er auch gerne einen neuen Herd. Er sah sich stirnrunzelnd um und korrigierte sich. Neue Fliesen, neue Küche, neues alles. Doch der Gedanke kollidierte mit seinem Wunsch nach Abgeschiedenheit, Ruhe und dem Vorhaben, hier selbst zu renovieren. Die Küche war so erst einmal funktionsfähig, befand er. Sie brauchte einen Großputz, Kühlschrank und Waschmaschine. Das ließ sich beheben.

Vom Flur gingen noch ein kleineres Zimmer und das Bad mit den grünen Kacheln ab. Scheußlich! Im kleinen Zimmer entdeckte Raphael aber auch einen uralten Eichentisch mit säulenartigen Beinen und den Router seines Festnetzanschlusses. Gut, damit war es beschlossen, dass hier sein Laptop heimisch werden würde. Sobald er einen Stuhl fand. Oder online bestellte.

Raphael stieg die Treppe nach oben. Die war ziemlich steil, aber er kam oben an, ohne außer Atem zu geraten. Das war gut, fand er. Ein Zeichen der Besserung. Als sein Herzrasen durch die psychische Belastung auf dem Höhepunkt gewesen war, ehe er sich psychologische Hilfe geholt hatte, hätte der Aufstieg ihn vollkommen erschöpft. Aber das Landleben wirkte schon, beschloss er und erwischte sich zufrieden bei einem Lächeln.

Zwei helle Räume und ein Badezimmer mit braunen Fliesen befanden sich oben. Raphael sah aus dem Fenster des nach vorne gelegenen Raumes und öffnete es, um die milde Frühherbstluft hereinzulassen. Von hier oben bekam er auch einen Überblick, wie wild das Grundstück aussah. Und ringsum nur Mais. Ach je. Wann würde der wohl geerntet werden? Traktoren, die rund um seine kleine, grüne Insel fuhren, die Aussicht erfreute ihn nicht wirklich.

Dieses Zimmer würde sein Schlafzimmer werden. Nur die Staubweben entfernen und einmal mit einem Staubsauger … er hatte keinen Staubsauger. Na gut, dann ging das eben so. Das Campingbett aufstellen, die Koffer in das Zimmer schleppen und wie auf einem Zeltplatz hausen. Das war in Ordnung.

Das zweite Zimmer bot einen Blick auf den Obstgarten, der sich entlang der gesamten Grundstücksgrenze erstreckte und immerhin den Ausblick auf den Mais zu verhindern suchte.

Ein Schaukelstuhl befand sich hier noch von der Vorbesitzerin. Hatte sie die Aussicht von hier genossen? Vielleicht gestrickt oder gehäkelt oder gelesen? Wie das Wohnzimmer lag auch dieser Raum nach Süden und musste im Sommer angenehm hell sein.

Raphael fühlte Frieden und Ruhe. Seine Bekannten würden die Nase über das Haus im Mais rümpfen. Und schockiert sein, wüssten sie von dem Campingbett und Raphaels Plänen, hier eigenhändig den Malerpinsel zu schwingen. Aber er fühlte sich gut. Und das war laut seiner Psychologin im Augenblick das Einzige, das zählte. Er musste heilen. Und er wollte das auch von Herzen.

 

Eine Stunde später hatte Raphael sein Schlaflager eingerichtet, den winzigen Kühlschrank, den er für die Übergangszeit mitgebracht hatte, in die Küche gestellt, wo das Gerät klein, trotzig und modern der Altertümlichkeit die Stirn bot. Er hatte sogar einen Stuhl gefunden, zum Eichentisch getragen und seinen Laptop und ein mitgebrachtes Telefon mit dem Router verbunden.

Er setzte Wasser in dem mitgebrachten Kocher auf, den er auf Lauras Anraten gekauft hatte. Nun, genau genommen hatte sie ihn und auch einen Wasserfilter gekauft, als Raphael zu erschöpft gewesen war, um an solche Dinge zu denken. Als er kochendes Wasser in den Becher zum Teebeutel goss, war er dankbar für Lauras Eingreifen.

Sie war die kleine Schwester seines Ex, von dem er sich freundschaftlich getrennt hatte. Sie hatten immer noch sporadisch Kontakt, obwohl Sebastian in die Staaten gezogen war. Herzchirurg, und er hatte das beste Angebot angenommen, was Raphael nur verständlich fand. Gefunden hatte. Hoffentlich passte Sebastian besser auf sich auf. Doch so locker der Kontakt auch war, das stärkste Bindeglied war Laura. Mit ihr war Raphael herzlich befreundet, und sie war es auch gewesen, die ihm auf den Kopf zugesagt hatte, dass er so nicht weitermachen durfte, dass er fachliche Hilfe benötigte. Sie hatte ihm sogar die Rufnummer seiner Psychologin herausgesucht. Und ihn bei den Einkäufen für seinen vorübergehenden Umzug in sein Haus im Maisfeld unterstützt. Die Jeans, die er trug, und das T-Shirt hatte sie ebenso gekauft wie seine Koffer. Weder einen Anzug, noch schwarze, polierte Schuhe, noch eine einzige Krawatte hatte er mitgenommen. Weil Laura entschieden dagegen gewesen war.

Raphael nippte am Tee, schloss beide Hände um den warmen Becher und atmete wieder einmal tief durch. Laura hatte recht gehabt. Es ging ihm schon besser! Wie viel besser würde er sich erst fühlen, wenn er die Zimmer oben frisch tapeziert und gestrichen hatte! Für die Badezimmer – scheußlich grün und widerlich braun – würde er Hilfe benötigen, das war ihm klar. Aber es eilte nicht. Benutzbar waren sie auch in scheußlich und widerlich.

Sollte er Laura jetzt anrufen? Einerseits war sie eine Verbindung in die Welt von Johannes, andererseits … sie war Laura!

Entschlossen ging er zurück in das Zimmer mit dem Eichentisch und wählte am dortigen Festnetztelefon Lauras Nummer aus dem Gedächtnis. Er war ja immer stolz darauf gewesen, sich Zahlen und Daten hervorragend merken zu können, und war dementsprechend nicht davon abhängig, eine Nummer aus dem Speicher seines Handys zu wählen.

Laura meldete sich nach dem dritten Klingelreichen. »Joe? Geht es dir gut? Ist etwas passiert?«

Natürlich, er hatte ihr die Nummer gegeben, ehe er aufgebrochen war. Selbstverständlich hatte sie diese schon in ihrem Handy abgespeichert, auch wenn sie geschworen hatte, ihn nicht anzurufen.

Joe. So nannte nur sie ihn. Sie kürzte Namen zu gerne ab. Seppi – so nannte sie ihren Bruder. Der sich deswegen mehr als einmal beschwert hatte. Erfolglos. Laura war ruchlos.

»Alles in Ordnung. Ich bin angekommen und wollte nur ein Lebenszeichen geben.«

»Uff! Ich bin erleichtert! Danke, dass du anrufst. Ich habe deine Fahrtzeit berechnet, alle Baustellen einkalkuliert und zappelte, ob du heil ankommst. Wie ist das Haus? So, wie du es dir vorgestellt hast?«

Er berichtete ihr von dem Maisfeld, das auf den Maklerbildern so trügerisch wie Gras ausgesehen hatte. Von den Badezimmerfliesen. Und dass er sich trotzdem wohl und geborgen fühlte. Die Regenbogenfahne im Ferienhausgebiet erwähnte er nicht. Das war nicht wichtig, fand er. Aber eines musste er ansprechen: »Ich benutze gerade für mich meinen dritten Vornamen.«

»Ich wusste nicht einmal, dass du einen hast! Der mit dem M von deinen Visitenkarten?«

»Nein. Himmel, nur das nicht. Meinhard nach meinem Großvater mütterlicherseits.«

»Johannes nach dem Opa väterlicherseits? Du Armer!«

»Ja, genau. Ich nenne mich Raphael. Steht in meinem Ausweis, und ich fühle mich besser damit.«

»Ich überlege, ob ich das Rafi oder Filly abkürze.«

Laura. Unverbesserlich.

»Lass mich wissen, wie du dich entschieden hast«, antwortete er und fühlte wieder das Lächeln in seinen Mundwinkeln. Das war monatelang abwesend gewesen. Echtes Lächeln, nicht die verkrampfte Grimasse, mit der er zu kaschieren versucht hatte, wie elend er sich fühlte. »Laura, darf ich dich noch um einen Gefallen bitten?«

»Schieß los, Rafi.«

Sie hatte sich also schon entschieden. Gut, damit konnte er leben. »Ich benötige noch einige Dinge.« Er sah auf die Liste, die neben dem Laptop lag.

»Ich habe die Adresse, weiß, dass ich Raphael angeben muss … Oh! Denk daran, ein Namensschild anzubringen! Und ich habe deine zweite Kreditkarte. Moment, ich hole mir etwas zu schreiben.«

Sie legte das Handy ab, und er hörte, wie sie durch den Raum eilte, sich höchstwahrscheinlich einen Zeh am Couchtisch anstieß, denn sie fluchte leise. Dann raschelte etwas, und sie stellte das Handy auf Freisprechen.

»Einsatzbereit! Was soll ich dir in die Maiseinöde schicken lassen?«

»Staubsauger, Waschmaschine, Kühlschrank, Rasenmäher, Fahrrad.«

»Hast du jemals eine Waschmaschine bedient?« Sie grinste bei dieser Frage.

»Nein. Aber es liegt gewiss eine Bedienungsanleitung im Paket.«

»Die Maschine muss installiert werden. Das wollen wir nicht dem Zufall überlassen. Sonst schleudert sie sich quer durchs Zimmer, wenn sie nicht gerade steht. Ich kümmere mich um alles. Sonst kommst du klar? Rafi, ruf mich an, falls du mich brauchst. Versprich mir das! Und Doktor Brandecker, falls es dir dreckig geht. Du bist es wert! Du bist berechtigt, um Hilfe zu rufen, und wir helfen dir. Gerne, verdammt! Behalt das im Hinterkopf. Schreib es dir auf und klebe es dir an die Wand.«

»Ich hab dich auch lieb, Laura.«

Sie lachte. Dann fragte sie mit Verschwörertonfall: »Ganz ehrlich? Warum hast du dich jahrelang mit dem Namen Johannes herumgeschlagen? Raphael ist viel netter. Pass auf dich auf. Melde dich, falls du mich brauchst. Okay?«

»Mach ich«, versprach er. Dann saß er noch eine Weile da, nachdem Laura aufgelegt hatte, und blickte nach draußen, die Auffahrt entlang. Ein kleines Stückchen der Straße konnte er sehen, der Rest blieb durch wucherndes Grün verborgen. Er hätte Laura bitten sollen, auch eine Heckenschere zu beschaffen. Ach, das schaffte er alleine. Ein Baumarkt war eine neue Erfahrung, und Raphael war willens, die Herausforderung anzunehmen.

In diesem Augenblick sauste pfeilschnell ein Fahrradfahrer an seiner Auffahrt vorbei.

Raphael seufzte und freute sich auf den eigenen Drahtesel. Bewegung würde ihm gut tun.

2.Ein Graben und ein Retter

Raphael

Lautstarker Vogelgesang weckte Raphael. Einen Augenblick blieb er noch liegen, starrte die leicht vergilbte Zimmerdecke an, machte die Linien aus, wo die Tapetenbahnen aufeinanderstießen.

Er ließ den gestrigen Tag vor seinem geistigen Auge Revue passieren, während er die Wärme des Schlafsacks genoss und sich dann überlegte, wo er überhaupt anfangen sollte. Dieses Zimmer als Letztes, denn das Feldbett war bequemer als erwartet, und Raphael hatte wirklich gut geschlafen.

Genüsslich streckte er sich und befreite sich dann vom Schlafsack. Kurz blieb er noch sitzen, raufte sich die Haare und kletterte dann von seinem Schlaflager, um sich noch einmal zu recken.

Tabletten, Dusche, Kaffee. In der Reihenfolge. Danach fing er entweder an, im Wohnzimmer Tapeten von den Wänden zu reißen, oder er fuhr ins Dorf, um sich dort ein wenig umzusehen. Klaxdonnersbüll hatte einen Supermarkt, eine Tankstelle und eine Kirche, das wusste er, denn er hatte sich eine Karte des Örtchens drucken lassen. Das Ferienhausgebiet, das sich entlang des Waldweges erstreckte, grenzte an das Moor von Prillsande an, das zwischen dem Wald und dem eigentlichen Ort lag. Sein Navi hatte ihn tatsächlich im Bogen um das Dorf geführt.

Ungewohnt, dass er nahezu Abenteuerlust empfand, sich seine Umgebung genauer anzusehen. Vielleicht würde er in den nächsten Tagen, ehe das Fahrrad eintraf, trotz der Wildschweine einen Spaziergang wagen. Der Wald hatte überraschend einladend ausgesehen.

 

Eine gute halbe Stunde später saß er mit Kaffee – löslich, nicht wirklich sein Geschmack, aber an eine Kaffeemaschine hatte er nicht gedacht – vor dem Laptop und sah unter seiner neuen E-Mail-Adresse nach, ob Laura ihm schon eine Nachricht geschickt hatte. Nein, Schweigen im Walde. Außer ihr hatte nur Doktor Brandecker diese Anschrift, und auch sie hatte ihm nicht geschrieben.

Das war nun wirklich ungewohnt, sich nicht morgens als Erstes durch zahllose Nachrichten arbeiten zu müssen. Raphael fuhr den Laptop wieder herunter, trank seinen Kaffee und sah durch das Fenster auf sein kleines, grünes, brennnessellastiges Reich.

Wie weit mochte er mit dem Rasenmäher kommen, den Laura für ihn bestellte?

Raphael erhob sich, trug die Tasse in die Küche und trat durch die Hintertür nach draußen.

Leises Wispern im Mais und lauter Vogelgesang begrüßten ihn. Irgendwo in all dem Grün musste sich ein Tümpel verbergen, denn er hörte auch Frösche quaken. Das Gewässer würde er erst nach der Maisernte entdecken. Wann es wohl so weit war?

Mühsam bahnte Raphael sich seinen Weg bis zur Grundstücksgrenze. Grüne, winzige Kletten hafteten an seinem T-Shirt, und er musste die Hände über den Kopf heben, damit die Brennnesseln sie nicht erreichten. Kein Rasenmäher dieser Welt schaffte das! Was war die Alternative? Mit einem Küchenmesser einen Weg freischneiden? Alles einfach stehen lassen und im Frühjahr zeitig mit dem Rasenmäher die Runde machen? Falls er überhaupt so lange hier blieb.

Er erreichte den Obstgarten, sah über sich die grünen Äpfel und die Brennnesselwipfel und kämpfte sich zum Carport durch. Den Wagenschlüssel hatte er mitgebracht, und so lud er die letzten zwei Taschen aus und schleppte sie ins Haus.

Lebensmittel, die nicht gekühlt werden mussten. So sehr ihn eine Rundfahrt durch das Dorf und die angrenzende Umgebung reizte, stellte ein Besuch im Supermarkt ein unsinniges Unterfangen dar, solange der große Kühlschrank nicht da war. Und bis dieser eintraf, kam er mit seinen Vorräten schon irgendwie über die Runden. Oftmals verspürte er ohnehin keinen Hunger.

Missmutig betrachtete er den Karton mit Fertigsuppen und entschied sich für etwas Pseudo-Asiatisches. Als er gerade den Wasserkocher anschalten wollte, vernahm er ein rhythmisches Geräusch, das aus dem ersten Stock kam.

Irgendwie ein Knirschen.

Raphael warf die Suppenpackung ungeöffnet auf die Arbeitsplatte und lauschte. Das Geräusch erklang weiterhin. Leise, vollkommen regelmäßig. Das klang nicht nach einem Ast, der über die Hauswand kratzte. Äste gab es genug, die so nahe heranreichten, natürlich. Aber es war draußen so gut wie windstill gewesen.

Nach einem kurzen Zögern setzte Raphael sich leise in Bewegung und trat auf den Flur.

Hier hörte er das rhythmische Knirschen noch deutlicher. Und es kam aus Richtung der Zimmerdecke, nicht von einer Außenwand.

Stirnrunzelnd nahm er die Treppe in Angriff und bemühte sich, lautlos aufzutreten. Doch kaum, dass sein Kopf in Höhe des oberen Fußbodens war, verstummte das Geräusch schlagartig.

Er blieb auf der Treppe stehen und lauschte. Nichts. Rasch brachte er die letzten Stufen hinter sich und inspizierte die beiden Zimmer und das Bad. Sein Schlafzimmer lag noch genauso unordentlich da, wie er es verlassen hatte. In dem anderen Raum stand nur der Schaukelstuhl in einem gelblichen Sonnenstrahl. Das Bad war scheußlich wie eh und je.

Vielleicht hatten seine Nerven ihm einen Streich gespielt. Oder es war doch nur ein Ast gewesen. Er brauchte eine Säge, um alles Baumwerk zurückzuschneiden, das dem Haus zu nahe kam. Ein Punkt mehr für die immer länger werdende Liste.

Er ging zurück in das behelfsmäßige Schlafzimmer und räumte grob auf. Wenn er eine Stofftasche oder eine alte Kiste fand, könnte er seine Schmutzwäsche darin sammeln. Gute Idee.

Stattdessen trat er an das Fenster und öffnete es, stützte sich auf die Fensterbank und betrachtete sein grünes Reich. Einen Schritt nach dem anderen. Und falls es ihm über den Kopf wuchs – im wahrsten Sinne des Wortes – konnte er immer noch Firmen beauftragen. Das zahlte er aus der Portokasse. Der Gedanke half, sich nicht überwältigt zu fühlen.

In diesem Augenblick sah er eine rote Gestalt über die Auffahrt stolzieren, Bannerschwänzchen in die Höhe gereckt, selbstbewusst, als würde der kleinen Gestalt hier alles gehören, als inspizierte sie gerade ihr grünes Reich. Eine Katze. Oder wohl eher ein Kater, denn waren nicht alle roten Katzen männlich?

Raphael war sich nicht sicher, und es war wohl auch gleichgültig. Er sah dem roten Katzentier zu, wie es an einer Distel schnupperte und mit frechem Hüftschwung zum Carport marschierte. Da blieb es erst einmal stehen und betrachtete das Auto. War ja gestern noch nicht da gewesen.

Es tat Raphael gut, der Katze – oder dem Kater – zuzusehen. Und jetzt hatte er auch einen Grund, ins Dorf zu fahren und sich den Supermarkt und andere Sehenswürdigkeiten von Klaxdonnersbüll anzusehen. Er wollte Katzenfutter kaufen. Das war doch bestimmt ein Streuner, und vielleicht hatte die alte Frau, die hier vorher gewohnt hatte, das Tier gefüttert? Oder er konnte im Laden fragen, ob jemand den roten Kater kannte. Gleich mal zeigen, dass Raphael sich kümmerte.

Lautlos schloss er das Fenster wieder, kramte aus seinem Gepäck eine Jacke hervor, steckte das Portemonnaie ein und stieg die Treppe wieder hinab. Er konnte sich dann auch gleich eine Dosensuppe oder so kaufen. Oder Würstchen oder am besten Brötchen.

 

Mit einer Einkaufsliste, auf der sich auch Dinge wie Brötchen, Aufschnitt und Käse befanden, machte Raphael sich auf den Weg ins Dorf.

Es fühlte sich an, als würde er zwischen zwei grünen Mauern fahren, da der schmale Fahrdamm auf beiden Seiten von Mais begrenzt wurde. Kurvig war die Strecke ohnehin, und eingedenk der Wildschweinbegegnung vom Vortag fuhr er langsam und wachsam. Die Straße war so schmal, dass alleine der Gedanke an eine mögliche Begegnung mit einem Traktor ihn das Lenkrad fester umklammern ließ.

Sein Anwesen lag deutlich außerhalb der Kernsiedlung. Nach zwei Kilometern Feldweg würde er einen Bauernhof und noch ein paar einsame Häuschen passieren, ehe der Feldweg auf die Dorfstraße stieß. Der Mais nahm ihm die Sicht auf die Siedlung, sonst würde Raphael wohl schon den Kirchturm in einiger Entfernung sehen.

Er versuchte, ob er über die grüne Mauer hinwegspähen könnte, wenn er sich hinter das Lenkrad duckte.

Bewegung vor ihm! Er schnappte nach Luft. Klein, rot. Genau vor dem Auto! Verdammt!

Die Katze blieb stehen und duckte sich wie in Erwartung des tödlichen Zusammenpralls. Raphael trat auf die Bremse, bis er das Gefühl hatte, das Pedal würde im Bodenblech verschwinden. Gleichzeitig riss er das Lenkrad zur Seite, um einen Zusammenstoß zu vermeiden.

Das Auto kam rechts von der Straße ab und fuhr auf den schmalen Grasstreifen zwischen Asphalt und Feld. Dann schien es sich nach rechts zu neigen, als wollte es auf die Beifahrerseite kippen! Raphael versuchte, gegen diese Bewegung zu lenken, aber er war wohl schon zu langsam. Wenigstens neigte der Wagen sich nicht noch mehr zur Seite. War da ein Graben? Verdammt, unter all dem hohen Gras verborgen? Konnte das sein?

Die rote Katze türmte. Das Auto kam zum Stillstand. Wie ein frecher Gruß blitzte das rote Bannerschwänzchen auf, ehe die Mieze im Mais verschwand.

Raphael hielt sich am Lenkrad fest und musste mehrmals tief durchatmen.

Jetzt war er auf jeden Fall vollkommen hellwach! Das Adrenalin versickerte allmählich, und ein sachtes Zittern überlief ihn. Kurz erwog er, einfach zu wenden und sich vor allen Tieren dieser Welt in seinem Haus zu verstecken. Andererseits war die Straße so schmal, dass ein Wendemanöver ewig dauern und ihn nur noch mehr stressen würde. Es war nicht weit, er könnte einfach rückwärts wieder nach Hause tuckern. Wäre da nicht der Umstand, dass das Auto tatsächlich leicht schief stand.

Er sah noch einmal zu der Stelle, an der die Katze verschwunden war. »Sei das nächste Mal vorsichtiger, bitte«, murmelte er und war sich nicht ganz sicher, ob er die Katze oder sich selbst meinte.

Dann stieg er aus, um das Auto und dessen missliche Lage in Augenschein zu nehmen.

Der Straßenrand war durchweicht vom Regen der letzten Tage und ziemlich matschig. Tatsächlich gab es keinen richtigen Graben, aber zwischen Feld und Straße verlief eine deutliche Senke, und in dieser stand – schon bis zur Felge versunken – das rechte Vorderrad. Das Heck des Fahrzeugs war etwas glimpflicher davongekommen, dort verharrte der rechte Reifen noch vor der Senke auf dem weichen Untergrund. Bei einem Fahrzeug mit Frontantrieb nicht hilfreich.

Nun, vom Herumstehen wurde es nicht besser. Mit Glück zog der Wagen frei. Mit Pech rutschte er tiefer in die morastige Senke.

Raphael sah zurück zu seinem Häuschen. Das war nicht weit entfernt, er könnte einen Abschleppdienst heraussuchen und um Hilfe rufen. Da er ja unbedingt auf sein Smartphone verzichten musste, gab es sonst nur die Möglichkeit, bis zum Bauernhof zu wandern und dort um die Hilfe eines Traktors zu bitten. Ja, das war eine mögliche Lösung. Und er hatte sich ja ohnehin mehr Bewegung gewünscht. Aber zuerst wollte er versuchen, ob er das Auto nicht alleine wieder flott bekommen konnte.

Also ging er noch einmal nach vorne, um nachzusehen, ob und wie er das Lenkrad einschlagen sollte, um den Wagen freizubekommen.

In diesem Augenblick erklang eine tiefe, leicht rauchige Stimme aus Richtung des Autohecks: »Babsi, die borstige Bache, vermute ich?«

Raphael wirbelte herum, wobei er einen erschrockenen Ausruf nur knapp unterdrücken konnte.

Neben seinem Wagen stand ein schlanker, hochgewachsener Mann in verwaschenen Jeans und einem schwarzen T-Shirt breitbeinig über einem alten Rennrad. Gut gebaut – der Mann, nicht das Fahrrad, das offenbar biblischen Alters war.

Dazu kam ein markantes Gesicht mit wunderschöner Kieferlinie.

»Babsi?«, fragte Raphael nach, als er sich sicher war, dass seine Stimme mehr oder weniger normal klingen würde.

»Ich nenne alle Wildschweine hier in der Umgebung Babsi. Oder Kunibert. Passt einfach. Ist Ihnen oder dem Auto etwas passiert?«

»Nein … nein, ich war nicht schnell. Und es war eine rote Katze, kein Wildschwein.«

»Oh? Der bin ich noch nicht begegnet. Kommt bestimmt vom Bauernhof und fängt Mäuse im Mais.« Er stieg vom Rad und schob dieses auf die andere Straßenseite, wo er es auf einen keinesfalls vertrauenerweckenden Ständer stellte, und kam dann zu Raphael zurück. »Halb im Graben. Ich schlage vor, ich schiebe. Am besten setzen Sie rückwärts, da steht das Auto nämlich größtenteils noch auf der Straße.«

Raphael hatte Gerüchte gehört, dass Norddeutsche wortkarg und zugeknöpft waren, dass es ewig dauerte, bis sie Fremden gegenüber auftauten. Sein Auto trug Berliner Kennzeichen, vielleicht half das. Der Großstädter in ländlicher Not. Umzingelt von Babsis und Kuniberts. Und Mais natürlich. Vollkommen hilflos, weil er nur breite Straßen mit ordentlichen Bordsteinen gewohnt war.

»Ich habe noch nicht versucht, ob ich aus eigener Kraft freikomme. Ich wollte mir die Bescherung erst ansehen«, sagte er.

Der hochgewachsene Rennradfahrer, dessen T-Shirt einen breitschultrigen Oberkörper mit flacher Bauchdecke betonte, nickte beifällig. Dann blitzte ein Lächeln auf, das Raphael unwillkürlich an die Flecken Sonnenlicht erinnerte, die das Blätterdach im Ferienhausgebiet durchgelassen hatte. Warm, unerwartet und wunderschön. Der Mann streckte eine Hand aus.

Erziehung und Gewohnheit übernahmen die Kontrolle über Raphaels Muskeln, und nur einen Herzschlag später fand er seine Hand in einem festen, warmen Griff geborgen.

»Jarl Rodenbek«, sagte der Fahrradfahrer mit dieser wundervoll rauchigen Stimme.

»Raphael Winterhagen.«

»Dann haben wir das geschafft, und ich darf jetzt schieben. Rein mit Ihnen ins Auto. Ich will nur verhindern, dass der Wagen ganz in den kleinen Graben rutscht.« Er gab Raphaels Hand frei und marschierte an der Motorhaube des Wagens vorbei. Vor dem Kühler blieb er stehen und sah erwartungsvoll zu Raphael.

Dieser hatte nun zwei Probleme: Das Auto im Matsch und die Tatsache, dass er Jarl äußerst attraktiv fand und sich vor diesem nicht blamieren wollte. Er konnte natürlich hervorragend Auto fahren, so die Straße breit genug und keine rote Katze im Weg war. Allerdings hatte er noch nie ein Fahrzeug aus einem schlammigen Graben manövrieren müssen.

Er nickte, lächelte so nonchalant wie möglich und stieg ins Auto. Zuerst ließ er die vorderen Fenster hinunter, damit er hören konnte, falls Jarl etwas sagte. Dann startete er den Motor, legte sorgfältig den Rückwärtsgang ein. Bloß nicht Jarl überfahren!

Ein tiefer Atemzug, weil einfach alles zu viel war. Er hatte doch nur Brötchen kaufen wollen! Dann ließ er sanft die Kupplung kommen, und der Wagen rührte sich nicht einen Zoll von der Stelle. Raphael hörte, wie das rechte Vorderrad sich haltlos im Schlamm drehte.

»Mehr Gas!«, rief Jarl und stemmte sich gegen den Wagen.

Diesen Hinweis befolgte Raphael umgehend.

Schlamm spritzte, und dann sauste das Auto mit einem Mal rückwärts, als der Reifen endlich Halt fand.

Er sah noch, wie sein Rad fahrender Retter die Augen aufriss und dann schlagartig verschwand, während das Auto sicher auf den Asphalt zurückfand.

Raphael schaltete den Motor ab und sprang aus dem Wagen. Das Herz klopfte ihm vor Sorge ganz oben in der Brust, fühlte sich an wie damals, ehe er zu Doktor Brandecker gegangen war.

Er hörte ein Geräusch, das er zuerst gar nicht begreifen konnte, stolperte um den Kotflügel herum und sah Jarl, der sich gerade aufrappelte, nachdem er offensichtlich eine Bauchlandung auf dem durchweichten Grünstreifen hingelegt hatte.

Und der Mann lachte.

Er war vollkommen mit Schlamm bedeckt, Grashalme klebten an den Knien der Jeans. Raphael streckte erschrocken eine Hand nach ihm aus, um ihm aufzuhelfen. Immer noch lachend schüttelte Jarl den Kopf, wollte sich auf der Motorhaube abstützen und tat es nach einem Blick auf seine erdige Hand doch nicht.

»Hoffe, das hat niemand gefilmt, um es auf Youtube einzustellen. Ich muss ein Anblick für die Götter gewesen sein. Der Wagen kam frei, und ich rutschte auf einem nassen Maulwurfshaufen aus.« Er lachte wieder und wischte sich mit einem leidlich sauberen Handrücken Schlammspritzer von der Wange.

»Sind Sie verletzt?« Raphael war zu entsetzt, um das Lächerliche der Situation würdigen zu können.

Jarl grinste schief. »Nur mein Stolz als Anschieber eines festsitzenden Autos. Selbst die Jeans ist heil geblieben. Alles in Ordnung, wirklich.«

»Es tut mir so leid.«

»Muss es nicht. Ich war der felsenfesten Überzeugung, dass der Wagen so tief im Schlamm sitzt, dass wir eine Viertelstunde Schieben und Motorheulen vor uns hätten. Und durchdrehende Reifen. Das volle Programm. Okay, dann radel ich jetzt wieder nach Hause und ziehe mich um.«

»Ich … ich wohne dort in dem Haus.« Raphael wies auf sein Brennnesseldomizil, das nur wenige Schritte entfernt stand. »Falls Sie sich waschen wollen …«

»Ändert nichts am Schlamm auf meinen Klamotten.« Jarl blickte zu dem Haus. »Schön, dass es wieder bewohnt ist. Ich fahre hier täglich auf dem Weg zur Arbeit vorbei und dachte gestern schon, ich hätte ein Auto im Carport gesehen.«

»Sind Sie auf dem Weg zur Arbeit? Ich kann sie nach Hause fahren! Wirklich, ich wollte nur zum Einkaufen. Ich habe Zeit.« Es war ihm so unangenehm, dass er seinem verhinderten Retter womöglich gerade die gesamte Tagesplanung zerschoss.

»Nein, zur Arbeit muss ich erst am späten Nachmittag. Ich wollte auch nur schnell in den Dorfladen, weil mir der Kaffee ausgegangen ist.«

Raphael atmete auf und überlegte rasch. »Wie wäre es«, schlug er vor, »Sie lassen das Rad bei mir, und ich fahre Sie nach Hause zum Umziehen. Dann könnte ich Sie wieder bei ihrem Rad absetzen – oder wir fahren gemeinsam ins Dorf. Ich bin gestern erst hier angekommen und von meinem Navi durch das Ferienhausgebiet geleitet worden. Ich war also noch nicht in Klaxdonnersbüll selbst.« Vielleicht war der Vorschlag übergriffig, weil Jarl Rodenbek ihm damit verraten musste, wo er wohnte. Ja, Raphael hatte das eigene Domizil enthüllt, aber trotzdem!

Aber Jarl grinste wieder auf diese leicht schiefe Art, die ihm unheimlich gut stand. »Eine Bedingung: Das Auto sieht neu und teuer aus. Ich will eine Wolldecke, damit ich den Sitz nicht versaue.«

Ein kalter Klammergriff, den er jetzt erst bemerkte, der aber um seinen Brustkasten gelegen und Atmen erschwert hatte, löste sich auf. Raphael lachte und nickte. »Ich habe eine im Kofferraum.«

»Dann schiebe ich mein Rad hinter Ihre Hecke und nehme das Angebot dankbar an.«

3.Einladung zum Frühstück

Jarl

Jarl wischte sich die ebenfalls matschigen Schuhe so gut wie möglich am Gras des Feldrains sauber, ehe er sich in eine weiche Decke wickelte und auf den Beifahrersitz fallen ließ.

Das Auto roch auch noch neu, das war nicht nur gepflegt, sondern erst vor Kurzem vom Fertigungsband gerollt. Wahrscheinlich hatte Raphael Winterhagen es direkt vor seinem Umzug gekauft. Schade, dass er keines mit Vierradantrieb ausgewählt hatte, das wäre hier auf dem Land die weisere Entscheidung gewesen. Jarl hatte selbst noch keinen Winter in Klaxdonnersbüll verbracht und würde es aller Voraussicht nach auch nicht tun, doch er konnte sich nicht vorstellen, dass diese Straße bei Schnee geräumt werden würde.

Aber der Wagen gefiel ihm trotzdem. Außerdem war Raphael ein guter, vorsichtiger Autofahrer. Jarl lehnte sich bequem zurück, sah auf die fleckigen Hosenbeine der Jeans und lächelte. Fühlte sich versonnen und gut an. Wie im Augenblick gerade alles, obwohl er eine so lächerliche Figur abgegeben und einen formvollendeten Bauchklatscher auf der nassen Bankette hingelegt hatte. Es war lange her, dass er in einem Auto gefahren worden war. Und das hier wurde nicht von Panzertape und Gebeten zusammengehalten.

Er warf einen Blick zu dem Mann neben sich. Der gefiel ihm auch. Ein wenig älter als Jarl selbst, das war schwierig zu schätzen. Viele Jahre lagen auf jeden Fall nicht zwischen ihnen. Markantes Gesicht, das auch im Profil eindrucksvoll wirkte. Energische Kieferlinie, die Jarl lockte, sie mit einer Fingerkuppe entlangzufahren. Er unterdrückte ein neuerliches Grinsen und nutzte die Gelegenheit, als Raphael den Wagen um eine Kurve lenkte, noch ein wenig genauer hinzusehen. Teurer Haarschnitt und ein ganz kurzer, sehr akkurat geschnittener Bart. Als wäre Raphael vor seinem Umzug in ländliche Einöde noch schnell bei einem guten Friseur gewesen.

Auch seine Kleidung, obwohl unspektakulär, doch gut sitzend, sah neu aus. Noch etwas, das Jarl aufgefallen war: Berliner Autokennzeichen hin oder her, Raphael sprach absolut sauberes, akzentfreies Hochdeutsch. Jarl wusste, dass er selbst einen deutlichen Kieler Akzent aufwies. Außerdem sprach er Dithmarscher Platt. Ob Raphael berlinern konnte? Würde gar nicht zu seiner sanften, tiefen Stimme passen, fand Jarl. Aber er war gespannt.

Er ließ den Blick über Raphaels Arm bis zu der Hand gleiten, die das Lenkrad umfasste. Schlanke Finger, und falls Jarl sich nicht sehr täuschte, manikürte Fingernägel. Nicht zu Hause mit einer Feile rasch in Form gebracht, sondern sehr wahrscheinlich in einem Studio gepflegt. Und dann kaufte der Mann das zugewucherte Hexenhaus! Jarl hoffte sehr unvernünftig, dass Raphael nur mit Handschuhen arbeiten wollte, denn es wäre ein Jammer um seine schönen Hände, sollte er ohne Schutz den Garten roden oder umgraben wollen.

Huch! Sie waren ja schon fast da! Da hatte er die bisherige Fahrt einfach nur verträumt, statt ein Gespräch anzufangen.

»Es ist gleich da vorne«, sagte er eilig und hörte selbst, dass seine Stimme ein wenig kratzig klang. »Das Haus mit der Pride-Flagge.«

Auf diese Eröffnung erfolgte genau die Reaktion, auf die er gehofft – nein, die er sogar ein wenig erwartet hatte.

Kurz flackerte Raphaels Blick zu ihm, die Augen wie überrascht ein wenig geweitet, eine ganz, ganz zarte Röte in den Wangen, ehe winzige Lachfältchen sich in seine Augenwinkel kuschelten und er hastig wieder auf die Straße sah. Wetten, dass ihm die Regenbogenfahne schon auf dem Hinweg aufgefallen war?

»Ich wohne da nur vorübergehend. Das Haus gehört einem Cousin um vier Ecken meiner Oma. Ich hause umsonst da und renoviere. Im Wohnzimmer«, er legte geballte Empörung in seine Worte, »waren es sieben Schichten Tapeten. Eine scheußlicher als die davor. Die erste stammte aus den Fünfzigern, würde ich schätzen.«

»Oh, Himmel, da kann ich mich bei meinem Haus ja auf etwas gefasst machen!«, stieß Raphael aus.

Sie lachten zusammen, und es fühlte sich wunderbar an.

»Haben Sie schon eine Waschmaschine? Sonst würde ich die Decke in den nächsten Tagen gewaschen wieder vorbeibringen«, schlug Jarl vor, als das Auto hielt und er samt seiner flatternden Schutzschicht ausstieg. Das war ein guter Vorwand, um Raphael unverbindlich wiederzusehen, fand er.

»Nein, noch nicht. Das wäre wirklich freundlich.«

»Abgemacht. Gleich wieder da.« Er eilte über den schmalen Pfad zwischen Bauernrosen entlang, schloss auf und trat zwischen Tapeziertisch und Leiter in den Flur. Von dort rannte Jarl weiter in den kleinen Hauswirtschaftsraum, warf die Decke von sich und zog sich eilig aus. Die schlammige Kleidung reichte samt Decke für eine Waschmaschinenladung. Das erledigte er nach seiner Rückkehr.

Schnell in den kleinen Raum, in dem er derzeit lebte. Der mit dem Ausblick auf den Blumengarten. Eilig kramte Jarl frische Jeans und ein graues T-Shirt aus der Kommode. Er überlegte kurz, ob er noch frisches Deo verwenden sollte, aber in der Enge des Autos könnte der stärkere Duft Raphael auffallen und zu sehr wie Vorsatz wirken. Nein, es musste genügen, dass er vorhin unter der Dusche gewesen war und danach Deo benutzt hatte. Außerdem war das hier frische Wäsche, die roch ohnehin sauber. Nicht mit der Tür ins Haus fallen. So eine plötzliche Romanze – falls es denn eine wurde! – hatte er gar nicht auf dem Plan gehabt. Und er wusste ja auch noch immer nicht, wie lange er in Klaxdonnersbüll bleiben würde.

Hing auch davon ab, wie schnell er im Herbst eine Wohnung in Kiel fand, die er bezahlen konnte. Verdammt, Bewerbungen musste er auch noch schreiben, auch wenn er dazu überhaupt keine Lust hatte.

Der Job an der Dorftankstelle gefiel ihm eigentlich. Nur die Aussicht, in einem mäßig gut isolierten Ferienhaus mit altersschwacher Ölheizung zu überwintern – die behagte ihm gar nicht! Außerdem musste er irgendwann mit der Renovierung fertig sein. Nicht einmal seine Oma würde ihm abkaufen, dass er dafür länger als ein halbes Jahr benötigte.

Ach, alles doof!

Nicht alles. Das wohlige Prickeln in der Magengrube, wenn er nur an Raphael dachte, das gefiel ihm ausnehmend gut!

Im letzten Augenblick dachte er daran, sein Portemonnaie und das Handy aus der dreckigen Hose an sich zu nehmen, dann rannte er wieder nach draußen, schloss ab und gab sich Mühe, lässig, aber nicht zu langsam zum Auto zurückzukehren.

Raphael lächelte ihm entgegen. Ach, zum Teufel mit Plänen. Einfach mal sehen, wohin das hier führen mochte. Ob es überhaupt zu etwas führte.

Außer Tapeten, Farbe und dem Job an der Tanke hatte er ja sonst nichts zu tun, und dieser Mann gefiel ihm einfach. Auch wenn er ihn überhaupt nicht kannte. Der Gedanke fühlte sich leicht ernüchternd an, doch Jarl stieg ein, lächelte Raphael zu und beschloss, dass dieser kein irrsinniger Axtkiller war, der aufgrund eigener verklemmter Sexualität mörderische Jagd auf andere Schwule machte.

»Ich bin dem roten Kater gerade dankbar, dass ich seinetwegen einen ortskundigen Führer an der Seite habe«, sagte Raphael herzlich.

»Oh! Die Sehenswürdigkeiten von Klaxdonnersbüll. Lassen Sie mich überlegen. Die Kirche, auf jeden Fall. Roter Backstein über Feldstein. Gotisch, glaube ich, aber das ist wohl erst später hinzugekommen. Was haben wir noch? Ein nachgebautes Hünengrab natürlich. Tankstelle – obwohl Ihr Auto die natürlich nicht braucht. Ich überlege gerade, wo die nächste Ladestation sein könnte.«

»Ich habe eine im Carport einbauen lassen, ehe ich hierher kam. Ich dachte mir schon fast, dass ich in der Nähe keine finde. Und es wäre unsinnig, jedes Mal zum Laden nach Flensburg oder so zu fahren.«

Jarl lauschte mit gespitzten Ohren, aber er hörte immer noch keinen Akzent. Er wies auf den Bauernhof, dem sie sich nun näherten. »Guter Hofladen. Eier von freilaufenden Hühnern. Ich lebe froh bei Bauer Stroh.«

Raphael lächelte bei dem Werbeslogan.

»Außerdem Obst und Gemüse aus eigenem Anbau. Ich hab da Ende Mai bei der Spargelernte ausgeholfen. Und dann abends eine Stunde lang in der heißen Wanne gelegen, weil mein Rücken mich umbrachte.« Knochenarbeit mit Bonus, weil er außer dem Lohn auch an beiden Wochenenden jeweils eine kleine Kiste mit Obst, Eiern, Milchprodukten, Wurst und Gemüse geschenkt bekommen hatte. Das waren luxuriöse zwei Wochen gewesen trotz Muskelkaters.

»Ja, das vergisst man bei vielen Dingen, dass schwere körperliche Arbeit dahintersteckt«, sagte Raphael anteilnehmend. »Auch … Beeren und so, das kann ja keine Maschine machen.«

»Automatisierte Marmelade würde das ergeben«, antwortete Jarl und lachte bei der Vorstellung. Dann fand er zurück in seine Rolle als Fremdenführer: »Hinter der nächsten Kurve kommt die Kreisstraße. Biegen Sie nach rechts ab, das bringt uns direkt auf die Dorfstraße.« Und an der lagen der Laden und am anderen Ende von Klaxdonnersbüll die Tankstelle, wo Jarl heute Abend zum Spätdienst erwartet wurde.

Hauptsächlich kamen junge Erwachsene auf dem Weg zu einer Party vorbei, um Last-minute-Einkäufe wie Alkohol und Knabberkram zu erledigen. Ein paar Tankfüllungen, und das war es. Die Uhrzeiten waren Jarl gleichgültig. Er konnte ja ausschlafen, ehe er sich wieder der Renovierung widmete. Die drei Frauen, die sich bei den Tagesschichten abwechselten, waren froh, dass er die späten Touren arbeitete. Da er kostenfrei in dem Ferienhaus wohnte, reichte das Geld von der Tanke für seine Bedürfnisse und auch für Rücklagen für eine Zeit, wenn er wieder Miete zahlen musste. Außerdem war er krankenversichert. Solange er beim Einkaufen ein wenig achtsam war, klappte das tatsächlich. Da hatte er schon finstere Zeiten erlebt.

Links tauchte die Kirche auf, ein wenig abseits der Dorfstraße, umgeben von einem nahezu parkartigen Friedhof mit alten, verwitterten Grabsteinen. Eine hüfthohe Mauer aus Feldsteinen umgab das Areal. Jarl hatte inzwischen herausbekommen, dass die Beisetzungen nun auf einem neueren Gottesacker am Ortsrand vorgenommen wurden. Außerdem war er sich ziemlich sicher, dass der Verlauf der Dorfstraße geändert worden war, damit der Verkehr nicht mehr um den alten Kirchhof herumführte. Dort lag auch noch Kopfsteinpflaster. Sehr touristisch attraktiv. Er grinste schief und dachte gerade noch daran, Raphael auf das kleine Ortszentrum und den Parkplatz hinzuweisen.

Es war schon verrückt, wie wohl er selbst sich in Klaxdonnersbüll fühlte, wie vertraut alles auf ihn wirkte. Kiel als Landeshauptdorf war natürlich nicht mit Berlin zu vergleichen. Für Raphael musste das Dörflein ein Kulturschock sein. Oder er war genau deswegen hierhergekommen, um der Metropole mit Lärm, Enge und Abgasen zu entkommen. Ja, natürlich!

Jarl stieg aus, kaum dass das Auto eine freie Lücke erobert hatte. Ein kleiner unartiger Geist raunte ihm zu, um den Wagen zu laufen und Raphael galant die Tür zu öffnen. Ein bisschen albern, außerdem war er dafür zu langsam. Raphael stand schon neben dem Fahrzeug, und über das Wagendach trafen sich ihre Blicke. Wohlig kribbelte eine Gänsehaut über Jarls Rücken.

War natürlich unsinnig, nach so kurzer Zeit schon so zu empfinden, aber er mochte Raphael. Dieses leicht Vorsichtige, Besorgte fühlte sich ungewohnt und vor allem gut an. Außerdem war der Mann höllisch attraktiv!

Jarl wies ihn auf die Einkaufswagen hin, die um die Ecke standen, aber sie bewaffneten sich beide mit den kleineren Körben aus dem Eingangsbereich. Jarl brauchte wirklich nur Kaffee. Er hatte noch einen Vorrat Knäcke, Margarine und günstigen Aufschnitt, konnte aber doch nicht der Versuchung widerstehen, eine Packung Eier von Bauer Stroh mitzunehmen. Rührei oder gekochte Eier auf Knäcke klangen verlockend.

Ein wenig sehnsüchtig sah er durch den Gang an den Gefriertruhen vorbei zur Fleischtheke. Vormittags standen die Chancen immer gut, frisches Zwiebelmett zu ergattern. Aber das würde sein Budget wirklich sprengen, zumal er das am liebsten auf Brötchen aß. Nein, nächste Woche vielleicht, wenn er seinen Lohn von der Tankstelle erhalten hatte.

Also hielt er Ausschau nach Raphael, ob dieser vielleicht Orientierungshilfe im Laden benötigte.

Er entdeckte ihn bei Butter und Milch am Kühlregal. Raphael sah sich auch gerade um, als suche er Jarl. Der kleine Einkaufskorb war bereits bis über den Rand gefüllt. Von wegen, nur ein paar Brötchen kaufen.

Dann fielen ihm die leicht geröteten Wangen auf, die strahlenden Augen. Er eilte Raphael entgegen, der sich ebenfalls rasch auf ihn zu bewegte.

Sie trafen beim Katzenfutter aufeinander, und Raphael nahm aufs Geratewohl eine Packung Trockenfutter und klemmte sie sich unter den Arm, weil der Korb voll war. Für den roten Kater, dank dem er im Graben gelandet war, vermutete Jarl.

»Ich habe noch keine Kaffeemaschine. Aber löslichen Kaffee«, sagte Raphael und klang dabei unsicher und aufgeregt zugleich. »Aber … ich wollte fragen, ob ich Sie zum Frühstück einladen darf? Ich habe eben Zwiebelmett gekauft. Ein Pfund, fürchte ich. Und Roastbeef. Es fehlen nur noch die Brötchen, doch ich wollte erst fragen, ehe ich viel zu viele kaufe.« Dabei sah er Jarl so hoffnungsvoll an, dass es rührend war.

Verdammt, war das so eine Art Date? Oder schämte Raphael sich noch immer, dass er seinen verhinderten Retter in den Matsch hatte plumpsen lassen?

Oh, offenbar hatte er zu lange mit einer Antwort gewartet, weil er Raphael viel zu tief in die Augen sehen musste. Moosgrün und wunderschön, übrigens.

»Ich … ich fürchte, ich habe auch nur einen Stuhl. Es ist alles noch sehr provisorisch …«

»Für Zwiebelmett picknicke ich auch auf dem Fußboden«, antwortete Jarl ehrlich und merkte gleichzeitig, dass das wohl keine besonders romantische Antwort war. Irgendwie machte sein Gehirn gerade Pause, lehnte sich zurück und beobachtete vergnügt, wie er dumme Antworten gab.

Aber Raphael errötete zauberhaft noch ein wenig mehr, lächelte und sagte: »Dann hole ich jetzt Brötchen!«

Jarl nahm ihm das Katzenfutter ab, damit er die Gebäckzange überhaupt bedienen konnte. Irgendwie fühlte sich das alles wundervoll vertraulich und nahe an. Sie standen dicht beieinander, lächelten sich immer wieder an. Als wäre ihr Zusammentreffen am Feldrain Schicksal gewesen. Kein Wunder, dass Jarls Gehirn gerade in wonniglich rosa Wolken herumspielte und nicht zu Höchstleistungen – ach, zu einfacher Reaktion! – fähig war.

Sie gingen gemeinsam zur Kasse und dann zum Wagen zurück, und die ganze Zeit hatte Jarl das Gefühl, dass sie sich schon seit Jahren kennen würden. Jede kleine Geste, jedes Lächeln, jeder Seitenblick erschien so vertraut.

Sie unterhielten sich über ganz alltägliche Dinge. Über die Tapetenschichten, die Jarl nach und nach im Wohnzimmer des Ferienhauses freigelegt und fluchend von der Wand geschält hatte. Über das scheußliche braune Badezimmer im Hexenhaus, über Brennnesseln und den Mais. Jarl hatte auch keine Ahnung, wann der endlich geerntet werden würde. Aber er hatte von einem Mais-Irrgarten in der Nähe gehört und berichtete davon.

Sich mit Raphael in den grünen Gängen zu verirren, erschien ihm besonders reizvoll. Da wurde ihm allmählich klar, dass er begann, sich zu verlieben.

Was hieß hier begann? So schnell war es noch nie um ihn geschehen gewesen! Hals über Kopf bis über beide Ohren verknallt, das war die Wahrheit.

Und er wusste einfach gar nichts über diesen Mann. Nichts über Beruf oder Familie, welche Hobbys er hatte, gar nichts. Was er wusste: Raphael hatte Futter für den roten Kater gekauft, dessentwegen er sein nigelnagelneues, teures Auto beinahe im Straßengraben versenkt hatte. Vielleicht war das alles, was Jarl im Augenblick wissen musste.

Raphael fuhr in den Carport, und gemeinsam entluden sie das Auto. Jarls eigene Einkäufe waren in einer kleinen Stofftasche, die er neben dem Wagen ließ, um sie später mit zum Rad zu nehmen. Sie trugen Raphaels drei Taschen ins Haus, das leer und kalt roch und doch schon ein wenig Raphaels Duft atmete.

Die Küche könnte, fand Raphael, ein gemütlicher Mittelpunkt des Hauses werden, war sie erst hergerichtet. Für einen Esstisch war auf jeden Fall genügend Platz.

»Ich suche im Wirtschaftstrakt nach einem zweiten Stuhl«, sagte Raphael, nachdem er seine Taschen auf der Arbeitsplatte abgelegt hatte.

»Ich meinte das durchaus ernst, dass ich auch auf dem Fußboden sitzen kann.«

»Aber ein Stuhl wäre bequemer. Ich gucke nur kurz, und falls ich nicht auf Anhieb eine Sitzgelegenheit finde, sitzen wir beide auf dem Fußboden.«

Jarl lachte. Schade, dass die Wolldecke bei ihm im Ferienhaus auf die Waschmaschine wartete. Mit der wäre es wirklich ein Picknick. »Soll ich derweil den Tisch oder den Fußboden decken?«

»So das nicht zu viel verlangt ist … Oh, das Geschirr habe ich noch gar nicht ausgepackt. Besteck auch nicht.« Raphael wies auf zwei weiße Kartons, die neben dem Waschbecken standen. »Ich mach das sonst gleich.«

»Nein. Sie suchen einen Stuhl. Ich kümmere mich um das Geschirr. Kein Problem.«

Noch ein liebes, süßes Lächeln, das Jarls Herz Purzelbäume schlagen ließ, dann eilte Raphael durch eine Tür und verschwand auf der Suche nach einem Stuhl. Und ließ Jarl – und damit einen Wildfremden – alleine in seiner Küche. Die einen eklatanten Mangel an Tischen aufwies. Wo sollte er den Tisch überhaupt decken? Nein, er würde nicht alle verfügbaren Türen öffnen und nach einem einsamen Stuhl und einem Tisch suchen.

Das Geschirr war frisch gekauft und noch nie aus seinem Karton gekommen. Das kam so auf gar keinen Tisch!

Behutsam hob Jarl Teller, Tassen, Suppenschalen und mehr aus dem Karton. Schneeweißes Porzellan mit leuchtenden Mohnblüten als Dekor. Das Besteck war schlicht, die Griffe sanft abgerundet, alles lag gut in der Hand.

Er ließ Wasser ins Abwaschbecken einlaufen. Raphael hatte Geschirrspülmittel gekauft, das hatte er an der Kasse gesehen. War es übergriffig und aufdringlich, die Flasche aus der Einkaufstasche zu holen? Jarl zögerte kurz, aber Raphael suchte immer noch nach einem Stuhl, und das Geschirr musste ja vor dem ersten Gebrauch gespült werden. Er bemächtigte sich der Flasche, fügte einen kleinen Spritzer ins heiße Wasser und wusch das gesamte Geschirr und alles Besteck ab. Eine zauberhafte Porzellanbutterdose war auch dabei, der kleine Knopf oben mohnrot, und die Blüten säumten den unteren Rand. Wunderschönes Geschirr!

Aus dem ersten Stock vernahm er, während er Teller abtrocknete, ein rhythmisches Knarren. Da rieb wohl ein Ast gegen die Hauswand.

Gleich darauf kehrte Raphael zurück. Tatsächlich mit Spinnweben im Haar und einem alten Holzstuhl, der offensichtlich schwer war. Mit einem Schnaufen stellte Raphael das Möbel ab und riss die Augen weit auf. »Sie müssen doch nicht den Abwasch machen!«

»Bin schon so gut wie fertig. Ich wollte nicht im Haus herumschnüffeln, wo der Tisch steht. Und das Geschirr musste gespült werden. Haben Sie ein Geschirrhandtuch?«

»Ich glaube. Ich merke dauernd, was mir alles fehlt, fürchte ich.«

Jarl vermutete inzwischen, dass Raphael frisch aus einem Hotel Mama ausgezogen war. Er wirkte so weltfremd und hilflos! War das wirklich sein erster eigener Haushalt? Und dann gleich ein Hexenhaus, in dem nach Raphaels Beschreibung jeder Raum dringend nach einer Renovierung schrie. Das war wagemutig! Von dem verwilderten Garten ganz abgesehen. Die Brennnesseln konnte Jarl nur eindrucksvoll nennen.

Aber Raphael fand tatsächlich Geschirrtücher – ebenfalls mit Mohnblüten, teures, noch steifes Leinen – in einem Karton. Und so trockneten sie das Geschirr gemeinsam ab. Nebeneinander, nur begleitet vom leisen Klappern der Teller, als sie diese stapelten. Jarl musste sich zusammenreißen, um nicht die Spinnweben aus Raphaels goldbraunem Haar zu zupfen. Darauf ansprechen? War auch unhöflich, verdammt.

Glücklicherweise dachte Raphael selbst daran, den Stuhl abzuwischen. Zumindest grob. Okay, das hätte Jarl nicht gestört. Seine Jeans hatte fast vollkommen durchgewetzte Knie und etliche Farbflecke. Aber es war eine höfliche Geste.

Ein Tablett besaß Raphael auch nicht, und so schleppte er den Stuhl in ein kleines, aber irgendwie gemütliches Zimmer, das von einem wuchtigen Eichentisch dominiert wurde, auf dem klein und verloren ein ultraflacher Laptop stand, den Jarls Gastgeber zusammenklappte und an den Rand schob. Jarl selbst folgte schon mit Geschirr – bis auf die Tassen, die noch ihre Füllung mit Kaffee erwarteten –, Besteck und den Brötchen.

Er kannte solche provisorischen Frühstückstische aus einer WG. Er selbst sah sich auch immer wieder mit überfüllten Tischen konfrontiert, weil sie sich einfach anboten, alles Mögliche und Unmögliche auf ihnen abzuladen.

Er deckte diesen Tisch mit dem schönen Mohnblütengeschirr, während Raphael zurück in die Küche eilte, um Butter, Zwiebelmett, Käse und die Kaffeebecher zu holen.

»Nehmen Sie Milch in den Kaffee? Zucker?«, fragte er, als er zurückkehrte. Da war sie wieder, diese besorgte Vorsicht, als könnte er etwas falsch machen, als würde Jarl ihm irgendetwas übel nehmen können.

»Milch, bitte«, antwortete er.

Raphael stellte die Becher ab, türmte noch in der Tüte verpackten Aufschnitt auf den Tisch und rannte los, um die Milch zu holen.

Sah er ebenfalls das hier als ihr erstes Date an? Oder schämte er sich immer noch, dass Jarl die Bruchlandung im Matsch hingelegt hatte, und wollte den vermeintlichen Schaden wieder gut machen?

Jarl packte Zwiebelmett, Käse und Roastbeef aus und arrangierte alles verlockend auf den Tellern, die er dafür mitgebracht hatte. Ob Raphael an solche einfachen Dinge wie Frischhaltedosen gedacht hatte? Wahrscheinlich nicht. Es war zauberhaft und rührend zugleich, wie sehr ihn solche Dinge zu überfordern schienen. Wirklich, als wäre dies sein erster eigener Haushalt. Jarl überlegte, ob er seine Altersschätzung korrigieren müsste, hatte jedoch immer noch den Eindruck, dass er selbst der Jüngere von ihnen war. Nun, das ließ sich bestimmt herausfinden. Ganz harmlos und unauffällig gefragt, natürlich!

Aber erst einmal galt es, ein wahrhaft opulentes Frühstück in der Gesellschaft eines reizvollen Mannes zu genießen.

Der Tisch war alt und angestoßen, das Mohnblütenporzellan war dazu ein frischer, sauberer Kontrast. Die Brötchen dufteten, der lösliche Kaffee war absolut genießbar … und Raphael wirkte leicht schüchtern, als könnte er selbst nicht fassen, dass sie hier beisammensaßen.

Wann wurden sie endlich dieses sperrige Sie los, fragte Jarl sich, während er am Kaffee nippte und Raphael dabei in die Augen sah. Ein so sanftes, freundliches Moosgrün. Oh, Jarl war vollkommen willens, sich in diesen Augen zu verlieren, dem Auf und Ab der Wimpern zuzusehen und auf die winzigen Lachfältchen zu lauern.

Langsam angehen lassen. Es war Ende August. Bis zum Wintereinbruch, der Jarls Rückkehr nach Kiel bedeuten musste, hatten sie noch Zeit. Raphael erschien ihm nicht die Sorte Mann, bei der ein Sturmangriff und eine Wirbelwindromanze angebracht waren. Und vielleicht – so er weder Job noch Wohnung in Kiel vor dem ersten Kälteeinbruch fand – blieb Jarl ja noch ein wenig länger in Klaxdonnersbüll. Vielleicht hatte Bauer Stroh über Winter Verwendung für einen Knecht, der dafür in einer der kleinen Wohnungen in der alten Scheune wohnen durfte, weil zu dieser Jahreszeit ohnehin keine Saisonarbeiter kamen. Oder … oder etwas anderes ergab sich.

Sie griffen gleichzeitig nach den Brötchen. Jarl lachte, und da tauchten die zauberhaften Lachfältchen auf. Raphael wirkte mit einem Mal nicht mehr so angespannt, sondern taute sichtlich auf.