Eine wichtige Entscheidung - Carolin Grahl - E-Book

Eine wichtige Entscheidung E-Book

Carolin Grahl

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Beschreibung

Jenny Behnisch, die Leiterin der gleichnamigen Klinik, kann einfach nicht mehr. Sie weiß, dass nur einer berufen ist, die Klinik in Zukunft mit seinem umfassenden, exzellenten Wissen zu lenken: Dr. Daniel Norden! So kommt eine neue große Herausforderung auf den sympathischen, begnadeten Mediziner zu. Das Gute an dieser neuen Entwicklung: Dr. Nordens eigene, bestens etablierte Praxis kann ab sofort Sohn Dr. Danny Norden in Eigenregie weiterführen. Die Familie Norden startet in eine neue Epoche! »Was hast du gesagt, Fee?« Dr. Norden legte die Fachzeitschrift, in der er schon den ganzen Abend gelesen hatte, zur Seite und richtete seinen Blick fragend auf seine Frau. Fee, die damit beschäftigt war, ihre und Daniels private Post zu sichten und zu sortieren, hielt einen blassgelben, in einer kräftigen, rechtsschrägen Handschrift beschriebenen Briefumschlag hoch. »Ein Brief von einer gewissen Laura Stern«, bemerkte sie. »Adressiert an Dr. Fee Norden und Dr. Daniel Norden.« Sie hob die Augenbrauen. »Sagt dir der Name Laura Stern etwas, Dan? Ich kann leider überhaupt nichts mit diesem Namen anfangen.« Daniel Norden griff stirnrunzelnd nach seinem Weinglas und trank einen Schluck. »Laura Stern, Laura Stern«, murmelte er vor sich hin. »Der Name kommt mir bekannt vor, aber ich kann ihn nicht zuordnen. Mach den Brief am besten gleich auf, Fee, dann wissen wir mehr.« Fee nahm den Brieföffner, schlitzte den Umschlag auf und zog ein ordentlich zusammengefaltetes, eng beschriebenes DIN A5-Blatt heraus, das dieselbe blassgelbe Farbe wie der Briefumschlag aufwies. »Liebe Frau Dr. Norden, lieber Herr Dr.

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Seitenzahl: 140

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Chefarzt Dr. Norden – 1297 –Eine wichtige Entscheidung

Ihre schwere Krankheit wirft Claudia zurück

Carolin Grahl

»Was hast du gesagt, Fee?« Dr. Norden legte die Fachzeitschrift, in der er schon den ganzen Abend gelesen hatte, zur Seite und richtete seinen Blick fragend auf seine Frau.

Fee, die damit beschäftigt war, ihre und Daniels private Post zu sichten und zu sortieren, hielt einen blassgelben, in einer kräftigen, rechtsschrägen Handschrift beschriebenen Briefumschlag hoch. »Ein Brief von einer gewissen Laura Stern«, bemerkte sie. »Adressiert an Dr. Fee Norden und Dr. Daniel Norden.« Sie hob die Augenbrauen. »Sagt dir der Name Laura Stern etwas, Dan? Ich kann leider überhaupt nichts mit diesem Namen anfangen.«

Daniel Norden griff stirnrunzelnd nach seinem Weinglas und trank einen Schluck. »Laura Stern, Laura Stern«, murmelte er vor sich hin. »Der Name kommt mir bekannt vor, aber ich kann ihn nicht zuordnen. Mach den Brief am besten gleich auf, Fee, dann wissen wir mehr.«

Fee nahm den Brieföffner, schlitzte den Umschlag auf und zog ein ordentlich zusammengefaltetes, eng beschriebenes DIN A5-Blatt heraus, das dieselbe blassgelbe Farbe wie der Briefumschlag aufwies.

»Liebe Frau Dr. Norden, lieber Herr Dr. Norden«, las sie vor. »Ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern, aber mit Sicherheit ist Ihnen zumindest meine Tochter Claudia noch im Gedächtnis. Claudia war vor eineinhalb Jahren schwer am Pfeifferschen Drüsenfieber erkrankt und wurde über mehrere Wochen in der Behnisch-Klinik behandelt. Nur Ihrem ärztlichen Können, Herr Dr. Norden, und dem Ihrer Frau ist es zu verdanken, dass Claudia wieder gesund geworden ist. Sie hat sich nach ihrer Entlassung aus der Behnisch-Klinik so gut und schnell erholt, dass sie schon ein halbes Jahr später ihr Balletttraining wieder aufnehmen konnte. Für alles, was Sie für Claudia getan haben, stehe ich tief in Ihrer Schuld. Nie werde ich Ihnen sowohl für Ihr fachliches als auch für Ihr großartiges persönliches Engagement genug danken können. Auch Claudia ist Ihnen unendlich dankbar. Sie spricht sehr viel von Ihnen und möchte sich gerne erkenntlich zeigen. Lange haben wir deshalb überlegt, womit wir Ihnen beiden eine Freude machen könnten, und sind zu dem Schluss gekommen, dass wohl nichts besser geeignet wäre als eine Kostprobe von Claudias inzwischen bereits sehr fortgeschrittener tänzerischer Kunst. Aus diesem Grund möchten wir Sie ganz herzlich zu den diesjährigen Bregenzer Festspielen einladen, und zwar zu einer Aufführung von Tschaikowskys Ballett ›Schwanensee‹ auf der Bregenzer Seebühne. Sie können bei dieser Gelegenheit mit eigenen Augen sehen, was Sie für Claudia möglich gemacht haben. Claudia hat im ›Schwanensee‹ ihren ersten öffentlichen Festspielauftritt bei den Tänzen der Schwäne zu Beginn des 2. Aktes und wagt damit einen weiteren wichtigen Schritt in ihre zukünftige vielversprechende Ballettkarriere. Ich habe meinem Brief zwei VIP-Karten für die Eröffnungsvorstellung von ›Schwanensee‹ am 8. August beigelegt. Ich hoffe sehr, dass Ihre Zeit es Ihnen erlaubt, sich einen Abend auf der bezaubernden Bregenzer Seebühne mit Tschaikowskys wunderbarer Musik zu gönnen. Natürlich sind Sie als VIPs nach der Aufführung zur großen Premierenfeier im eigens zu diesem Zweck reservierten Burgrestaurant auf dem Gebhardsberg herzlich eingeladen. Und selbstverständlich gibt es für Sie auch eine geeignete Übernachtungsmöglichkeit, und zwar in einer Suite des nahe gelegenen Fünf-Sterne-Berghotels ›Zur Fluh‹. Mit den besten Grüßen und in immerwährender Dankbarkeit Ihre Laura Stern mit Tochter Claudia.«

Als Fee geendet hatte, warf sie einen Blick in den Briefumschlag, in dem sich in der Tat zwei Ballettkarten befanden. Sie reichte sie Daniel und sah ihn dabei bittend an.

Daniel verstand. »Am 8. August ist also Premiere«, sagte er mit nachdenklich gerunzelter Stirn. »Die Einladung kommt sehr kurzfristig, denn bis zum 8. August sind es nur noch knapp vier Wochen.« Er machte eine kleine Pause. »Allerdings ist der 8. August meines Wissens ein Samstag. Wenn also nicht etwas absolut Unvorhergesehenes dazwischenkommt, wäre es durchaus möglich …«

»Heißt das, du hättest Lust, die Einladung anzunehmen?«, hakte Fee sofort nach.

Daniel nickte. »Warum nicht?«, meinte er. »Zum einen erinnere ich mich inzwischen wieder sehr gut an Claudia und ihre Mutter, und ich würde die beiden, vor allem Claudia, wirklich gerne wiedersehen und mich mit eigenen Augen von den Fortschritten der begeisterten kleinen Ballettratte überzeugen. Claudias Schicksal ist mir damals ziemlich nahegegangen. Und außerdem finde ich, dass es schon viel zu lange her ist, seit wir uns eine Auszeit von unserem anstrengenden und verantwortungsvollen Beruf gegönnt haben, Feelein. Wir könnten nach der Schwanensee-Aufführung und nach der Feier auf diesem … diesem Gebhardsberg und der Übernachtung im Berghotel gut und gerne noch einen Tag anhängen und einen unbeschwerten Sonntag am Bodensee genießen. Zum Beispiel auf der Blumeninsel Mainau. Würde dir das gefallen?«

»Und ob. Das … das wäre …« Fee strahlte übers ganze Gesicht. »Ein festlicher Abend und dann ein Tag nur für uns zwei. Das wäre eine wunderbare Sache.«

»Fein. Dann ist das also geklärt.« Daniel rieb sich voller Vorfreude die Hände. »Ein Ballettabend auf der Bregenzer Seebühne ist im Übrigen mit Sicherheit ein Erlebnis, das uns noch lange im Gedächtnis bleiben wird. Was diese Seebühne betrifft, hat Laura Stern nämlich keineswegs zu viel versprochen. Ich war dort schon einmal, wenn es auch sehr lange her ist. Bestimmt zehn Jahre, vielleicht sogar länger. Und ich muss sagen, ich war hellauf begeistert. Auf einem Ärztekongress in Bregenz hatten wir damals zum Abschluss die Möglichkeit, eine Opernaufführung der Bregenzer Festspiele zu besuchen: ›Hoffmanns Erzählungen‹ von Jacques Offenbach.« Plötzlich trat ein verschmitztes Grinsen auf Daniels Lippen. »Leider warst du nicht mit von der Partie, mein Feelein, sodass ich nach der wunderschönen romantischen Barkarole zu Beginn des 3. Akts auf die so verführerisch besungene Liebesnacht leider verzichten und eine sehr unromantische Nacht allein in meinem Hotelzimmer verbringen musste.«

»Du Armer«, lächelte Fee und schmiegte zärtlich ihren Kopf an Daniels Schulter. »Das Ballett ›Schwanensee‹ war übrigens eine der ersten Aufführungen, die wir als junges Ehepaar in der Münchner Staatsoper besucht haben, weißt du noch?« Sie seufzte. »Manchmal frage ich mich, woher wir damals die Zeit für ein Abonnement sowohl an der Staatsoper als auch im Herkulessaal der Residenz genommen haben.«

»Damals hatten wir noch unsere Privatpraxis«, erinnerte sich Daniel. »Natürlich gab es auch dort jede Menge zu tun, aber seit ich an der Behnisch-Klinik Klinikchef bin und du die Pädiatrie leitest … Karriere zu machen hat eben seinen Preis.«

»Ja«, nickte Fee. »Das stimmt. Aber andererseits können wir jetzt noch viel mehr Menschen helfen. Und wenn auch unsere Freizeit knapper bemessen ist als früher, genießen wir sie deshalb umso mehr.«

»Ja, so ist es, Feelein. Da hast du vollkommen Recht«, stimmte Daniel zu und zog Fee liebevoll an sich.

»Diese Laura Stern … betreibt sie nicht ein Ballettstudio hier in München?«, fragte Fee nach einer Weile. »Ich entsinne mich inzwischen vage, dass sie damals bei einem ihrer Besuche an Claudias Krankenbett über dieses Studio gesprochen hat.«

»Ja, das hat sie«, pflichtete Daniel Fee bei. »Sie hat erzählt, dass sie in ihrer Jugend selbst eine Karriere als Primaballerina angestrebt hat, nach ihrer Heirat aber darauf verzichtet und stattdessen das Ballettstudio gegründet hat.«

»Dann hat Claudia ihre tänzerische Begabung und ihre Begeisterung für das Ballett wohl schon mit der Muttermilch aufgesogen«, vermutete Fee.

»Ja«, nickte Daniel. »Ich erinnere mich noch ganz genau, wie besessen Claudia vom Tanzen war. Sie war damals, als sie in der Behnisch-Klinik behandelt wurde, sehr traurig, weil sie befürchtete, ihrer Krankheit wegen das Balletttraining an den Nagel hängen zu müssen. Dass sie nun offenbar doch so bald schon so erfolgreich weitermachen konnte, freut mich sowohl für sie als auch für ihre Mutter. Laura Stern war ja schon damals unglaublich stolz darauf, dass Claudia in ihre Fußstapfen tritt.«

»Ja, das war sie in der Tat. Und ich kann sie sehr gut verstehen«, lächelte Fee. »Schließlich haben auch wir uns glücklich geschätzt, dass Danny den Arztberuf ergriffen und nach dem Studium deine Praxis übernommen hat. Und inzwischen freust du dich über deinen Neffen Alex, der, auch wenn er erst ganz am Anfang seines Studiums steht, zu den schönsten Hoffnungen berechtigt.«

»Das ist wahr«, bestätigte Daniel. »Wobei auch du Alex sehr ins Herz geschlossen hast, besonders in der Zeit, in der er noch hier bei uns gewohnt hat.«

»Er war ein angenehmer, zuverlässiger und loyaler Hausgenosse«, bestätigte Fee. »Und außerdem hat er ein Stück von der Zeit wieder zurückgebracht, in der wir noch als große Familie hier gelebt haben. Irgendwie ist mir ein bisschen, als wäre er unser vierter Sohn.«

»So fühlt es sich auch für mich an«, stimmte Daniel zu, während Fee sich sanft aus seiner Umarmung löste und aufstand.

»Ich hole uns jetzt noch von den Käsecrackern«, meinte sie. »Soll ich dir Wein nachschenken, Dan?«

»Ja, warum nicht?«, nickte Daniel.

Fee goss Daniel das Weinglas wieder voll, ging dann in die Küche und kam mit einem Teller voller Käsecracker zurück. »Was soll ich denn zu diesen Bregenzer Festspielen überhaupt anziehen?«, überlegte sie.

Daniel musste lachen. »Es gefällt mir immer wieder an dir, dass du trotz deiner großartigen Leistungen als Ärztin durch und durch Frau geblieben bist«, stellte er amüsiert fest.

Fee bedachte ihn mit einem vielsagenden Blick, während sie sich einen der Käsecracker in den Mund schob und kauend auch ihr Weinglas noch einmal füllte, um mit Daniel anzustoßen. »Auf einen wunderbaren Ballettabend und einen Kurzurlaub am Bodensee«, sagte sie. »Ich freue mich wirklich sehr darauf.«

»Ich ebenfalls«, meinte Daniel. »Und … und was dein Kleid für die Bregenzer Festspiele betrifft, würde ich das dunkelblaue mit den goldglitzernden Pailletten vorschlagen. Es betont deine perfekte Figur, und die Farbe passt wunderbar zu deinen Augen.«

*

»Du willst also wirklich nicht zur Premiere von ›Schwanensee‹ mitkommen, Markus?« Der Vorwurf in Lauras Stimme war nicht zu überhören, und ihre enttäuschte, gekränkte Miene sprach Bände.

»Immer wieder dieselbe unnütze Frage! Ich habe dir doch gerade gesagt, dass ich keine Zeit habe. Ich muss arbeiten, verdammt noch mal. Ich bin mit den vierteljährlichen Steuererklärungen zweier Mandanten bereits eine ganze Woche im Rückstand, und diesen Rückstand gilt es aufzuholen.«

Laura verdrehte die Augen. »Steuererklärungen! Wenn ich dieses kalte, langweilige Wort bloß höre! Und du kannst dir wirklich nicht einmal diesen einzigen Samstagabend freischaufeln, um deine Tochter bei ihrem ersten Festspielauftritt tanzen zu sehen?« Laura stieß mit einem verächtlichen Ton die Luft aus. »Das tut weh, Markus. Liegt dir denn gar nichts an Claudia? Bist du denn kein bisschen stolz auf all das, was sie seit ihrer schweren Erkrankung geleistet hat?«

Markus öffnete den Mund, um etwas zu sagen, entschloss sich aber im letzten Moment, lieber zu schweigen. Wem nützte es, wenn er schon wieder eine dieser endlosen »Ballettdiskussionen« vom Zaun brach, die ohnehin zu nichts führen würden?

Mit einem leisen Seufzer dachte er an die Zeit zurück, als er Laura kennengelernt hatte. Sie war damals auf dem besten Weg gewesen, eine erfolgreiche Ballerina zu werden. Als er zusammen mit Freunden eine Aufführung des Balletts der Münchner Staatsoper besucht hatte, hatte er sie zum ersten Mal tanzen sehen und war hingerissen gewesen von der Anmut, mit der sie über die Bühne geschwebt war. Ihre Eleganz und ihre fast schwerelos wirkende Leichtigkeit hatten ihn zutiefst fasziniert. Noch ganz im Bann dieses Eindrucks war er nach der Vorstellung hinter die Bühne in die Künstlergarderobe gegangen, um Laura seine Bewunderung auszudrücken … und hatte sich bis über beide Ohren in sie verliebt. Er hatte …

»Nur diesen einen Abend, Markus«, unterbrach Lauras Stimme seine Gedanken. »Schenk mir und vor allem Claudia nur diesen einen Abend, bitte! Du darfst auf keinen Fall versäumen, wie zauberhaft unsere Tochter in ihrem Schwanenkostüm aussieht! Und wie gut sie inzwischen den Spitzentanz beherrscht! Sie hat in den letzten Wochen so unglaublich hart trainiert, und du bist nicht einmal bereit, einen einzigen Abend für sie zu erübrigen?« Laura suchte Markus‘ Blick. »Du musst nicht mit zur Premierenfeier kommen, wenn du nicht willst. Du kannst meinetwegen sofort nach der Vorstellung zurück nach München fahren, dann bist du bis Mitternacht wieder zu Hause und kannst dich den ganzen Sonntag und die kommende Woche von früh bis spät in deinem Büro vergraben und dich mit deinen über alles geliebten Steuervorschriften und Zahlen herumschlagen. Das ist mir völlig egal. Nur …«

Der Rest des Satzes rauschte an Markus vorbei. Seine Gedanken kehrten bereits wieder zu der Zeit vor fast siebzehn Jahren zurück, zum Beginn seiner Beziehung mit Laura.

Er hätte Laura damals am liebsten in jeder freien Minute um sich gehabt, aber ein Date mit ihr zu ergattern, hatte sich als ziemlich schwierig erwiesen. Da waren die Ballettstunden gewesen und die nie enden wollenden Proben. Und natürlich die Aufführungen. Die wenigen freien Abende waren jedes Mal leider viel zu kurz gewesen, weil Laura am anderen Morgen bereits um sechs Uhr wieder hatte aufstehen müssen, um mit diversen Übungen ihre Muskeln zu lockern und sich fit für das vormittägliche Balletttraining zu machen.

Außerdem war da bei jedem Restaurantbesuch ihre strikte Alkoholabstinenz gewesen. Und ihre minimalistischen Essgewohnheiten, die eher zu einem Vögelchen gepasst hätten als zu einem erwachsenen Menschen.

Laura hatte sich nicht nur rar gemacht, sondern sie hatte sich extravagant wie ein Wesen aus einer anderen Welt dargestellt und sein Begehren damit ins fast Unermessliche gesteigert. Laura war für ihn zu einer regelrechten Obsession geworden.

»Ich weiß sehr wohl, dass dir an mir nichts mehr liegt, Markus«, vernahm er plötzlich Lauras vorwurfsvolle Worte. »Aber es ist nicht fair, wenn du unsere zerbrechende Beziehung Claudia ausbaden lässt. Sie kann schließlich nichts dafür, dass wir uns nicht mehr verstehen.«

Ein weiteres Mal schluckte Markus hinunter, was er eigentlich hätte sagen wollen.

Wenn es bei seinen und Lauras ständig wachsenden Beziehungsproblemen nicht in erster Linie um Claudia ging, um wen dann?

Markus wurde das Gefühl nicht los, dass Laura die gemeinsame Tochter immer unerbittlicher auf genau den Weg drängte, den sie selber gern gegangen wäre. Dass sie Claudia eine Art Stellvertreterrolle zuteilte, ohne nach Claudias wirklichen Wünschen und Bedürfnissen zu fragen. Und ohne ihr auch nur im Ansatz die Möglichkeit zu geben, diese zu äußern, denn dazu war Claudia aufgrund Lauras permanenter Indoktrinierung überhaupt nicht fähig. Claudias Wille und der Wille ihrer Mutter waren wie zwei exakt parallel ausgerichtete Geraden, die so eng nebeneinander verliefen, dass sie fast in eine verschmolzen. Einfach weil Lauras Linie die von Claudia wie mit magnetischer Anziehungskraft an sich ausrichtete und somit deren Verlauf bestimmte.

»Sogar die Nordens werden kommen«, redete Laura indessen weiter. »Ich habe sie eingeladen und ihnen VIP-Karten zugeschickt. Sie haben sich bedankt und bereits fest zugesagt. Glaubst du allen Ernstes, Markus, dass der Ärztliche Direktor einer großen, renommierten Münchner Klinik und eine Chefärztin weniger eingespannt sind als ein … Steuerberater?«

»Nein, natürlich nicht«, räumte Markus ein, obwohl ihm die Art, wie Laura das Wort »Steuerberater« ausgesprochen hatte, missfiel. »Es ist nur …«

Mit einem tiefen Atemzug gab er seinen Widerstand auf. Wobei ihm wieder einmal in aller Deutlichkeit vor Augen trat, wie schwer es war, sich gegen Laura und ihre besitzergreifende, manipulative Art durchzusetzen. Und wenn er als Lauras Mann es schon nicht schaffte, wie sollte dann Claudia auch nur den Hauch einer Chance haben?

Dabei hatte ihn Lauras starker, unbeugsamer Wille noch zu Beginn seiner Ehe sehr beeindruckt. Er hatte Laura für ihre Willenskraft bewundert, wahrscheinlich weil sie in einem so krassen Gegensatz zu ihrer leichtfüßigen, elfenhaft zarten Erscheinung auf der Bühne stand. Lauras Durchhaltevermögen und ihre eiserne Disziplin hatten ihm ein hohes Maß an Achtung abgerungen.

Selbst als Laura sich nach der Hochzeit ihm zuliebe bereit erklärt hatte, ihre Karriere als Primaballerina gegen das Dasein einer Tanzpädagogin mit eigenem Ballettstudio einzutauschen, war sie nach wie vor jeden Morgen pünktlich um sechs Uhr aufgestanden und hatte, noch vor dem Duschen und vor dem Frühstück, ihre Aufwärm- und Dehnübungen absolviert. Auch an Sonn- und Feiertagen und sogar im Urlaub. Selbst wenn sie erkältet oder sonst auf irgendeine Weise unpässlich gewesen war, hatte sie nicht auf ihre Pliés, Tendus und Developpés verzichtet, und nicht einmal während der ersten Monate ihrer Schwangerschaft hatte sie von ihren tänzerischen »Ritualen« abgelassen.

In den letzten Schwangerschaftswochen hatte Laura sich dann notgedrungen zurückgenommen, allerdings nur um kurze Zeit nach Claudias Geburt sofort wieder mit dem Training zu beginnen.

Langsam, aber sicher war ihm, Markus, das Ganze auf die Nerven gefallen, und er hatte sich gefragt, wo die Grenze zwischen positiver Willensstärke und der bloßen Unfähigkeit, Gewohnheiten loszulassen, verlief. Es hatte ihn mehr und mehr gestört, dass Laura nicht willens gewesen war, ihr altes Leben über Bord zu werfen und sich stattdessen unvoreingenommen und unbelastet auf ihre neuen Aufgaben einzulassen. Stattdessen hatte sie beides auf eine Art und Weise miteinander verflochten, die ihn mit den Jahren fremd und fremder angemutet hatte.

»Kommst du nun mit nach Bregenz oder nicht, Markus?«, insistierte in diesem Moment Laura und riss ihn mit ihrer Frage ein weiteres Mal aus seinen Gedanken. »Bist du bereit, deiner Tochter diese kleine Freude zu gönnen? Zumal sie ohnehin schon sehr bald unter unserer Trennung leiden wird, auch wenn sie davon im Moment noch nicht die geringste Ahnung hat?«

Markus zuckte resigniert die Schultern. »Also gut, ich werde zur Schwanensee-Premiere nach Bregenz fahren und mir Claudias Auftritt ansehen«, entschied er.