Unfall am See - Carolin Grahl - E-Book

Unfall am See E-Book

Carolin Grahl

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Beschreibung

Er kommt aus Gran Canaria und ist der Sohn von Dr. Daniel Nordens Cousin Michael und dessen spanischer Frau Sofia. Alexander kennt nur ein Ziel: Er will Arzt werden und in die riesigen Fußstapfen seines berühmten Onkels, des Chefarztes Dr. Daniel Norden, treten. Er will beweisen, welche Talente in ihm schlummern. Dr. Norden ist gern bereit, Alexanders Mentor zu sein, ihm zu helfen, ihn zu fördern. Alexander Norden ist ein charismatischer, unglaublich attraktiver junger Mann. Die Frauenherzen erobert er, manchmal auch unfreiwillig, im Sturm. Seine spannende Studentenzeit wird jede Leserin, jeden Leser begeistern! »Schalt Martinshorn und Blaulicht ein, Alex! Und dann nichts wie los!«, kommandierte Notarzt Dr. Rudolf. »Es geht um Leben und Tod! Jede Minute zählt!« Alex startete den Rettungswagen und drückte sofort kräftig aufs Gaspedal. Die Zentrale hatte den Notruf an ihn und an Dr. Rudolf weitergeleitet, weil der Standort ihres Rettungswagens dem Baggersee, der etwas außerhalb Münchens lag, am nächsten gewesen war. Dennoch hatten sie bis zu ihrem Ziel noch eine Fahrt von mindestens sieben oder acht Minuten vor sich. »Das ist jetzt schon der elfte Badeunfall, zu dem wir in diesem Sommer gerufen werden«, bemerkte Dr. Rudolf, während Alex rasant die Kurve nahm und auf die Hauptstraße Richtung Blumenau einbog. »Manchmal habe ich den Eindruck, dass die Leute von Jahr zu Jahr unvorsichtiger, um nicht zu sagen dümmer werden.« »Es liegt wohl eher daran, dass dieser Sommer besonders heiß ist«, gab Alex zu bedenken. Wie um seine Worte zu untermauern, nahm er für einen Moment seine rechte Hand vom Steuer und wischte sich mit einer raschen Bewegung die Schweißtropfen von der Stirn. »Nicht nur heiß, sondern affenheiß«, seufzte Dirk, der junge Sanitätsassistent. »Ein richtiger Höllensommer.«

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Seitenzahl: 139

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Der junge Norden – 58 –Unfall am See

Der kleine Rainer ist in großer Not

Carolin Grahl

»Schalt Martinshorn und Blaulicht ein, Alex! Und dann nichts wie los!«, kommandierte Notarzt Dr. Rudolf. »Es geht um Leben und Tod! Jede Minute zählt!«

Alex startete den Rettungswagen und drückte sofort kräftig aufs Gaspedal. Die Zentrale hatte den Notruf an ihn und an Dr. Rudolf weitergeleitet, weil der Standort ihres Rettungswagens dem Baggersee, der etwas außerhalb Münchens lag, am nächsten gewesen war. Dennoch hatten sie bis zu ihrem Ziel noch eine Fahrt von mindestens sieben oder acht Minuten vor sich.

»Das ist jetzt schon der elfte Badeunfall, zu dem wir in diesem Sommer gerufen werden«, bemerkte Dr. Rudolf, während Alex rasant die Kurve nahm und auf die Hauptstraße Richtung Blumenau einbog. »Manchmal habe ich den Eindruck, dass die Leute von Jahr zu Jahr unvorsichtiger, um nicht zu sagen dümmer werden.«

»Es liegt wohl eher daran, dass dieser Sommer besonders heiß ist«, gab Alex zu bedenken. Wie um seine Worte zu untermauern, nahm er für einen Moment seine rechte Hand vom Steuer und wischte sich mit einer raschen Bewegung die Schweißtropfen von der Stirn.

»Nicht nur heiß, sondern affenheiß«, seufzte Dirk, der junge Sanitätsassistent. »Ein richtiger Höllensommer.«

»Selbst affenheiß ist noch zu milde ausgedrückt«, brummte Dr. Rudolf und fächelte sich mit der Hand ein wenig Kühlung zu. »Vor allem, wenn man zurzeit der größten Mittagshitze in einem Rettungswagen sitzt, in dem die Klimaanlage nicht funktioniert. Dass das verdammte Ding heute schon wieder den Geist aufgegeben hat, hat uns gerade noch gefehlt.«

»Ja, das ist wirklich Pech«, meinte Alex und raste an ein paar Autos vorbei, die beim Klang des Martinshorns sofort vorschriftsmäßig an den äußersten rechten Rand der Straße gefahren waren.

»Los, leg noch ein bisschen zu, Alex«, verlangte Dr. Rudolf. »Der arme kleine Junge! Sicher hat er sich riesig auf ein bisschen Abkühlung am Baggersee gefreut, und dann kostet das Badevergnügen ihn möglicherweise das Leben! Das kommt dabei heraus, wenn eine Mutter nicht fähig ist, auf ihr Kind aufzupassen.«

»Kinder nahtlos zu beaufsichtigen, kann manchmal ziemlich schwierig und anstrengend sein. Sagt zumindest Sina, seit sie auf der Pädiatrie ihr Praktikum macht«, wandte Alex ein.

»Papperlapapp«, wischte Dr. Rudolf Alex‘ Einwand beiseite. »Wer mit einem Kind überfordert ist oder keine Lust hat, eines Kindes wegen jegliche persönliche Freiheit einzubüßen, sollte auf Nachwuchs verzichten. Das ist heutzutage schließlich kein Problem mehr. Xenia und ich haben jedenfalls beschlossen …«

»Xenia?«, hakte Alex spontan nach. »Habe ich da am Ende etwas verpasst?«

Der Sanitätsassistent, der dem Gespräch bisher schweigend und ziemlich desinteressiert zugehört hatte, grinste plötzlich von einem Ohr zum anderen, worauf Lars Rudolf ein ärgerliches Räuspern von sich gab, das fast wie ein Knurren klang.

»Du musst bei der nächsten Kreuzung rechts abbiegen, hat das Navi gesagt«, wandte er sich dann mit mahnender Stimme an Alex.

Alex zog die Augenbrauen hoch. »Ich weiß. Das Navi ist sehr deutlich zu hören. Im Gegensatz zur Klimaanlage ist es voll intakt«, gab er zurück und setzte den Blinker.

Wenig später brachte er den Rettungswagen in unmittelbarer Nähe des Baggersees zum Stehen.

Alex, Dr. Rudolf und der Rettungsassistent sprangen heraus und bahnten sich durch eine Traube von Schaulustigen ihren Weg zum Unfallort.

Auf einer auf dem Gras ausgebreiteten Decke lag ein mit einer hochroten Badehose bekleideter, schmächtiger Junge, der etwa sieben oder acht Jahre alt sein mochte. Er wurde von zwei Männern, die ebenfalls in Badekleidung waren, reanimiert. Der eine der Männer beatmete den Jungen, der andere versuchte sich an einer Herzdruckmassage.

Als Alex und Dr. Rudolf näherkamen, stellten die beiden Ersthelfer schwer atmend, aber sichtlich erleichtert ihre Bemühungen ein.

»Und?«, fragte Dr. Rudolf mit einem Blick auf den Jungen, der reglos und totenbleich auf der Decke lag. Nicht einmal ein Heben und Senken des Brustkorbs war zu erkennen.

»Nichts. Wir konnten nichts erreichen. Absolut gar nichts«, sagte der ältere der beiden Männer, wobei Tränen in seinen Augen schimmerten. »Der Junge war schon viel zu lange unter Wasser, als wir ihn entdeckt und ans Ufer gezogen haben. Ich fürchte, ohne Defibrillator hat das Kind keine Chance mehr. Gut, dass Sie so schnell gekommen sind und …«

»Es ist alles meine Schuld«, stieß in diesem Moment ein etwa vierzehnjähriges Mädchen hervor, das unmittelbar neben den beiden Ersthelfern stand. Das Gesicht der Teenagerin war tränenüberströmt, ihre Stimme klang fast wie ein Jaulen. Verzweifelt richtete sie ihre Blicke auf den jungen Mann, der tröstend seinen Arm um ihre Schultern gelegt hatte. »Ich hätte nicht mit dir weggehen dürfen, Klaus. Auch nicht für einen einzigen Moment. Egal, was du mir zeigen wolltest. Ich hatte Rainers Mama versprochen, auf ihren Jungen aufzupassen. Und ich … ich habe es nicht getan. Es ist alles meine Schuld. Wenn Rainer stirbt, bin ich …«

Dr. Rudolf schob die Jugendliche und ihren Freund brüsk zur Seite und kniete sich neben Rainer auf die Decke. Er fühlte den Puls des Jungen, zuerst am Handgelenk und dann an der Halsschlagader. Er legte seine Hand auf Rainers Brustkorb und hob sein Gesicht dicht über das des Jungen. Schließlich zuckte er resigniert die Schultern. »Ich fürchte, da ist nichts mehr zu machen«, sagte er leise, fast im Flüsterton.

Für einige Augenblicke herrschte bedrückende Stille.

Dann packte eine etwa dreißigjährige blonde Frau, die über ihrem blauen Bikini eine knallbunte Longbluse trug, Dr. Rudolf mit beiden Händen an den Schultern und schüttelte ihn. »Aber Sie müssen etwas machen. Sie müssen Rainer helfen. Deshalb hat man Sie gerufen«, stieß sie hervor. »Die Männer, die versucht haben, Rainer zu reanimieren … Einer von ihnen hat etwas von einem De-defillator gesagt. Wenn Sie als Notarzt so ein Ding haben, dann holen Sie es und setzen Sie es ein. Dafür ist das Gerät schließlich da.«

Dr. Rudolf zögerte einen Moment, dann schüttelte er den Kopf. »Einen Defibrillator einzusetzen, macht nur Sinn, wenn das Herz eines Patienten nur für ganz kurze Zeit stillgestanden ist. In diesem Fall hier muss ich jedoch davon ausgehen …«

»Sie wissen doch gar nicht, wann genau Rainers Herz ausgesetzt hat«, fiel die blonde Frau Dr. Rudolf ins Wort. »Also versuchen Sie es wenigstens. Lassen Sie mein Kind nicht sterben. Bitte, bitte, bitte, lassen Sie mein Kind nicht sterben.«

»Ja, Herr Doktor, Sie müssen es unbedingt versuchen«, bettelte nun auch das junge Mädchen. »Oder wollen Sie, dass ich für mein ganzes restliches Leben eine Mörderin bin? Wenn Sie Rainer nicht wieder gesund machen können, dann will ich auch nicht mehr leben. Dann …« Der Rest des Satzes erstickte in einem herzzerreißenden Schluchzen.

Lars Rudolf schickte einen hilfesuchenden Blick in Alex‘ Richtung.

»Wenn wir den Defibrillator einsetzen«, sprang Alex dem Notarzt bei, »ist es zwar möglich, dass das Herz des Jungen wieder anfängt zu schlagen, aber da sein Gehirn schon viel zu lange ohne Sauerstoff war, ist es vermutlich bereits irreparabel geschädigt. Es ist also sehr wahrscheinlich, dass der Junge für den Rest seines Lebens an Apparate angeschlossen …«

»Möglich, vermutlich, wahrscheinlich«, fuhr die Mutter des Jungen Alex in die Parade. »Das heißt, Sie haben im Grunde keine Ahnung, was wirklich passieren wird. Nur weil vielleicht etwas schief gehen könnte, versuchen Sie es nicht einmal. Das ist erbärmlich. Das grenzt schon fast an unterlassene Hilfeleistung. Das können Sie nicht machen.«

»Ich finde, wir sollten den Defi holen, Alex«, mischte sich nun Dirk, der Rettungsassistent ein. »Bitte, Dr. Rudolf, versuchen Sie es doch einfach. Vielleicht geschieht ein Wunder.«

Dr. Rudolf warf Dirk einen vernichtenden Blick zu, während sich aus der herumstehenden Menschengruppe immer mehr Stimmen erhoben, die Dirk beipflichteten: »Versuchen Sie es doch, Herr Doktor! Sie müssen es versuchen! Ein Arzt hat die Aufgabe, Leben zu retten! Verlieren Sie durch Ihr Zögern doch nicht noch mehr kostbare Zeit!«

Angesichts dieser Übermacht sank Lars Rudolfs Widerstand in sich zusammen. »Also gut. Holt den Defi. Und eine Trage«, ordnete er an.

»Na, endlich. Das wurde aber auch allerhöchste Zeit«, meldete sich aus dem Hintergrund eine Männerstimme, die sofort breite Zustimmung von allen Seiten erfuhr.

Alex und Dirk eilten währenddessen im Laufschritt zum Rettungswagen.

»Habe ich jetzt Mist gebaut, oder war das okay?«, fragte Dirk, als sie ihr Ziel erreicht hatten und Alex den Defibrillator aus dem Wageninneren hob. »Gerade du sagst doch immer, dass es das Schönste an unserem Beruf ist, dass wir Leben retten können. Warum also wollte Dr. Rudolf nicht wirklich etwas für den armen Jungen tun? Man muss doch immer alle Mittel ausschöpfen, die es gibt.«

»Die allgemeine Fragestunde findet erst nach Dienstschluss statt«, gab Alex ziemlich gestresst zurück. »Und jetzt sieh zu, dass du endlich die Trage holst.«

In Windeseile waren Alex und der Sanitätsassistent zurück am Unfallort.

Alex reichte Dr. Rudolf den Defibrillator, wobei Dr. Rudolf ein ziemlich säuerliches Gesicht machte.

»Bitte wegtreten! Bitte treten Sie zurück!«, forderte er die Umstehenden auf, als er dem Jungen den Defibrillator auf die Brust setzte. Vor allem Rainers Mutter und das Mädchen, das auf Rainer hätte aufpassen sollen, folgten der Anweisung allerdings nur sehr zögerlich, sodass Alex mit sanfter Gewalt nachhelfen musste.

Endlich konnte Lars Rudolf beginnen. »Vorsicht!«, mahnte er noch einmal mit einem warnenden Blick in die Runde, zählte »drei, zwei, eins« wie bei einem Countdown und löste dann den Elektroschock aus.

Der Körper des Jungen wurde heftig geschüttelt, aber der Erfolg der Behandlung blieb aus.

Alex und Dr. Rudolf tauschten fragende Blicke.

»Ich versuche es noch einmal«, entschied Dr. Rudolf. Mit äußerst konzentrierter Miene wiederholte er das ganze Prozedere, allerdings auch diesmal vergebens.

»Sie sehen selbst, dass ich nichts ausrichten kann«, wandte er sich schließlich an Rainers Mutter. »Tut mir wirklich leid.«

Die blonde Frau schluckte und schien einen Moment lang nachzudenken, ehe sie einen Entschluss fasste. »Aller guten Dinge sind drei. Bitte versuchen Sie es noch ein letztes Mal«, forderte sie Dr. Rudolf schließlich auf.

Lars Rudolf wollte widersprechen, sagte sich dann aber, dass es im Grunde keinen Unterschied machte, ob er dieser bedauernswerten Frau ihren Wunsch erfüllte oder nicht. »Gut, ich versuche es«, nickte er schließlich und setzte den Defibrillator erneut an. »Drei, zwei, eins …«

»Rainer atmet. Sehen Sie doch: Rainer atmet. Sein Herz schlägt wieder. Er lebt! Mein Kind lebt!«, rief Rainers Mutter wenige Sekunden später aus, als sie sah, dass das Leben wieder in den Körper ihres Kindes zurückkehrte. Dann schlug sie ihre Hände vor ihr Gesicht und begann haltlos zu weinen.

Dr. Rudolf und Alex trauten ihren Augen kaum.

Alex hatte das Gefühl, soeben Zeuge des von Dirk erhofften Wunders geworden zu sein, und war fürs Erste völlig sprachlos. Er brauchte eine geraume Weile, um sich wieder zu fassen. »Komm Dirk, wir legen den Jungen auf die Trage und bringen ihn zum Rettungswagen. Er muss auf dem schnellsten Weg in die Behnisch-Klinik«, wandte er sich schließlich an den Rettungsassistenten.

Rainers Mutter, die Alex‘ Worte gehört hatte, nahm ihre Hände von ihrem tränennassen Gesicht. »Wohin bringen Sie Rainer? Wie heißt die Klinik?«, fragte sie.

»Behnisch-Klinik«, antwortete Alex. »Sie können sicher sein, dass Ihr Sohn dort in den besten Händen ist.«

»Ja, natürlich«, nickte Rainers Mutter. Sie schaute ein wenig hilflos an sich herunter. »Kann ich mitkommen? Darf ich meinen Sohn begleiten? Ich … bin übrigens Sara Kastner. Ich bin Lehrerin an der Waldorf-Schule in München-Freimann.« Wieder warf sie einen Blick auf ihr für eine Klinik ziemlich unpassendes Outfit. »Ich kann aber natürlich auch mit dem Auto nachkommen. Dann könnte ich mich vorher noch rasch umziehen.«

»Wie Sie meinen«, entgegnete Dr. Rudolf. »Wir müssen allerdings jetzt sofort losfahren. Je rascher Ihr Sohn in die Behnisch-Klinik und somit in stationäre ärztliche Behandlung kommt, desto bessere Chancen hat er, seinen Badeunfall möglichst ohne allzu große Schäden zu überstehen.«

»Ja, natürlich«, stimmte Sara zu. »Ich fahre dann so schnell wie möglich mit meinem eigenen Auto ebenfalls zur Behnisch-Klinik.«

»Gut«, nickte Dr. Rudolf schon im Gehen. Mit raschen Schritten folgte er Alex und Dirk, die sich bereits daranmachten, Rainer auf seiner Trage in den Sanitätswagen zu heben.

*

»Es ist etwas Schreckliches passiert, Helmut. Etwas absolut Furchtbares«, keuchte Sara Kastner, ihr Handy dicht an ihr Ohr gepresst.

Am anderen Ende der Leitung herrschte eine Weile Schweigen, nur hin und wieder unterbrochen vom Klackern einer Computertastatur.

»Helmut? Bist du noch da? Helmut?« Saras Stimme überschlug sich fast vor Aufregung.

»Natürlich bin ich noch da. Bitte entschuldige, Liebes. Ich musste nur noch rasch den Kundendienst-Termin für Herrn Berger im Computer festhalten«, antwortete Helmut Kastner. »Tut mir leid, aber jetzt bin ich ganz Ohr. Was ist denn geschehen, mein Schatz?«

»Ach, Helmut! Ich weiß gar nicht, wie ich es dir sagen soll. Und wo ich anfangen soll. Es … es ist so schlimm, so entsetzlich!«

»Beruhige dich, Liebes. Fang einfach ganz von vorne an«, versuchte Helmut, die Aufregung seiner Frau zu dämpfen.

»Also gut. Ganz von vorne«, stimmte Sara zu. »Es … es gab hitzefrei. Schon nach der vierten Stunde, weil das Thermometer 27 Grad im Schatten angezeigt hat. Ich bin mit Rainer nach Hause gefahren und habe unsere Badesachen ins Auto gepackt, um gemeinsam mit ihm an den Baggersee gefahren. Eigentlich wäre mir der Ammersee lieber gewesen, aber die lange Fahrt bei der Hitze …« Sara musste Luft holen. »Kim, die Tochter unserer Nachbarin, habe ich auch mitgenommen. Wir haben uns alle drei wahnsinnig auf die Abkühlung und auf den Nachmittag am Wasser gefreut. Rainer hat natürlich darauf bestanden, den neuen Schwimmreifen mitzunehmen, den du ihm zu seinem siebten Geburtstag geschenkt hast. Den lila Reifen mit dem regenbogenfarbenen Einhornkopf liebt er über alles.«

Sara verstummte und atmete schwer.

Allmählich war es an der Zeit, zur Sache zu kommen. Aber wie in aller Welt sollte sie ihrem Mann sagen …

»Zumindest bis jetzt hört sich die Geschichte aber gar nicht schrecklich an. Und auch nicht absolut furchtbar«, lachte Helmut. »Wann kommt denn jetzt endlich der Höhepunkt mit dem angekündigten Drama?«

Helmuts Stimme klang so fröhlich und unbeschwert, dass sich Sara fast der Magen umdrehte. Ihr Mann schien sich nicht im Entferntesten vorstellen zu können, was sich gerade am Baggersee ereignet hatte.

»Ich weiß einfach nicht, wie ich es dir sagen soll. Ich … ich weiß es wirklich nicht«, stotterte Sara. »Es ist nicht meine Schuld, Helmut. Das musst du mir glauben. Ich konnte doch nicht ahnen, dass … Und eigentlich kann auch die arme Kim nicht wirklich etwas dafür. Schließlich ist sie selber noch ein halbes Kind.«

Langsam, aber sicher wurde Helmut Kastner nervös, zumal mittlerweile bereits zwei Kunden ziemlich ungeduldig darauf warteten, ihr repariertes Auto abzuholen, und gleichzeitig der Abschleppdienst ein ziemlich demoliertes Unfallauto ablud, dessen Besitzer händeringend das Büro des Autohauses Kastner stürmte. Hilfesuchend sah Helmut sich nach der Sekretärin um, die jedoch gerade telefonisch in ein Kundengespräch verwickelt war.

»Und was ist jetzt eigentlich passiert?«, drängte er Sara. »Habt ihr einen Unfall mit Totalschaden gebaut? Hast du deine Geldbörse mit sämtlichen Kreditkarten verloren? Seid ihr bestohlen oder belästigt worden?«

»Nein, nichts von all dem. Es ist viel schlimmer. Viel, viel schlimmer.« Mit einem Mal kamen Sara wieder die Tränen. »Es ist so schlimm, dass du es dir mit Sicherheit nicht ausmalen kannst. Nicht einmal annähernd.«

Allmählich wurde Helmut doch ein wenig mulmig zumute. »Nun sag schon«, forderte er Sara auf. »Spann mich doch nicht dermaßen auf die Folter.«

»Rainer«, brach es schließlich aus Sara heraus. »Rainer … er wäre um ein Haar ertrunken. Es hätte nicht viel gefehlt, und er wäre jetzt tot.«

»Was?« Helmuts Stimme war plötzlich so laut, dass Sara erschrocken zusammenzuckte. Sie brauchte eine Weile, um sich zu erholen und ihre Sprache wiederzufinden.

»Ich … Rainer … Er muss irgendwie aus diesem Einhorn-Schwimmreifen gerutscht und abgetaucht sein«, schniefte sie. »Und offenbar hat er es nicht geschafft, wieder hochzukommen.«

»Er muss irgendwie. Und offenbar«, echote Helmut Kastner. Er hörte sich mit einem Mal beinahe panisch an. »Was sollen diese Vermutungen? Du musst doch gesehen haben, wie es passiert ist, Sara. Und warum hast du Rainer nicht sofort aufgefangen und emporgezogen?«

Sara fühlte, wie ihr abwechselnd heiß und kalt wurde. »Weil ich … weil ich nicht dabei war, als Rainer aus dem Reifen gerutscht ist.«

»Was soll das heißen? Wo in aller Welt bist du gewesen? Auf der Toilette, weil dir übel geworden ist?«

Sara schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie, als ihr klar wurde, dass Helmut ihre Kopfbewegung nicht sehen konnte. »Ich … ich war am Kiosk. Ich wollte für uns drei, also für mich, Rainer und Kim, Hamburger holen. Und Pommes. Und etwas zum Trinken. Es war Mittagszeit, und wir hatten Hunger und Durst.«

»Du bist zum Kiosk gegangen und hast Rainer alleine zurückgelassen? Wie konntest du das tun? Bist du verrückt geworden?«, ereiferte sich Helmut. »Du kannst doch ein Kind, das gerade einmal sieben Jahre alt ist, nicht einfach mir nichts, dir nichts am Baggersee sich selbst überlassen!«