Vergessen! - Carolin Grahl - E-Book

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Carolin Grahl

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Beschreibung

Er kommt aus Gran Canaria und ist der Sohn von Dr. Daniel Nordens Cousin Michael und dessen spanischer Frau Sofia. Alexander kennt nur ein Ziel: Er will Arzt werden und in die riesigen Fußstapfen seines berühmten Onkels, des Chefarztes Dr. Daniel Norden, treten. Er will beweisen, welche Talente in ihm schlummern. Dr. Norden ist gern bereit, Alexanders Mentor zu sein, ihm zu helfen, ihn zu fördern. Alexander Norden ist ein charismatischer, unglaublich attraktiver junger Mann. Die Frauenherzen erobert er, manchmal auch unfreiwillig, im Sturm. Seine spannende Studentenzeit wird jede Leserin, jeden Leser begeistern! 1-1-2 … Mit zitternden Fingern wählte der junge Mann die Notrufnummer und schaute dann unsicher auf das Display seines Handys. Hätte er lieber die 110, die Nummer der Polizei, anrufen sollen? Aber wenn jemand ernsthaft verletzt war, brauchte man in erster Linie einen Krankenwagen. Endlich kam die Verbindung zustande. »Hier Bertram Welser«, keuchte der junge Mann. »Es hat einen Überfall gegeben. Auf eine junge Frau. Der Täter hat sie zu Boden gestoßen und ist dann geflüchtet. Keine Ahnung, wohin. Die junge Frau ist auf den Hinterkopf gestürzt. Um ihren Kopf bildet sich eine Blutlache. Und sie … sie ist bewusstlos.« »Okay. Wo befinden Sie sich, Herr Welser?« »Ich bin hier, bei der jungen Frau.« »In welchem Stadtviertel sind Sie? In welcher Straße? Vielleicht eine Hausnummer in unmittelbarer Nähe?«, kam es ungeduldig vom anderen Ende der Leitung.

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Seitenzahl: 136

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Der junge Norden – 57 –Vergessen!

Larissa hat es ganz schlimm erwischt

Carolin Grahl

1-1-2 … Mit zitternden Fingern wählte der junge Mann die Notrufnummer und schaute dann unsicher auf das Display seines Handys. Hätte er lieber die 110, die Nummer der Polizei, anrufen sollen? Aber wenn jemand ernsthaft verletzt war, brauchte man in erster Linie einen Krankenwagen. Auch wenn es sich um ein Verbrechen …

Endlich kam die Verbindung zustande. »Hier Bertram Welser«, keuchte der junge Mann. »Es hat einen Überfall gegeben. Auf eine junge Frau. Der Täter hat sie zu Boden gestoßen und ist dann geflüchtet. Keine Ahnung, wohin. Die junge Frau ist auf den Hinterkopf gestürzt. Um ihren Kopf bildet sich eine Blutlache. Und sie … sie ist bewusstlos.«

»Okay. Wo befinden Sie sich, Herr Welser?«

»Ich bin hier, bei der jungen Frau.«

»In welchem Stadtviertel sind Sie? In welcher Straße? Vielleicht eine Hausnummer in unmittelbarer Nähe?«, kam es ungeduldig vom anderen Ende der Leitung.

Verwirrt sah Bertram sich um. »Ich … ich bin in der Nähe der U-Bahn-Station ›Münchner Freiheit‹. Ich bin an der Stelle, an der der Überfall passiert ist. Die Straße … einen Moment bitte, ich … Hesseloher Straße, Ecke Marktstraße. Da ist ein Lokal ganz in der Nähe. Es heißt … ›Grünes Eck zum Bartel‹. Aber es ist schon geschlossen. Wahrscheinlich seit Mitternacht.«

»Hesseloher Straße, Ecke Marktstraße. Grünes Eck zum Bartel. Gut, der Krankenwagen kommt sofort.«

Mit einem erleichterten Seufzer steckte Bertram sein Handy zurück in die Gesäßtasche seiner Jeans, dann kauerte er sich neben die junge Frau.

Ihr Gesicht war totenblass, ihre Augen geschlossen. Ihre langen blonden Locken ergossen sich über den Asphalt und färbten sich rot von dem Blut, das von ihrem Hinterkopf ausströmte. Für einen Moment musste Bertram sich abwenden, weil er Übelkeit in sich aufsteigen fühlte. Als er sich wieder gefasst hatte, ließ er seinen Blick über den schlanken, fast zierlichen Körper der jungen Frau gleiten. Sie trug einen bodenlangen weißen Rock mit einem Rosenmuster, ein weißes T-Shirt und weiße Turnschuhe.

Bertram hielt Ausschau nach einer Handtasche.

Als er nichts fand, ging er davon aus, dass der Verbrecher sie der jungen Frau entrissen hatte. Sicher war Bertram sich jedoch keineswegs. Es war alles so schnell gegangen. Das Einzige, das er bewusst wahrgenommen hatte, war die blitzende Klinge des Messers gewesen, das der Täter in seiner Hand gehalten hatte. Seinem ersten Impuls folgend hatte Bertram sich auf ihn gestürzt, um ihn zu entwaffnen …

Das Martinshorn und das blinkende Blaulicht des Rettungswagens rissen Bertram aus seinen Gedanken.

Gottlob, endlich kam Hilfe!

Der Brustkorb der jungen Frau hob und senkte sich inzwischen so flach, als könnte jeder Atemzug ihr letzter sein. Unwillkürlich griff Bertram nach ihrem Handgelenk, um den Puls zu fühlen, konnte aber nichts spüren.

Ob das Leben der jungen Frau überhaupt noch zu retten war?

»Bitte, lieber Gott, lass sie nicht sterben«, flüsterte Bertram das erste Gebet seit seiner Kinderzeit.

»Hallo, hier sind wir. Ich bin Notarzt Dr. Rudolf und das ist Rettungssanitäter Alex«, vernahm Bertram in diesem Augenblick hinter sich eine Stimme. Verblüfft, weil er das Anhalten des Rettungswagens und das Öffnen der Türen nicht gehört hatte, wandte Bertram sich um und schaute Dr. Rudolf mit fragenden Augen an.

Der Notarzt schob ihn unwirsch beiseite und beugte sich über die junge Frau, um sie zu untersuchen.

»Ein Sturz auf den Hinterkopf, hat man uns mitgeteilt. Könnte es auch ein Schlag auf den Hinterkopf gewesen sein?«

»Nein«, erklärte Bertram sofort. »Der Täter hat die junge Frau mit einem Messer bedroht. Ich versuchte, ihm – es war ein südländisch aussehender, dunkelhaariger Mann – das Messer zu entwinden, hatte aber kein Glück. Der Mann hat sich stattdessen auf mich gestürzt und dabei sein Opfer zu Boden gestoßen.«

»Es ist Ihnen aber trotzdem gelungen, den Angreifer in die Flucht zu schlagen«, fasste Alex anerkennend zusammen.

Bertram zuckte die Schultern. »Als ich mich wieder zu der jungen Frau zurückgewandt habe, um mich um sie zu kümmern, ist sie bereits genauso auf dem Trottoir gelegen wie jetzt. Sie war bewusstlos. Und es kam immer mehr Blut.«

»Das Blut kommt aus einer Platzwunde am Hinterkopf«, stellte Dr. Rudolf klar. »Die Wunde muss genäht werden, ist aber, vom Blutverlust einmal abgesehen, nicht weiter schlimm. Was mir Sorge macht, ist die tiefe Bewusstlosigkeit, die auf ein schweres Schädel-Hirn-Trauma oder sogar auf einen Schädelbasisbruch hinweist. Und natürlich ist eine Verletzung der Wirbelsäule ebenfalls nicht auszuschließen.« Er wandte sich an Alex. »Die Patientin muss auf alle Fälle in einer Schale transportiert werden.«

Alex nickte.

»Wohin bringen Sie sie?«, fragte Bertram. »Was geschieht jetzt mit ihr?«

»Wir bringen sie in die Behnisch-Klinik«, erwiderte Alex. »Dort werden weitere Untersuchungen gemacht, vor allem eine CT und eine MRT. Wenn die Ergebnisse dieser Untersuchungen vorliegen, können die Ärzte über die weitere Behandlung entscheiden.«

»Wird sie … wird sie durchkommen?«, fragte Bertram.

»Das nehmen wir auf alle Fälle an«, versuchte Alex Bertram zu trösten, als er in dessen verstörtes, zutiefst besorgtes Gesicht sah.

»Das wissen wir nicht«, antwortete Dr. Rudolf gleichzeitig und bedachte Alex mit einem tadelnden Blick.

Bertram zuckte unwillkürlich zusammen und ließ resigniert die Schultern sinken.

»Kennen Sie die junge Frau?«, erkundigte sich Alex.

»Nein, ich habe sie heute zum ersten Mal gesehen. Ich habe keinen blassen Schimmer, wer sie ist«, gab Bertram zurück.

»Sie hat leider auch nichts bei sich, das es uns ermöglichen würde, sie zu identifizieren«, erklärte Dr. Rudolf. »Aber das ist Sache der Polizei. Wir bringen die Patientin jetzt jedenfalls auf dem schnellsten Weg ins Krankenhaus.«

»Kann ich … kann ich mitkommen?«, fragte Bertram beinahe schüchtern.

»Wenn Sie kein Angehöriger sind, kann ich es leider nicht erlauben«, antwortete Lars Rudolf. »Außerdem sind Sie Tatzeuge und sollten besser auf die Polizei warten, die bestimmt jeden Augenblick hier sein wird.«

Bertram sank noch mehr in sich zusammen. Er stand wie ein Häuflein Elend da, während Alex und Dr. Rudolf die junge Frau vorsichtig auf eine Bahre legten und dann in den Rettungswagen hoben.

Alex wollte sich gerade hinters Steuer setzen, als er sich, einer plötzlichen Eingebung folgend, zu Bertram zurückwandte, um ihm wenigstens noch einmal aufmunternd zuzunicken. In diesem Moment entdeckte er den Blutfleck auf dem rechten Ärmel von Bertrams khakifarbenem Sweater. »Ist das Blut von der jungen Frau? Oder hat der Täter Sie ebenfalls verletzt?«, fragte er mit einem Blick auf den Blutfleck.

Bertram folgte Alex‘ Blick. Erst jetzt fiel auch ihm der Blutfleck auf. Als er ihn vorsichtig mit der linken Hand berührte, zuckte er mit einem Schmerzenslaut zurück. »Der blöde Kerl muss mich erwischt haben«, sagte er. »So ein Mist.«

Alex überlegte blitzschnell. »Kommen Sie. Steigen Sie ein«, sagte er. »Wir dürfen um der jungen Frau willen keine Zeit verlieren, aber Ihre Verletzung sollte ebenfalls ärztlich versorgt werden. In der Notaufnahme der Behnisch-Klinik wird sich ein Arzt die Wunde ansehen. Ich verständige inzwischen die Polizei und sage den Beamten, dass Sie sich morgen auf dem Revier melden werden, um Ihre Aussage zu machen.«

Zögernd trat Bertram näher und nahm schließlich auf dem Beifahrersitz neben Alex Platz. »Danke«, sagte er, während Alex bereits Martinshorn und Blaulicht einschaltete und mit Vollgas in Richtung Behnisch-Klinik raste.

Zehn Minuten später saß Bertram Welser in der Behnisch-Klinik im Wartezimmer der Notaufnahme und starrte auf den Blutfleck auf dem Ärmel seines Sweaters. Es kam ihm fast so vor, als wäre der Blutfleck größer geworden, zumal auch die Schmerzen sich zusehends steigerten.

Trotzdem drifteten Bertrams Gedanken rasch wieder ab zu der jungen Frau, die er versucht hatte zu retten.

Sie war im Schockraum, wo sie ein weiteres Mal untersucht wurde, wurde jedoch schon nach kurzer Zeit wieder herausgefahren und auf ihrer fahrbaren Trage in einen Lift geschoben. Noch immer lag sie regungslos und ohne Bewusstsein da. Aus einer Infusionsflasche tröpfelte eine durchsichtige Flüssigkeit in ihre linke Handvene.

Bertram vermutete, dass die blondlockige junge Frau nun zu der CT gebracht wurde, von der der Notarzt gesprochen hatte. Oder zur MRT. Bang fragte er sich, was wohl das Ergebnis der Untersuchungen sein würde, und wunderte sich gleichzeitig über seine Besorgnis.

Woher kam seine Anteilnahme am Schicksal der jungen Frau? Weshalb berührte ihr Leiden sein Herz so sehr? Warum machte ihm die Gefahr, in der sie schwebte, derart Angst? Immerhin war die junge Frau ihm doch völlig fremd. Oder hatten sein Einschreiten und sein Versuch, sie vor dem Messertäter zu retten, eine Art Schicksalsgemeinschaft zwischen ihm und ihr geschaffen? War das eine Erklärung für das seltsame Zusammengehörigkeitsgefühl, das er der blonden jungen Frau gegenüber empfand?

Bertram hörte erst auf, über diese Fragen nachzugrübeln, als Dr. Ganschow ihn in den Schockraum rief, um sich die Stichwunde an seinem Arm anzusehen. Der Arzt machte nach dem Untersuchen der Wunde ein ernstes Gesicht und ordnete eine Röntgenaufnahme an. Zum Glück stellte sich jedoch heraus, dass weder die Arterie des rechten Arms noch der Knochen in Mitleidenschaft gezogen waren, sodass Bertram eine halbe Stunde später - den verletzten Arm sorgfältig verbunden in einer Schlinge tragend – die Behnisch-Klinik wieder verlassen konnte.

Da er zu müde war, um seinen Nachhauseweg zu Fuß fortzusetzen, beschloss er, sich ein Taxi zu rufen. Ungeschickt tippte er mit der linken Hand auf die Nummer eines Taxiunternehmens, die er in seinen Kontakten abgespeichert hatte.

Dann lief er unruhig vor der Behnisch-Klinik auf und ab, bis endlich das Taxi auftauchte. »Und wohin soll ich Sie bringen?«, fragte der Taxifahrer, ein stämmiger Mann in mittleren Jahren. Es gelang ihm nicht, ein kräftiges und ziemlich lautstarkes Gähnen zu unterdrücken.

»Giselastraße 12«, antwortete Bertram, während er sich in den Beifahrersitz sinken ließ und mühsam mit der linken Hand die Wagentür zuzog.

»Giselastraße 12?«, wiederholte der Taxifahrer erstaunt. Mit einem Schlag war seine Schläfrigkeit wie weggeblasen. »Ist das nicht die Adresse des Fotostudios Welser und der dazugehörigen Fotogalerie?«

»Ja, das stimmt«, antwortete Bertram einsilbig. Erschöpft wie er war, hatte er keine Lust, sich auf ein Gespräch einzulassen.

»Sind Sie etwa der Betreiber des Fotostudios? Sind Sie der Fotograf Bertram Welser?«, bohrte der Taxifahrer dessen ungeachtet weiter.

»Ja, der bin ich«, antwortete Bertram.

»Wow!«, entfuhr es dem Taxifahrer. »Ich wohne ganz in der Nähe Ihres Studios und sehe mir Ihre Fotos oft im Schaufenster der Galerie an. Sie sind ganz große Klasse. Sowohl die Tiere als auch die Landschaften. Porträtfotos machen Sie wohl eher nicht, oder?«

»Bis jetzt habe ich in der Tat kaum Porträtfotos gemacht. Eigentlich überhaupt kaum Fotos von Menschen. Aber was nicht ist, kann ja noch werden. Sagt man zumindest.«

»Stimmt«, meinte der Taxifahrer. Er nahm für einen Moment seine linke Hand vom Lenkrad und strich sich sein Oberlippenbärtchen glatt. »Sollten Sie sich irgendwann dazu durchringen, Porträtfotos in Ihr Programm aufzunehmen, wäre es mir eine Ehre, einer Ihrer ersten Kunden zu sein. Aber Hunde sind auch nicht schlecht. Ich habe mir ohnehin überlegt, meiner Lebensgefährtin zu ihrem vierzigsten Geburtstag anstelle eines schönen, gerahmten Fotos von mir ein Foto ihres heißgeliebten Cockerspaniels Sir Winston zu schenken. Wäre das ein Auftrag für Sie? Ein Auftrag, den Sie gerne annehmen würden?«

Bertram seufzte. »Im Prinzip ja«, meinte er. »Falls der Geburtstag Ihrer Lebensgefährtin allerdings schon sehr bald ist, muss ich leider passen.« Demonstrativ zeige Bertram auf seinen verbundenen rechten Arm.

»Oh, Sie sind gestürzt. Das tut mir leid«, sagte der Taxifahrer. »Und nein, Amelies Geburtstag ist erst in zwei Monaten. Bis dahin sind Sie mit Sicherheit längst wieder fit.«

»Das hoffe ich doch sehr«, erwiderte Bertram düster. Unwillkürlich griff er mit seiner linken Hand in die Seitentasche seiner Jeans, wo er den Blister mit den Schmerztabletten verstaut hatte, die Dr. Ganschow ihm für die Nacht mitgegeben hatte. Die Schmerzen in seinem verletzten Arm waren inzwischen so schlimm, dass er sich nur noch danach sehnte, die glänzenden weißen Pillen einzuwerfen und dann hoffentlich Ruhe und ein Quäntchen Schlaf zu finden.

*

»Ich fürchte, Sie müssen sich noch ein wenig gedulden, Frau Bromberg«, seufzte die Vorzimmerdame. »Auch wenn es Ihnen schwerfällt.«

Angesichts der Hartnäckigkeit, die Pia Bromberg wieder einmal an den Tag legte, hätte die Vorzimmerdame am liebsten die Augen verdreht, wagte es aber selbstverständlich nicht. So sehr ihr Chef, der renommierte Münchner Rechtsanwalt Dr. Walter Bromberg, es hasste, während eines Gesprächs mit einem Mandanten gestört zu werden, so wenig würde er ihr eine Unhöflichkeit seiner geliebten Gattin gegenüber verzeihen.

»Ich kann mich aber nicht mehr gedulden«, kam es prompt von Pia Bromberg. »Und das hat nichts mit meinem Ego zu tun, sondern schlicht und ergreifend mit der Natur der Sache. Meine Angelegenheit ist von höchster Dringlichkeit.«

Die Vorzimmerdame versuchte, langsam und gleichmäßig zu atmen. In dem Meditationskurs, den sie seit drei Wochen besuchte, hatte sie gelernt, dass bewusstes Atmen ein nicht zu unterschätzender Beitrag zur Beruhigung angespannter Nerven war, aber sie beherrschte die Technik noch längst nicht perfekt, und die Wirkung ließ dementsprechend zu wünschen übrig.

»Das … das ziehe ich selbstverständlich in keinster Weise in Zweifel, Frau Bromberg«, antwortete sie schließlich, »doch …«

Sie verstummte abrupt, als die Tür zu Walter Brombergs Büro aufging, und ihr Chef seinen Mandanten, einen millionenschweren Investmentbanker, persönlich hinausbegleitete.

Walters Blick fiel auf Pia, die sofort aufsprang. »Walter, endlich!«, entfuhr es ihr, während sie auf ihren Mann zustürzte und ihre sorgfältig manikürten und lackierten Fingernägel in den Ärmel seines maßgeschneiderten dunkelblauen Anzugs krallte. »Ich muss dich unbedingt sprechen. Ich bin in einer solchen Unruhe, ich …«

Walter nickte seinem Mandanten noch einmal kurz zu und konzentrierte sich dann voll auf Pia. »Was gibt es denn, mein Schatz?«, erkundigte er sich mit liebevoller Freundlichkeit, während er seine Frau an der Vorzimmerdame vorbei in sein Büro bugsierte.

Trotz der Panik, die auf Pias Zügen lag, blieb Walter entspannt. Er kannte Pia erfahrungsgemäß als das, was man gemeinhin eine Dramaqueen nannte, und war sich sicher, dass es sich bei dem, was ihr im Moment als der Super-GAU schlechthin erschien, lediglich um eine harmlose Auseinandersetzung mit der Zugehfrau oder dem Gärtner handelte.

»Was ist los, mein Schatz?«, wiederholte er seine Frage, nahm auf dem eleganten Ledersofa neben der Bücherwand Platz und zog Pia sanft, aber bestimmt neben sich.

Ihr Blick fiel vom Sofa aus direkt auf Walters hochglanzpolierten Schreibtisch, und wieder einmal stellte sie gerührt fest, dass ihr und Larissas Bild dort nach wie vor einen Ehrenplatz einnahmen. Zusammen mit einem etwas kleinformatigeren Familienfoto, das sie, Walter und Larissa während eines Südfrankreichurlaubs am Strand von Nizza zeigte. Das Familienfoto war schon etliche Jahre alt, während die anderen beiden Fotos, vor allem das Foto von Larissa, neueren Datums waren.

Walter lächelte, als ihm bewusst wurde, dass Pias Augen auf den Fotos ruhten. »Ich trage mich mit dem Gedanken, meine kleine Sammlung zu ergänzen«, sagte er und blinzelte Pia zu. »Und zwar um das Verlobungsfoto von Larissa und Kai-Uwe. Findest du, ich sollte es aufstellen? Oder hältst du es für besser, wenn ich warte, bis es ein Hochzeitsfoto gibt?«

»Das musst du selbst entscheiden«, antwortete Pia beinahe abweisend, weil ihr plötzlich wieder einfiel, warum sie hergekommen war. »Ich mache mir solche Sorgen um unsere Larissa«, stieß sie unvermittelt hervor. Ihre Blicke wanderten unruhig zu dem goldgerahmten Bild ihrer Tochter auf Walters Schreibtisch und wieder zurück zu ihrem Mann.

»Um Larissa?«, wunderte sich Walter. »Aber … aber wieso denn?«

»Weil sie nicht an ihr Handy geht«, antwortete Pia. »Zum ersten Mal habe ich heute Morgen gegen neun Uhr versucht, sie anzurufen. Und dann wieder und wieder. Nichts.«

»Sie kann, wenn sie in der Vorlesung ist, nicht an ihr Handy gehen, Liebes. Wie stellst du dir das denn vor?«, beruhigte Walter seine aufgeregte Frau. »Wenn du Larissa unbedingt etwas sehr Wichtiges mitteilen musst, hättest du es wohl besser mit einer WhatsApp-Nachricht oder mit einer SMS versucht.«

»Das weiß ich, Walter. So dumm und unbedarft bin ich nun auch wieder nicht«, konterte Pia leicht pikiert. »Auch wenn die digitale Welt zugegebenermaßen nicht unbedingt meine Welt ist.«

Walter konnte angesichts dieser durchaus gerechtfertigten Selbsterkenntnis ein Schmunzeln nicht unterdrücken.

»Hör auf zu lachen«, wies Pia ihn zurecht. »Dazu ist die Angelegenheit viel zu ernst.« »Larissa hat im Übrigen auch auf meine SMS nicht geantwortet. Und an meiner WhatsApp-Nachricht ist nur ein graues Häkchen.«