Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Jenny Behnisch, die Leiterin der gleichnamigen Klinik, kann einfach nicht mehr. Sie weiß, dass nur einer berufen ist, die Klinik in Zukunft mit seinem umfassenden, exzellenten Wissen zu lenken: Dr. Daniel Norden! So kommt eine neue große Herausforderung auf den sympathischen, begnadeten Mediziner zu. Das Gute an dieser neuen Entwicklung: Dr. Nordens eigene, bestens etablierte Praxis kann ab sofort Sohn Dr. Danny Norden in Eigenregie weiterführen. Die Familie Norden startet in eine neue Epoche! »Zur Mittagsspitze zweieinhalb Stunden«, entzifferte Dr. Norden die Inschrift auf dem alten, verwitterten Wegweiser. »Ich glaube, das ist nichts für uns. Wir nehmen lieber die andere Richtung. Die Strecke, die Fee und ich schon kennen. Zum Hochhäderich. Dorthin sind es nur eineinviertel Stunden. Und der Weg ist, soweit ich mich erinnere, sehr angenehm zu gehen.« »Ich will aber zur Mittagsspitze«, entschied der achtjährige Erik und umfasste mit seinen kleinen Händen entschlossen die Tragegurte seines Kinderrucksacks. »Glaubst du nicht, dass dir das zu viel werden wird?«, fragte Dr. Arne Gebhardt, Eriks Vater. »Natürlich wird es ihm zu viel. Das ist doch sonnenklar«, antwortete die fünfzehnjährige Melanie anstelle ihres Bruders. »Garantiert müssen wir wegen Erik unsere Wanderung auf halber Strecke abbrechen. Ohne unser Ziel zu erreichen. Bergwandern ohne auf dem Gipfel anzukommen ist doof.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 141
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
»Zur Mittagsspitze zweieinhalb Stunden«, entzifferte Dr. Norden die Inschrift auf dem alten, verwitterten Wegweiser. »Ich glaube, das ist nichts für uns. Wir nehmen lieber die andere Richtung. Die Strecke, die Fee und ich schon kennen. Zum Hochhäderich. Dorthin sind es nur eineinviertel Stunden. Und der Weg ist, soweit ich mich erinnere, sehr angenehm zu gehen.«
»Ich will aber zur Mittagsspitze«, entschied der achtjährige Erik und umfasste mit seinen kleinen Händen entschlossen die Tragegurte seines Kinderrucksacks.
»Glaubst du nicht, dass dir das zu viel werden wird?«, fragte Dr. Arne Gebhardt, Eriks Vater.
»Natürlich wird es ihm zu viel. Das ist doch sonnenklar«, antwortete die fünfzehnjährige Melanie anstelle ihres Bruders. »Garantiert müssen wir wegen Erik unsere Wanderung auf halber Strecke abbrechen. Ohne unser Ziel zu erreichen. Bergwandern ohne auf dem Gipfel anzukommen ist doof. Und langweilig. Also entscheiden wir uns lieber gleich für den Weg zum Hochhäderich. Das ist vernünftiger.«
»Nein, wir gehen nicht zu diesem Hoch… dingsda. Weil ich auf die Mittagsspitze will«, beharrte Erik.
»Die ist aber wirklich ziemlich hoch«, mischte sich nun Fee Norden ins Gespräch. »Schau mal, Erik! Die Mittagsspitze - das ist der riesige Berg da drüben. Der obere Teil besteht aus lauter Felsen. Kein Baum. Keine Wiese. Nicht einmal ein Strauch. Wahrscheinlich muss man, um auf den Gipfel zu gelangen, sogar klettern. Ich glaube, die Mittagsspitze eignet sich eher für Profi-Bergsteiger als für uns.«
»Ich bin ein Profi-Bergsteiger«, behauptete Erik.
»Bist du nicht«, konterte Melanie. »Als wir zum letzten Mal Bergwandern waren, warst du gerade mal sechs. Da hat Mama noch gelebt. Sie hat damals deinetwegen auf den Aufstieg verzichtet und ist mit dir im Sessellift hochgefahren, während ich und Papa geklettert sind. Und du willst ein Profi-Bergsteiger sein!«
»Wo seid ihr denn geklettert?«, maulte Erik. »Klettern kann man nur auf Felsen. Und Felsen gab es gar keine. Mama und ich haben vom Sessellift aus lauter grasende Kühe gesehen.«
Arne Gebhardt seufzte. »Unser letzter Familienausflug«, sagte er, zu Dr. Norden gewandt. »Zum Kranzeck bei Mittenwald. Drei Monate später kam Nora bei diesem schrecklichen Autounfall ums Leben.« Traurig blickte Arne ins Leere, was Dr. Norden veranlasste, tröstend seine Hand auf den Arm seines Freundes zu legen.
»Lauter grasende Kühe?«, fragte Fee Norden indessen. »Magst du Kühe, Erik?«
Erik nickte eifrig. »Klar mag ich Kühe. Und Pferde mag ich auch. Und Hunde. Und Katzen. Ich mag alle Tiere.«
Fee legte in gespielter Nachdenklichkeit den Kopf schief. »Wenn das so ist, sollten wir vielleicht doch lieber zum Hochhäderich gehen«, schlug sie vor. »Auf dem Weg dorthin gibt es nämlich jede Menge Kühe. Mit Kälbchen. Und in der Alm direkt unter dem Gipfelkreuz des Hochhäderich leben zwei Bernhardinerhunde. Auf der Mittagsspitze dagegen flattern höchstens ein paar Bergdohlen herum. Die gibt es im Übrigen auf dem Hochhäderich auch. Und sie sind dort sogar ziemlich zutraulich, weil sie von den Gästen der Alm gefüttert werden.«
»So viele Tiere gibt es da?«, fragte Erik ungläubig. »Woher weißt du denn, dass es da so viele Tiere gibt?«
»Daniel und ich waren schon ein paar Mal dort«, antwortete Fee. »Auch mit Desi und Janni, als sie noch Kinder waren. Die beiden hatten auf diesen Ausflügen immer sehr viel Spaß.«
»Ich will zu den Tieren. Ich will zum Hochhäderich«, änderte Erik abrupt seine Meinung.
Melanie verdrehte die Augen. »Tiere, Tiere, Tiere. Erik hat nichts als Tiere im Kopf«, erklärte sie. »Er behauptet sogar, dass er, wenn er erwachsen ist, Tierarzt werden will. Aber das schafft er nie. Weil er viel zu faul zum Lernen ist.«
»Erik hat noch sehr viel Zeit, sich für einen Beruf zu entscheiden, Melanie«, meinte Arne. »Wollen wir also jetzt zum Hochhäderich gehen?«
Melanie und Erik nickten in seltener Einmütigkeit.
»Und du, Melanie?«, fragte Fee, während sie loszogen. »Weißt du schon, für welche Ausbildung oder für welchen Beruf du dich nach dem Abitur entscheiden wirst?«
Melanie zuckte die Schultern. »Ich bin mir noch nicht sicher, aber ich glaube, ich will Physiotherapeutin werden. Früher dachte ich immer, ich werde Ärztin wie Mama. Und wie du, Fee. Aber ich fürchte, das ist eine Nummer zu groß für mich. Der Numerus clausus ist ziemlich happig. Und das Studium ist verdammt lang. Wenn ich mir vorstelle, dass ich mit Mitte zwanzig immer noch am Lernen bin und praktisch nach wie vor die Schulbank drücke… Nein, ich denke, das ist nichts für mich.«
»Nicht nur Ärztin, auch Physiotherapeutin ist ein sehr schöner Beruf«, machte Fee Melanie Mut. »Du hast mit Menschen zu tun und kannst ihnen helfen. Das ist fast so, als wärst du Ärztin.«
»Eben«, nickte Melanie. »Und die Ausbildung dauert nicht so lange. Das ist, finde ich, ein großer Vorteil.«
»Ja, eine kürzere Ausbildung hat durchaus ihre positiven Seiten. Und wenn du trotzdem noch Zweifel hast, solltest du ein Praktikum machen. Dabei kannst du hautnah erleben, wie sich die Tätigkeit einer Physiotherapeutin anfühlt. Das wird dir sicher eine große Entscheidungshilfe sein«, meinte Fee.
»Das hat Papa auch gesagt«, gab Melanie zurück. »Er wollte dich oder Daniel schon fragen, ob in der Praxis von Frau Bader in der Behnisch-Klinik ein Praktikumsplatz frei wäre.«
»Ob Frau Bader einen freien Praktikumsplatz hat, weiß ich leider nicht«, erwiderte Fee. »Aber wenn du möchtest, kann ich mich ja bei Frau ihr erkundigen.«
»Danke, das wäre toll«, freute sich Melanie.
»Also gut, ich werde nachfragen«, versprach Fee. »Aber jetzt müssen wir uns erst einmal nach deinem Bruder umsehen. Daniel und dein Vater fachsimpeln munter vor sich hin, und Erik ist völlig sich selbst überlassen.«
»Erik ist da vorne«, sagte Melanie und wies mit dem Zeigefinger auf ihren Bruder, der beim Auftauchen etlicher Kühe ein Stück vorausgelaufen war. Hingebungsvoll streichelte er den Kopf einer besonders zutraulichen Kuh, rupfte immer wieder Gras und hielt es ihr zum Fressen hin.
»Lass die arme Kuh doch selber aussuchen, welche Gräser sie will«, belehrte Melanie Erik, als sie zu ihm aufgeholt hatte. »Du hast doch nicht die geringste Ahnung, was ihr schmeckt.«
»Ich weiß sehr wohl, was ihr schmeckt. Grünes Gras frisst sie am liebsten«, erklärte Erik und fuhr fort, die Kuh zu füttern.
Melanie musste lachen. »Jetzt komm endlich weiter«, ermahnte sie ihren Bruder. »Wir bleiben hier nicht bei jeder einzelnen Kuh stehen. Sonst erreichen wir die Alm am Hochhäderich nie und nimmer bis zum Mittagessen. Und dann jammerst du wieder, weil du Hunger hast.«
»Vorerst habe ich nur Durst. Ich brauche etwas zum Trinken«, stellte Erik fest, setzte seinen kleinen Rucksack ab, holte eine Wasserflasche heraus und trank ein paar Schlucke. »Wer gibt eigentlich der Kuh Wasser, wenn sie Durst hat?«, fragte er, wobei sein Blick unschlüssig zwischen der Kuh und seiner Wasserflasche hin und her wanderte.
Fee wies auf einen ein wenig abseitsstehenden Wasserspender. »Da drin ist Wasser für die Kühe«, erklärte sie Erik. »Es läuft in eine kleine Schale, von der die Kühe dann trinken.«
»Wow, der Wasserbehälter ist ja riesig. Wenn die Kühe das alles trinken können, ohne zu platzen…«, staunte der Junge.
Melanie nahm ihn an der Hand und zog ihn weiter. »Schau mal, das Gatter da vorne«, sagte sie. »Wer schneller da ist – du oder ich.«
»Ich«, behauptete Erik und sollte Recht behalten, weil Melanie ihn gewinnen ließ.
Es war kurz nach zwölf Uhr mittags, als die fünf Wanderer schließlich die Hochhäderich-Alm erreichten. Fee schlug vor, zunächst eine Rast einzulegen und dann erst zum Gipfelkreuz hochzusteigen. Alle waren einverstanden. Vor allem Erik, der, die flache Hand als Sonnenblende über den Augen, bereits die Umgebung nach den beiden Bernhardinerhunden absuchte, von denen Fee ihm erzählt hatte.
Dr. Norden und Arne Gebhardt ließen ihren Blick über die Holzterrasse der Alm schweifen, um einen freien Tisch ausfindig zu machen, als ihnen plötzlich zwei Frauen vom Rand der Terrasse her zuwinkten.
»Hallo, Herr Dr. Norden«, rief eine der Frauen, eine zierliche Blondine.
Dr. Norden stutzte. »Frau Bader!«, rief er im nächsten Moment zurück. »Das ist aber eine Überraschung!«
Fee fuhr verblüfft herum, als sie die Worte ihres Mannes vernahm, und eilte dann an Luisa Baders Tisch. Daniel, Arne Gebhardt und Melanie folgten ihr auf den Fuß.
»Guten Tag, Frau Bader«, sagte Fee und streckte Luisa ihre Hand hin.
Luisa ergriff Fees Hand und schüttelte sie. Dann schaute sie auf die junge Frau, die neben ihr saß. »Das ist übrigens meine beste Freundin, Astrid Sewald. Astrid und ich kennen uns schon ziemlich lange. Wir haben zusammen unsere Ausbildung absolviert.«
Astrid lächelte, ihre dunkelbraunen Augen zuerst auf Fee und dann auf Dr. Norden heftend. »Und Sie sind also der berühmte Dr. Norden, Luisas oberster Chef, von dem sie mir schon so viel Gutes berichtet hat«, sagte sie und nickte Dr. Norden und Fee zur Begrüßung freundlich zu. »Möchten Sie sich zu uns setzen? Bei uns sind noch Plätze frei, und die Aussicht von dieser Seite der Terrasse ist schlichtweg überwältigend.«
»Das stimmt«, meinte Dr. Norden. »Wir setzen uns gerne zu Ihnen.« Mit einem Blick auf Dr. Gebhardt fügte er hinzu: »Das ist dir doch recht, Arne, oder?«
»Aber klar«, nickte Arne. »Ich hole nur noch rasch meinen Sohn. Er scheint gerade mit den zur Alm gehörenden Bernhardinerhunden dicke Freundschaft zu schließen.«
Als Arne mit Erik im Schlepptau zurückkehrte, hatten Dr. Norden, Fee und Melanie bereits Platz genommen.
»Die beiden Bernhardinerhunde mögen mich und sind total lieb. Sie heißen Arco und Benno. Das steht auf ihren Halsbändern. Ich wäre so gerne noch ein bisschen bei ihnen geblieben«, erklärte Erik und zog einen Flunsch.
»Hier am Tisch gibt es auch einen Hund. Er ist nur nicht ganz so groß wie die beiden Bernhardiner«, lächelte Astrid und blinzelte Erik zu. Sie griff in ein Körbchen, das sich neben ihrem Stuhl auf dem Holzboden befand, und hob ein weißes, flauschiges Fellbündel hoch. »Das ist meine Lea«, sagte sie. »Sie stammt aus einem Tierheim in Rumänien. Ich habe sie vor eineinhalb Jahren auf einer Tiervermittlungsseite im Internet entdeckt und zu mir geholt.«
»Die ist ja total süß. Darf ich Lea streicheln?«, fragte Erik glückstrahlend.
»Aber ja«, erwiderte Astrid. »Lea liebt es, gestreichelt zu werden. Sie ist überhaupt ein sehr freundlicher Hund.«
Erik verschmähte den Stuhl, den Arne für ihn zurechtrückte, und kauerte sich stattdessen auf den Boden neben Leas Körbchen.
»Und wie geht es Nico?«, wandte sich Fee währenddessen an Luisa Bader.
»Meinem kleinen Sohn geht es prächtig«, erwiderte Luisa. »Er ist heute bei meiner Mutter. Lorenz, mein Mann, war die ganze Woche geschäftlich unterwegs, und da er erst nach dem Wochenende zurückkommt, wollte ich den Samstag nutzen, um endlich wieder einmal etwas zusammen mit Astrid zu unternehmen. In aller Ruhe und ohne schlechtes Gewissen, denn Nico weiß ich bei meiner Mutter bestens aufgehoben.«
»Das glaube ich gerne«, lachte Fee. »Und die Oma ist wahrscheinlich überglücklich über Nicos Gesellschaft.«
»So ist es«, bestätigte Luisa. »Meine Mutter…«
Sie unterbrach sich, als eine Bedienung in einem adretten hochroten Dirndl mit weißer Spitzenbluse und weißer Schürze auftauchte und die Gäste nach ihren Wünschen fragte. An den Fingern ihrer Hand zählte sie die verschiedenen Gerichte auf, die es gab. Dr. Norden und Arne wählten einen Eintopf mit Rindfleisch, Kartoffeln und Gemüse, Fee entschied sich für eine Käseplatte. Melanie bestellte, genau wie Luisa und Astrid, einen überbackenen Camembert, und für ihren Bruder, um den im Spiel mit Lea die Welt versunken war, orderte sie Würstchen mit Senf und Kartoffelsalat.
Während des Essens konnte Arne Gebhardt nicht umhin, immer wieder einen Blick auf Astrid Sewald zu werfen.
Ihre fröhliche, aufgeschlossene Art gefiel ihm. Ebenso wie ihr helles Lachen. Er ertappte sich einmal sogar dabei, wie er verstohlen auf den Ringfinger ihrer rechten Hand schielte und sich, als er feststellte, dass sie keinen Ehering trug, fragte, warum eine so attraktive Frau wie Astrid noch nicht in festen Händen war. Gleichzeitig musste er über sich selbst lachen. In welchem Jahrhundert lebte er eigentlich? Astrid war mit Sicherheit eine moderne und emanzipierte junge Frau, die von Ring und Trauschein nicht viel hielt und es vorzog, mit ihrem Herzallerliebsten in einer zwanglosen, offenen Beziehung zu leben.
Um sich abzulenken, versuchte Arne immer wieder, sich am Tischgespräch zu beteiligen, aber seine Gedanken schweiften jedes Mal schon nach kurzer Zeit ab und kreisten von Neuem um Astrid. Irgendetwas an Astrid erinnerte ihn an Nora, wenn er auch nicht so recht wusste, was es war.
War es Astrids großes Herz für Tiere, das sie bewogen hatte, einem armen Straßenhund ein schönes Heim zu schenken? War es die liebevolle Art, wie sie mit Erik umging und geduldig seine ständigen Fragen nach Lea beantwortete? War es ihre Freude am Bergwandern? Oder waren es doch eher rein äußerliche Dinge? Ihre langen dunklen Haare zum Beispiel, die sie genau wie Nora in der Mitte gescheitelt trug?
Noch ehe Arne eine Antwort auf seine Fragen hätte finden können, riss Melanie ihn aus seinen Überlegungen.
»Wenn ich Frau Bader vorhin richtig verstanden habe, haben Sie und Frau Bader Ihre Ausbildung zur Physiotherapeutin gemeinsam gemacht, Frau Sewald«, vernahm er plötzlich ihre Stimme. »Wie… wie ist denn so eine Ausbildung eigentlich? Ist sie eher praxisorientiert? Oder ist da auch eine ganze Menge Lernstoff zu bewältigen? Und wie lange dauert die Ausbildung? Gibt es Schulen, die einen besonders guten Ruf haben, oder besteht von der Qualität her kaum ein Unterschied? Sind die Abschlussprüfungen schwer? Ist die Durchfallquote hoch? Muss man die Ausbildung selber bezahlen?«
Verwundert registrierte Arne, wie viele Gedanken Melanie sich offenbar schon jetzt über ihre zukünftige Ausbildung gemacht hatte. Und wie erwachsen ihre Fragen klangen.
Sie war nicht mehr das kleine Mädchen, das sie vor Noras Tod noch gewesen war. Sie hatte sich verändert, ohne dass er, der er fast den ganzen Tag mit seiner Internisten-Praxis und seinen Patienten beschäftigt war, es wirklich gemerkt hätte. Und dabei waren seit Noras Tod noch nicht einmal volle zwei Jahre vergangen.
Interessiert hörte Arne zu, was Astrid Sewald Melanie zu berichten hatte. Sie bemühte sich, jede von Melanies Fragen ausführlich und erschöpfend zu beantworten, und Melanie hing regelrecht an ihren Lippen.
»Vielleicht solltest du einmal zwanglos und probeweise am Unterricht einer Physiotherapeuten-Schule teilnehmen«, schlug Astrid Sewald schließlich vor. »Wenn du möchtest, kann ich dir einen Kontakt zu der Schule hier in München vermitteln, an der Luisa und ich studiert haben.«
»Danke. Das wäre echt toll. Das wäre super«, freute sich Melanie.
»Ich habe mit Melanie auch schon über ein Praktikum gesprochen«, sagte Fee in diesem Moment, an Luisa Bader gewandt. »Wäre es möglich, dass Melanie in den Sommerferien an der Behnisch-Klinik…«
Sie brach ab, als Luisa Bader den Kopf schüttelte. »In den kommenden Sommerferien habe ich leider schon eine Praktikantin und einen Praktikanten. Und mehr als zwei Personen kann ich beim besten Willen nicht aufnehmen. Aber natürlich würde ich Melanie sehr gerne für nächstes Jahr vormerken.«
»Wenn du nicht so lange warten möchtest, Melanie, kann ich dir eine Praktikantenstelle anbieten«, mischte sich Astrid Sewald ins Gespräch. »Ich betreibe in München selbstständig eine Praxis für Physiotherapie. Ich hatte für die Sommerferien bereits eine Praktikantin, aber sie hat mir vor ein paar Tagen abgesagt. Wenn du also Lust hättest…«
»Ja, natürlich hätte ich Lust«, erwiderte Melanie spontan. Dann schaute sie fragend ihren Vater an. »Es ist dir doch recht, Papa, oder?«
»Selbstverständlich ist es mir recht«, stimmte Arne Gebhardt sofort zu.
Und wusste plötzlich nicht so genau, worüber er sich mehr freute: über den erstaunlichen Eifer und die erstaunliche Entschlossenheit, die seine Tochter für ihren Traumberuf an den Tag legte, oder über die Tatsache, dass er durch Melanie vielleicht Gelegenheit haben würde, mit Astrid Sewald näher in Kontakt zu kommen.
Als die Mahlzeit beendet war und wieder zum Aufbruch gerüstet wurde, stellte sich zu seiner Freude heraus, dass auch Astrid und Luisa den Gipfel des Hochhäderich noch nicht erklommen hatten. Also beschloss man, den Weg bis zum Gipfelkreuz gemeinsam zurückzulegen.
Wie durch Zufall geschah es, dass Arne sich am Ende der Gruppe ausgerechnet an Astrids Seite wiederfand. Verlegen lächelte er sie an, senkte aber gleich darauf die Lider.
»Sie haben zwei bezaubernde Kinder«, begann Astrid Sewald nach einer Weile ein Gespräch.
Arne nickte. »Ja, das stimmt. Aber leider habe ich als alleinerziehender Vater viel zu wenig Zeit für die beiden. Kein Wunder, dass Erik und Melanie ihre Mutter eineinhalb Jahre nach ihrem Tod immer noch vermissen. Vielleicht sogar mehr denn je.«
»Ihre Frau… Sie sind Witwer?«, stieß Astrid beklommen hervor.
»Ja, allerdings«, erwiderte Arne und berichtete von dem Autounfall, der Nora das Leben gekostet hatte.
»Das… das ist ja schrecklich. Völlig unerwartet aus dem Leben gerissen zu werden, sozusagen von einer Sekunde auf die andere. Das tut mir wirklich leid«, sagte Astrid. »Für Sie und vor allem auch für die Kinder.«
»Sie mögen Kinder wohl sehr?«, meinte Arne.
»Ja«, stimmte Astrid zu. »Auch wenn ich selbst kinderlos bin. Und es zu meinem Bedauern wohl auch bleiben werde.«
»Man soll niemals nie sagen«, wandte Arne ein. »Bei manchen Paaren klappt es eben erst später.«
Astrid lachte bitter auf – und hüllte sich für den Rest des Aufstiegs in Schweigen.
