Flüchtige Horizonte - Carolin Grahl - E-Book

Flüchtige Horizonte E-Book

Carolin Grahl

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Beschreibung

Jenny Behnisch, die Leiterin der gleichnamigen Klinik, kann einfach nicht mehr. Sie weiß, dass nur einer berufen ist, die Klinik in Zukunft mit seinem umfassenden, exzellenten Wissen zu lenken: Dr. Daniel Norden! So kommt eine neue große Herausforderung auf den sympathischen, begnadeten Mediziner zu. Das Gute an dieser neuen Entwicklung: Dr. Nordens eigene, bestens etablierte Praxis kann ab sofort Sohn Dr. Danny Norden in Eigenregie weiterführen. Die Familie Norden startet in eine neue Epoche! »Auf der A1 von Zürich in Richtung Österreich nach einem Auffahrunfall weiterhin Stau im Bereich Winterthur Ost bis St. Margarethen. Es ist mit einer Wartezeit von circa eineinhalb Stunden zu rechnen«, verkündete die Sprecherin des Schweizer Rundfunks SRF3. Dr. Norden machte ein finsteres Gesicht. »Das kann ja heiter werden. So haben wir uns unsere Rückreise allerdings nicht vorgestellt. Nicht wahr, Feelein?« »Nicht unbedingt«, meinte Fee. »Aber der Ärztekongress in Zürich war wirklich außerordentlich interessant und anregend. Wir haben dort viele nette Kollegen kennengelernt. Und zudem etliche Bekannte aus unserer Studienzeit wiedergetroffen. So gesehen würde ich unsere Reise in die Schweiz nicht einmal bereuen, wenn wir doppelt so lang hier feststecken würden.« »Auch wieder wahr«, stimmte Daniel Norden zu. »Mit deinen Augen betrachtet, Feelein, ist es wohl immer die positive Seite, die letztendlich die Oberhand gewinnt.« »Nicht immer, aber meistens.« »Wahrscheinlich haben wir ohnehin Glück im Unglück«

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Chefarzt Dr. Norden – 1307 –Flüchtige Horizonte

Zwischen Luxus, Geheimnissen und dem Ruf des Sees

Carolin Grahl

»Auf der A1 von Zürich in Richtung Österreich nach einem Auffahrunfall weiterhin Stau im Bereich Winterthur Ost bis St. Margarethen. Es ist mit einer Wartezeit von circa eineinhalb Stunden zu rechnen«, verkündete die Sprecherin des Schweizer Rundfunks SRF3.

Dr. Norden machte ein finsteres Gesicht. »Das kann ja heiter werden. So haben wir uns unsere Rückreise allerdings nicht vorgestellt. Nicht wahr, Feelein?«

»Nicht unbedingt«, meinte Fee. »Aber der Ärztekongress in Zürich war wirklich außerordentlich interessant und anregend. Wir haben dort viele nette Kollegen kennengelernt. Und zudem etliche Bekannte aus unserer Studienzeit wiedergetroffen. So gesehen würde ich unsere Reise in die Schweiz nicht einmal bereuen, wenn wir doppelt so lang hier feststecken würden.«

»Auch wieder wahr«, stimmte Daniel Norden zu. »Mit deinen Augen betrachtet, Feelein, ist es wohl immer die positive Seite, die letztendlich die Oberhand gewinnt.«

»Nicht immer, aber meistens.«

»Wahrscheinlich haben wir ohnehin Glück im Unglück«, überlegte Dr. Norden. »Da wir für morgen beide noch einen freien Tag eingeplant haben, ist es eigentlich nicht weiter schlimm, wenn wir erst spät am Abend in München ankommen.«

»Richtig, unser zusätzlicher freier Tag«, griff Fee Daniels Worte auf. »Darauf hätte ich fast vergessen.« Sie legte für einen Augenblick nachdenklich den Kopf schief, dann fügte sie hinzu: »Wenn ich es mir recht überlege, müssten wir heute eigentlich gar nicht mehr bis München fahren. Wir könnten uns, wenn wir die Grenze passiert und Deutschland erreicht haben, in Lindau ein Hotelzimmer mieten und …«

»Einen malerischen Sonnenuntergang am Bodensee genießen?«, ergänzte Daniel.

»Warum nicht«, stimmte Fee zu. »Obwohl ich eigentlich an etwas anderes gedacht habe.«

»Ach ja? Und das wäre?«

»Wir könnten Martin und Prisca in Lindau besuchen«, schlug Fee vor. »Ich bin mir sicher, die beiden würden sich sehr freuen, uns nach so langer Zeit wiederzusehen.«

»Martin und Prisca Hanel«, wiederholte Dr. Norden gedankenverloren. »Wenn ich an meine und Martins gemeinsame Studienzeit denke … Es waren glückliche Tage. Wir haben sehr viel gelernt und gearbeitet, aber auch die Fröhlichkeit und das Feiern sind nicht zu kurz gekommen. Später haben sich unsere Wege dann ja leider getrennt. Weil Martin sich der Kinderheilkunde zugewandt und sie zu seinem Spezialgebiet gemacht hat.«

»Ja, und bei seiner Ausbildung im Dr. Hauner’schen Kinderspital in München hat er schließlich Prisca kennengelernt, die dort als Kinderkrankenschwester gearbeitet hat«, ergänzte Fee.

Daniel nickte. »Ich kann mich noch gut an die Hochzeit der beiden erinnern, bei der ich Martins Trauzeuge war. Martin und seine Prisca waren ein wunderschönes Paar, wie füreinander geschaffen. Das Glück hat ihnen regelrecht aus den Augen geleuchtet.«

»Und weil sie beide ganz vernarrt in Kinder waren, haben sie sich eine riesengroße Familie gewünscht.« Auf Fees Gesicht trat mit einem Mal ein nachdenklicher, fast ein bisschen trauriger Ausdruck. »Nur ist daraus nichts geworden. Martin und Prisca hatten nicht so viel Glück wie wir. Ihre Ehe ist ja leider kinderlos geblieben.«

»Das ist schade«, meinte Daniel. »Ich hoffe, die beiden haben sich damit abgefunden und es geht ihnen trotzdem gut. Seit sie damals, nach dem Tod von Priscas Mutter, nach Lindau gezogen sind, haben wir uns ja bedauerlicherweise fast ganz aus den Augen verloren.«

»Obwohl uns die beiden des Öfteren eingeladen haben.«

»Und obwohl wir schon ein paar Mal drauf und dran waren, der Einladung Folge zu leisten.« Daniel fuhr ein Stück weiter, um zu dem roten Fiat vor ihm aufzuschließen, und stellte dann den Motor wieder ab.

»Irgendwie ist in letzter Minute immer etwas dazwischengekommen«, erinnerte sich Fee. »Und dabei hatte ich mich jedes Mal schon sehr auf das Treffen mit Martin und Prisca gefreut. Und - offen gestanden - war ich natürlich auch ein bisschen neugierig auf die alte Jugendstilvilla, die die beiden von Priscas Mutter geerbt haben. Und auf das große Grundstück mit altem Baumbestand und eigenem Zugang zum See.«

»Vielleicht klappt die Begegnung ja heute sozusagen aus dem Stegreif. Wobei ich allerdings auch nicht überrascht wäre, wenn diesmal Martin und Prisca verhindert wären«, gab Daniel zu bedenken. »Immerhin ist Urlaubszeit. Vielleicht sollten wir, ehe wir den Umweg über Lindau – Bad Schachen in Kauf nehmen, es lieber zuerst mit einem Anruf versuchen. Hast du Martins und Priscas Nummer auf deinem Handy abgespeichert?«

Fee zog ihr Mobiltelefon aus ihrer Handtasche und scrollte durch das Verzeichnis ihrer Kontakte. »Ja, hab ich«, sagte sie.

»Na, dann versuch mal dein Glück, Feelein«, forderte Daniel sie auf.

Fee wählte, während die Blechkolonne des Staus erneut ein paar Meter in Richtung österreichische Grenze vorrückte, die Nummer der Hanels und hielt dann aufgeregt ihr Handy an ihr Ohr, doch am anderen Ende der Leitung regte sich nichts. Gerade wollte Fee den Anruf unverrichteter Dinge abbrechen, als ein freundliches »Guten Abend, hier Dr. Martin Hanel« an ihr Ohr drang.

»Hallo, Martin. Ich bin’s, Fee. Fee Norden«, antwortete Fee und hielt unwillkürlich den Atem an.

»F-fee? Du? Was … was verschafft mir die seltene Ehre?«

Irritiert stellte Fee fest, dass Martin Hanel sich anhörte, als hätte sie ihn soeben aus einem Nickerchen aufgestört. Er wirkte, als hätte er Mühe, wieder ins Hier und Jetzt zurückzufinden.

»Du wirst es nicht glauben, Martin, aber Daniel und ich sind gerade auf der Rückfahrt von einem Ärztekongress in Zürich. Und während wir hier zwischen Winterthur und St. Margarethen auf der Autobahn im Stau stehen, haben wir plötzlich an euch gedacht. Wir haben uns überlegt, dass, wenn wir schon so nahe an Lindau vorbeifahren, die Gelegenheit vielleicht günstig wäre, euch kurz zu sehen. Wir möchten aber selbstverständlich nicht stören, und wenn es euch nicht in eure Pläne für den Rest des Tages passt, sagt es einfach frank und frei. Unser Vorschlag kommt sehr spontan, und deshalb …«

»Ob spontan oder von langer Hand geplant - ein Besuch von euch beiden passt immer«, sagte Martin sofort. »Wie lange werdet ihr brauchen, bis ihr hier seid?«

»Gute eineinhalb Stunden, wenn man dem Schweizer Rundfunk glauben darf«, erwiderte Fee.

»Ausgezeichnet. Prisca ist gerade beim Friseur, aber in eineinhalb Stunden ist sie garantiert wieder zurück. Unsere Adresse ist übrigens Schachener Straße 4, falls ihr es nicht mehr wisst. Wenn ihr die Adresse ins Navi eingebt, müsste es euch sicher her lotsen. Bei allen anderen Freunden und Bekannten, die uns seit unserem Wegzug nach Lindau besucht haben, hat es jedenfalls problemlos geklappt. Wir freuen uns auf euch.«

»Wir freuen uns auch. Bis später also«, sagte Fee und beendete das Gespräch.

»Du musst unterwegs unbedingt noch irgendwo bei einem Blumengeschäft Halt machen, Daniel«, kam Fee in den Sinn, während sie das Handy wieder in ihre Tasche zurücksteckte. »Wir können doch nicht mit leeren Händen kommen.«

»Nein, natürlich nicht, Fee. Aber Blumen allein … Vielleicht sollten wir auch noch eine gute Flasche Wein besorgen. Was meinst du?«

»Prima Idee. Und zusätzlich eine Schachtel Pralinen für Prisca. Für Süßigkeiten hatte sie nämlich schon immer eine Schwäche. Ich erinnere mich noch gut, wie gerne sie Schokolade mochte. Vor allem ganz dunkle Bitterschokolade. Sie konnte problemlos eine Tafel auf einmal wegputzen, was ihr, gertenschlank wie sie war, kaum jemand zugetraut hätte.«

»Auch um ein Hotelzimmer für die Nacht müssen wir uns noch kümmern«, bemerkte Daniel. »Schließlich wollen wir das Zusammensein mit Martin und Prisca genießen, ohne auf die Uhr schauen und an die Weiterfahrt denken zu müssen.«

»Auf alle Fälle«, stimmte Fee zu. »So wie es aussieht, haben wir vor unserem Besuch bei den beiden noch jede Menge zu tun.«

»Wenn wir erst diesen verdammten Stau hinter uns haben, ist alles andere im Grunde nur ein Klacks«, fand Daniel. »Du hast im Übrigen, wenn ich richtig gehört habe, nicht mit Prisca, sondern mit Martin gesprochen, Feelein. Wie hat er denn geklungen? Freut er sich schon darauf, uns zu sehen?«

»Natürlich freut er sich«, antwortete Fee. »Am Anfang war er zwar ein wenig seltsam, irgendwie ein bisschen verwirrt und von der Rolle. Aber als er begriffen hat, dass wir ihn besuchen wollen, war er wieder ganz der Alte.«

»Vielleicht war er, als du angerufen hast, gerade damit beschäftigt, eine Fachzeitschrift oder ein Fachbuch zu lesen«, vermutete Daniel. »Ich habe Martin vom Studium her als wahnsinnig belesen in Erinnerung.«

»Ja, gut möglich, dass er anfangs in Gedanken noch bei irgendeinem Fachartikel über ein medizinisches Problem war«, nickte Fee. »Prisca ist übrigens gerade beim Friseur, hat er gesagt. Aber bis wir kommen, wird sie wieder zu Hause sein. Hoffentlich sehe ich im Vergleich zu ihr nach der langen Autofahrt nicht allzu derangiert aus.«

»Nie und nimmer, Feelein«, versicherte Daniel. »Der Besuch bei Martin und Prisca war übrigens eine großartige Idee von dir. Ein wunderbarer Geistesblitz. Du hast doch immer die allerbesten Einfälle!«

*

»Da wären wir«, sagte Daniel und stellte den Motor ab. »Wow, die Villa sieht wirklich beeindruckend aus. Fast wie eine Filmkulisse.«

»Du sagst es. Das Anwesen ist in der Tat noch schöner, als ich es mir vorgestellt habe«, pflichtete Fee Daniel bei, während sie das hohe schmiedeeiserne Einfahrtstor bewunderte, das sie und Daniel soeben passiert hatten. Fee vergewisserte sie sich, dass Wein und Pralinen sich in der blauen Geschenk-Tragetasche des Feinkostladens befanden, und griff nach dem Blumenstrauß, einem riesigen Bouquet aus Feuerlilien, weißen Rosen und Asparagus. »Dann wollen wir mal los.«

Daniel und Fee waren noch keine fünf Schritte in Richtung der Hanel’schen Villa mit ihren zahlreichen Türmchen und Erkerchen gelaufen, als ihnen Martin und Prisca bereits mit strahlenden Gesichtern und ausgebreiteten Armen entgegenkamen.

»Wie schön, euch endlich wiederzusehen«, sagten die beiden fast wie aus einem Munde. Sie geleiteten Daniel und Fee auf die große Terrasse im Erdgeschoss, die einen atemberaubenden Blick auf die Schachener Bucht, auf Lindau und auf das gegenüberliegende Schweizer Ufer bot.

Fee konnte sich an dem Anblick kaum sattsehen. Erst nach einer Weile wandte sie sich wieder Prisca zu. »Ihr lebt hier … fast wie im Paradies«, stellte sie fest.

Für einen winzigen Moment legte sich ein bitterer Zug um Priscas Mundwinkel. »Fast wie im Paradies«, wiederholte sie. »Aber eben nur fast.«

Fee musterte Prisca mit einem verwunderten Blick, der Prisca offenbar erst bewusst machte, was sie gesagt hatte. »Das Paradies auf Erden gibt es nun einmal nicht«, sagte sie, als müsste sie sich für ihre vorherige Äußerung rechtfertigen. »Selbst in der schönsten Umgebung hat man seine Alltagssorgen. Und Wünsche, die unerfüllt bleiben.«

»Ja, leider ist es so«, erwiderte Fee, die Priscas Worte auf deren unerfüllten Kinderwunsch bezog. »In einer schöneren Umgebung als hier könnten Kinder eigentlich gar nicht aufwachsen.«

»Du sagst es«, nickte Prisca. »Aber es soll offenbar einfach nicht sein.«

»Habt ihr eigentlich nie versucht, ein Kind zu adoptieren?«, fragte Fee. Sie nahm neben Prisca auf den weißen Lounge-Gartenmöbeln Platz, während Martin mit Daniel die Terrasse über eine Freitreppe wieder verließ, um Daniel den weitläufigen Garten und den kleinen, zum Grundstück gehörenden Bootshafen zu zeigen.

»Ein Kind zu adoptieren, ist heutzutage längst nicht mehr so einfach, wie die meisten Menschen glauben«, antwortete Prisca. »Es gestaltet sich viel schwieriger, als man es sich gemeinhin vorstellt.«

»Hmm, ja. Das habe ich schon hin und wieder gehört«, meinte Fee. »Man muss, schätze ich, sehr viel Durchhaltevermögen mitbringen und sich auf lange Wartezeiten einstellen.«

»Du sagst es, Fee. Und das in einer Phase des Lebens, in der man von den vielen vergeblichen Versuchen, doch noch ein leibliches Kind zu bekommen, schon ziemlich zermürbt ist.« Prisca seufzte. »Martin und ich, wir waren während unserer Odyssee durch Arztpraxen und Kliniken schon mehrfach an einem Punkt angelangt, an dem sogar unsere Ehe gelitten hat. Einfach weil unsere Nerven vollkommen blank gelegen sind. Wir haben In-vitro versucht, Spendersamen, Spendereizellen. Jedes Mal, wenn ich mich für eine Eizellenentnahme vorbereitet habe, musste ich mir Hormone spritzen. Davon bekam ich Wasser im Körper, geschwollene Beine und Arme. Mein Blut wurde dick, und ich musste fünf bis sechs Liter Wasser am Tag trinken, um die Thrombosegefahr zu minimieren. Keine Frau kann sich das wirklich vorstellen, wenn sie es nicht selber erlebt hat. Ich bin durch die Hölle gegangen, Fee. Durch die reine Hölle. Trotz der paradiesischen Umgebung hier.«

»In der Tat eine sehr schwierige Situation«, meinte Fee. »Und habt ihr es nach all den Strapazen trotzdem noch mit einer Adoption versucht? Habt ihr …« Fee brach ab und rieb unsicher ihre Hände gegeneinander. Sie wollte nicht taktlos sein und Prisca Fragen stellen, die sie möglicherweise verletzten, hatte aber andererseits das Gefühl, dass Prisca sich manches nicht ungern von der Seele redete.

»Natürlich haben wir es versucht. Aber ein deutsches Kind zu adoptieren, hat sich als schlichtweg unmöglich herausgestellt. Schließlich wurde uns – nach endlosen Prozeduren, die wir zu durchlaufen hatten, um vom Jugendamt als geeignete Adoptiveltern ausgewiesen zu werden - ein russisches Kind angeboten.«

»Und?«

»Wir haben uns auf den Weg zu ihm gemacht. Ja, du hast richtig gehört: Wir waren in Russland. Mit einer Dolmetscherin, die wir natürlich aus der eigenen Tasche bezahlt haben. Wie auch schon einen Großteil der vorangegangenen ärztlichen Behandlungen in der Konstanzer Kinderwunschklinik. Wir wurden in Russland – es war irgendein Ort hinter Moskau, und ich habe wirklich keine Ahnung mehr, wie er geheißen hat – in ein Waisenhaus geführt. Es hat auf mich gewirkt wie … wie einem Roman von Charles Dickens entsprungen. Und das Kind, das man uns angeboten hat … Es war ein Mädchen, vier Jahre alt. Mager, blass, mit traurigen, leeren Augen. Die Kleine hat mir so leidgetan, aber gleichzeitig hatte ich Angst. Das Kind war, seinem ganzen Verhalten nach zu urteilen, zutiefst traumatisiert. Und es hat natürlich unsere Sprache nicht verstanden. Wie sollten Martin und ich mit diesem Kind zurechtkommen? Ich habe die Bedenken in Martins Miene gesehen, und er konnte meine Befürchtungen an meinen Gesichtszügen ablesen.«

»Und letztendlich habt ihr euch gegen das Kind entschieden?«, vermutete Fee.

»Ja, wir haben uns gegen die Kleine – Anastasia hat sie geheißen – entschieden. Zuerst waren wir erleichtert. Auf der Heimreise waren wir uns noch absolut sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, aber als wir wieder zu Hause waren … Die traurigen Augen der kleinen Anastasia sind mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Ich habe ihren Blick in meinen Albträumen gesehen. Und auch Martin war lange Zeit sehr gedrückter Stimmung.«

»Wie schrecklich für euch.« Unwillkürlich legte Fee tröstend ihre Hand auf Priscas Arm. »Du und Martin, ihr habt, jedes Mal wenn ihr uns eingeladen habt, so fröhlich und unbeschwert geklungen. Nie und nimmer hätte ich mir träumen lassen …«

»Zumindest nach außen hin haben wir die Normalität immer aufrechterhalten«, sagte Prisca. »Was hätten wir denn sonst auch tun sollen? Martin hatte seine kleinen Patienten in seiner Praxis zu betreuen, und auch ich war praktisch rund um die Uhr beschäftigt. Ich habe damals zwar nicht mehr in meinem Beruf als Kinderkrankenschwester gearbeitet, aber ich habe Martin natürlich in seiner Praxis geholfen. Ich bin, seit er die Praxis hier in Lindau eröffnet hat, als seine Sprechstundenhilfe tätig. Und gehe ihm auch bei dem ganzen Bürokram zur Hand, der durch immer neue Vorschriften und Verordnungen der Krankenkassen wie ein Krebsgeschwür wächst und wächst.« Prisca zuckte die Schultern. »Weißt du, Fee, auch die Aufrechterhaltung der Normalität kann eine Art Therapie sein und die Seele davor bewahren, der Verzweiflung anheimzufallen.«

»Ja«, meinte Fee, »da kann ich dir nur zustimmen. Wenn wir in der Behnisch-Klinik auf der Kinderonkologie einen unserer kleinen Patienten verloren haben, habe ich wiederholt erlebt, dass der Beruf und überhaupt der Alltag mit seinen Anforderungen und seiner Routine den Eltern geholfen hat, von der ersten und heftigsten Phase der Trauer nicht vollkommen niedergedrückt zu werden.«

»Das kann ich absolut nachempfinden.« Prisca strich sich eine vorwitzige Locke zurück, die ihr immer wieder in die Stirn fiel. »Aber bis jetzt habe ich wieder einmal nur von mir geredet. Tut mir leid, Fee, dass ich so egoistisch war. Wie geht es dir und Daniel?«

»Danke, Prisca, ich kann nicht klagen. Daniel und ich sind beide gesund und haben auch keine Probleme in unserer Ehe. Dass beides nicht selbstverständlich ist und wie sehr man dafür dankbar sein muss, sehe ich immer wieder, wenn ich mich in unserem Bekanntenkreis umschaue. Zudem haben Daniel und ich auch viel Glück mit unseren Kindern. Sie sind ebenfalls wohlauf und haben ihren Platz im Leben gefunden. Danny führt nach wie vor sehr erfolgreich die ehemalige Privatpraxis meines Mannes weiter. Felix arbeitet, wie ihr sicher wisst, als Fluglotse am Münchner Flughafen, und Anneka ist inzwischen Sozial- und Pflegeberaterin im Münchner Pflege- und Servicecenter.«

»Und was ist aus Desi und Janni geworden?«, erkundigte sich Prisca. »Studiert Desi Modedesign? Sie war schließlich schon als Teenager immer sehr modebewusst und chic gekleidet, sodass ich in ihr immer ein bisschen die zukünftige Modeschöpferin gesehen habe.«

Fee lachte. »Desi studiert inzwischen Kunstgeschichte. Und arbeitet nebenbei zusammen mit Flavio, ihrem Freund, als Aufsicht im Kunsthistorischen Museum. Und was Janni betrifft – er studiert natürlich IT, was auch sonst.«

»Ich habe ihn als unendlich klug in Erinnerung«, sagte Prisca. »Ich habe ihm immer einen Intelligenzquotienten von 160 oder mehr zugetraut. Wohnen Desi und Janni eigentlich noch bei euch?«

Fee schüttelte den Kopf. »Nein. Sie sind mittlerweile mit ihren jeweiligen Partnern zusammen, was in ihrem Alter ja auch völlig normal und wünschenswert ist.«